Der Orden der Visionenritter


Im Nordwesten Valias, nicht weit vom Gebirge entfernt gibt es ein Land, das man Annoch Féa, den Späten Abend, nennt. Es liegt sehr versteckt in einem weiten Tal, umgeben von Felsland und dicht wachsenden schwarzen Nadelbäumen, deren Äste vielfach ineinander verschlungen sind und nur geübten Wanderern an geheimen Stellen Durchgang gewähren.

Dort lebten vor zweitausend Jahren Alte Völker in friedlicher Abgeschiedenheit. Menschen und Zwerge blieben Annoch Féa fern, weil es keine Reichtümer gab und der karge Boden nur wenig bot. Pflanzen und Getier erschienen den Kurzlebigen ein wenig seltsam, und es gab nicht wenige Gerüchte, dass in früheren Zeiten Reisende wie Händler und Abenteurer dort spurlos verschwanden. Die Alten wünschten keine unangemeldeten Besucher, und es hieß, dass sie einen Drachen zu ihrem Schutz bestimmt hatten, der gnadenlos seinen Wachdienst ausübte, mit allsehenden Augen. Aber wie jeder weiß, sind die Alten an sich schon sehr gefährliche Wesen und auch bei friedlicher Gesinnung äußerst wehrhaft, denke man etwa an die hufbeinigen Velerii.

Also suchten die Neugierigen ihr Abenteuer anderswo, und Annoch Féa lebte jenseits seiner Grenze nur in der Erinnerung fort, und in vielen Märchen, die sich darum rankten.

Kein Märchen aber ist es, was ich nun erzähle, denn ich hörte die Geschichte aus erster Hand, weil mir vergönnt war, den einen oder anderen Beteiligten persönlich kennenzulernen. Dass ich so lange zögerte, sie niederzuschreiben, mag daran liegen, dass ich einige Jahrzehnte mit einer wichtigen Angelegenheit beschäftigt war, die mich ganz und gar in Anspruch nahm. Doch jetzt im Alter habe ich Zeit und Muße genug, über das bedeutendste Ereignis, das in vielen verschlungenen Pfaden eingebettet lag, zu berichten. Von einer diesbezüglichen wichtigen Zusammenkunft soll nun hier die Rede sein.


Eines Tages im Herbstfall kamen im Hain Buchenstamm in Annoch Féa die edelsten Angehörigen Alter Völker zusammen, die sich im Lande Valia angesiedelt hatten. Der Hain ist an einer Flussaue gelegen, der innere Kreis von stolzen Bäumen mit mächtigen Kronen bewacht und mit dickem, weichem Moos ausgelegt. Ein Ort der Besinnung und Beschaulichkeit, dem sich nicht einmal die Sonne verwehren kann, obwohl sie den Weg hierher kaum noch findet.

Doch an jenem Tag verweilte Lúvenors Licht noch einmal mit üppigem Glanz, bevor es über die Berggipfel tief in den Westen hinabstieg. Der Hain leuchtete in Gold und Purpur, und sanft regneten Blätter herab und kündigten raschelnd jeden neuen Gast an, sobald er eintraf.

Zur Runde geladen hatte der edle Lichtsänger, ein großer Held der Velerii, dessen Lieder noch heute unerreicht sind, ebenso wie seine Stimme. Trotz der Kraft seiner mittleren Jahre wirkte er bereits wie ein alter, gebrochener Mann: fast erblindet, der Pferdeleib von vielen schlimmen Narben entstellt. Er hatte an der furchtbaren Titanenschlacht teilgenommen und war ein Überlebender, doch für den Rest des Lebens gezeichnet.

Alle waren Lichtsängers Einladung gefolgt und trafen am gewünschten Tag ein: Makun als Vertreter der bocksfüßigen Runi, Morgentau und Abendlicht von den ätherischen Blumenvisu, der falkenköpfige Phere Hrakim, und dessen guter Freund Ardir von den geflügelten Daranil, mit seinem hitzköpfigen Sohn Hyan. Dazu kamen Vertreter der Fuchsgeister und Baumhüter, und noch einige weitere, auch von den menschenähnlichen Sentrii. Und zuletzt traf der hochgewachsene, schimmernde Tardil ein, der König von Ardig Hall.

Es gab ein freudiges Wiedersehen und erstes Willkommen untereinander, und es dauerte lange, bis alle Vorstellungen abgeschlossen waren. Lediglich Tardil brauchte niemandem vorgestellt zu werden, und alle rückten ehrerbietig zur Seite, als er schweigend seinen Weg zwischen ihnen hindurch nahm und sich als Erster auf dem Moos niederließ. 

Knorrige Baumgnome, kaum handspannenlang, warteten zur Bedienung auf, reichten Genüsse an Speis und Trank, Sitzkissen oder Decken und erfüllten noch so manchen anderen Wunsch, während sich die Mooswiese füllte und einer nach dem anderen seinen Platz im großen Rund einnahm. 

Lichtsänger kauerte auf einem weichen Lager am silbrigen Stamm einer riesigen alten Buche, von goldrotem Laub beschattet. Winzige Elfen umschwirrten ihn mit hauchzarten Flügeln, bestäubten ihn mit Sternenstaub und rieben seinen Leib mit duftendem Öl ein. Das alles sollte der Schmerzlinderung dienen, doch sobald der Velerii seine Haltung veränderte, verzerrte sich sein Gesicht und wurde für einen Moment noch grauer und eingefallener. Dann verdoppelten die Elfen ihren Eifer und brachten leuchtende Blüten, deren feine Samthaare bei Berührung eine beruhigende Aura verströmten.

»Ich danke euch allen, dass ihr gekommen seid«, hub Lichtsänger schließlich an. Selbst seine Stimme verlor immer mehr an Kraft und Schönheit. Nicht wenige waren erschüttert, den großen Helden so zu erleben, kannten sie ihn doch ganz anders. Seine halbblinden Augen schweiften durch die Runde. »Ich weiß, welchen Anblick ich euch biete, und ich muss eure Vermutung bestätigen: Mir bleiben nicht mehr viele Mondwechsel, bis ich zu den Silbernen Gestaden aufbreche. Aus diesem Grund habe ich euch zusammengerufen, an diesem Tag, hier, wo ich dereinst begraben liegen werde, denn ich kann diesen Ort nicht mehr verlassen.«

»So wollen wir Euch begleiten!«, rief Makun leidenschaftlich und zog die Doppelflöte. »Ich werde Lieder für Euch spielen ...«

»... und ich werde singen«, warf die zarte Morgentau ein, und ihre liebliche Schwester Abendlicht: »Unsere Weisen werden Euch den Schmerz nehmen und Euch auf weichen Wolken tragen.«

Viele weitere Stimmen wurden laut und versuchten sich gegenseitig zu übertreffen, was sie für den Sterbenden tun wollten.

Lichtsänger hob, sichtlich gerührt, die Hand. »Habt Dank, meine edlen Freunde, dies ist schon so viel Trost, dass ich davon zehren kann, bis kein Leid mehr zu spüren ist.«

»Ich werde denjenigen zur Verantwortung ziehen, der Euch das angetan hat!«, platzte Hyan heraus und schlug heftig mit den Flügeln. »Sein ehrloses Leben ist verwirkt ...«

»Setz dich, Sohn, und schweig still!«, herrschte sein Vater ihn an, und Hyan gehorchte mürrisch.

»Der Zweikampf war nicht ungerecht«, sagte Lichtsänger müde. »Die Schlacht an sich war’s. Ich trage nicht minder Schuld daran.«

Hrakim erhob sich und verneigte sich. »Wir Alten stehen sämtlich in Eurer Schuld, o Lichtsänger. Sagt, was wir für Euch tun können.«

Lichtsänger nickte langsam. Seine einstmals wallende Mähne hing strähnig herab. »Dies soll ein Rat sein, denn ich habe einen Vorschlag einzubringen, bezüglich des Tabernakels.«

Aufgeregtes Wispern machte die Runde, und die Gesichter wurden erwartungsvoll. Viele wandten sich dem König von Ardig Hall und Hüter des Tabernakels zu, der unbeweglich und erhaben zwischen ihnen saß, mit undurchdringlicher Miene.

»Viele tausend Jahre sind vergangen, seit die unglücklichen Nauraka das Meer verließen«, fuhr Lichtsänger fort. »Und seit zweitausend Jahren wird der Krieg um das Tabernakel von einem einzigen Mann beherrscht, dem Unsterblichen Femris. Ein Ende ist nicht absehbar.«

Zustimmendes Gemurmel kam auf. 

Tardil nickte. »Auch meine Tage sind gezählt«, sprach er mit klarer Stimme, wie ein sprudelnder Gebirgsbach. »In nicht allzu ferner Zeit werde ich meine Tochter Yngwin mit der Bürde belasten. Bereits jetzt hat sie in Ardig Hall die Obhut über das Tabernakel übernommen, damit ich in Ruhe reisen kann. Doch mein Herz ist gram, denn ich hinterlasse ihr ein schweres Erbe und befürchte, dass sie ihre erste Blütezeit nicht überlebt.«

Lichtsänger richtete sich leicht auf, er schien sich besser zu fühlen. Selbst in seine trüben Augen trat wieder ein wenig Glanz. »Wir müssen Femris Einhalt gebieten«, sprach er in die Runde. »Er ist ein unglaublich mächtiger Mann. Zehntausende hat er bereits auf dem Schlachtfeld verbluten lassen, oder gefangen und gefoltert. Eines nicht so fernen Tages wird ihm der Sturm auf Ardig Hall gelingen, denn die Macht der Nauraka schwindet in dem Maße, wie die des Unsterblichen wächst.«

Harte Worte, doch wahr. Mitleid lag in so manchen Augen, die sich auf den König richteten.

»Schließen wir ein Bündnis!«, rief Makun.

»Ja!«, kam sofort Zustimmung im Chor von den Fuchsgeistern und den Sentrii.

»Das werden wir«, versprach Lichtsänger. »Bei Lúvenors Licht, das werden wir wahrhaftig, so unmöglich es bisher auch schien. Doch darüber hinaus können wir noch etwas anderes tun, und das ist der eigentliche Grund eurer Anwesenheit. Denn schließlich geht uns das Tabernakel alle an. Niemals dürfen wir es der Finsternis überlassen.« 

Er hob den Arm, und viele fuhren zusammen, als plötzlich jemand aus den Schatten trat, den offensichtlich keiner von ihnen bisher bemerkt hatte.

Eine große, schlanke Frau, größer noch als Tardil, mit tiefschwarzem Haar, dunklen  Augen und olivsamtener Haut. Sie war so schön, ihre Ausstrahlung so stark, dass sie auf der Stelle alle in ihren Bann schlug. Lebendig gewordene Magie, die Vollkommenheit weltlichen Lebens. Neben ihr verblasste alles.

Die ersten sprangen auf, und bald taten es ihnen alle gleich, um sich vor der Frau zu verbeugen. 

Selbst Tardil erhob sich und neigte kurz das Haupt. »Hohe Frau.«

Manche mochten ihr bereits begegnet sein, viele hatten sicherlich von ihr gehört. »Die Annatai«, flüsterte Abendlicht ergriffen. Hyan neben ihr gaffte mit offenem Mund.

Die Mundwinkel der Frau zuckten leicht amüsiert. Sie strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Beschwichtigend hob sie die Hände. »Ich bitte euch, nehmt Platz und beruhigt euch, trotz des besonderen Moments. Wenden wir uns dem Grund der Versammlung zu. Ich bin Gynvar. Lasst uns über den Orden reden, den ich gründen will.«


Auf einmal herrschte Hoffnung. Das von Sorgen tief zerfurchte Gesicht des Königs von Ardig Hall glättete sich, und selbst Lichtsänger blühte noch einmal auf, als Gynvar ans Werk ging. Sie leitete die Helfer an, wo in Annoch Féa das Ordenshaus gegründet werden sollte, und entwarf mit ihnen Pläne über das Aussehen. Und während der Bau begann, wob Gynvar einen mächtigen Schutz ringsum, der das Haus jedem unbedarften Beobachter aus der Sicht entzog.

Ganz selbstverständlich fügten sich die Alten den Anweisungen der Annatai. Sie sprach nie über sich, doch es war bekannt, dass sie schon seit Jahrhunderten auf Waldsee weilte, um zu lehren, wie es bei ihrem Volk Sitte ist, und schließlich nach Valia kam, als sie vom Kampf um das Tabernakel erfuhr. Gynvar war eine sehr stolze, gleichwohl unkonventionelle Frau. Sie schätzte den formellen Umgang nicht besonders und verstand es durchaus, am Abend eine Gesellschaft zu unterhalten. Sie gab Anweisungen, ohne Befehle zu erteilen. Nichts konnte sie so leicht aus der Ruhe bringen – doch war sie erst einmal in Zorn geraten, fürchteten selbst die Bäume im Umkreis um ihre Wipfel.

Und sie war eine Mächtige, der die Magie geradezu unbegrenzt zur Verfügung stand. Die Art, wie sie den Schutz wob, wie ihre Aura leuchtete, wenn sie wirkte, wie die Weltenmelodie in ihrer Stimme mitzuschwingen schien, war unvergleichlich.

»Könnt Ihr Lichtsänger heilen?«, fragte König Tardil sie einmal, der die Distanz zu ihr nie unterschritt.

»Ich kann niemanden heilen, dessen Lebenswille erloschen ist«, antwortete Gynvar. »Seine Seele ist es, an der er krankt, und das liegt an der Titanenschlacht. Lichtsänger ist nicht der Erste, den ich so erlebe, und er wird nicht der Letzte sein.«

»Aber er wirkt so viel besser in diesen Tagen ...«

»Das ist nur das letzte Aufbäumen, bis er seine Aufgabe als erfüllt ansieht.«

Die Arbeiten schritten schnell voran, und bald sandte die Annatai die geflügelten Daranil und die windschnellen Velerii aus, um geeignete Männer zu finden.

»Nur Männer?«, fragte Hyan enttäuscht.

»Ich kann diese Gabe nur auf Männer übertragen«, erwiderte Gynvar. »Es müssen die stärksten Krieger dieser Welt sein, und Mächtige. Reinen Herzens und willig, sich voll und ganz in den Dienst einer Sache zu stellen und nur noch der Pflicht zu folgen.«

»Sonst noch was?«

»Jede Menge, mein feuerspeiendes Drachenküken, ich habe alles notiert. Sieh es dir unterwegs an und jetzt spute dich.«

»Ohne Abschiedskuss?«, fragte der junge Daranil voller Hoffnung.

Da neigte sie sich und küsste sie ihn, und ein völlig gewandelter, gereifter Hyan brach zu seiner großen Suche auf.


Jahre der Suche vergingen, bis die ersten Auserwählten im Ordenshaus eintrafen, wo sie von Gynvar erwartet wurden. Sie prüfte die Männer und war einverstanden. Dann begann sie mit der Ausbildung, und diese wackeren Helden, die geglaubt hatten, die besten Krieger der Welt zu sein, erkannten, dass sie bestenfalls begabte Anfänger waren.

Weitere kamen hinzu, bis ihre Zahl auf Fünfzehn gewachsen war, dann kam es zum Stillstand. Aber Gynvar war es zufrieden. Fürs Erste war es genug, weitere Geeignete würden sich mit der Zeit noch einfinden.

Doch selbst zur Blütezeit des Ordens ging die Zahl der Brüder nie über Dreißig hinaus.

Die Ausbildung war lang und hart, doch sie alle waren mit Eifer dabei und bemüht, die Annatai nicht zu enttäuschen. Sie war eine sehr strenge, fordernde, aber gütige Lehrmeisterin. Sie weckte in jedem die besten Talente und formte sie alle behutsam zu starken Mächtigen, von denen jeder einzelne es mit einem Heer aufnehmen konnte. Sie erlernten die Schwertkunst der Annatai und die Ursprache, und sie lernten den Umgang mit der Magie auf eine besondere Weise, genau ihren Fähigkeiten angepasst.

Und erst, als Gynvar zufrieden war, gab sie ihnen die Weihe. In einem geheimen Zeremoniell bekamen die Ordensbrüder nun das, wofür der Orden gegründet worden war: Die Gabe der Voraussicht, und von da an wurden sie Visionenritter genannt.

Die Regeln des geheimen Ordens waren streng, denn nur so konnten sie gegen Femris bestehen. Alle Ritter mussten nach der Weihe in der Öffentlichkeit eine Maske tragen, sie durften nichts über ihre Herkunft und Gabe preisgeben. Durch Eid waren sie an Ardig Hall gebunden und verpflichtet, das Tabernakel unter allen Umständen zu schützen. Nur noch für das Tabernakel lebten und starben sie.

Und die Visionenritter nahmen ihre Pflicht sehr ernst und wichen niemals davon ab. Bald erlangten sie im ganzen Land Valia Respekt und hohes Ansehen, die ersten Lieder über sie wurden gesungen, und durch das Geheimnis um sie und ihre Gabe rankten sich schon im Lauf weniger Mondwechsel unzählige Mythen. Sie gaben dem Krieg um das Tabernakel eine entscheidende Wendung, und Femris wurde zum ersten Mal nicht nur aufgehalten, sondern zurückgeworfen. Die Visionenritter konnten ihn nicht überwinden, dazu war er zu mächtig. Aber sie verhinderten, dass er Ardig Hall überrannte. König Tardil konnte versöhnt und in Frieden scheiden und wusste das Schloss des Friedens in guten Händen bei seiner Tochter.

Auch Yngwin mochte es ein Trost sein, die Visionenritter um sich zu wissen, denn das Volk der Nauraka, die das Meer verließen, starb aus. Über eintausend Jahre später gab es nur noch die Königin und ihre kleine Tochter Ylwa in dem riesigen Schloss.

Gynvar zog weiter, nachdem der Orden der Visionenritter seine Arbeit aufgenommen hatte und die Schwurbrüder überall im Land unterwegs waren, um Unrecht zu verhindern und den Schwachen beizustehen. Die meiste Zeit des Jahres lag das vor den Augen der Welt verborgene Ordenshaus still und verlassen da. Auch der Glanz der Annatai, der nach ihrer Abreise immer noch durch die Räume schwebte, verblasste mit der Zeit.

Soweit bekannt wurde, verließ Gynvar Valia. Was in den weiteren Jahren geschah, weiß niemand. Als letzter Aufenthaltsort vor ihrem Tod gilt die sagenumwobene Insel Erytrien.

Die Macht des Ordens setzte sich über die Jahrhunderte fort. Manch ein Visionenritter verlor sein Leben, doch Nachfolger traten an seine Stelle. Die Ausbildung und Weihe wurden vom jeweiligen Oberhaupt nach den Regeln der Annatai durchgeführt. Die Ordensbrüder standen treu und verschworen zueinander und bewahrten ihr Geheimnis vor der Welt.

Eine Legende besagte, dass das Ende des Krieges erst dann kommen werde, wenn der Letzte des Ordens gegen Femris antritt.

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Uschi Zietsch

Die Chroniken von Waldsee

Ungekürzte Sammelausgabe des gesamten Zyklus Band 1-6

Dämonenblut
Nachtfeuer
Perlmond
Nauraka
Fyrgar
Hatar Stygan

 

fabEbooks

Cover: fotokostic

© dieser Sonderausgabe 2020 by Fabylon Verlag

Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.

eISBN: 978-3-946773-53-5

Inhalt

Die Chroniken von Waldsee

Über die Autorin

Impressum

Inhalt

BUCH 1: DÄMONENBLUT

Erster Teil: Inniu

Kapitel 1: Blutspur

Kapitel 2: Der Weiße Falke

Kapitel 3: Letzte der Nauraka

Kapitel 4: Wahrheit und Legende

Kapitel 5: Blutschuld

Kapitel 6: Die Bestien

Zweiter Teil: Reise nach Valia

Kapitel 7: Entscheidungen und Abschiede

Kapitel 8: Der erste Pfad

Kapitel 9: Am Goldenen Pass

Kapitel 10: Die Blutstätte

Kapitel 11: Ennishgar

Kapitel 12: Die Abtrünnigen

Dritter Teil: Kampf um Ardig Hall

Kapitel 13: Der zweite Pfad

Kapitel 14: Der Heermeister

Kapitel 15: Der Unsterbliche

Kapitel 16: Tag des Zorns

Kapitel 17: Der Waldlöwe

Kapitel 18: Die letzte Schlacht

BUCH 2: NACHTFEUER

Vierter Teil: In Dunkelheit

Kapitel 19: Der Graue

Kapitel 20: Die Gefangenen der Splitterkrone

Kapitel 21: Der dritte Pfad

Kapitel 22: Flucht von Sternfall

Kapitel 23: Die Sühne des Verräters

Kapitel 24: Ferlungar

Fünfter Teil: Der Visionenritter

Kapitel 25: Der Weg nach Farnheim

Kapitel 26: Lady Arlyn

Kapitel 27: Wiedersehen

Kapitel 28: Der vierte Pfad

Kapitel 29: Offenbarung I

Kapitel 30: Offenbarung II

Sechster Teil: Der Zwiegespaltene

Kapitel 31: Neue Ziele

Kapitel 32: Aufbruch

Kapitel 33: Heriodon

Kapitel 34: Im Antasa-Tal

Kapitel 35: Das naurakische Erbe

Kapitel 36: Die Lichtlose

BUCH 3: PERLMOND

Siebter Teil: Der fünfte Pfad

Kapitel 37: Rückkehr

Kapitel 38: Von Träumen und Frauen

Kapitel 39: Noïrun

Kapitel 40: Der junge König

Kapitel 41: Die Hoffnung wächst

Kapitel 42: Ein neuer Bund

Achter Teil: Der sechste Pfad

Kapitel 43: Sonne und Mond

Kapitel 44: Die Reise beginnt

Kapitel 45: In Gandur

Kapitel 46: Die zweite Tür

Kapitel 47: Der Preis

Kapitel 48: Die letzte Tür

Neunter Teil: Tabernakel

Kapitel 49: Statuen und Teppiche

Kapitel 50: Der Gorgonier

Kapitel 51: Sturm

Kapitel 52: Der Siebte Splitter

Kapitel 53: Im Licht

Kapitel 54: Der Kranich

Anhänge

Nauraka

ERSTER TEIL
DARYSTIS

Kapitel1: Der junge Prinz

Kapitel2: In der Stille

Kapitel3: Der Antrag

Kapitel4: Der Markt

Kapitel5: Das Versprechen

Kapitel6: Brauttanz

ZWEITER TEIL
VERRAT

Kapitel7: Nach Karund

Kapitel8: Neue Regeln

Kapitel9: Keine Aussicht

Kapitel 10: Nur noch ein Korn

Kapitel 11: Der Namenlose

Kapitel 12: Der Fluch

DRITTER TEIL
LANDGÄNGER

Kapitel 13: Die ersten Schritte

Kapitel 14: Auf See, nicht darunter

Kapitel 15: Die Traurige Festung

Kapitel 16: Mohnblüte

Kapitel 17: Die Wolkenfänger

Kapitel 18: Eislicht

VIERTER TEIL
HEIMKEHR

Kapitel 19: Der letzte Kampf

Kapitel 20: Das Letzte, was bleibt

Anhang: Waldsee

Fyrgar

Erstes Leben - Das stolze Kind

Der halbe Mensch

Der ferne Mann

Güte und Ahnung

Dunkelhimmel

In Winternacht

Netzschwinger

Schandfeuer

Zweites Leben - Flammenritter

Das Gewicht der Luft

Feuer und Wasser und ein Schwert

Ein anderer Weg und erstaunliche Lehren

Von Wirrköpfen und großen Talenten

Es stiegen Dämoninnen herab

Donnerschwingen

Die man die Wächterin nennt

Licht, wo es keines gibt

Das letzte Feuer

Drittes Leben - Die Allumfassende

Und was dann geschah

Eisfeuer

Anhang

Glossar

Die Chroniken von Waldsee 6: Hatar Stygan - Der Dunkle Hass

Einleitung

Ziel 1
Ishgalad

Prolog: Sturmbringer

Kapitel 1: Trinkt dies, meine Brüder und Schwestern

Kapitel 2: Ruf des Goldenen Traums

Kapitel 3: Der Schatten des Perlmonds

Kapitel 4: Zwischen den Himmeln

Kapitel 5: Die Grenze von Wasser und Feuer

Kapitel 6: Der Sturz des Titanen

Kapitel 7: Chrysaora

Kapitel 8: Der dunkle Zauberer

Ziel 2
Erytrien

Kapitel 9: Der Rote Dämon

Kapitel 10: Die Hügel der Schneeäpfel

Kapitel 11: Der Kreis schließt sich

Epilog: So sei es denn

Ausblick

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Uschi Zietsch


Die Chroniken von Waldsee

Trilogie – Gesamtausgabe



»Ein großartiges Fantasy-Abenteuer, dem man sich bereits nach den ersten Seiten nicht mehr entziehen kann.« Lies-und-lausch.de

»Mehr Legenden, Heldenmut und Epos wird man selten finden.« Mediamania.de


Bisher über 60.000 Gesamtauflage als Print, eBook und Hörbuch!


Das große Epos um den jungen Ritter Rowarn und seine Kampfgefährten.

Vor Jahrhunderten zerbrach in einem mörderischen Krieg ein magisches Artefakt in sieben Teile. Nur der Zwiegespaltene, so heißt es, kann das Tabernakel heilen – doch niemand weiß, was dann geschieht.

Wer mag es sein? Wird er die Kräfte zum Guten oder zum schlechten verwenden?





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Über die Autorin

Uschi Zietsch wurde 1961 in München geboren. Sie ist verheiratet und lebt seit Jahren als Schriftstellerin und Verlegerin mit ihrem Mann und vielen Tieren auf einem  kleinen Hof im bayerischen Allgäu.

Ihre erste Veröffentlichung war 1986 der Fantasy-Roman »Sternwolke und Eiszauber« im Heyne-Verlag. Darauf folgten bis heute kontinuierlich weit über hundert Veröffentlichungen in den Bereichen der Science Fiction, Fantasy, Kinderbücher, TV-Serien und vielen mehr. Unter dem Künstlernamen »Susan Schwartz« schrieb sie jahrelang als Teamautorin bei »Perry Rhodan«, »Maddrax« und anderen Heftserien mit. Für die exklusiv bei BS-Editionen (Bertelsmann) erschienenen sehr erfolgreichen und beliebten Urban-Fantasy-Serien »Elfenzeit« und »Schattenlord« zeichnete sie für das gesamte Konzept und die Exposés verantwortlich und schrieb die meisten Romane.

Darüber hinaus gibt Uschi Zietsch Schreibseminare und ist Mit-Verlegerin des Fabylon-Verlags.

2008 erhielt sie den Literaturpreis von amnesty international für ihre Kurzgeschichte »Aische« zum Thema Menschenrechte. 


Als Fantasy-eBooks sind erhältlich:

Drakhim - Die Drachenkrieger (Trilogie Gesamtausgabe)

Die Chroniken von Waldsee Trilogie – Dämonenblut / Nachtfeuer / Perlmond

Nauraka – Volk der Tiefe (Die Chroniken von Waldsee Band 4)

Fyrgar – Volk des Feuers (Die Chroniken von Waldsee Band 5)

Der Stern der Götter (Die Chroniken von Waldsee Prequel)

Eine Kurzgeschichte aus Waldsee: Der wahre Schatz


Sternwolke und Eiszauber (Das Träumende Universum, siehe auch »Chroniken von Waldsee«)


Der Traum der Wintersonne

HADES

Der Alp


Sowie die Kinderbuch-Reihe »Ich erzähl dir was« – aus dem Leben von Jungtieren

Hinweis

Die Trilogie ist auch als aufwändiges Hardcover mit 12 Farbillustrationen und Extras erhältlich (ISBN 978-927071-88-)

Ebenso ist die Trilogie auch als ungekürztes Hörbuch (40,5 Stunden) zum Download erhältlich, sowie in einer limitierten Auflage auf USB-Stick mit Booklet im Shop auf www.fabylon.de.



Impressum:

Cover: Crossvalley Smith

© der eBook-Ausgabe 2012 by fabEbooks

ISBN: 978-3-943570-05-2


Inhalt

Über die Autorin

Impressum

Inhalt

BUCH 1: DÄMONENBLUT

Erster Teil: Inniu

Kapitel 1: Blutspur

Kapitel 2: Der Weiße Falke

Kapitel 3: Letzte der Nauraka

Kapitel 4: Wahrheit und Legende

Kapitel 5: Blutschuld

Kapitel 6: Die Bestien

Zweiter Teil: Reise nach Valia

Kapitel 7: Entscheidungen und Abschiede

Kapitel 8: Der erste Pfad

Kapitel 9: Am Goldenen Pass

Kapitel 10: Die Blutstätte

Kapitel 11: Ennishgar

Kapitel 12: Die Abtrünnigen

Dritter Teil: Kampf um Ardig Hall

Kapitel 13: Der zweite Pfad

Kapitel 14: Der Heermeister

Kapitel 15: Der Unsterbliche

Kapitel 16: Tag des Zorns

Kapitel 17: Der Waldlöwe

Kapitel 18: Die letzte Schlacht

BUCH 2: NACHTFEUER

Vierter Teil: In Dunkelheit

Kapitel 19: Der Graue

Kapitel 20: Die Gefangenen der Splitterkrone

Kapitel 21: Der dritte Pfad

Kapitel 22: Flucht von Sternfall

Kapitel 23: Die Sühne des Verräters

Kapitel 24: Ferlungar

Fünfter Teil: Der Visionenritter

Kapitel 25: Der Weg nach Farnheim

Kapitel 26: Lady Arlyn

Kapitel 27: Wiedersehen

Kapitel 28: Der vierte Pfad

Kapitel 29: Offenbarung I

Kapitel 30: Offenbarung II

Sechster Teil: Der Zwiegespaltene

Kapitel 31: Neue Ziele

Kapitel 32: Aufbruch

Kapitel 33: Heriodon

Kapitel 34: Im Antasa-Tal

Kapitel 35: Das naurakische Erbe

Kapitel 36: Die Lichtlose

BUCH 3: PERLMOND

Siebter Teil: Der fünfte Pfad

Kapitel 37: Rückkehr

Kapitel 38: Von Träumen und Frauen

Kapitel 39: Noïrun

Kapitel 40: Der junge König

Kapitel 41: Die Hoffnung wächst

Kapitel 42: Ein neuer Bund

Achter Teil: Der sechste Pfad

Kapitel 43: Sonne und Mond

Kapitel 44: Die Reise beginnt

Kapitel 45: In Gandur

Kapitel 46: Die zweite Tür

Kapitel 47: Der Preis

Kapitel 48: Die letzte Tür

Neunter Teil: Tabernakel

Kapitel 49: Statuen und Teppiche

Kapitel 50: Der Gorgonier

Kapitel 51: Sturm

Kapitel 52: Der Siebte Splitter

Kapitel 53: Im Licht

Kapitel 54: Der Kranich

Anhänge

BUCH 1

DÄMONENBLUT


ERSTER TEIL


Inniu


Kapitel 1

Blutspur


Rowarn schlief und wusste noch nicht.

Der Morgen zog unschuldig und rein herauf, behutsam tastete der erste Sonnenstrahl über den Horizont und kündigte einen strahlenden Tag an. Die Sterne schwanden im aufdämmernden Licht, und ein zartrosa Streifen breitete sich am Rand der Welt aus. Leises Piepsen drang aus den Büschen, als die Jungvögel erwachten. Ihre Eltern plusterten das Gefieder auf und schüttelten sich, bevor sie sich ausgiebig putzten und auf die anstrengende Futtersuche vorbereiteten. Der letzte Nachtjäger schlich müde in den Wald, ohne sich noch einmal umzudrehen. Frühnebel kroch über die zartgrünen Wiesen, und tauglänzende Blüten öffneten sich und gaben ihr süß duftendes Inneres der Sonne preis.

Rowarn drehte sich selig lächelnd im Gras um. Anini ..., seufzte er im Traum, der so wirklich schien. Ein Traum, der gestern in der Dämmerung mit dem Fest begonnen hatte.

Die Lobpreisung des wachsenden Korns war voll der Ausgelassenheit und des Frohsinns gewesen. Rowarn hatte sich die ganze Zeit am Rand des Festes gehalten, so nah und doch fern, hatte geschwiegen und sich beinahe unsichtbar gemacht. Es gab nur einen Grund für ihn, hier zu sein, und immer nur hatte er sie angesehen: Anini, Schönste der Stadt, so wurde sie genannt, und so flüsterte Rowarn ihren Namen auch heimlich für sich, kostete jede einzelne Silbe wie einen süßen Honigtropfen. Während die anderen aßen und tranken, während köstliche Düfte seine Nase umschmeichelten, verspürte Rowarn kein Verlangen nach saftigem Braten, gewürzt mit den ersten Frühlingskräutern, nach dampfendem Brot aus dem Holzofen und schwerem Honigbier. Anini war für ihn Nahrung genug, die seine Augen sättigte, und der Magen musste schweigen.

An diesem Abend strahlte sie heller als der Mond, mit kupferrotem, blumenumkränztem Haar und Augen wie Kornblumen, und mit roten Lippen, die entweder fröhlich lachten oder weich küssten – vielleicht einen jungen Verehrer, ab und zu ein rotwangiges Kind. Anini konnte wählerisch sein, mit wem sie tanzte, doch sie erwählte viele während des langen Abends, unter dem Schein der Öllampen und Kerzen in bunten Gläsern, die ein zauberisches Licht verströmten. 

Mit fortschreitender Dunkelheit wechselte die Stimmung zusehends zu trunkener Heiterkeit, viele Gesichter glänzten, Nasenspitzen wurden rot von Bier und Wein. Das neue Frühjahr musste ausgiebig gefeiert werden, damit es eine gute Ernte gab. Und die Vorzeichen waren gut: Das Wetter war klar, die Luft mild und voller Blütenduft. 

Als es allmählich auf Mitternacht zuging, die Musiker erschöpft zu langsameren Weisen übergingen und der Kreis sich lichtete, kam Anini unerwartet auf Rowarn zu, der den ganzen Abend hindurch seinen Platz auf der Bank am Rande des Lichtscheins nicht verlassen hatte. Er konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich zu ihm wollte. Erfreut, aber auch unsicher, sah er ihr entgegen. (War dies noch Traum? Oder schon Erinnerung? Oder ... Wirklichkeit?)

Sie blieb vor ihm stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. »Nun, Rowarn«, begann sie mit strenger Stimme. »Was sitzt du stundenlang hier herum und starrst mich fortwährend an? Missfalle ich dir so sehr?«

Er machte ein erschrockenes Gesicht und schüttelte betreten den Kopf. »G-ganz im Gegenteil, ich, ähm, finde dich w-wunderschön«, brachte er ungelenk heraus.

»So?« Ihre Augen blitzten auf. »Und warum hast du mich dann nie zum Tanzen aufgefordert? Den ganzen Abend habe ich darauf gewartet!«

Er blinzelte überrascht. »Ich hätte nie gewagt ...« Dabei tanzte er gern, er konnte sich sehr geschmeidig und ausdrucksstark im Einklang der Musik bewegen, als wäre es ihm angeboren.

Da lachte sie. »Rowarn, du bist ein Tölpel. Hattest du so viel Angst, ich könnte dich abweisen, dass du es gar nicht erst versuchen wolltest? Du musst noch viel lernen! Du solltest dich mehr in menschlicher Gesellschaft aufhalten, wo du hingehörst, und nicht nur bei deinen hufbeinigen Muhmen. Die haben dich ja mehr wie einen der Ihren aufgezogen, anstatt wie einen Menschen.«

»Es – es tut mir leid«, stammelte er. »Ich wusste nicht, ob ich willkommen bin, nach all dem Schrecklichen, was in letzter Zeit …«

»Sch-scht.« Anini legte ihm einen Finger an den Mund. »Lass die anderen doch reden, sie sind nur neidisch. Und sie fürchten sich vor dem, was sie nicht kennen. Aber ich weiß, dass du ein gutes Herz hast. Ich kann es in deinen Augen sehen.« Sie hielt ihm die Hand hin. »Dann komm, versäumen wir nicht noch mehr von dieser wundervollen Nacht.«

Er nahm ihre Hand und stand auf. »Aber ... wohin?«, murmelte er verstört, und sie lachte gurrend.

»Sag bloß, du warst noch nie mit einem Mädchen allein bei Nacht draußen?«

»Oh ...« Er begriff, ein wenig spät, aber immerhin. Nein, es war nicht das erste Mal. Da war Rubin gewesen, des Köhlers Tochter. Und ... Malani, die Tochter des Fischers. Das war nicht ungewöhnlich; mit ihnen war er sozusagen aufgewachsen, denn ihre Eltern lebten wie Rowarns Muhmen auf einsamen Höfen abseits von Madin. Eines Tages, als sie entdeckten, dass sie keine Kinder mehr waren, hatten sie unschuldige und scheue Küsse getauscht, und vielleicht auch ein wenig mehr, als sie älter wurden und dazulernten.

Rowarn hätte jedoch nie zu hoffen gewagt, dass ein Stadtmädchen, noch dazu Anini, sich jemals für ihn interessieren würde. Vorsichtig sah er sich um, aber niemand beachtete sie. Aninis Vater hatte den schweren Kopf auf die Tischplatte fallen lassen und schnarchte so fürchterlich, dass die Bäume zitternd ihre Blätter einrollten. Zu Beginn des Festes hatte der eine oder andere Stadtrat Rowarn mit verengten Augen angeblickt, als er sich vorsichtig bis an den Rand herangewagt hatte. Doch als er die ganze Zeit über nur still auf der Bank saß, hatten sie ihn schließlich vergessen.

Die beiden jungen Menschen verließen das Fest und traten Hand in Hand in das nächtliche, vom Mond beschienene Land hinaus. Abseits aller Wege lief Anini über die Hügel, Rowarn immer im Schlepptau. Barfuß schwebte sie über das feuchte, junge Gras, beschwingt und leise kichernd. Schließlich, schon nahe beim Wald, blieb das Mädchen stehen und fasste Rowarn an beiden Händen. Einen langen Moment schaute Anini ihn schweigend, aus glänzenden Augen an. »Wenn du dich nur sehen könntest ...«, wisperte sie fast andächtig.

Das hatten auch Rubin und Malani schon zu ihm gesagt, unabhängig voneinander und in Nächten wie dieser. Und von da an hatten sie ihn am liebsten bei Vollmond draußen getroffen.

Rowarns Augen, klarblau wie ein alter, sehr reiner Gletscher in der Sonne, leuchteten in der Dunkelheit matt wie ein ferner Stern. Seine Haare waren blond wie eine Kornähre im Schnee und so hell, dass er sich des Nachts nicht ungesehen an jemanden heranschleichen könnte. Und seine Haut, so glatt und bleich wie Marmor, schimmerte im Mondlicht wie Perlmutt ...

»Du übertreibst«, unterbrach Rowarn verlegen.

»Kein bisschen«, widersprach Anini schnurrend. »Genau deswegen bin ich mit dir hier.« Sie ließ sich ins Gras fallen, Rowarn mit sich ziehend. Und dann küsste sie ihn ...



Noch immer im Traum gefangen, drehte Rowarn sich erneut und tastete neben sich, wo er Wärme fühlte, die Nähe seiner Liebsten ...

Nein. Dies war kein Traum mehr, angefüllt mit seligen Wonnen.

Kälte war es, eisige Starre, die er fühlte, die seine Finger hinaufkroch, sich rasend schnell in seinem Körper ausbreitete, und Rowarn weckte.

Mit einem erstickten Laut fuhr er hoch, während das letzte Traumbild in ihm zerstob. Noch schlaftrunken betrachtete er seine Hände, die voll Blut waren, und seine Kleidung, und dann wusste er.

Nicht schreien. Nicht schreien! Rowarn biss sich auf die Knöchel, um zurückzudrängen, was aus ihm herauswollte, dieses abgrundtiefe Grauen, gesammelt in einem einzigen Wort, weil es sonst keines gab für das, was er sah.

Nein ...

Anini war tot. Ihre einst so sprühenden Augen starrten milchblau in den heller werdenden Himmel. Das Mieder war in Fetzen, ihre Brust aufgerissen, die Rippen aufgebrochen, das Herz geraubt. Und überall Blut ...

Dies war, was Rowarn sah, was er begriff, aber nicht ... erklären konnte.

Rowarns Augen brannten, der trommelnde Herzschlag sprengte ihm fast die Brust. Ein unterdrücktes Wimmern entrang sich seiner zugeschnürten Kehle. Dann sprang er auf und rannte schluchzend über die Wiese in den Wald hinein.



Rowarn liebte den Wald, seit er laufen konnte. Das Spiel von Licht und Schatten, die Würde der alten Bäume, das huschende, zwitschernde und brummende Leben, heimlich und nur selten zu sehen. Die Luft war hier kühler und reich an Gerüchen, nach Moos und feuchtem Stein, Erde und Pilzen, Honig und Blüten. Wann immer er Kummer hatte, ging er in den Wald und wurde getröstet. Er kannte die Pfade vieler Waldtiere, und sie wussten es zu schätzen, dass er sich wie einer von ihnen verhielt – still und unauffällig.

Doch nicht heute, an diesem Tag des Blutes. Wie ein gedankenloser Städter trampelte und stampfte er den Karrenweg entlang, ohne nach links oder rechts zu blicken. Schließlich schlug er sich blindlings in die Büsche und scheuchte allerlei Getier auf, das zeternd und fauchend weichen musste. Er störte den Hochzeitsgesang der Vögel, stolperte über Wurzeln, unter denen Ameisen und Käfer lebten, und veranstaltete einen solchen Lärm, bis der ganze Wald in Aufruhr war und die Häher schrill pfeifend Alarm schlugen.

Blut! Blut!, hörte Rowarn sie rufen, und sie verfolgten ihn den ganzen Weg entlang, kreuz und quer durch den Wald. Was ist geschehen?

»Ich weiß es nicht!«, schluchzte er mit heiserer Stimme. »Ich habe geschlafen ...«

Und das Blut? Und das Blut? Hände, Kleidung, Gesicht und Haare ...

Rowarn presste sich die Hände auf die Ohren. »Nein! Nein! Nein! O Götter, steht mir bei! Ich war es nicht ... Anini, Anini ... warum wurde dir das angetan ...«

Schließlich konnte er nicht mehr weiter. Rowarn blieb stehen, die Augen blind von Tränen, sein Atem pfiff. Sein Körper war schweißüberströmt, und dazu überall das Blut an ihm, vermischt mit aufgewühlter Erde: Genauso, erinnerte er sich verstört, hatte einst Hegen der Mörder ausgesehen, als er krank am Geist aus dem Wald gebrochen war und wirr stammelnd berichtete, was er seiner Frau angetan hatte.

Rowarn hatte damals trotz allen Abscheus Mitleid mit dem Mann empfunden, der den Grund für seine Tat nicht nennen konnte und wenig später gebrochen starb, noch bevor die Stadtväter über ihn zu Gericht sitzen konnten.

Und nun sah er selbst ganz genauso aus, konnte nicht erklären, was geschehen war, hoffte verzweifelt, dass er unschuldig war. Aber wer würde, wer konnte ihm glauben? Was sollte er tun? Wo sollte er hin?

Nach Hause konnte er jedenfalls nicht. Schon von weitem würden seine Eltern alles riechen: den abscheulichen Gestank nach Blut und Schuld, nach Feigheit und Flucht.

Er hatte alles falsch gemacht. Er hätte gleich in die Stadt zurückkehren müssen, um Aninis Vater zu sagen, dass seine Tochter tot auf der Wiese lag, grausam ermordet. Dann hätte man sie geholt, gesalbt und würdevoll aufgebahrt, und sie würde nicht einsam dort draußen im nassen Gras liegen, an diesem sonnenklaren Morgen.

»Sie hätten mir nicht geglaubt, dass ich unschuldig bin ...«, verteidigte Rowarn sich vor sich selbst. »Sie hätten mich gefangen, gefesselt und wahrscheinlich erschlagen oder erhängt, noch bevor meine Eltern davon erfahren hätten ...«

Am besten machte er sich aus dem Staub, jetzt gleich und für immer. Natürlich würden seine Muhmen voller Kummer sein und vielleicht an ihm zweifeln. Aber er konnte ihnen wenigstens nicht mehr schaden und sie nicht in Verruf oder sogar Gefahr bringen. Irgendwann wäre dies alles vergessen, und sie könnten weiterleben wie zuvor.

Rowarn zuckte zusammen, als er die Richtung wechseln wollte und plötzlich in ein Paar große, braune Augen blickte. Es war ein junger Elenki, ein schmales Böckchen noch, scheu und ängstlich. Er fing gerade an, die ersten, zarten Geweihknospen auszubilden, die hellen Tupfen in seinem Jugendkleid waren kaum mehr zu sehen.

Rowarn schluckte. »Du solltest besser gehen, damit du niemals die Schrecken kennenlernst, die ich schon erlebt habe«, flüsterte er.

Das Böckchen legte den Kopf leicht schief, ohne die Augen von dem  jungen Mann zu wenden. Seine großen, mit flauschigem Fell bewachsenen Ohren gingen vor und zurück.

»Was machst du hier?«, fragte Rowarn verzweifelt. »Hast du nicht gehört, dass die Häher mich bereits schuldig gesprochen haben?«

Der kleine Elenki reichte Rowarn gerade bis an die Hüfte. Einem ausgewachsenen Hirsch könnte er nicht über die Schulter blicken. Das Jungtier versuchte vergeblich, den rechten Hinterlauf hochzuziehen. Es hatte sich im Gestrüpp verheddert und konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien.

»Warum bist du so ungeschickt?«, stieß Rowarn hervor. »Hast du nicht aufgepasst, was deine Eltern dir beigebracht haben? Da, nimm meine Witterung auf, ich stinke nach Gewalt und Tod! Begreife, was dich in Gefahr bringt, was du immer meiden musst! Wenn du je erwachsen werden willst, darfst du keinen Fehler machen!«

Der Elenki reckte den Hals und stupste Rowarn leicht an. Die zuckende braune Nase war feucht, die Augen groß und sanft. Dieses junge Wesen glaubte an seine Unschuld. Es vertraute darauf, dass Rowarn ihm helfen würde.

Er ging einen Schritt auf das Böckchen zu, bückte sich und berührte vorsichtig den von Schlingpflanzen gefesselten Lauf. »Halte kurz still«, flüsterte er. »Da hast du wirklich ordentliche Arbeit geleistet ... leichte Beute für jedes Raubtier oder den Jäger ...«

Das Jungtier verharrte, während Rowarn sich abmühte, den Lauf aus dem Gewirr zu befreien. Schließlich zog es den zierlichen Spalthuf mit einem Ruck hoch und war frei.

Rowarn fuhr zusammen, als er in diesem Augenblick ein tiefes Röhren hörte, und dann schob sich der mächtige, geweihtragende Kopf eines ausgewachsenen Elenki durch das Gebüsch. Seine ausladenden Schaufeln mit den tödlichen Spitzen maßen mehr als doppelte Mannslänge. Neben ihm erschien die zierlichere Gestalt einer Hindin, die ein nur wenige Tage altes Kalb an der Seite führte.

Der junge Mann erstarrte. Elenki, vor allem die Hirsche, gehörten zu den gefährlichsten Geschöpfen des Waldes. Sie waren angriffslustig, schnell und tödlich. Nur ein erfahrener, sehr hungriger Panther würde sich jemals an einen ausgewachsenen Bullen heranwagen.

Der junge Bock stieß einen hohen, quäkenden Laut aus, dann sprang er zu seinen Eltern. Ohne Rowarn weiter zu beachten, verschwand die Familie im Gebüsch.

Rowarn stieß den angehaltenen Atem aus und wischte sich übers Gesicht, verschmierte dabei Schweiß, Blut und Dreck. Diese Ablenkung hatte ihn zur Vernunft gebracht, und er war dankbar dafür. Weglaufen war keine Lösung. Er musste herausfinden, was geschehen war, und seinen Eltern ebenso wie den Städtern beweisen, dass er kein Mörder war. »Ja, ich sollte nach Hause gehen«, murmelte er. »Aber zuvor ... muss ich mich wenigstens säubern ...«

Eine Stimme in seinem Inneren drängte ihn weiterhin, stattdessen in die andere Richtung zu laufen, so schnell und so weit er vermochte, bis niemand ihn mehr einholen und er anderswo ein neues Leben beginnen konnte. Aber Rowarn sah immer noch die braunen Augen des jungen Elenki vor sich, die ihm Mut zuzusprechen schienen, und ihn davor warnten, etwas Dummes, Endgültiges zu tun. Die Familie ließ einen niemals im Stich.

Wenn jemand für ihn Verständnis aufbrachte, dann Rowarns Zieheltern. Sie würden alles für ihn tun, obwohl – oder gerade weil – er nicht ihr leiblicher Sohn war. Sie würden wissen, was zu tun war.

Gewiss machten sie sich längst Sorgen, weil er immer noch nicht zu Hause war. Vielleicht hatten sie sogar schon von Aninis Tod erfahren ...

Rowarn sprang auf und schlug den Weg zum See ein, der nicht weit von seinem Zuhause lag. Dort konnte er sich reinigen. Es zog ihn eilig dorthin, nun, da er seine Entscheidung getroffen hatte. Der Wald tröstete ihn stets in seinem Kummer, aber das Wasser bot Schutz. So hatte er es schon immer empfunden.

Im See ruhte eine Reinheit und Klarheit, wie Rowarn sie an Land nie erlebte. Die Beschränkungen, sich nur schwerfällig auf dem Boden fortbewegen zu können, waren aufgehoben. Alles, was dort unten lebte, war viel vertrauter miteinander, und sich noch dazu auf eine einzigartige Weise nahe, wenn nicht vereint. 

Schon als Kind hatte Rowarn viel Zeit im See verbracht. Er konnte schwimmen wie ein Otter und länger als jeder andere Landbewohner unter Wasser ausharren. Doch er hatte nie den Wunsch verspürt, für immer dort zu bleiben, wie Malani eines Frühlingsmorgens scherzhaft bemerkt hatte, als sie blau gefroren die Wärme der Sonne suchte, während Rowarn immer noch planschte.

So wohl er sich im Wasser fühlte, er gehörte doch nicht dorthin. Das war eine seltsame Empfindung, die er nicht erklären konnte, und die ihn stets nur bis zu einer gewissen Grenze gehen ließ, niemals darüber hinaus.

Jetzt aber sehnte er sich danach, einzutauchen und all den Schmutz und die Schuld von sich abzuwaschen, um gereinigt, vielleicht geläutert unter die Augen seiner Zieheltern treten zu können.

Rowarn seufzte, als er endlich den See erreichte. Die Sonne war jetzt voll aufgegangen und übergoss die glitzernde Oberfläche mit silbernem Schein. Ohne zu verharren, sprang Rowarn ins Wasser und tauchte ein. Nach kurzer Unruhe wurde die Oberfläche wieder still und glatt.

Das Wasser färbte sich schwarz.



Sämtliche Ehrenwerten der Stadt, allen voran Aninis Vater, ein grauhaariger, vierschrötiger Mann namens Daru, ließen sich von Pferdewagen nach Weideling bringen, dem Heim der beiden Velerii. Seit langer Zeit lebten Rowarns Zieheltern in Inniu, fern ihrem Volk, als Hüter von Weideling. Ein staubiger Pfad, gerade breit genug für ein Fuhrwerk, zweigte vom gut befestigten Karrenweg ab, der zu den bedeutendsten Handelsstraßen Valias führte.

Schon von weitem war der Zug durch die aufgewirbelte Staubwolke sichtbar, die ihn aufplusternd einhüllte.

Neben Daru saß die weinende Hallim, Aninis Mutter, das Gesicht in einem großen Tuch verborgen. Daru blickte grimmig nach vorn; während der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Versteckt hustete er, wenn der Staub seine Kehle zu sehr reizte, und wischte sich gelegentlich die Augen.

Die Haustür von Weideling öffnete sich, als der Zug am Ende des Weges zum Stillstand kam. Daru und Hallim stiegen vom Wagen herab, die zahlreichen Begleiter blieben noch sitzen.

Schattenläufer trat ins helle Licht des Vormittags. Sein dunkles, markantes Gesicht drückte Freundlichkeit aus, und er hob die Hand. »Ich grüße Euch, Daru der Starke, an diesem strahlenden Frühlingstag, nach einem, wie ich hoffe, großen Fest.« Es war die Art der Velerii, derart förmlich und blumig zugleich zu sprechen. Sie hatten für jeden Menschen einen Beinamen.

Jetzt bemerkte Schattenläufer das von Leid und Tränen geschwollene Gesicht Hallims, als er sich ihr zuwandte, und stutzte. Seine breite Stirn legte sich in besorgte Falten. »Ich glaube, ich war zu voreilig mit meinem Gruß. Ich bitte Euch um Verzeihung, Hallim die Kluge. Was ist geschehen?«

»Anini wurde ermordet!«, entfuhr es Daru, und nun verlor auch er die Fassung und brach in Tränen aus. »Unser Sohn Rayem fand sie heute Morgen auf der Wiese, grausam entstellt! Das Herz wurde ihr bei lebendigem Leib aus der Brust gerissen, könnt Ihr Euch das vorstellen? Nur ein Tier kann so etwas Entsetzliches tun!«

Die pechschwarze Mähne Schattenläufers wallte über seinen menschlichen Rücken bis zum Widerrist des Pferdekörpers hinab, als er den Blick wandern ließ und in vorwurfsvolle, wenn nicht anklagende Augen sah. Sein langer Schweif peitschte einmal um seine blauschwarz glänzenden Flanken. Er strich sich den Bart und setzte einen Huf nach vorn. »Nun, ich bin kein Tier«, sagte er ruhig mit tiefer Stimme. In seinen großen dunklen Augen lag nunmehr Trauer.

»Wo ist Rowarn?«, rief Aninis Bruder Rayem vom Wagen herab.

Ein Licht schien aufzuglühen, als Schneemond in diesem Moment an Schattenläufers Seite trat. Ihr Fell schimmerte fast silbrig im Sonnenschein, die seidige Mähne kräuselte sich leicht in der sanften Brise. Schneemonds bernsteinfarbene Augen blitzten. Sie war keineswegs so sanftmütig wie ihr Gemahl. »Auch Rowarn ist kein Tier«, sprach sie mit glockenheller Stimme, aber mit drohendem Nachhall.

»Woher wissen wir das so genau?«, rief jemand, und mehrere Stadtbewohner stimmten dem Einwand lautstark zu. 

Der Stadtälteste, Larkim der Strenge, kletterte steifbeinig vom Wagen und stakste auf einen Stock gestützt auf die Velerii zu. Allerdings hielt er genau wie Daru respektvollen Abstand. Bei allem Zorn vergaßen die Menschen nie, mit wem sie es zu tun hatten. Der Widerrist von Schneemond und Schattenläufer reichte den meisten Menschen bis an die Stirn; mit ihrem menschlichen Oberkörper und dem Haupt überragten sie jeden der Anwesenden um eine halbe Mannslänge. 

»Es mag sein«, sprach der Greis mit erstaunlich kraftvoller, tragender Stimme, »dass Rowarn aussieht wie wir und einer gefälligen Sprache mächtig ist. Aber Ihr scheint zu vergessen, wie unbeherrscht er ist, wie schnell er in blindwütige Raserei gerät! Oder stimmt es nicht, Ondur?« 

Der aufgerufene Junge sprang vom Wagen und zeigte den Velerii die hässliche weiße Narbe an der rechten Halsseite. Nacheinander wurden junge Männer, alle ungefähr in Rowarns Alter, aufgefordert, Narben vorzuzeigen, die Schattenläufers Zögling ihnen zugefügt hatte.

Hallim, die niemals jemandem etwas Böses wünschte, nicht einmal in dieser schrecklichen Stunde, warf allerdings zitternd ein: »Uns ist bekannt, dass Rowarn dies nicht willentlich tut. Etwas anderes ergreift in solchen Momenten Besitz von ihm, denn er ist danach jedes Mal reumütig und zerknirscht, und er gibt sich viel Mühe, damit es nicht zu solchen Ausbrüchen kommt. Aber wie wollt Ihr uns beweisen, dass er es nicht war? Er wurde heute Nacht gesehen, als er zusammen mit Anini das Fest verließ. Er war der Letzte, der meine Tochter ...« Sie schluchzte und konnte für einige Momente nicht weitersprechen. Niemand wagte eine Äußerung, alle warteten schweigend und betreten, die Augen zu Boden gerichtet. Schließlich hatte sie sich so weit gefasst, dass sie fortfahren konnte: »Er war als Letzter mit ihr zusammen. Das ist erwiesen.«

Daru ballte die Hand zur Faust. »Wahrscheinlich hat er sie schänden wollen, und sie setzte sich zur Wehr, sodass er in tollwütige Raserei geriet und ...«

»Ihr sagtet, Anini wurde das Herz herausgerissen «, unterbrach Schneemond mit eisklirrender Stimme. Ihr helles, liebevolles Gesicht war zur weißen Maske erstarrt. »Auf dieselbe Weise wie den drei anderen Mädchen, die wir in den letzten Wochen fanden. Wollt Ihr behaupten, auch dies wäre Rowarns Werk gewesen?«

»Ja!«, schrie Rayem, und einige weitere stimmten aufgestachelt zu. Die Stimmung heizte sich zusehends auf, und der eine oder andere hielt plötzlich ein Messer in der Hand.

Schattenläufers Gesicht verdüsterte sich bei diesem Anblick. Sein Schweif schlug erregt, und er stampfte einmal mit dem Huf auf.

Schneemond starrte zuerst auf Daru, dann auf Hallim hinab. »Ist das wirklich euer aller Meinung?«

Die beiden trauernden Menschen wichen ihrem Blick aus und schwiegen. Fassungslos hob Schneemond den Kopf. »Wisst ihr auch, was ihr da sagt?«, rief sie. Aller Zorn war verflogen, Schmerz und Kummer verzerrten ihre zarten Züge. »Rowarn ist unter euch aufgewachsen. Er hat unsere Lehren empfangen, und vor allem Respekt vor jedem Wesen unter Sonne und Mond. Er ist kaum erwachsen und auf dem besten Wege, sich im Leben zu bewähren! Wie könnt ihr nur annehmen, dass er in der Lage wäre, so grausame Taten zu begehen und gleichzeitig weiterzuleben, als wäre nichts geschehen?«