Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Alles in London erinnert Aoife an ihrem Mann und ihre kleine Tochter, die bei einem Autounfall ums Leben kamen. Kurzerhand kehrt sie der Großstadt den Rücken und zieht mit ihrem vierjährigen Sohn Liam zurück nach Dublin, dem Ort ihrer Kindheit. Eines Tages trifft sie auf die siebzigjährige Mrs. Prendergast, eine distanzierte und distinguierte Dame, über die man sich allerhand in der Nachbarschaft erzählt. Hat sie wirklich ihren Mann ermordet und in ihrem Garten vergraben?

Aoife glaubt den Gerüchten kein Wort, sondern entdeckt stattdessen einen wahren Schatz: der große, verwilderte und überaus geheimnisvolle Garten von Mrs. Prendergast. Ein vernachlässigter, aber doch wunderschöner und zauberhafter Ort. Aoife fasst einen Entschluss: Dieser wunderbare Garten muss wieder zu neuem Leben erblühen!

Zusammen mit vier sehr unterschiedlichen Helfern macht sie sich begeistert ans Werk. Und während der Garten nach und nach zu seiner früheren Schönheit zurückfindet, werden aus vier Fremden enge Freunde, die ihre Geschichten, Freude und Leid teilen und die Aoife schließlich helfen zurück ins Leben zu finden – und zur Liebe …

Ein verwunschener Garten, eine bezaubernde Heldin und eine neue Chance zum Glücklichsein.

Über Tara Heavey

Tara Heavey, geboren und aufgewachsen in London, zog mit fünf Jahren nach Dublin und besuchte dort die Greendayle Community School, wo sie unter anderem von Roddy Doyle unterrichtet wurde. Fünf Jahre arbeitete sie als Rechtsanwältin, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Die Autorin lebt mittlerweile in County Kilkenny auf dem Land.

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Tara Heavey

Ein Garten voller Liebe

Roman

Aus dem Englischen
von Andrea Brandl

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Der Wintergarten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Der Frühlingsgarten

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Der Sommergarten

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Ernte

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Nachwort

Danksagung

Impressum

Für meine Eltern

Der Wintergarten

Und die Bäume waren so froh, die Kinder endlich wieder bei sich zu haben, dass sie sich mit Blüten schmückten und ihre Zweige schützenden Händen gleich über den Köpfen der Kinder auf und ab bewegten. Die Vögel flogen umher und zwitscherten vor Vergnügen, und die Blumen schauten lachend aus dem frischen grünen Gras heraus.

Oscar Wilde, Der selbstsüchtige Riese

Ich war schon einmal hier. Früher, in meinen Träumen. An diesem magischen Ort, wo die mit Rosen bewachsenen Arkaden endlos scheinen. Rosen in jeder erdenklichen Farbe und Schattierung, mit jedem vorstellbaren Duft, den eine menschliche Nase wahrzunehmen vermag.

Die Roten. Tief und satt. So vertraut wie der Anblick meines eigenen Blutes. Ich beuge mich vor und atme den Duft in meine Lungen, vergrabe meine Nase in den samtigen Falten. Die Vergangenheit umhüllt mich, während der Duft meine Sinne betört – das Aroma der Süßigkeiten, die Cola-Fläschchen meiner Jugend, die mir auf der Zunge zergehen, der Geschmack von Zucker und Nostalgie in meinem Mund.

Ich gehe weiter zu den Gelben, lege die Hände um eine davon. Farben, die sich entfalten, mich umgarnen, mir schmeicheln und mich verzücken. Ich pflücke die Blütenblätter und stecke sie mir in den Mund, eines nach dem anderen, genieße den Nektar der Götter.

Als Nächstes trete ich zu den Rosafarbenen mit ihren seidig glatten, weichen Blättern. Ihr Duft ist weniger intensiv, dafür umso süßer, unschuldiger, nicht ganz so flüchtig. Behutsam streiche ich mit den Fingerspitzen darüber; es ist, als berühre man die zarten Wangen eines Neugeborenen. Ein Gefühl bittersüßen Glücks durchströmt mich, und ich kann die Finger nicht von ihnen lösen, muss sie immer weiter berühren.

Dann die köstlichen, bezaubernden Weißen, feiner im Duft, doch nicht minder betörend. Meine wunderschönen blumigen Mädchen, die ich nicht zu berühren vermag, weil die Bilder vor meinen Augen zu verblassen beginnen, allmählich zerbröckeln, als sich die Realität in mein Bewusstsein schiebt. Das wahre Leben löscht alles aus. Ich wache auf, ein weiteres Mal leer, verlassen und beraubt.

1

Es war ein sonniger Samstagmorgen. Freiheit. Über ihnen spannte sich ein eisig blauer Himmel. Liam hüpfte neben Aoife her, vor Lebensfreude förmlich vibrierend, als er, übers ganze Gesicht strahlend, zu ihr aufsah. Sie musterte ihren Sohn, den leuchtend roten Schal, den er mehrmals um seinen mageren Kinderhals geschlungen hatte, und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es war ein ganz besonderer Tag, und Liam war ein ganz besonderer Junge. Instinktiv schien seine kindliche Wahrnehmung die Schwingungen ihres neu gewonnenen Optimismus aufzufangen. Ein gutes Gefühl. Sie wusste nicht mehr, wann sie es zuletzt empfunden hatte, aber ganz bestimmt erst nach ihrem Umzug nach Dublin.

Die Loslösung hatte sich als schwierig entpuppt, schwieriger, als sie vermutet hatte und als sie jemals zugeben würde. Wann immer sie mit ihrer Mutter telefonierte, setzte sie ein strahlendes Lächeln auf und legte den »Ich bin glücklich«-Schmelz in ihre Stimme. Doch es gab Zeiten, in denen sie die Einsamkeit zu überwältigen drohte. In diesen Momenten war es, als betrachte sie die Welt durch eine meterdicke Glasscheibe.

Die Nachbarn kennenzulernen schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Sie begegnete ihnen so gut wie nie; es war fast, als verschanzten sie sich hinter ihren Eingangstüren. Vielleicht lag es auch an der Jahreszeit – es war Ende Oktober, früh wurde es dunkel, und über der Stadt hing die trübe Trostlosigkeit des Herbstes.

Aber heute fühlte es sich irgendwie anders an.

Heute lag Hoffnung in der Luft.

»Da wären wir.« Sie bedeutete Liam stehen zu bleiben.

»Aber das ist ja gar nicht der Süßigkeitenladen.«

»Doch, nur eben eine andere Art. Ein ganz besonderer.«

Offenbar beruhigt, ließ er sich in den schwach beleuchteten Laden führen. Die Frau begrüßte Aoife mit einem Nicken, das deren Zuversicht weiter wachsen ließ.

Einen Laden wie diesen würde man eher im Zentrum Barcelonas erwarten. Einer, auf den man rein zufällig stößt, weil man sich im Gewirr der engen, verwinkelten Gassen verlaufen hat. Möglicherweise hätte man ihn sogar übersehen, hätte man nicht einen Sprung zur Seite gemacht, um einem ungestümen Mopedfahrer auszuweichen. Was hätte man verpasst! Am Rand des Stadtzentrums hätte Aoife so ein Juwel jedenfalls nicht erwartet. Doch mit jedem Tag stellte sie aufs Neue fest, wie sehr sich Dublin seit ihren Besuchen als Kind verändert hatte. Und wie viel dieser Stadt von ihrem Herzen herausgerissen worden war. Prächtige georgianische Häuser waren Fastfood-Lokalen und Coffeeshop-Filialen gewichen, gesichtslose Glasfronten hatten anmutig geschwungene Torbogen und Hauseingänge vertrieben.

Fortschritt.

Doch dieser Laden hier bildete eine angenehme Ausnahme.

Er war ein Schatzkästchen für Köstlichkeiten aller Art. Hier gab es Gourmetwürstchen, knusprige Bauernbrötchen, Bio-Lachs, heimischen Käse, handgefertigte Schokolade, Konfitüren aus eigener Herstellung und Shortbread. Ihre Mutter wäre begeistert von dem Porterkuchen. Mit einem Päckchen irischen Breakfast Tea im Präsentkorb. Und sie selbst träumte von den Erdbeeren in belgischer Schokolade. Schon jetzt lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Und dann all die Süßigkeiten. Glas an Glas, Reihe um Reihe pure Nostalgie: alle möglichen Bonbonsorten, saure Apfelringe, Lakritzschlangen, Schokomäuse, Eiskonfekt, gefüllte Süßwaffeln, Zuckerkugeln mit Anissamen, Seidenkracher, Minzkugeln, Goldnüsse, Fouree-Bonbons, saure Drops. Nur die Schokoladenzigaretten fehlten. Wahrscheinlich durften sie heutzutage nicht mehr verkauft werden.

Liam stand mit offenem Mund da. »Und ich darf mir etwas aussuchen, egal was?«

»Du bekommst fünf Sachen. Was willst du als Erstes?«

»Nur fünf! Aber ich will –«

»Willst du nun etwas haben oder nicht?«

»Ja, klar.« Liam klammerte sich an Aoifes Oberschenkel und trat von einem Fuß auf den anderen. »Die da.« Ohne zu zögern zeigte er auf die Schokomäuse.

»Nur die? Sonst nichts?«

Er nickte heftig und hob eine Hand mit gespreizten Fingern. »Fünf.«

»Fünf Mäuse.«

»Fünf Mäuse und was?«

»Bitte.«

Eine andere Kundin war zwischen sie und den Tresen getreten, eine ältere Frau von vielleicht siebzig. Aoife fiel auf, wie gepflegt sie wirkte. So elegant. Und gediegen. Beschämt sah sie an sich hinunter, an ihrem marineblauen Fleecepulli und ihren Jeans. Die Frau kaufte Earl Grey Tee und teure Kekse. Wie passend. Sie betrachtete das Profil der Frau. Ihre Haut sah aus wie Reispapier, doch ihre Kinnlinie war noch immer straff. »Gut in Schuss«, hätte Aoifes Vater gesagt.

Die Frau bezahlte und ging, woraufhin sich die Verkäuferin an Aoife wandte. Auf ihrem Gesicht lag ein verschmitzter Ausdruck, wie bei einem Kind, das ein Geheimnis hatte. Sie beugte sich leicht vor. »Man würde nie im Leben draufkommen, dass sie ihren Ehemann ermordet hat.«

»Wie bitte?« Vielleicht hatte sie sich verhört.

Die Frau nickte in Richtung Tür. »Mrs Prendergast. Darauf würde man nie im Leben kommen.«

»Sie meinen die alte Dame, die gerade hier war?«

»Genau die.«

»Sie meinen, mit Verurteilung und allem Drum und Dran?«

»Na ja, nein, das nicht.« Hier hatte die Geschichte offenbar einen Haken. »Die Leiche wurde nie gefunden. Und ohne Leiche kann man keine Anklage erheben. Aber alle hier wissen, dass sie es war.«

»Woher denn?«

»Tja, erstens ist da mal ihr Garten. Seit dem Tag vor vierzig Jahren, als er verschwunden ist, hat dort keiner mehr einen Finger gerührt.«

Aoife lachte. »Das würde ich kaum als Beweis bezeichnen.«

Die Miene der anderen Frau verschloss sich, und Aoife bereute ihre Worte. Sie hatte Gefallen an dem spontanen Schwätzchen gefunden.

»Was darf’s sein?«, fragte die Frau, plötzlich geschäftsmäßig.

»Fünf Schokomäuse, bitte. Und zwei gefüllte Waffeln, um der alten Zeiten willen.«

An diesem Abend konnte Liam nicht einschlafen, also erlaubte sie ihm, zu ihr ins Bett zu kommen. Sie wusste, dass sie es eigentlich nicht tun sollte, weil er es sonst immer wieder versuchen würde, aber einem Teil von ihr war das egal – jenem Teil, der sich einsam, leer und entwurzelt fühlte. Sie brauchte seine Nähe ebenso wie er ihre.

Obwohl sie ein Doppelbett besaß, in dem sie sich ausbreiten könnten, suchte er im Schlaf unweigerlich ihre Nähe. Sie lag auf dem Rücken, starrte in die Dunkelheit, als –

»Mummy.«

Sie hatte gedacht, er schlafe. »Ja, Liam?«

»Wenn Daddy noch hier wäre, dürfte ich dann auch bei dir schlafen?«

»Natürlich. Erinnerst du dich nicht mehr, wie du zu mir und Daddy gekrochen bist, wenn du schlecht geträumt hast oder krank warst?«

»Nein.«

»Tja, genau das hast du aber getan. Die ganze Zeit.«

»Oh.«

Eine Zeit lang schwiegen sie.

»Nacht, Mummy.«

»Nacht, Liam.«

Wenige Atemzüge später war er eingeschlafen, und seine Knie drückten gegen ihr Hinterteil. Als versuche er, in ihren Bauch zurückzukriechen.

2

Montagmorgen und um neun Uhr Vorlesung. Keine gute Kombination. Als Aoife ihre Studenten um zehn nach neun gähnend hereinschlurfen sah, hätte sie sie am liebsten angeschrien. Sie brauchte sie, schließlich konnte sie ihre Vorlesung nicht vor leeren Bankreihen halten. Genau das sagte sie ihnen auch. Danach saßen sie schweigend auf ihren Plätzen. Wie Zombies.

Iren kamen grundsätzlich zu spät, zu allem, das wusste sie. Trotzdem brachte es sie immer noch auf die Palme. Vielleicht war sie einfach zu englisch.

Na endlich. Wenigstens hatte inzwischen eine halbwegs vernünftige Zahl Studenten den Weg gefunden, so dass sie anfangen konnte. Sie räusperte sich, in der Hoffnung, dass sie dann zu schwatzen aufhörten. »Also. Heute werden wir unsere Erörterungen über die Dichter der Romantik fortsetzen.« Sie spürte, wie sich einige schon jetzt geistig verabschiedeten. »John Keats. Ich bin sicher, viele von Ihnen sind mit seinen Oden vertraut.«

Falls dem so war, behielten sie es für sich.

»Ode an eine Nachtigall und Ode auf eine griechische Urne sind natürlich seine berühmtesten Werke, aber jetzt wollen wir uns erst einmal der Ode an Psyche zuwenden.«

Die Aussicht löste kollektive Begeisterung aus.

»Kann mir jemand etwas über die Legende von Amor und Psyche erzählen?« Sie ließ den Blick über das Meer junger Gesichter schweifen. Manche starrten konzentriert auf die leeren Seiten vor ihnen, aus Angst, sie könnte sie aufrufen. Andere starrten blicklos ins Leere, die Gesichter grau von zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf. »Irgendjemand?«

Niemand. Sie stieß einen Seufzer aus.

»Venus, die Göttin der Liebe, wird rasend eifersüchtig auf diese irdische Frau namens Psyche, die Gerüchten zufolge schöner ist als sie. Also befiehlt sie ihrem Sohn, Amor, einen seiner goldenen Pfeile auf Psyche abzuschießen, damit diese sich in die widerwärtigste Kreatur des gesamten Planeten verliebt. Das Problem ist nur, dass Amor sich selber Hals über Kopf in Psyche verliebt, als er sie das erste Mal sieht. Also entführt er sie und hält sie in seinem von einer Mauer umgebenen Garten gefangen. Was sie allerdings nicht sonderlich schlimm findet, immerhin ist er der attraktivste geflügelte Mann in der Mythologie.«

Diese Bemerkung brachte ihr immerhin das eine oder andere Lächeln unter den Mädchen ein.

»Das Bild des von einer Mauer eingefriedeten Gartens ist sehr interessant, weil er während der gesamten viktorianischen Ära – eine Ära, in der die Legende von Amor und Psyche auf vielerlei Weise verarbeitet wurde – als Sinnbild für die weibliche Sexualität stand.«

Einige der Jungs schienen amüsiert zu sein – oder eher verlegen? Als wäre sie zu alt, um sich mit derartigen Dingen zu befassen. Vermutlich könnte sie theoretisch ihre Mutter sein – wenn auch eine sehr junge. Eine ziemlich erschreckende Vorstellung, wenn man bedachte, dass Liam praktisch noch ein Baby war.

Ein neues Geräusch drang von den Rängen des Hörsaals – unmissverständlich in seinem Rhythmus.

Jemand hatte zu schnarchen begonnen.

3

Bei einer ihrer Wochenenderkundungstouren durch ihr neues Wohnviertel wurde Aoife Zeuge von etwas, das ihr in ihrer gesamten Zeit in London nie passiert war.

»Mummy, was macht der Mann da mit der Frau?«

»Oh, lieber Gott! Hey!«, schrie sie aus Leibeskräften und setzte sich in Bewegung.

Eine Frau wurde von einem jungen Mann über den Bürgersteig gezerrt – besser gesagt, versuchte er ihr die Handtasche zu entreißen, doch sie klammerte sich daran, als hinge ihr Leben davon ab. Der Mann, unübersehbar erschrocken über Aoifes Einmischung, ließ los und sprintete davon. Aoife ging neben der Frau in die Hocke. »Geht es Ihnen gut?«

»Sehe ich so aus?« Die Frau hievte sich mühsam hoch.

Die Antwort verblüffte Aoife ebenso sehr wie der vornehme Akzent der Frau. Und noch verblüffter war sie, als sie feststellte, dass es sich um die Frau handelte, die sie in der Woche zuvor im Good Food Store gesehen hatte. Mrs Prendergast, oder? Sie streckte ihr die Hand hin, doch die ältere Frau ignorierte sie und stand auf. Sie war unverletzt, trotzdem hatte der Vorfall sie sichtlich mitgenommen.

»Kommen Sie, ich begleite Sie nach Hause. Wo wohnen Sie denn?«

»Das ist definitiv nicht nötig.«

»Aber ich bestehe darauf.« Aoife nahm Mrs Prendergast beim Ellbogen, doch in die Augen der Frau trat ein Ausdruck von so ungezügelter Wildheit, dass sie sie abrupt losließ. Kein Wunder, dass ihr die Nachbarn einen Mord zutrauten.

»Ich bin durchaus in der Lage, allein zu gehen, vielen Dank.«

»In Ordnung. Aber dann rufe ich wenigstens die Polizei.« Aoife zog ihr Handy heraus.

»Das werden Sie nicht tun. Ich habe keinerlei Bedürfnis danach, dass eine Horde Polizisten durch mein Wohnzimmer trampelt. Ich habe meine Handtasche wieder, es fehlt nichts, und ich will diesen leidigen Vorfall so schnell wie möglich vergessen, mehr nicht. Wenn Sie also nichts dagegen haben …«

»Doch, habe ich. Ich werde Sie nach Hause begleiten. Ende der Diskussion.«

Diesmal ließ Aoife sich nicht beirren, als Mrs Prendergast ihre ungewöhnlich hellen Augen auf sie richtete und sie eindringlich anstarrte. Schließlich stieß die ältere Frau ein Schnauben aus und machte Anstalten, die Straße zu überqueren. Aoife folgte ihr, den erschrocken dreinblickenden Liam an der Hand.

»Wohin gehen wir, Mummy?«

»Wir begleiten diese Dame nach Hause.«

»Wieso?«

»Um sicher zu sein, dass ihr nichts passiert.«

»Wo wohnt sie?«

»Das weiß ich nicht.«

»Gibt es da auch kleine Jungen?«

»Das kann ich dir nicht sagen, Liam, aber wohl eher nicht.«

»Aber wieso …«

»Hier, iss ein Bonbon.«

Inzwischen war Mrs Prendergast in die Einfahrt eines eleganten alten Ziegelbaus an der Straßenecke gebogen.

Aoife zog Liam hinter sich her zu der pflaumenfarbenen Eingangstür und blieb hinter der schlanken Gestalt stehen, die mit durchgedrücktem Rücken dastand. Sie malte sich aus, wie sie in sich zusammensinken würde, sobald sie allein war und sich die Tür hinter ihr schloss.

Mrs Prendergast trat in die Diele und wandte sich um. »Wie Sie sehen, bin ich heil zu Hause angekommen.« Sie schluckte. »Danke.«

»Gern geschehen. Möchten Sie, dass ich einen Arzt rufe?«

»Nein, das möchte ich nicht. Auf Wiedersehen.«

Die Tür schloss sich bereits, als Liam anfing, von einem Fuß auf den anderen zu springen. »Pipi, Mummy, ich muss Pipi.«

Mist. Sie sah Mrs Prendergast an. »Er könnte wohl nicht …«

Mrs Prendergast verdrehte theatralisch die Augen und öffnete die Tür gerade weit genug, dass Liam hineinschlüpfen konnte.

Sie würde Aoife doch nicht allen Ernstes hier stehen lassen? Diese unhöfliche alte Kuh.

»Ich möchte Sie eindringlich bitten, mich auch hereinzulassen, wenn Sie nicht wollen, dass ich auf Ihre Türschwelle pinkle.«

Mrs Prendergast warf ihr einen finsteren Blick zu und öffnete die Tür.

»Danke. Wo …?«

»Die Treppe hinauf und dann links.« Ihre Stimme war dünn wie hauchzartes Porzellan.

Als Aoife mit Liam im Schlepptau, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben lief, spürte sie den Anflug von Gewissensbissen. Diese arme alte Dame war gerade überfallen worden, und sie war so gemein zu ihr. Aber, du meine Güte, warum war sie dermaßen feindselig?

Das Haus war wunderschön – vom anmutigen Schwung des Mahagonigeländers bis zu den Mustern, die das durch die Buntglasfenster einfallende Licht auf den auf Hochglanz polierten Holzboden warf. Aoife stand im Badezimmer und starrte geistesabwesend auf das weiße Rollo, während Liam pinkelte. Sie schob es ein Stück beiseite und blickte zu ihrem Erstaunen auf die Überreste eines von einer Mauer umfriedeten Gartens. Längst überwucherte Pfade verliefen am Rand und unterteilten ihn in der Mitte, dazwischen standen uralte Apfelbäume, die unter dichtem Efeugestrüpp zu ersticken drohten, und ein halb zerfallener Torbogen. Aoife malte sich aus, wie er in seiner Blütezeit ausgesehen haben mochte – voller duftender Rosen. Blassrosa, dachte sie. Und die Leiche von Mr Prendergast, die in ihrem Grab dicht unter der Erde verrottete.

»Mummy, ich komme nicht ans Klopapier ran.«

Sie reichte es ihm und versuchte es danach genau an dieselbe Stelle zurückzulegen, was sich als unmöglich erwies.

Mrs Prendergast erwartete sie bereits neben der Haustür. Ihr Wunsch, sie loszuwerden, war unübersehbar. Aoife hätte sich nur zu gern im Haus umgesehen. Eine Tür in der Diele war angelehnt und bot einen verlockenden Blick in ein mit Antiquitäten vollgestopftes Zimmer. Doch Mrs Prendergast machte keinerlei Anstalten sie herumzuführen, sondern hielt ihnen die Tür auf – einladend und weit.

»Vielen Dank, Mrs Prendergast. Bitte entschuldigen Sie die Umstände. Was sagt man, Liam?«

»Sie haben sich das Knie aufgeschürft«, erklärte Liam und blickte zu Mrs Prendergast auf. »Sie sollten sich von Ihrer Mummy ein Pflaster draufkleben lassen.«

»Danke, das werde ich. Wenn es Sie nicht stört …«

»Ja, natürlich. Auf Wiedersehen.«

Die Tür schloss sich hinter ihnen, noch bevor sie auf der obersten Stufe standen.

Sie schlugen den Weg nach Hause ein, trotzdem konnte Aoife sich nicht verkneifen, einen Blick auf den Garten zu werfen. Ohne auf Liams Maulen zu achten, ging sie an der Mauer entlang, die den rund viertausend Quadratmeter großen Garten umgab, bis zu einem schmiedeeisernen Tor, dessen schwarze Farbe bereits abblätterte. Natürlich war es verschlossen; mit einem Schloss, das aussah, als könne es auch notfalls eine Armee aufhalten, und einer schweren, mehrmals darumgeschlungenen Eisenkette.

Ohne auf die Passanten zu achten, presste Aoife ihre rechte Wange gegen das kalte Eisen und spähte hinein. Bestimmt bot sie von der anderen Seite einen urkomischen Anblick, doch es war niemand da. Der Garten bestand aus kaum mehr als dichtem Gestrüpp. Und natürlich der Mauer aus hübschem bräunlichen Ziegel, die von dichtem Efeu bedeckt war – zwei Farben, die einander perfekt ergänzten und einen wunderschönen Anblick boten. Auf den zweiten Blick konnte sie eine Anordnung der Bepflanzung erkennen, wenn auch nur, weil Winter und der Garten nahezu kahl war.

Es gab zwei Reihen überwucherter Büsche, die zur Mitte hin verliefen und sich an einem Teich trafen. Zumindest nahm sie an, dass es sich um einen Teich handelte; die Oberfläche war nämlich von so dichtem Wasserlinsengestrüpp bedeckt, dass es wie eine undurchlässige grüne Fläche wirkte.

Umfriedete Gärten hatten etwas Magisches, etwas Romantisches. Aoife hatte sie schon immer geliebt. Doch sie hätte nicht erwartet, so nahe bei ihrem neuen Dubliner Zuhause einen zu finden. Noch dazu einen intakten,wenn er auch leicht mitgenommen aussah. Ein verborgener Schatz. Es kam ihr vor, als sei sie der erste Mensch, der diesen Garten je zu Gesicht bekommen hatte. Ihn wirklich sah. Oder zumindest der erste Mensch seit langer, langer Zeit.

Sie ging nach Hause. Doch der Garten ließ sie nicht mehr los.

Myrtle drehte den Schlüssel im Schloss um, worauf es ihr in die Hände fiel. Das Tor, gerade erst eingebaut, schwang in einer flüssigen Bewegung auf. Entzücken durchströmte sie. Überall wuchs etwas, willkürlich und ungezähmt. Wo andere Frauen Unordnung und Chaos gesehen hätten, sah sie nur Möglichkeiten. Sie lächelte und drehte sich im Kreis. Zu Hause.

4

Es war exakt eine Woche später, fast auf die Stunde genau.

Mrs Prendergasts Vorgarten bestand vorwiegend aus Kies, gesäumt von unkomplizierten, aber sehr sorgfältig platzierten und gestutzten Büschen. Die gepflegte Hausfront ließ nicht einmal ansatzweise ahnen, welche Wildheit sich dahinter verbarg. Breite dunkle Steinstufen führten hinauf zu der eindrucksvollen Haustür mit Buntglasfenstern.

Aoife blieb vor der Tür stehen. Es fühlte sich an, als hätten ihre Füße sie ohne ihr Zutun hierhergeführt. Sie betrachtete den angelaufenen Messingklopfer. Keine Klingel. Wie kam sie hierher? Das war doch sonst nicht ihre Art. Vielleicht lag es daran, dass sie gerade ein neues Leben anfing. Dass ganz neue Möglichkeiten in ihr zum Leben erwachten.

»Darf ich klopfen, Mummy?«

Sie hob Liam hoch, so dass er den Messingklopfer gegen das Holz fallen lassen konnte. Nichts geschah. Nach einer angemessenen Wartezeit forderte sie ihn auf, noch einmal zu klopfen.

Wieder nichts.

»Darf ich nochmal versuchen, Mummy?«

»Nein. Sie ist nicht zu Hause. Gehen wir.«

Sie kam sich wie eine Idiotin vor, als sie die Treppe hinabstieg und entschlossen die gekieste Einfahrt durchquerte, getrieben von dem Wunsch, so schnell wie möglich wegzukommen, nur fort von dieser schwachsinnigen Idee, und in der Gewissheit, dass Mrs Prendergast ihr oben am Fenster mit höhnischer Miene hinterherblickte.

Doch genau in diesem Moment öffnete sich hinter ihr die Tür. Liam hörte es ebenfalls. »Sieh nur, Mummy, sie ist ja doch da.«

Die Feindseligkeit auf Mrs Prendergasts Zügen war deutlicher denn je zuvor. Schon jetzt bereute Aoife, überhaupt hergekommen zu sein. Trotzdem machte sie kehrt und ging die Stufen hinauf, bis sie, ein weiteres Mal, vor der Haustür stand. Mrs Prendergast hob fragend eine Braue. »Besteht wieder einmal Bedarf an meiner Toilette?«

Aoife lächelte nervös. »Wir sind hergekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«

»Es könnte mir nicht besser gehen.«

Verlegene Stille breitete sich aus.

»War’s das?«

»Sieh mal, Mummy, ein Hündchen.«

Eine feuchte Schnauze drängte sich an Mrs Prendergasts Bein vorbei, gefolgt von einem Hundegesicht, dessen Freundlichkeit in krassem Gegensatz zu der Miene seiner Besitzerin stand. Schließlich erschienen ein rundlicher Hundeleib und ein wild wedelnder Schwanz. Das Gesicht einer nicht mehr ganz jungen Hündin. Ein Golden Retriever. Hechelnd blickte sie Liam an und hieß ihn wie einen lange vermissten Freund willkommen, während ihr Atem in heißen, stinkenden Wolken ihrem Maul entströmte.

»Wie heißt er?«, fragte Liam.

»Harriet.«

»Und ist er ein Junge oder ein Mädchen?«

»Natürlich eine Hündin. Harriet ist ein weiblicher Name.«

Aoife warf Mrs Prendergast einen strengen Blick zu. Woher um alles in der Welt sollte ein vierjähriger Junge das wissen? Doch sie riss sich zusammen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Maßregelungen. »Was für ein schöner Tag, nicht?«, sagte sie stattdessen.

»Hmmpf«, machte Mrs Prendergast – zumindest hörte es sich so an.

»Okay, Mrs Prendergast, da Sie offenbar nicht in der Stimmung für eine Unterhaltung sind, komme ich direkt zur Sache.«

»Sie wollen also etwas.«

»Es geht um Ihren Garten.«

»Was ist damit?« Ihre Haltung war unnachgiebig, ihre Miene verriet Argwohn und Wachsamkeit.

»Es muss doch schwer für Sie sein, sich allein um ein so großes Grundstück zu kümmern.«

Mrs Prendergast musterte Aoife mit halb geschlossenen Lidern, als wäre sie ein Käfer, den sie am liebsten zertreten würde.

»Ich will damit nur sagen, dass er wunderschön sein könnte.«

»Worauf wollen Sie hinaus, meine Liebe?«

Aoife vermutete, dass diese Anrede ironisch gemeint war.

Die beiden Frauen waren so beschäftigt, dass sie nicht mitbekamen, wie Liam und Harriet immer weiter in der Diele verschwanden.

»Ich könnte Ihnen dabei helfen.«

»Nein, danke. Harriet!« Mrs Prendergast sah sich um.

»Ich meine damit nicht, dass Sie und ich ein bisschen Unkraut jäten. Sondern wir könnten ein paar Leute engagieren, die sich darum kümmern.«

»Was für Leute?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich habe mir überlegt, eine Annonce aufzugeben.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Harriet!« Mrs Prendergast spähte an Aoife vorbei.

»Ich glaube, sie sind dort hineingegangen«, bemerkte Aoife und zeigte auf den Hausflur. Mrs Prendergast wandte sich um und verschwand durch eine Tür, die von der Diele abging. Liams hohes Kichern drang an Aoifes Ohren. Sollte sie … Eigentlich war sie ja nicht hereingebeten worden … sie war zu überhaupt nichts gebeten worden … Aber wenn Mrs Prendergast Liam aus dem Haus haben wollte, nun ja, dann würde Aoife das wohl übernehmen müssen.

Sie trat über die Schwelle und schaute hinter Mrs Prendergast in das Zimmer. Liam hockte neben Harriet auf dem Boden, die sich auf den Rücken geworfen hatte und die Nase in die Luft reckte. Er kraulte ihren Bauch, während sie sich wälzte und mit den Beinen strampelte, als sitze sie auf einem unsichtbaren Fahrrad. Aoife sah Mrs Prendergast an, die nicht mehr ganz so streng dreinblickte. Und da hieß es immer, man solle nie mit Kindern oder Tieren arbeiten.

»Was stinkt da so?« Liam hob den Kopf und schnüffelte.

»Liam!«

»Oh, das war bestimmt Harriet. Sie furzt recht oft.«

Liam warf sich neben dem Hund auf den Boden und wurde von einem heftigen, ansteckenden Lachanfall geschüttelt. Mrs Prendergasts Mundwinkel zuckten. Aoife erkannte eine Gelegenheit, wenn sie eine vor sich hatte. »Ich wünschte, Sie würden sich meinen Vorschlag noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Es könnte ganz wunderbar werden. Stellen Sie sich nur vor – der Garten, wie er in seinem alten Glanz erstrahlt. Wir könnten Obstbäume anpflanzen, Gemüse, Kräuter.«

»Wie heißen Sie?«

»Wie bitte? O Gott, bitte entschuldigen Sie. Ich bin Aoife. Aoife Madigan. Und das ist Liam.«

»Sie sind Engländerin.« Und ausnahmsweise war es kein Vorwurf.

»Ja, das stimmt.«

»Woher stammen Sie?«

»Aus London. Wie ich schon –«

»Sind Sie verheiratet?«

»Ich war es. Aber ich nehme an, das wissen Sie bereits.«

Aoife spürte, wie sie rot wurde, doch Mrs Prendergast schien es nicht mitzubekommen.

»Gehören Sie der Anglikanischen Kirche an?«

»Nein, ich bin katholisch.«

»Oh. Wie schade. Die anglikanische Frauenorganisation, die Mothers’ Union, sucht immer frisches Blut. Die sind wie eine Horde Vampire.«

»Nein, tut mir leid.«

Leid? Wieso entschuldigte sie sich für ihre Konfession?

»Und ich gehe recht in der Annahme, dass Sie viel Erfahrung mit Gartenarbeit haben.«

»Oh ja, sehr viel.« Sie beschränkte sich darauf, dass sie mit neun Jahren Sonnenblumen in ihrem Garten in Upper Norwood angepflanzt hatte.

»Ich habe vor, ihn zu verkaufen.«

»Was?«

»Den Garten. Ich verkaufe ihn als Bauland.«

»Das können Sie nicht machen.«

»Wie bitte?«

»Ich meine … ich meine …«

»Ich denke doch, es steht mir zu, mit meinem eigenen Grund und Boden zu tun, was ich gern tun möchte.«

»Ich weiß, ich weiß. Natürlich. Ich habe nur das Gefühl, dass es eine solche Schande ist. Der Garten könnte so wunderschön sein. Ich bin sicher, früher war er das.« Sie blickte fragend in Mrs Prendergasts Gesicht, konnte jedoch nichts erkennen. Nicht einmal mit der Wimper zuckte die alte Dame.

Aoife seufzte. »Komm, Liam.«

Liam richtete sich auf. »Bitte, könnten ich und meine Mummy den Garten nicht haben?«, fragte er Mrs Prendergast. »Ich möchte, dass sie Blumen pflanzt.«

Das Schweigen war ebenso betreten wie ohrenbetäubend.

»Gehen wir.« Aoife hob ihren Sohn hoch, bevor er Gelegenheit hatte, noch etwas zu sagen, und ging zur Tür hinaus. Auf der Treppe drehte sie sich noch einmal um, doch die Tür war bereits geschlossen. Sie fühlte sich am Boden zerstört, ohne sagen zu können, weshalb.

5

Sie versuchte, den Vorfall aus ihren Gedanken zu verbannen, denn … na ja, was sollte das Ganze eigentlich?

Eines Tages, nicht allzu lange danach, stand sie wieder einmal im Good Food Store auf der Suche nach etwas, was wie hausgemacht schmeckte, ohne es zu sein, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Vor Schreck fuhr sie zusammen. Sie kannte nicht genug Leute hier, um mit so etwas zu rechnen. »Oh, hallo, Mrs Prendergast.«

»Sie können den Garten haben.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte, Sie können den Garten haben. Machen Sie damit, was Sie wollen, es ist mir egal. Natürlich gehört er immer noch mir.«

»Natürlich.«

»Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie anfangen wollen.«

»Das werde ich. Danke.«

Die ältere Frau nickte kurz. Augenblicke später war sie verschwunden.

Wie auf Wolken schwebte Aoife nach Hause. Erst als sie in ihrer Küche stand, merkte sie, dass sie ihre Einkäufe im Laden stehen gelassen hatte.

Sie hatte keine Ahnung, weshalb ihr der Garten so viel bedeutete. Vielleicht weil er das perfekte Spiegelbild ihrer selbst war – desolat, brachliegend nach einem langen kalten Winter und jahrelanger Vernachlässigung, ausgezehrt von strengen Frösten, eisigen Winden und Monaten der Dunkelheit, wo einst alles grün und üppig gewesen war, und dennoch überquellend vor verheißungsvollem Wachstum und Optimismus. Trotz allem.

Trotz allem.

Unmittelbar unter der Oberfläche wartete neues Leben darauf, aus der Dunkelheit ans Licht zu drängen. Sie hatte es schon immer gewusst, tief in ihrem Innern, einem Teil ihres Selbst, den sie längst vergessen hatte. Könnte sie doch nur helfen, es wieder gedeihen zu lassen – wenn ihr das gelänge, würde es sich anfühlen, als wäre alles möglich.

Genau in dieser Stimmung machte sie sich an einem stürmischen Morgen Mitte Dezember auf den Weg zum Good Food Store. In der Tasche hatte sie ein auf die Hälfte gefaltetes dickes weißes Blatt Papier. Erleichtert bemerkte sie, dass an diesem Tag eine andere Verkäuferin hinterm Tresen stand, genauer gesagt, ein Mädchen, das nicht älter als zwanzig sein konnte. Schlank und mit schulterlangem dunklen Haar – eines jener Geschöpfe, die das Licht eher absorbierten, statt zu leuchten. Für einen Menschen, der den ganzen Tag von all den wunderbaren Köstlichkeiten umgeben war, wirkte sie reichlich unglücklich, doch Aoife war wohl die Letzte, die sich ein Urteil darüber erlauben sollte.

»Darf ich hier eine Anzeige aufhängen?«, fragte Aoife und deutete auf die Anschlagtafel.

Das Mädchen, das gedankenverloren in die Ferne geblickt hatte, kehrte ins Hier und Jetzt zurück. »Machen Sie ruhig.« Sie starrte weiter.

Aoife hätte zu gern gewusst, was sie sah. Sie nahm eine Reißzwecke von einem Pilates-Poster und hängte ihre Annonce an die Stelle, von der sie glaubte, dass sie am meisten Beachtung finden würde. Dann trat sie einen Schritt zurück, um die Worte zum wohl fünfzigsten Mal zu lesen.

Garten braucht dringend Pflege und Aufmerksamkeit.

Gemeinschaftsarbeit erwünscht.

Interessenten mit grünem Daumen treffen sich

Montagabend, 16. Dezember, um 20.30 Uhr bei 

Sie notierte ihre Anschrift und betrachtete das Blatt noch einmal. In die obere rechte Ecke hatte sie sogar ein paar Blumen gemalt. Was für ein Unsinn. Hatte sie ernsthaft vor, das durchzuziehen? Ja. Genau das würde sie tun. Sie wandte sich ab, ehe sie es sich noch einmal anders überlegen konnte. Und richtete ihre Gedanken auf alltäglichere Dinge – das Abendessen. Sie ließ den Blick über die übersichtliche Gemüseabteilung schweifen. »Haben Sie grüne Bohnen?« Sie hatte beinahe Gewissensbisse, das Mädchen in die Realität zurückzureißen, wo es unübersehbar nicht gern sein wollte.

»Grüne Bohnen aus Irland kriegen wir nicht. Die stammen alle aus Kenia, deshalb nehmen wir sie überhaupt nicht mehr.«

Aoife nickte und verließ den Laden. Sie zog sich die Wollmütze ein Stück tiefer über die Ohren, als wolle sie all die Gedanken festhalten, die in ihrem Kopf umherwirbelten. Man bekam hier also keine grünen Bohnen aus Irland. Interessant. Sie schlüpfte in ihre Handschuhe und lächelte. Wüsste sie es nicht besser, hätte sie glatt geglaubt, sie sei glücklich.

6

Es war der 16. Dezember, 20.31 Uhr. So. Wo waren sie, die Heerscharen an Interessenten? Hatte all das Kissenaufschütteln, Krümelwegwischen, Kaffeekochen, Kekskaufen und Zettelaufhängen am Ende nichts genützt? Sie hatte sogar ein paar Topfpflanzen besorgt, um den Anschein zu erwecken, als sei sie vom Fach.

Es läutete. Ihr Herz machte einen Satz. Sie eilte aus der Küche, drosselte jedoch ihre Schritte, als sie sich der Eingangstür näherte. Nur die Ruhe. Sie öffnete die Tür. Ein Mann stand davor.

»Hallo.«

»Hallo.« Er zog den Hut, eine Geste, die sie verblüffte und zugleich freute.

»Sind Sie wegen des Gartens hier?«

»Ja.«

»Kommen Sie doch bitte herein.«

Jemand war hier. Jemand war gekommen.

Sie trat beiseite. Er war kleiner als sie, adrett und sauber gekleidet mit einem sorgsam gestutzten Bart – dunkel, obwohl er bereits über siebzig sein musste.

Mit knappen, entschlossenen Bewegungen zog er seinen Mantel aus, unter dem ein makelloser grauer Nadelstreifenanzug zum Vorschein kam. Sie kam sich unordentlich und schmuddelig neben ihm vor. Sie hatte viel zu viel Augenmerk auf das Haus gelegt und vergessen, sich um ihr Haar zu kümmern, das sie am Morgen zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Zu ihrer eigenen Beruhigung hatte sie sich eingeredet, die losen Strähnen seien hübsche Locken, die ihre Züge weicher machten. In Wahrheit waren sie nichts als zerzauste Flusen. Sie nahm ihm den Mantel ab und bedeutete ihm, zum Wohnzimmer durchzugehen.

»Sie sind der Erste.« Sie kam sich dumm vor, war nervös, wie immer wenn Smalltalk gefragt war. »Kaffee?«

»Das wäre reizend.«

Sie glaubte den Hauch eines Akzents in seiner Stimme zu hören. Eilig ging sie in die Küche, setzte den Kessel auf, arrangierte Kekse auf einem Teller und stellte Milchkännchen und Zuckerdose auf ein Tablett – etwas Solides, etwas zum Festhalten an einem Abend, dessen Verlauf sie nicht in der Hand hatte.

Sie trug die Sachen auf einem großen Tablett ins Wohnzimmer. Der Mann erhob sich, als sie eintrat, nahm es ihr aus der Hand und stellte es auf dem Kaffeetisch ab.

»Danke.«

»Uri.«

»Danke, Uri. Ich bin Aoife. Entschuldigen Sie, natürlich hätte ich mich vorhin schon vorstellen müssen.«

Wieder ging die Türglocke. Noch jemand! Sie lief hinaus, um aufzumachen.

Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. Es war das traurige Mädchen aus dem Laden.

»Hallo.«

»Hallo.«

»Kommen Sie rein. Soll ich Ihnen die Jacke abnehmen?« Sie führte sie ins Wohnzimmer. »Ich bin Aoife.«

»Emily.« Ein angedeutetes Lächeln trat auf ihre Züge.

»Kaffee?«

»Ja. Bitte.«

»Mummy.«

O verdammt. Liam war noch wach. Und nicht nur das – er stand am oberen Treppenabsatz.

»Geh wieder ins Bett.«

»Wer ist da?«

»Nur jemand, der Mummy besuchen möchte.«

»Wer?«

»Niemand, den du kennst. Leg dich wieder schlafen.«

»Aber ich habe noch gar nicht geschlafen.«

»Dann tu es eben jetzt.«

»Ich hab Hunger.«

In ihrer Verzweiflung schloss sie die Wohnzimmertür. Immer dieselbe Masche. Uri goss gerade Milch in Emilys Tasse. Die beiden sahen sie erwartungsvoll an. Sie lächelte knapp und sah auf die Uhr. Viertel vor neun. »Ich denke, wir sollten anfangen.« Sie setzte sich in einen Sessel. »Notfalls erkläre ich eben alles noch einmal, falls noch jemand kommt.«

Aber es kam niemand mehr. Abgesehen von Liam, den Aoife die Treppe herunterkommen hörte. Sekunden später ging die Tür auf, und da stand er, in der vollen Pracht seines Spiderman-Schlafanzugs. Sein Selbstvertrauen verflog schlagartig beim Anblick der beiden Fremden. Er rannte zu seiner Mutter, kletterte ihr auf den Schoß, schlang die Beinchen um sie und vergrub das Gesicht in der weichen, warmen Kuhle zwischen ihrer Schulter und ihrem Hals. Statt der Verärgerung, die sie erwartet hatte, spürte Aoife, wie die Anspannung von ihr abfiel.

»Also. Wir haben die Chance, einen Garten auf Vordermann zu bringen.«

»Tatsächlich?« Uri beugte sich gespannt vor.

»Ja. Die Besitzerin ist so freundlich, uns alles machen zu lassen, was wir wollen.«

»Wo ist dieser Garten denn?«

»Ganz in der Nähe. Nur etwa fünf Minuten zu Fuß.«

»Haben Sie schon einen Plan gezeichnet?«

»Äh. Nein. Noch nicht. Ich wollte zuerst sehen, ob ich überhaupt Interesse wecken kann.«

»Haben Sie Fotos?«

»Nein.«

»Wie groß ist er denn?«

»Etwa viertausend Quadratmeter.«

»Viertausend Quadratmeter in diesem Teil der Stadt! Ein Wunder, dass noch keiner einen Apartmentkomplex hingestellt hat.«

»Stimmt. Die Besitzerin hat überlegt, ihn an einen Grundstücksmakler zu verkaufen, aber offenbar hat sie ihre Meinung geändert.«

»Was schwebt Ihnen vor?« Wieder ergriff Uri das Wort, wohingegen Emily noch gar nichts gesagt hatte.

»Ich sehe das Ganze als Gemeinschaftsprojekt. Jeder, der Interesse hat, kann kommen und helfen. Wir versuchen, den Garten in seinem alten Glanz wiederaufleben zu lassen. Blumen, Gemüse, Kräuter, Obstbäume.«

»Wir könnten Feigen anbauen – ja sogar Weinreben.« Uri lächelte breit.

»Und vielleicht ein Gewächshaus bauen.«

Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Na ja, wie Sie ja selbst wissen, ist die Temperatur in einem umfriedeten Garten immer ein wenig höher als in einem offenen, deshalb sollte es möglich sein, an den Mauern Obst anzubauen, wo sich die Hitze speichert.«

Aoife nickte und blickte auf den Teppich vor ihr, während sie spürte, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Wie Sie ja selbst wissen.

Einen kurzen Moment lang begegnete sie Uris Blick. Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt, weil sie nicht im Vorfeld recherchiert hatte. Und das passierte ausgerechnet ihr!

»Können wir ihn uns ansehen?« Es war das erste Mal, dass Emily das Wort ergriff.

»Den Garten?«

»Ja.«

»Jetzt?« Darauf war sie nicht gefasst gewesen.

Emily nickte.

»Aber es ist schon dunkel.«

»Ich habe eine Taschenlampe dabei«, warf Uri ein.

Das wundert mich nicht, dachte Aoife mit einem Anflug von Bitterkeit, ehe sie sich rasch zur Ordnung rief. Sie konnte von Glück sagen, jemanden gefunden zu haben, der etwas von alldem verstand. Denn sie tat es nicht, wie man unschwer erkennen konnte.

»Aber was ist, wenn noch jemand kommt …« Ihre Stimme verklang. Ihre beiden Besucher sahen zur Uhr, dann zu ihr herüber. Es war neun Uhr. Keiner brauchte etwas zu sagen.

»Was ist mit Liam?«

»Ich kann mitkommen, Mummy.« Liams Worte fühlten sich feucht an ihrer Halsgrube an.

Wieso nicht?, dachte sie. Er war sowieso hellwach. »Okay.«

»Juhu!«, rief er, sprang von ihrem Schoß und lief hinaus; wahrscheinlich um seine Stiefel zu holen.

Dann fiel ihr etwas ein. »Aber ich habe die Schlüssel noch gar nicht.«

»Könnten wir nicht die Besitzerin fragen?«, meinte Uri.

»Das könnten wir wohl. Aber ich möchte sie nur ungern stören, es ist schon ziemlich spät.«

»Natürlich. Sie haben völlig recht. Kann man hineinsehen?«

»Es gibt ein Eisentor.«

»Na, dann.« Er stand auf.

Sie zogen ihre Mäntel an und gingen nach draußen.

Es fühlte sich merkwürdig an, mit Liam an der Hand neben zwei Wildfremden durch die dunklen Straßen zu gehen. Dichte weiße Atemwölkchen entströmten ihren Mündern. Die meiste Zeit schwiegen sie, nur Liams ununterbrochene Fragerei durchbrach die Stille und löste die Anspannung.

Als sie den Garten fast erreicht hatten, trat Uri neben sie. »Sind Sie Gärtnerin?«

Genau vor dieser Frage hatte sie sich gefürchtet. »Nein, ich bin Dozentin.«

»In Agrarwissenschaft?«

»Nein. Englisch.« Sie sah ihn an. Er hatte den Blick gesenkt. »Und Sie?«

»Ob ich Gärtner bin?«

»Genau.«

»Nein, nur interessierter Laie. Von Beruf bin ich Schneidermeister.«

»Oh.«

Das erklärte sein makelloses Erscheinungsbild. Ob er sah, dass sie ihre Sachen bei Dunnes von der Stange kaufte?

»Hier ist es.«

»Oh, den kenne ich«, sagte Emily.

Sie traten vor das Tor und spähten in die Dunkelheit. Die nächste Straßenlaterne stand ein gutes Stück entfernt. Uri knipste seine Taschenlampe an und richtete den hellen Strahl in den Garten. Sie pressten die Gesichter gegen die Eisenstäbe und folgten mit ihren Blicken dem Lichtkegel, als er die einzelnen Ecken erhellte. Sie betrachteten alles. Waren wie verzaubert. Gut.

»Darf ich auch mal leuchten?«

Uri reichte Liam die Taschenlampe, der ihren Strahl ziellos umherschweifen ließ.

»Tja«, sagte Aoife schließlich, »was denkt ihr?«

»Ich bin dabei«, erklärte Uri.

»Ich auch«, meinte Emily.

Gut.

Gut.

7

Es geschah tatsächlich. Sie würde es tatsächlich tun. Sie und ihre Armee aus zwei Freiwilligen. Aus diesem Grund stand sie an einem regnerischen Dezembermorgen zum dritten Mal auf Mrs Prendergasts Schwelle. Ihre Finger hatten kaum den Messingklopfer berührt, als die Tür bereits aufging.

»Ich habe mich schon gefragt, wann Sie wieder auftauchen.«

Wie reizend.

»Guten Morgen, Mrs Prendergast. Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich Ihr Angebot annehme. Wir fangen gleich nach Weihnachten an.«

»Wir?«

»Ich und meine freiwilligen Helfer.«

»Viele?«

»Anfangs nur ein paar.«

»Also gut.« Sie machte Anstalten, die Tür zu schließen.

»Mrs Prendergast?«

»Was?«

»Ich brauche einen Schlüssel.«

Sie nickte und verschwand im Haus. Aoife hörte, wie sie eine Schublade aufzog und darin kramte. Wenig später kehrte sie mit einem großen, rostigen Schlüssel zurück. »Hier. Ich hatte ihn herausgesucht, für den Fall, dass Sie noch einmal kommen. Er ist für das Vorhängeschloss. Ich weiß aber nicht einmal, ob es sich überhaupt noch öffnen lässt.«

Sie reichte ihn Aoife mit einem eigentümlichen Blick, als wisse sie nicht recht, was sie von ihr halten sollte. Dann schloss sie die Tür.

Auf dem Weg die Treppe hinunter spürte Aoife, wie Freude in ihr aufstieg. Am liebsten hätte sie laut gesungen. Mit federnden Schritten bog sie um die Ecke und schlug den Weg zum Tor ein. Der Schlüssel passte. Aber das war es auch schon. Sie zerrte und zog, fummelte und probierte. Nichts. Sie verfluchte ihre schwachen Frauenhände. Michael hätte das Schloss aufbekommen.

Verärgert über diesen Gedanken versuchte sie es noch einmal, diesmal mit mehr Entschlossenheit, wobei sie stöhnte wie ein Wimbledon-Spieler. Gerade als sie aufgeben wollte, spürte sie, wie das Metall nachgab. Wie etwas ineinandergriff. Ein leises Hochgefühl erfasste sie, als sich das Vorhängeschloss öffnete und ihr in die Hände fiel. Sie löste die Kette – einmal, zweimal, dreimal. Das Tor ging mit einem Quietschen auf, das eines Hitchcock-Films würdig gewesen wäre. Wann hatte es wohl jemand das letzte Mal geöffnet? Eilig trat sie hindurch und zog das Tor hinter sich zu.

Wie still es war. Beinahe unheimlich. Mit einem Mal fühl