Willigis: Der Alte aus Atlantis

WILLIGIS

DER ALTE
AUS ATLANTIS

Voglherd 1 • D-85567 Grafing

Satz: Sebastian Carl

Inhaltsverzeichnis

Der Alte aus Atlantis

Der Alte aus Atlantis

Schwer stampft das Schiff durch die aufgeregten Wogen des Karibischen Meeres. Sturm fegt daher und türmt die Wellenberge auf. Die Decks sind leer. Die Passagiere haben sich in ihre Kabinen zurückgezogen. Nur ein paar Trinkfeste sitzen im Gesellschaftsraum und versuchen, das innere Unbehagen durch erhöhte Alkoholzufuhr zu überwinden.

Auf dem Ruhebett in seiner Kabine liegt Erik von Lichtenau, seinen Gedanken hingegeben. Die großen Augen in dem durchgeistigten Gesicht schauen ins Leere, ihr Blick ist nach innen gerichtet. Erik von Lichtenau ist der Abkömmling eines alten Geschlechtes, das durch Jahrhunderte seinen Stammsitz im Süden Deutschlands hatte.

Sein Vater bekleidete ein Hofamt bei einem kleineren Landesfürsten, und als nach dem verlorenen 1. Weltkrieg das Kaiserreich in Trümmer sank, war auch er seines Amtes verlustig gegangen. Diese schwere Erschütterung konnte der alte Hofmann nicht überwinden und war wenige Jahre danach dem Tod erlegen. Auch die so sehr geliebte Mutter hatte Erik von Lichtenau verloren. Sie war ihm alles gewesen. Nach außen die große Dame, die untadelig durch ihr Leben schritt, sich immer willig und mit seltener Beherrschung den vielfachen gesellschaftlichen Verpflichtungen unterzog, welche die Stellung ihres Gatten mit sich brachte, war sie in ihrem Inneren ein Mensch gewesen, den das Rätselhafte, Unerforschte anzog. Wenn sie es nur irgendwie ermöglichen konnte, verbrachte sie die freie Zeit bei ihren Büchern.

Ihr besonderes Interesse galt dem Leben und der Kultur alter Völker, über deren Geschichte das Dunkel nur teilweise gelichtet war. Mit den Wissenschaftlern und Forschern, die durch ihre Werke zu ihr sprachen, rätselte sie an Geheimnissen, über welche die Jahrtausende ein schier undurchdringliches Dunkel gebreitet hatten. Ihre Fantasie entzündete sich immer wieder von Neuem daran, und sie sprach darüber gern mit ihrem Sohn.

Vor dem geistigen Auge Lichtenaus erstand ihr geliebtes Bild. Er sah sie wieder im runden Turmzimmer des alten burgartigen Schlosses. Der behagliche Raum diente als Bibliothek und ließ durch seine Fenster einen weiten Ausblick in die Landschaft zu.

Meistens zur Dämmerung, wenn die Nachtschatten sich herniedersenkten, saß die Mutter in dem großen Ohrensessel. Den Blick in die Ferne gerichtet, begann sie zu erzählen und ließ Bilder aus den Reichen der Maya, der Inka und der Etrusker vor dem frühreifen Knaben entstehen, die sein Interesse aufs Äußerste erregten. Diese stillen Plauderstunden wurden für den Knaben und später für den jungen Mann der Quell umfassenden Erkennens und Wissens, das diese gütige Seele über ihn ausschüttete.

Lange Zeit hatte sich seine wissensdurstige Mutter auch mit dem im Meer versunkenen Atlantis beschäftigt. Alle einschlägigen Bücher beschaffte man, und Erik wurde der vertraute Kamerad, mit dem die Mutter das Für und Wider der Meinungen durchsprach.

So war frühzeitig in ihm der gleiche Wissensdrang geweckt und weiter genährt worden. Als sie von ihm gegangen war, hatte er sich noch bewusster mit diesen Wissensgebieten befasst. Der Wunsch, an Ort und Stelle Nachforschungen zu beginnen, faszinierte ihn immer stärker, und das Schicksal kam seinem Streben entgegen, indem es ihm die Wege ebnete.

Vor wenigen Jahren war ein Verwandter der Mutter, die aus einer holländischen Reedersfamilie stammte, gestorben und hatte die Mutter zu seiner Erbin eingesetzt.

Dadurch waren ihm die Mittel auf dem Erbwege in die Hand gegeben worden. So hatte es ihn nicht mehr in der Heimat und bei seinen Büchern gehalten. Er wollte selbst erforschen und erkennen, welche Wahrheit in all diesen Dingen steckte. Jahrelang war er schon unterwegs. Von Bremen war er über England nach Südamerika gereist. Er hatte die Ruinenstätten der Inkas durchforscht. Jedem Strich an den Wänden halb verfallener Tempel schenkte er Beachtung, aber bis jetzt konnte er nichts anderes sagen, als die Forscher vor ihm festgestellt hatten. Die Ruinen der Inkas ofenbarten ihm nichts Neues. Nun hofte er, in Mexiko auf den Spuren der alten Maya Rätsel zu lösen, mit denen sich seine Fantasie beschäftigte.

Das Schlingern des Schiffskörpers scheint nachzulassen. Lichtenau greift nach einem neben ihm liegenden Notizbuch. Er blättert darin, und wie jemand, der sich etwas in Erinnerung bringen will, liest er mit halblauter Stimme vor sich hin:

»… Mayapan, bedeutendste Stadtsiedlung der alten Maya. Ruinenstätte, 35 km südlich von Merido in Yukatan gelegen. Gut erhaltene Stadtmauer, achtzehn Meter hoch und dreißig Meter in der Basis. Deutung der Zeichen der Bilderhandschrift und der Inschriften auf vorgefundenen Steinmonumenten trotz zusammengestellten Alphabetes nur in sehr begrenztem Ausmaße gelungen. Lediglich die Hieroglyphen der Monate wurden bisher entziffert. …«

Lichtenau hält im Lesen inne. Er versinkt wieder im Nachdenken. Merkwürdig, denkt er, auch die Schrift der Bevölkerung des frühen Etruriens, der Rasenäer, wie sie sich nannten, ist nicht vollständig zu enträtseln. Auch sie waren ein Volk, das mit einer hochstehenden Kultur plötzlich in das Licht der Geschichte tritt und dessen Herkunft unbekannt ist.

Sollte hier nicht ein möglicher Zusammenhang bestehen? Wenn es doch gelänge, das Geheimnis zu lüften.

Träumerisches Sinnen bemächtigt sich seiner, das Buch entgleitet seinen Händen. Bilder steigen vor ihm auf. Hochragende Sonnentempel – zyklopische Mauern umschließen Paläste von eigenartiger Architektur. Dann verschwimmt alles, löst sich gleichsam in Dunst auf.

Da dröhnt der große Schiffsgong, das Mittagsmahl ankündigend, und entreißt Lichtenau seinen Träumen.

Er steht auf, macht sich etwas zurecht, verlässt die Kabine und begibt sich in den Speisesaal. Lebhaftes Stimmengewirr umfängt ihn. Die Gäste haben schon fast alle ihre Plätze eingenommen. Lichtenau ist einer der Letzten. Er geht auf seinen Tisch zu, eine knappe, höfliche Verbeugung vor seinen Tischnachbarn, dann widmet er sich ganz den Genüssen der Tafel, ohne von den anderen Notiz zu nehmen.

»Warum ist der Senor so sehr schweigsam?«, wird er plötzlich von seinem Gegenüber, einem jungen Mädchen von südländischer Schönheit, angesprochen.

Lichtenau sieht auf. Er lächelt, dann antwortet er: »Verzeihen Sie, Senorita, aber ich gedenke«, auf das Essen weisend, »erst einmal dem Magen das Seinige zu geben.«

»Oh, so spricht kein Caballero«, kommt es herausfordernd zurück.

»Möglich, Senorita, aber ich habe keinen Ehrgeiz in dieser Beziehung.« Mit diesen Worten wendet sich Lichtenau wieder dem Essen zu. Unter halb gesenkten Lidern beobachtet er unmerklich das junge Mädchen.

Diese Senorita Juanita y Serestro ist zweifellos eine Schönheit mit ihrem ovalen brünetten Gesicht, aus dem zwei dunkle Augen lebensfroh in die Welt schauen, stellt er erneut fest. Mit ihrem fast blauschwarzen Haar, das, in der Mitte gescheitelt, das Gesicht umrahmt und hinten in einem Knoten zusammengefasst ist, gleicht sie einem südländischen Madonnen-Bild.

Sehr zum Ärger ihrer Begleiterin, einer älteren, verblühten Dame, hat die Senorita gleich vom ersten Tage ihrer Bekanntschaft in etwas burschikoser Form ihr Interesse für den jungen Forscher bekundet. Es macht ihr offensichtlich Spaß, Lichtenau immer wieder aus seiner Reserve herauszulocken. Durch ihre Plaudereien weiß er auch schon ziemlich über ihre Verhältnisse Bescheid.

Ihr Vater ist ein reicher Silberminenbesitzer in Mexiko, der ihr jeden Wunsch erfüllt und sie auch jetzt nach Rio de Janeiro reisen lässt, damit sie diese südamerikanische Metropole kennenlernt. Sie hat natürlich viele Verehrer, aber sie nimmt diese nicht ernst, lacht über sie und treibt mit ihnen alle möglichen Tollheiten, die für die Betroffenen oft peinliche Situationen zeitigen.

Lichtenau scheint der Erste zu sein, bei dem es ihr nicht gelingt, ihn auf ihre Erfolgsliste zu setzen. Er ist immer höflich und reserviert, aber er behandelt sie wie ein ungezogenes Kind. Das reizt sie oft maßlos. Sie ärgert sich über den »deutschen Tölpel«, wie sie ihn in schlechter Stimmung ihrer Gesellschafterin gegenüber nennt, und diese fühlt sich dadurch bewogen, den jungen Mann mit hochmütiger Ignoranz zu behandeln. Senorita Juanita hat sich auch schon vorgenommen, sich dieser Haltung anzuschließen, aber wenn Lichtenau erscheint und in seiner stillen, freundlichen Art mit ihr plaudert, fühlt sie sich immer wieder entwaffnet. Er ist so ganz anders als die jüngeren oder älteren Männer, die ihr den Hof machen. Er schenkt ihr keine Komplimente und scheint auch Veränderungen ihrer Kleidung gar nicht wahrzunehmen. Er ist immer gleichmäßig freundlich zu ihr, stets liegt ein sinniger Ernst auf seinem schmalen Gesicht, nur manchmal von einem Lächeln unterbrochen. Ein paar Mal erzählte er ihr auch von seinen Interessen. Zuerst langweilte es sie, dann hörte sie doch mit steigender Anteilnahme zu.

Sie ist in einen inneren Zwiespalt geraten, der sie beunruhigt. Ihr Mädchenstolz, geboren aus dem Bewusstsein ihrer Schönheit und ihres Reichtums, empört sich oft über seine Zurückhaltung. Doch seine ruhige, sichere Art gefällt ihr, seine wohltönende Stimme hört sie gern, und wenn sein klarer Blick auf ihr ruht, bemächtigt sich ihrer ein ganz eigenes Gefühl, das sie noch nie zuvor bei einem Mann so verspürt hat.

»Wollen Sie immer noch zu Ihren alten Trümmern?«, lässt sich Juanita wieder vernehmen.

»Ich erzählte es Ihnen bereits, Senorita«, lautet die kurze Antwort.

»Kommen Sie doch zu uns nach Mexiko. Es ist eine sehr interessante Stadt und viel netter als Ihre alten Steine. Papa würde sich gewiss freuen, Sie bei uns zu sehen.«

»Vielleicht später. Es wird mir sicher eine Ehre sein, Ihren Herrn Vater kennenzulernen.«

Juanita zieht nervös an ihrer Zigarette. Er ist wie ein Eisschrank, denkt sie, warum rede ich überhaupt mit ihm. Plötzlich durchzuckt sie ein Gedanke, sie spricht ihn auch sofort aus: »Wo wollten Sie noch hin, Senor?«

»Nach der Ruinenstätte Mayapan in Yukatan, bei Telchaquillo, in der Nähe von Merido«, gibt Lichtenau zur Antwort.

»Telchaquillo?«, wiederholt die Senorita sinnend. Dann fragt sie lebhaft ihre Begleiterin: »Telchaquillo, hat Pa’ dort nicht auch Besitzungen, Dolores. Ich glaube, er hat mir einmal davon erzählt?«

»Das weiß ich nicht, Senorita. Es ist wohl auch nicht anzunehmen, dass Senor y Serestro Ihnen erlauben würde, in diese unmögliche Gegend zu gehen«, gibt Senora Dolores zurechtweisend zurück.

»Pah, das weiß ich besser. Pa’ erlaubt es mir bestimmt.« Sich zu Lichtenau wendend, fragte sie ihn: »Was halten Sie davon, wenn ich Sie begleite?«

Dieser muss unwillkürlich lachen. »Das ist unmöglich, Senorita. Das ist kein Aufenthaltsort für eine verwöhnte junge Dame.« Juanita beißt sich auf die Unterlippe. Jähe Röte überfliegt ihr erregtes Gesicht, dann bricht es los: »Sie sind ein ganz schrecklicher Mensch. Jawohl, das sind Sie!«, unterstreicht sie im ärgerlichen Ton.

»Aber, Senorita«, mischt sich Senora Dolores ein.

»Ach was«, begehrt Juanita auf, »ich bin kein kleines Mädchen mehr und weiß, was ich will. Wenn mich Herr von Lichtenau nicht mitnimmt, werde ich Pa’ bitten, mit mir nach Mayapan zu fahren, um mir die Ruinen zu zeigen.« Sehr erregt sieht sie aus, die Augen blitzen, nervös spielen die Hände.

Lichtenau hält es für ratsam, die Situation zu beenden. Er erhebt sich, verneigt sich zu den beiden Damen und sagt: »Überlegen Sie sich Ihr Vorhaben, Senorita, wenn Sie ruhiger geworden sind. Andernfalls würden Sie es sicher bedauern.«

»Das ist meine Sache, Herr von Lichtenau!«, ist die brüske Antwort.

Dieser verlässt den Saal und tritt auf das Deck hinaus. An der Reeling bleibt er stehen und blickt auf das Meer, das sich beruhigt hat. Dummes kleines Mädel. Ein leichter Anflug von Ärger ist in ihm. Lange Zeit steht er und schaut in die Weite, da berührt jemand leicht seinen Arm. Er wendet sich zur Seite und blickt in Juanitas dunkle Augen.

Ganz leise, etwas stockend, kommt es über die Lippen: »Seien Sie mir nicht böse, Herr von Lichtenau, ich war wohl recht ungezogen?«

»Nur ein wenig unvernünftig, Senorita.«

Der freundliche Ton der Stimme gibt dem Mädchen die Sicherheit zurück, und lebhaft versichert sie: »Sie müssen mir glauben, ich interessiere mich wirklich für Ihre Forschungen. Es klingt unwahrscheinlich, nicht wahr? Aber ich möchte mich irgendeiner ernsthaften Sache widmen«, und leicht bekümmert setzt sie hinzu, »mein Leben ist so inhaltslos, und Ihre Erzählungen von Ihrem Streben haben mich das so recht erkennen lassen. Lassen Sie mich mitgehen als Ihre Gehilfin.« Eine bittende Gebärde unterstreicht die letzten Worte.

»Es geht wirklich nicht, Senorita.« Enttäuschung malt sich in den Zügen des jungen Mädchens, der volle Mund zuckt, die Tränen scheinen nahe. Begütigend fährt Lichtenau fort: »Vorläufig jedenfalls nicht.« Dann beginnt er, von seinen Hoffnungen zu erzählen, die ihn veranlassen, nach Yukatan zu gehen. Er schildert ihr eindringlich die Mühseligkeiten und Unannehmlichkeiten, die seiner warten werden, die er aber überwinden müsse, um zu seinem Ziel zu gelangen. In seiner ruhigen Art spricht er mit Juanita, und langsam sieht sie ein, dass sie ihm vorerst nichts nutzen könnte. Als er ihr dann aber verspricht, nach Abschluss der Arbeiten zu schreiben, hellt sich ihr Gesicht auf.

Impulsiv ergreift sie seine Hand: »Das ist ein Wort, und ich verlasse mich darauf.«

»Das können Sie, Senorita. Ich freue mich über Ihre Anteilnahme und werde Ihnen regelmäßig nach Mexiko berichten.« Ein Händedruck besiegelt das Versprechen.

Nun stehen die beiden still nebeneinander, nur ihre verschiedenen Gedanken und Empfindungen reden eine wortlose Sprache. Mehr noch als alles Vorangegangene, scheint sie dieses gemeinsame Schweigen miteinander zu verbinden.

Groß und dunkel sind die Augen des Mädchens, als sie jetzt wieder zu ihm aufsieht und sagt: »Ich werde jetzt gehen müssen, Herr von Lichtenau, es wird kühl.«

Dieser wendet sich zu ihr. Sein Blick umfasst sie, ihr eine zarte Röte in das Gesicht treibend. »Also, auf gute Freundschaft, Senorita. Morgen früh kommen wir im Hafen an, dann trennen sich vorläufig unsere Wege. Aber ich fange an zu glauben, dass sie sich wieder vereinen.« Er verneigte sich, ergreift ihre kleine Hand und küsst sie.

»Auf Wiedersehen, Herr von Lichtenau!« Mit einem glücklichen Lächeln grüßt sie ihn nochmals und enteilt in ihre Kabine. Lichtenau ist allein.

Am andern Tag läuft das Schiff den Hafen an der Küste Yukatans an. Das vorläufige Reiseziel ist erreicht.

Lichtenau verabschiedet sich von Senorita Juanita. Sie ist still und zurückhaltend, nur ihre Augen sprechen eine beredte Sprache. Mit warmen Worten dankt er ihr nochmals für ihr Interesse und wiederholt das Versprechen, ihr bald zu schreiben.

»Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören«, etwas förmlich und kühl klingen die Worte, während sie ihm die Hand gibt. Doch dann durchbricht das Gefühl die Schranke gesellschaftlicher Beherrschung. Die Augen werden feucht, und stockend bringt sie hervor: »Nicht wahr, Sie rufen mich bald? Die Madonna schütze Sie und …«, jäh bricht sie ab.

Wie eine beschwörende Bitte klingt es und rührt an das Herz des jungen Forschers. Liebes kleines Mädchen, denkt er. Wieder umfasst sein Blick voller Herzlichkeit die schlanke Gestalt, fester umschließt seine nervige Hand die ihre, als er sagt: »Wir sehen uns wieder, Senorita. Ich weiß es. Ich fühle es in mir.« Ein Aufleuchten der dunklen Augen dankt ihm wortlos.

»Auf Wiedersehen, Senorita!«

»Auf Wiedersehen, Herr von Lichtenau!« Froh klingt Juanitas Stimme.

Höflich verneigt sich Lichtenau vor Senora Dolores, die mit eisig hochmütigem Gesicht der Szene beiwohnt. Ein knappes Kopfnicken ist ihre Erwiderung.

Noch einmal finden sich die Augen der jungen Menschen, dann wendet sich Lichtenau und gelangt über die Schiffstreppe in die wartende Barkasse, die ihn zum Ufer bringt.

Hier empfängt ihn der Trubel einer südländischen Hafenstadt. Sofort stürzen einige braune Burschen, in grellfarbener Landestracht gekleidet, auf den Köpfen riesige Sombreros, auf ihn zu und reden, einander überschreiend, heftig gestikulierend auf ihn ein, ihre Hotels anpreisend.

Lichtenau mustert amüsiert die Einzelnen. Endlich winkt er einem, der ihm als der Vertrauenswürdigste erscheint. Sogleich ergreift der Bursche die Gepäckstücke und schleppt sie zu einer unweit stehenden, etwas mitgenommen aussehenden offenen Kutsche. Nach kurzer Fahrt ist das Hotel erreicht. Der Forscher erhält ein geräumiges Zimmer, dessen Fenster zum Meer hinausgehen. Nach einem reichlichen, allerdings sehr gewürzten Mittagessen widmet er sich ein paar Stunden seinen Büchern. Gegen Abend, als die Hitze etwas nachgelassen hat, entschließt er sich zu einem Bummel durch die Stadt. Er will versuchen, einen zuverlässigen Führer und Pferde zu finden. Es wird nicht leicht sein in diesem fremden Land, und die Erfahrung hat ihn Vorsicht gelehrt. Nach längerem Herumschlendern betritt er eine der zahlreichen Hafenschenken. Prüfend schweift sein Blick über die mehr oder weniger verwegen ausschauenden Burschen, die an den Tischen sitzen, würfeln, trinken und sich laut und lebhaft unterhalten. Lichtenau tritt an den Schanktisch, trinkt seinen Wein und wendet sich wieder zum Gehen. Gerade als er die Schenke verlassen will, prallt er in der Tür mit einem jungen Mann zusammen. Dieser trägt die Mokassins der Indianer, doch seine Haut ist heller, und nur das strafe schwarze Haar lässt in ihm den Mestizen erkennen. Seine Augen blicken scharf, und der Mund ist fest geschlossen. Einen Augenblick lang ruhen beider Blicke ineinander. Dann betritt er die Schenke, wirft seinen Sombrero auf einen leeren Tisch, bindet mit langsamer Gebärde sein Halstuch ab und lässt sich nieder.

Unschlüssig bleibt Lichtenau in der Tür stehen. Irgendetwas gefällt ihm an dem jungen Mann, und so geht er zurück in den Raum und setzt sich an den gleichen Tisch. Der Andere nimmt keine Notiz von ihm. Umständlich setzt er seine Pfeife in Brand, ruft nach Wein und versinkt in Nachdenken. Lichtenau beobachtet ihn unausgesetzt. Der Bursche gefällt ihm immer mehr. Er überlegt angestrengt, wie er das Gespräch mit ihm beginnen soll. Endlich gibt er sich einen Ruck, wendet sich zu ihm und fragt ohne Umscheife: »Verzeiht, Senor, könnt Ihr mir sagen, wo ich Pferde und einen Führer finde, um zu den alten Mestizendörfern zu kommen, in deren Nähe sich die Ruinen aus der Maya-Zeit befinden?«

Überrascht wendet sein Gegenüber den Kopf. Lichtenau fühlt den scharfen, durchdringenden Blick der nachtschwarzen Augen, dann antwortet der Angeredete mit schleppender Stimme: »Pferde kann der Senor überall kaufen, und hinführen will ich euch zu den Ruinen, denn ich stamme von da oben her.«

Lichtenau durchzuckt es wie Freude, so schnell zum Ziel zu gelangen, doch beherrscht er sich und fragt gelassen wieder: »Wie lange werden wir bis Telchaquillo brauchen?« Nach kurzer Überlegung erhält er als Antwort: »Ein paar Tage mit guten Pferden. Ich habe schon manchen Fremden dorthin geführt. Es ist kein ungefährliches Beginnen, denn Gesindel treibt sich in jener Gegend herum. Aber ich habe ein gutes Mittel.« Bei diesen Worten schlägt er leicht an die Revolvertasche, die an seinem Gürtel hängt. Dann fügt er hinzu: »Der Wirt kennt mich. Der Senor können ohne Sorge sein.«

Lichtenau denkt nach. Immer wieder gleitet sein forschender Blick zu dem Mestizen. Schließlich sagt er: »Gut – ich werde es mir überlegen, meldet euch morgen in der Casa d’orfeo bei Senora Margarita.« Er steht auf, gibt dem Burschen ein Handgeld und verlässt die Schenke.

Als Lichtenau gegangen ist, bleibt Paolo Samblo noch sitzen. Er nimmt eins der Geldstücke und befragt das Schicksal. Fällt die Krone nach oben, wird ihn der fremde Senor mitnehmen. »Bei der Madonna, die Krone ist nach oben gefallen.« Sichtlich befriedigt steckt Paolo das Geld ein, bezahlt an der Schenke und macht sich auf den Weg, um Pferde aufzutreiben.

Zurückgekehrt in das Hotel, sucht Lichtenau sofort sein Zimmer auf. Seinen Packtaschen entnimmt er eine Menge Pläne und Aufzeichnungen und vertieft sich in diese. Noch immer ist es ihm nicht gelungen, dem Land seiner Sehnsucht – Atlantis – näherzukommen. In Peru hat er die Inka-Iempel durchsucht, doch sein Forschen hat keine neuen Ergebnisse erbracht. Leise seufzend legt er die Pläne wieder zusammen.

Am nächsten Morgen stellt sich Paolo pünktlich ein. Er hat passende Pferde ausfindig gemacht.

Lichtenau überlegt nicht mehr lange, er betreut ihn mit der Ausrüstung der kleinen Expedition.

Paolo stellt sich am nächsten Tag frühzeitig wieder ein. Drei kräftige Pferde sind erstanden, auch alle notwendigen Ausrüstungsgegenstände, wie Zelt und Zubehör.

Lichtenau ist zufrieden. Paolo hat sich als zuverlässiger Mann erwiesen. Er sagt ihm das auch und unterstreicht sein Lob mit klingender Münze. Der Mestize strahlt und beteuert seine Ergebenheit.

»Wann können wir reiten?« Mit dieser Frage schneidet Lichtenau Paolos Redeschwall ab.

»Wenn der Senor will, in einer Stunde. Wir haben dann zur Mittagszeit den Wald, der zur Hochebene führt, erreicht.«

»Und was dann?«

»Die Ruinen liegen auf der Hochebene.«

»Gut, Paolo, in einer Stunde.« Lichtenau gibt dem Mestizen die Hand. Paolo fühlt sich durch diese Geste sichtlich geschmeichelt. Er erwidert den Händedruck mit solcher Kraft, dass Lichtenau Mühe hat, den Schmerz nicht laut werden zu lassen.

Zur verabredeten Zeit brechen sie auf. Bald liegt die Stadt hinter ihnen und die Steppe nimmt sie auf, die nach längerer Zeit in niedriges Gehölz und dann in dichten Wald übergeht. Ein schmaler Pfad führt durch das Dickicht, in dem Halbdunkel herrscht. Die Reiter kommen nur langsam vorwärts. Umgestürzte Bäume und wild wucherndes Gestrüpp versperren oft den Weg. Feuchtwarmer Dunst umfängt sie, und die Pferde beginnen zu schnaufen. Grünschillernde große Eidechsen huschen über den Weg, schauen einen Augenblick mit starrem Blick zu den Männern und verschwinden schnell im Gebüsch. Buntfarbene Vögel flattern hier und dort auf, und Insektenschwärme spielen an lichteren Stellen in der Luft. Nach stundenlangem Ritt ist der Rand des Waldes erreicht. Große Helle umflutet sie. Jäh erhebt sich vor ihnen ein lang gestreckter Bergabhang, von Wetter und Wind stark zerklüftet.

Paolo weist auf einen schmalen Strich, der serpentinenartig nach oben verläuft. »Seht Ihr den Pfad, Senor? Er führt auf die Hochebene, wo sich Mayapan befindet.« Lichtenau folgt mit dem Fernglas der Richtung.

»Ich bin müde, und heiß ist es hier«, der weiße Tropenanzug ist feucht vom Schweiß. »Wir wollen rasten, Paolo.«

Bereitwillig schafft Paolo alles Nötige herbei. Im Schatten uralter Bäume wird gelagert. Jeder lässt sich das Mitgebrachte schmecken. Unaufhörlich beobachtet Lichtenau den Mestizen. Wie geschmeidig er ist. Er gleicht einem seltenen Raubtier. Das braune Gesicht zeigt scharfe Konturen, zwei tief eingeschnittene Falten stehen um den vollen Mund. Er scheint es nicht leicht gehabt zu haben in seinem Leben. Unvermittelt fragt er Paolo: »Bist du verheiratet?«

»Nein.« Schroff klingt die Antwort. Die Augen nehmen einen harten Glanz an, die scharfen Linien um den Mund vertiefen sich. Lichtenau empfindet, dass er unbeabsichtigt an eine wunde Stelle rührte. Begütigend sagt er: »Tröste dich mit mir, Paolo, auch ich habe noch nicht die Richtige gefunden. Es ist auch besser zu warten, als die Falsche zu nehmen.«

Paolo schweigt eine Weile, bis er antwortet. Seine tiefe Stimme zittert ein wenig, als er sagt: »Ich hatte die Richtige, doch ein Fremder nahm sie mir. Er war reich, und Paolo ist arm.« In seinen Augen glüht es drohend auf, als er hinzufügt: »Ich hasse die Fremden.« Der Mestize zischt es heraus, sein Gesicht verzerrt sich. Lichtenau wird es unbehaglich. Er erhebt sich, und seine Rechte tastet nach der Revolvertasche. Da tönt Paolos tiefes Lachen an sein Ohr: »Keine Furcht, Senor. Ihr seid gut. Ihr gabt Paolo die Hand. Immer wird euch Paolo dienen und schützen, gegen wen es auch sei.«

Lichtenau ist von dem plötzlichen Stimmungsumschwung betroffen. Er lächelt gezwungen. Merkwürdiger Kerl, fast im gleichen Atemzug spricht er von Hass und von Zuneigung zu den Fremden.

»Wir wollen weiter, Paolo, es wird Zeit.«

Vorsichtig klettern die Pferde den schmalen, oft steilen Pfad hinan. Noch brennt die Sonne unbarmherzig, es ist eine große Anstrengung für Mensch und Tier. Endlich ist die Höhe des Plateaus erreicht. Aufschnaufend stehen die Pferde still. Vor den Reitern breitet sich eine ungeheure Steppe aus. Verdorrtes Gras bedeckt sie, und vereinzelt recken Kakteen ihre bizarren Formen gen Himmel. In der Ferne lassen sich durch das Gras winzige Hütten erkennen. Lichtenau teilt es Paolo mit.

»Dort müssen wir hin, Senor. Es ist ein Mestizen-Dorf, in dem wir Unterkunft für die Nacht finden können.«

In schneller Gangart wird der Ritt fortgesetzt. Der Mond steht schon am Himmel, als die Reiter das Dorf, das aus einigen armseligen Hütten besteht, erreichen.

Paolo kennt sich hier aus. Auf sein lautes Rufen wird es in den Hütten lebendig. Männer und Frauen erscheinen von allen Seiten; sie starren die Ankömmlinge neugierig an. Der Mestize ruft ihnen etwas zu. Bald kommt ein alter Mann mit weißen Haaren, offenbar der Dorfälteste. Er grüßt Lichtenau mit einem kurzen Lüften des altersschwachen Sombreros. Auf Paolos Darlegungen erwidert er: »Ihr seid willkommen. Ihr könnt bei mir schlafen.«

Dann wendet er sich zu seinen Leuten und fügt hinzu: »Der Fremde ist unser Gast.«