Umschlag

Jutta Mehler, Jahrgang 1949, hängte frühzeitig das Jurastudium an den Nagel und zog wieder aufs Land, nach Niederbayern, wo sie während ihrer Kindheit gelebt hatte. Seit die beiden Töchter und der Sohn erwachsen sind, schreibt Jutta Mehler Romane und Erzählungen, die vorwiegend auf authentischen Lebensgeschichten basieren, sowie Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen, ausgenommen Alois Schraufstetter, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit anderen lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

 

 

Es gibt keine richtige Art, die Natur zu sehen.

Es gibt hundert.

Kurt Tucholsky

1

Thekla blieb auf halbem Weg zu dem Ecktisch im Café Krönner, an dem Hilde und Wally auf sie warteten, erschrocken stehen.

Wann, um Himmels willen, waren sie so gealtert?

Im Laufe der Jahre natürlich. Altern war ein Prozess, der sich nicht aufhalten ließ.

Alle paar Monate hatten sich ihre Runzeln vermehrt und vertieft, die Gelenke versteift, die Sehnen verkürzt. Ihre Muskeln waren geschrumpft, die Bänder erschlafft. Die Augen waren schwächer geworden, und die Ohren befanden sich auf einem guten Weg zur Taubheit. Vom Aufweichen des Hirns gar nicht zu reden.

Und ganz zu schweigen von den Haaren auf unseren Köpfen, die sich schlohweiß gefärbt haben, vergegenwärtigte sich Thekla.

Was Wally allerdings nicht zu akzeptieren vermochte. Ihre Haare leuchteten kupferrot.

Inzwischen war Hilde auf Thekla aufmerksam geworden, winkte ihr ungeduldig zu und rief etwas, das Thekla nicht verstand. Sie beeilte sich, an den Tisch zu kommen.

»Na endlich.« Hilde klang vorwurfsvoll. »Es ist eine Ewigkeit her, seit wir uns zum letzten Mal getroffen haben, und dann kommst du auch noch zu spät.«

»Tut mir leid.« Thekla sagte es mechanisch, während sie Hilde und Wally mit einer mehr angedeuteten als wirklichen Umarmung begrüßte und dabei nachrechnete, wie viel Zeit seit ihrem letzten Treffen tatsächlich vergangen war.

Sie kam auf sechs Monate.

Ein halbes Jahr schien ihr lang genug, um einen fortschreitenden Alterungsprozess aus den Augen zu verlieren und dann vom Ergebnis überrascht zu werden.

Früher, als sie sich mit ihren zwei ehemaligen Schulfreundinnen noch regelmäßig einmal die Woche im »Krönner« zum Kaffeeklatsch getroffen hatte, waren jedes neue Fältchen und jeder weitere Altersfleck im Gesicht, am Hals und an den Armen der beiden Freundinnen hingenommen worden, so wie man die eigenen altersbedingten Veränderungen hinnimmt, aber nicht wirklich wahrnimmt, bis man die Fotos vom letzten Urlaub mit denen vom vorletzten vergleicht oder bis jemand die Stimme nicht weit genug senkt und es keinen Zweifel gibt, wem das »Die ist aber alt geworden« gilt.

»Sechs Monate«, seufzte Wally, offensichtlich hatte auch sie nachgerechnet. »Wie haben wir nur so viel Zeit vergehen lassen können?«

Hilde verdrehte die Augen und machte einen Strichmund.

Früher hätte sie Wally wegen einer so gedankenlosen Frage abgekanzelt, dachte Thekla.

Offensichtlich veränderte das Alter nicht nur ihr Aussehen.

Waren Hilde Wallys oberflächliche, phrasenhafte Äußerungen inzwischen egal? War ihr der Aufwand, Wally deswegen herunterzuputzen, mittlerweile zu viel? Früher hatte sie keine derartige Gelegenheit ausgelassen.

Wie auch immer. Wallys Frage verdiente keine Antwort, wusste sie doch selbst ganz genau, dass ihre Verpflichtungen gegenüber Ehemann und Familie, diverse Unpässlichkeiten, Theklas Urlaubsreise und Hildes Kuraufenthalt diesen langen Aufschub verursacht hatten.

»Agnes Bernauer ist aus«, sagte Hilde mit Grabesstimme, als Thekla gerade nach der Lehne eines freien Stuhls greifen wollte, um ihn sich zurechtzurücken.

Ihre Hand blieb in der Luft hängen. »Agnes-Bernauer-Torte ist aus?«

Das war ein halbes Jahrhundert lang nicht vorgekommen. An keinem der zahllosen Mittwochnachmittage, die sie im Café Krönner in Straubing verbracht hatten, war die Agnes-Bernauer-Torte ausverkauft gewesen.

Das hätten die Krönners (sie betrieben Café und Konditorei nun in fünfter Generation) niemals zugelassen. Die weithin bekannte einzigartige Spezialität aus Mokkacreme und Nussbaiser war das Aushängeschild des Café Krönner, der Magnet, der scharenweise Gäste anzog.

Und sie werden es auch niemals zulassen, dachte Thekla.

Ihr Blick flog zur Kuchenvitrine, und da stand sie: rund, nussig und mit Puderzucker bestreut.

Hilde gluckste und brach in Gelächter aus.

Thekla ließ sich auf den Stuhl fallen. Seit wann war Hilde zu solch albernen Scherzen aufgelegt? Hatte auch hier das fortschreitende Alter seine Hand im Spiel? Hieß es nicht, alte Leute neigten dazu, sich zunehmend kindisch zu verhalten?

Dass Derartiges ausgerechnet an Hilde zu beobachten war, erstaunte Thekla allerdings sehr. Musste nicht von Haus aus wenigstens ein Hauch von Frohsinn im Wesen eines Menschen vorhanden sein, um im Laufe der Jahrzehnte Blüten aus Übermut und Ausgelassenheit oder einfach nur Narretei hervorbringen zu können?

Wally, dachte sie, läge es nicht vielmehr in Wallys Natur, die Welt mehr und mehr mit den Augen eines Kindes wahrzunehmen? Schabernack zu treiben, Sorgen und Nöte einfach zu verdrängen?

Aber Wally hockte da wie ein Gedenkstein.

Für Hildes Scherz hatte sie nur ein kärgliches Schmunzeln übriggehabt.

Thekla warf ihr einen forschenden Blick zu. Hatte der Alterungsprozess Wallys sonniges, argloses, unbedarftes Naturell in etwas Sprödes, Unzugängliches verwandelt?

Der Gedanke erschreckte sie so, dass sie die Agnes-Bernauer-Torte vergaß, die sie hatte bestellen wollen. Betroffen wandte sie sich Wally zu und musterte sie eingehender.

Obwohl das Alter in Wallys Gesicht deutlich weniger Schaden angerichtet hatte als bei Hilde und – wie Thekla zugeben musste – bei ihr selbst (Wallys Haut war, abgesehen von einigen Falten um Augen und Mund, glatt und fleckenlos), wirkte die langjährige Freundin und Gefährtin alt und verbraucht.

Thekla benötigte eine Weile, bis ihr aufging, woran das lag.

Wallys seit jeher rosige Gesichtsfarbe changierte ins Graue.

Ihr Blick war stumpf, gequält, abgekämpft.

Diesen Blick hatte Thekla schon hin und wieder bei Wally wahrgenommen, und er hatte immer mit Sepp Maibier zu tun gehabt, Wallys Ehemann.

Thekla seufzte. Sepp hatte also wieder einmal Porzellan zerschlagen. Und Wallys Verhalten und Aussehen nach eine ganze Menge. Mehr als üblich. Mehr als je zuvor.

Die Ehe der beiden bestand nun schon gut ein halbes Jahrhundert, war aber von Anfang an ein Fiasko gewesen.

Thekla seufzte erneut. Die Hoffnung auf ein gemütliches, beschwingtes Kaffeekränzchen konnte sie begraben. Wally würde ihr neuestes Elend vor ihnen ausbreiten, und Hilde würde wenig Mitgefühl zeigen und wiederholen, was sie immer sagte, wenn Wally von ihrem Mann gedemütigt, beschimpft oder sonst wie schlecht behandelt worden war.

»Selbst schuld«, würde Hilde kundtun. »Du hättest ihn längst verlassen sollen. Aber du wolltest ja nicht auf uns hören, musstest dich wie ein Schlinggewächs an ihm festklammern. Dazu lässt sich nur sagen: ›Wie man sich bettet, so liegt man.‹«

»Sie nimmt Agnes-Bernauer-Torte und Milchkaffee.« Thekla schreckte auf, als sie Hilde tatsächlich sprechen hörte. »Das nimmt sie immer«, fuhr Hilde fort. »Stimmt doch, Thekla, oder?«

Thekla brachte ein Nicken zustande, woraufhin die Bedienung mit einem Lächeln den Tisch verließ, an den sie zuvor getreten war, ohne von Thekla wahrgenommen zu werden.

»Du willst nur Tee?«, sagte Hilde soeben an Wally gewandt, und Thekla hörte tatsächlich Besorgnis in ihrer Stimme. »Hast du Magenbeschwerden?«

So viel Wally unter ihrem Mann auch gelitten haben mochte, den Appetit auf Kuchen hatte es ihr noch nie verschlagen. Und noch etwas war grundlegend anders als bisher: Bei ihren Treffen zum Kaffeeklatsch war Wally immer modisch gekleidet gewesen. Heute dagegen trug sie eine mitgenommene graue Strickjacke, die aussah, als hätte sie sie jahrelang zum Hoffegen angehabt.

Hatte Hilde ins Schwarze getroffen? War Wally krank? Konnte es sein, dass nicht Sepp Maibier an ihrem schlechten Aussehen schuld war, sondern ein Virus? Ein Magengeschwür? Herzschwäche? Oder – was Gott verhüten wolle – war Wally an Krebs erkrankt?

Thekla fürchtete sich davor zu fragen, wurde aber ohnehin aufgeklärt, als Hilde sagte: »Du bist anscheinend auf dem besten Weg, dir von deinem Mann, diesem blöden Arsch, auch noch die Gesundheit ruinieren zu lassen.«

Wally schluckte trocken.

Also doch. Sepp Maibier steckte dahinter. Aber offenbar war die Sache diesmal schlimmer als je zuvor, was sich nicht nur aus Wallys Zustand, sondern auch aus Hildes Ausdrucksweise schließen ließ. Hilde nahm zwar selten ein Blatt vor den Mund, scheute weder Flüche noch Schimpfworte, aber »Arsch« hatte sie – zumindest in Theklas Beisein – noch nie jemanden genannt. Nicht einmal Sepp Maibier.

»Sepp hat unsere Christina verstoßen«, teilte ihr Wally mit erstickter Stimme mit.

Damit stand Thekla vor der Frage, was das nun wieder heißen sollte, denn Wally sprach nicht weiter, sondern hüllte sich in dumpfes Schweigen.

Thekla entschied daher, erst einmal eigene Überlegungen anzustellen, bevor sie nähere Auskünfte einforderte.

Christina, die Tochter von Wally und Sepp Maibier, musste inzwischen Mitte fünfzig sein, hatte drei Kinder, lebte mit ihrem Mann und den Zwillingen, die noch zu Hause wohnten, in einem Eigenheim, das nur einen Katzensprung von dem ihrer Eltern entfernt lag, und kümmerte sich ausschließlich um den Haushalt.

Selbst für Scheuerbacher Verhältnisse einwandfrei insoweit, befand Thekla, glaubte sich aber zu erinnern, dass Christina sich nicht immer so musterhaft verhalten hatte und Sepp wegen seiner Tochter eine Zeit lang fürchterlich in Rage gewesen war.

Aber lag das nicht Ewigkeiten zurück?

Fünfunddreißig Jahre, um genau zu sein, dachte Thekla. Denn so alt ist Wallys Enkelin Lisa vor Kurzem geworden.

Damals, als Christina mit knapp zwanzig ungewollt schwanger wurde, hatte Sepp sich tierisch aufgeregt. In den Achtzigern war ein uneheliches Kind eigentlich kein Thema mehr gewesen. Die Gesellschaft übte sich dahingehend bereits in Toleranz. Nur Sepp Maibier wollte nichts davon wissen. Der verdammte Christina damals in Grund und Boden.

Aber Sepp war ja schon immer ein A… Thekla gebot sich Einhalt, weil sie sich nicht von Hilde anstecken lassen wollte, und führte ihren Gedankengang auf gesittete Weise zu Ende: … altmodischer, herrschsüchtiger, engstirniger Mensch gewesen.

Sepp hatte schließlich dafür gesorgt, dass Christina und der Kindsvater schleunigst vor den Traualtar traten. Und er hielt es sich noch lange zugute, dass sich seine Tochter, noch bevor ihr von der Schwangerschaft etwas anzumerken war, als rechtmäßige Ehefrau von Walter Scheibenzuber bezeichnen durfte. Dennoch hatte es einige Monate gedauert, bis die Wogen wieder geglättet waren und Sepp nur noch sporadisch und kaum mehr hörbar grummelte.

Seither, glaubte Thekla sagen zu können, war Christinas Leben in ruhigen Bahnen verlaufen. Sie hatte einige Jahre später noch Zwillinge geboren – legitim und zu Sepp Maibiers großer Begeisterung, denn einer der beiden war ein Junge. Nicht lange danach hatte Sepp seinen Schwiegersohn in die Tischlerei »Maibier und Söhne« übernommen, und es hatte sich gezeigt, dass die Männer – Sepp, Christinas Bruder und Walter – prima miteinander auskamen. Das wiederum hatte schließlich dazu geführt, dass Sepp den Scheibenzubers einen Flecken Maibier-Grund überließ und sie tatkräftig beim Hausbau unterstützte.

So weit, so gut – oder schlecht, je nach Auffassung, dachte Thekla.

Wie auch immer, Christina hatte sich die ganzen Jahre über als gefügig erwiesen und ihrem Vater keinen Anlass mehr zu Entrüstung gegeben. Wie kam es dann, dass er sie jetzt »verstoßen« hatte?

Verstoßen, wiederholte Thekla in Gedanken. Was für ein altertümliches Wort.

In längst vergangenen Zeiten war es wohl gebräuchlich gewesen, ein ungeratenes Kind fortzujagen oder eine untreue Ehefrau. Aber heutzutage?

Konnte Sepp Maibier tatsächlich zu seiner Tochter gesagt haben: »Ich verstoße dich«?

Nachdem Thekla mit ihren Überlegungen so weit gekommen war, Wallys Schweigen aber noch immer andauerte, wandte sie sich mit hilfesuchendem Blick an Hilde.

»Du hast schon richtig gehört«, sagte die. »Sepp Maibier hat Christina ganz nach mittelalterlicher Sitte verstoßen. Soll heißen, er will sie enterben, ihr sogar den Pflichtteil verweigern. Er hat ihr verboten, jemals wieder einen Fuß auf seinen Grund und Boden zu setzen, was bedeutet, dass sie ihr eigenes Haus nicht mehr betreten kann, und hat ihr jeden Kontakt mit der Familie untersagt.«

Thekla schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist doch lachhaft. Wir leben im 21. Jahrhundert, Hilde. Selbst wenn Sepp gute Gründe für sein Vorgehen hätte, mit solchen Repressalien wird er nie und nimmer durchkommen.«

»Irrtum«, beschied ihr Hilde und begann an den Fingern aufzuzählen. »Selbstverständlich kann er seine Tochter enterben, dafür braucht er nicht einmal eine Begründung. Unter Umständen kann er ihr sogar den Pflichtteil entziehen, was zwar nicht ganz einfach, aber möglich ist. Und selbstverständlich hat er das Recht, ihr seinen Grund und Boden zu verbieten, was zur Folge hat, dass Christina tatsächlich ihr eigenes Haus nicht mehr betreten kann.«

Sie stieß den Zeigefinger, den sie gerade erhoben hatte, in Theklas Richtung. »Von Gesetzes wegen ist nämlich Sepp Maibier der Eigentümer dieses Hauses. Er hat es in seinem Obstgarten bauen lassen und dreißig Jahre lang versäumt, einen Vermessungsantrag zu stellen, um Tochter und Schwiegersohn das Grundstück überschreiben zu können. Weißt du, was das bedeutet, Thekla?«

Thekla wusste es. Hilde, die es ja auch bereits erwähnt hatte, ließ es sich trotzdem nicht nehmen, noch mal zu verdeutlichen: »Dem jeweiligen Eigentümer eines Grundstücks gehören alle Gebäude, die dort stehen, egal, wer sie gebaut und bezahlt hat. So bestimmt es einer der über zweitausend Paragrafen im BGB. Sepp hat also das Eigentumsrecht am Haus der Scheibenzubers und damit das Sagen. Wenn seine Tochter es gegen seinen Willen betritt, dann begeht sie Hausfriedensbruch, macht sich strafbar und riskiert damit im schlimmsten Fall Freiheitsentzug.«

Thekla drängten sich eine Menge Fragen dazu auf, aber Hilde war mit ihrer Aufzählung noch nicht fertig. »Sepp kommt auch damit durch, Christina den Kontakt mit der Familie zu untersagen, weil niemand sich dagegen auflehnen wird. Samt und sonders werden sie Christina meiden, weil alle irgendwie von Sepp Maibier abhängig sind und deshalb kuschen. Wally sowieso. Sie wollte ja nie auf eigenen Füßen stehen lernen, egal, wie sehr wir auf sie eingeredet haben. Das hat sie jetzt davon.«

Wally hatte den Kopf gesenkt und starrte in ihre Teetasse.

Hilde holte Atem und galoppierte weiter. »Maibiers Söhne haben es doch genauso gemacht wie Scheibenzuber: Sie haben ihre Häuser auf dem Grund gebaut, der dem Vater gehört, ihn die Baugelder beantragen und die Grundsteuer bezahlen lassen. Wenn nicht schon früher, dann dürfte ihnen jetzt klar geworden sein, was das für sie bedeutet.«

Als Hilde unverhofft innehielt, nutzte Thekla die Gelegenheit und wandte sich geradezu ruckartig an Wally. »Was in aller Welt hat denn Sepp so in Rage gebracht?«

Wally schniefte. »Christina will die Scheidung.«

»Von Scheibenzuber?« Thekla machte eine unwillige Bewegung, als es ihr herausrutschte. Natürlich. Von wem sonst? Mit Walter Scheibenzuber war Christina ja schließlich verheiratet.

Wally bejahte, als gäbe es Alternativen.

Wenn zwei sich scheiden lassen wollen, dann geht das eigentlich nur die beiden was an, dachte Thekla. Sepp Maibier sah das offensichtlich anders. Aber würde er sich gegen eine Entscheidung stemmen, die das Ehepaar gemeinsam getroffen hatte?

»Was sagt denn Christinas Mann zu der ganzen Sache?«, fragte Thekla. »Und was sagen die Kinder? Die sind ja schließlich schon erwachsen.«

Sie registrierte, dass Wally zum Sprechen ansetzen wollte. Doch erneut kam ein Schniefen, und diesmal blieb es dabei. Wally kramte nach ihrem Taschentuch und schnäuzte sich. Erst jetzt bemerkte Thekla, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

Sie schrak zusammen, als sie Hilde auflachen hörte. »Christinas Mann hat ja die ganze Sache erst ins Rollen gebracht.«

»Er hat dem Sepp einfach keine Ruhe gelassen«, kam es nun tonlos von Wally.

Hilde lachte erneut. »Walter scheint sich aufgeführt zu haben wie Cato im römischen Senat. Allerdings mit dem Unterschied, dass er in jedem zweiten Satz gefordert hat, Christina müsse zur Räson gebracht werden, während Cato …«

»Ceterum censeo Carthaginem esse delendam, ich weiß«, fiel ihr Thekla ins Wort. »Willst du mir nicht lieber erklären, warum sich Christina von ihrem Mann trennen will? Offenbar ist ja sie die treibende Kraft.«

Eine kleine Weile herrschte Schweigen, bis Wally zu reden anfing. Sie hatte ihre Tränen getrocknet und blickte nun mit verquollenen Krötenaugen von Hilde zu Thekla. »Der Walter ist halt genauso wie mein Sepp. Ihn interessiert bloß das Geschäft – seit ein paar Jahren ist er ja Teilhaber –, die Bundesliga, das Eisstockschießen …«

»Du musst nichts weiter erklären«, unterbrach Hilde sie. »Wir können uns ja schon seit einem halben Jahrhundert ein Bild davon machen, wie die Sache bei euch läuft. Und bei der jüngeren Generation geht es anscheinend denselben Gang. Wird sich denn nie was ändern?« Sie verstummte mit grimmiger Miene, fügte aber nach einer kurzen Pause hinzu: »In Scheuerbach hat sich für die Frauen seit Bismarcks Zeiten nichts verbessert. Frauenwahlrecht und das Gesetz zur Gleichberechtigung sind an dem Kaff so gut wie spurlos vorübergegangen.«

Das war natürlich krass übertrieben. Denn dadurch, dass die nötigen Voraussetzungen geschaffen worden waren, hatte es jede Frau nun selbst in der Hand, zu entscheiden, wie sie leben wollte.

Wie man sich bettet, so liegt man, ging es Thekla erneut durch den Kopf. Aber so einfach war die Sache dann doch nicht. Im Grunde hatte Hilde ja recht. In niederbayerischen Dörfern und Marktflecken mochten dort und da tatsächlich noch Ansichten vorherrschen wie bei der Deutschkonservativen Partei im Kaiserreich. Sich dagegen durchzusetzen erforderte vermutlich mehr Schneid, als Frauen wie Wally und ihre Tochter aufbringen konnten.

Aber Christina hatte sich (lieber spät als nie, dachte Thekla) offensichtlich irgendwie freigeschwommen. Was ja eigentlich ein Grund zum Feiern war. Besonders für Wally, die wohl ihrer Tochter zu dem Absprung gratulieren sollte, den sie selbst nie geschafft hatte.

Doch Wally schniefte und schniefte und verbreitete Weltuntergangsstimmung.

Thekla begann nachdenklich auf ihrer Unterlippe zu kauen. Was machte Wally denn so fürchterlich zu schaffen? Christina wollte ihren Mann verlassen oder hatte es bereits getan. Na und? Die Kinder waren erwachsen, standen auf eigenen Beinen. Christina und Walter konnten problemlos getrennter Wege gehen. Sepps Wutgeschrei würde sich irgendwann legen, von Enterben würde keine Rede mehr sein, das von ihm ausgesprochene Kontaktverbot würde nach und nach unterminiert werden und bald in Vergessenheit geraten.

Und bis dahin, dachte Thekla mit einer Spur Boshaftigkeit, werden Hilde und ich dafür sorgen, dass Wally und Christina sich so oft treffen können, wie sie nur wollen.

Hatten sie nicht mittlerweile eine Menge Übung darin, Sepp Maibier zu hintergehen? Um Ermittlungen in diversen Mordfällen anstellen zu können, war es manchmal nötig gewesen, Wally für mehrere Tage von zu Hause loszueisen, und es hatte stets prima geklappt.

»Ich habe Christina seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen«, sagte Wally mit erstickter Stimme.

Damit hatte Thekla nicht gerechnet. Christina war demnach längst von zu Hause ausgezogen und hielt sich offenbar an das Kontaktverbot.

»Tina wohnt jetzt in Neuschönau«, sagte Wally auf Theklas fragenden Blick hin.

Auch diese Auskunft war überraschend. Das Dörfchen Neuschönau lag ein paar Autominuten entfernt von der tschechischen Grenze mitten im Herzen des Nationalparks Bayerischer Wald. Wie konnte es Christina dorthin verschlagen haben?

Spontan entschied Thekla, dass sie sich verhört haben musste, dass Wally von Neuschöndorf gesprochen hatte, einem kleinen Weiler, der zum Gemeindebezirk Scheuerbach gehörte.

Aber Wally nickte, als Thekla nachhakte. »Du hast mich schon richtig verstanden. Christina wohnt einen halben Kilometer vom Nationalparkzentrum Lusen entfernt.«

Offenbar erkannte Wally, dass sie eine Erklärung dazu schuldig war, und begann herumzustottern. »Christina ist doch in den letzten Jahren so viel allein gewesen … Lisa, ihre Älteste, lebt ja schon seit Langem in Landshut, und die Zwillinge … Offiziell wohnen Beate und Rolf noch zu Hause, aber ihr wisst ja, wie das ist mit den jungen Leuten. Tag und Nacht unterwegs. Und Walter … Während der Woche auf Montage und am Wochenende …«

Thekla ging davon aus, dass Hilde sich Wallys Gestammel nicht lange anhören würde, und so war es auch.

»Wir wissen mittlerweile recht gut, wie solche Typen wie Sepp Maibier und Walter Scheibenzuber ihre Wochenenden verbringen«, sagte Hilde scharf. »Bleibt die Frage: Wie hat deine Tochter sie verbracht?«

Wally starrte in ihre Tasse, als ließe sich die Antwort aus dem Bodensatz lesen. »Die ganze Geschichte scheint damit angefangen zu haben, dass Christina eine Einladung zum Klassentreffen der Sechziger-Jahrgänge aus der Hauswirtschaftsschule bekommen hat.« Sie blickte auf. »Das Treffen sollte im Hans-Eisenmann-Haus stattfinden, dem Besucherzentrum im Nationalpark Lusen.«

»Im Landkreis Freyung-Grafenau?«, fragte Thekla verwundert. »War Christina nicht an der Hauswirtschaftsschule in Straubing?«

»Doch«, nickte Wally. »Keine Ahnung, warum das Klassentreffen fast hundert Kilometer entfernt stattfinden sollte. Man wollte wohl was ganz Spezielles …«

Weil Wally offensichtlich soeben wieder den Faden verloren hatte, sagte Thekla: »Und bei diesem Klassentreffen im Hans-Eisenmann-Haus hat Christina …« Sie unterbrach sich, als sie Hilde breit grinsen sah.

Im nächsten Augenblick kam es auch schon: »… einen Kerl wiedergetroffen.«

Wally verneinte. »Auf die Haushaltsschule sind damals nur Mädels gegangen. Ich weiß gar nicht, ob heutzutage auch junge Männer …«

»Verdammt, was ist denn dann auf diesem blöden Treffen passiert?«, verlangte Hilde zu wissen.

Wally zuckte zusammen, bedachte Hilde mit einem vorwurfsvollen Blick, sagte aber friedfertig: »Bei dem Klassentreffen hat Christina nach all den Jahren Manuela Hartmann wiedergesehen. Also Hartmann heißt sie jetzt. Früher hieß sie …« Hilde winkte gereizt ab, woraufhin Wally fortfuhr: »Manuela wohnt seit Langem in Grafenau, hat da in ein Sportgeschäft eingeheiratet. Grafenau liegt ja gar …«

»Herrgott, Wally«, regte sich Hilde auf. »Thekla und ich wissen recht gut, dass Grafenau am Nationalpark liegt.«

Wally verstummte, schluckte und blieb still.

Worauf hatte sie eigentlich hinausgewollt, als sie diese Manuela Hartmann erwähnte? Die frühere Schulkameradin muss irgendwie in Zusammenhang mit Christinas Rebellion stehen, sagte sich Thekla und resümierte deshalb: »Christina hat also eine alte Freundin wiedergetroffen.«

Wally nickte zuerst, dann schüttelte sie den Kopf. »Christina und Manuela sind in der Schule nicht wirklich befreundet gewesen, und danach sind sie sich, soweit ich weiß, nie mehr begegnet. Bei dem Klassentreffen hätten sie sich wohl nicht viel zu sagen gehabt, wenn es nicht ausgerechnet im Nationalpark stattgefunden hätte. Christina war begeistert von dem Projekt, und Manuela konnte alle ihre Fragen beantworten. Sie hat Christina im Tierfreigelände herumgeführt, hat ihr das Luchsgehege gezeigt, das Revier, in dem die Wölfe …«

Hilde gab einen Zischlaut von sich.

Wally biss sich auf die Lippen, fuhr dann aber sachlich fort: »Bei dem Rundgang sind die beiden einem Bekannten von Manuela über den Weg gelaufen. Anselm hat gerade die Luchse gefüttert und …«

»Dachte ich es mir doch«, rief Hilde. »Sie hat einen Kerl. Und er ist Tierpfleger oder so etwas Ähnliches.«

»Anselm ist ehrenamtlicher Waldführer«, klärte Wally sie auf. »Aber er hilft oft bei den Tieren aus, weil er ein Händchen für sie hat.«

»Ein Händchen für Luchse und Wölfe?« Hilde klang geringschätzig. »Und wer heißt heutzutage überhaupt noch ›Anselm‹?«

Wally schwieg, wirkte verletzt.

Mit Recht, dachte Thekla. Wie kommt Hilde dazu, sich so abfällig zu äußern? Noch dazu über jemanden, den sie gar nicht kennt.

»Christina und Anselm haben sich also angefreundet«, sagte sie schnell, um Wally wieder zum Reden zu bringen.

»Und aus der anfänglichen Freundschaft ist mehr geworden«, sagte Hilde. Ihr Ton war jetzt neutral. »Es geht uns ja absolut nichts an, wie genau es mit den beiden weiterging. Interessant wäre allerdings zu erfahren, wie Walter hinter die Sache gekommen ist.«

Wally sah sie verwirrt an. »Christina hat es ihm natürlich gesagt.«

Hilde schnappte nach Luft. »Sie hat was?«

Wally schloss kurz die Augen, als müsse sie sich jetzt besonders konzentrieren. »Christina ist, nachdem sie Anselm kennengelernt hatte, ein halbes Jahr mindestens einmal die Woche nach Neuschönau gefahren, ohne dass Walter Notiz davon genommen hätte. Sie hätte vielleicht jahrelang so weitermachen können. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte einen Schlussstrich unter ihre Ehe mit Walter ziehen und mit Anselm ein neues Leben anfangen. Also hat sie Walter eines Tages mitgeteilt, dass sie sich von ihm scheiden lassen will.«

Und Walter ist sofort zu Schwiegerpapi gelaufen und hat gepetzt, dachte Thekla.

Hatte Sepp Maibier seine Tochter daraufhin gleich zur Rede gestellt? Anscheinend nicht, denn Wally hatte ja zuvor erwähnt, dass Scheibenzuber seinen Schwiegervater mit Nachdruck in die Gänge hatte bringen müssen. Vielleicht hatte Sepp die Sache zuerst nicht ernst genommen.

Aber dann hatte Christina ihre Sachen gepackt, war zu Anselm gezogen, und Walter hatte Sepp zunehmend beackert.

»Fast sechs Monate ist sie jetzt schon fort«, sagte Wally unter Tränen. »Wenn ich nur sicher sein könnte, dass es ihr gut geht. Wenn ich nur wüsste, ob sie es mit Anselm tatsächlich gut getroffen hat.«

»Du hast die ganze Zeit kein Sterbenswörtchen von ihr gehört?« Thekla konnte es nicht fassen.«

»Ab und zu eine kurze Nachricht über Freunde und Bekannte«, räumte Wally ein. »Zweimal ist Christina nach Scheuerbach gekommen, um mich zu treffen. Aber Sepp muss den Braten gerochen haben, jedenfalls hat er mich an den beiden Tagen nicht aus den Augen gelassen.«

»Aber warum habt ihr nicht wenigstens telefoniert?«, wollte Thekla wissen. »Du hast doch ein eigenes Handy. Christina hätte anrufen oder dir eine Nachricht schicken können.«

Wally schluchzte auf. »Sepp hat den Kontakt blockiert.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Er ist so außer sich gewesen, dass ich mich überhaupt nicht mehr getraut habe, irgendwas zu versuchen.«

»Dein Ehemann ist komplett übergeschnappt«, konstatierte Hilde. »Du solltest dir an deiner Tochter ein Beispiel nehmen und ihn schleunigst verlassen.«

Wally antwortete nicht, brütete stattdessen wieder trübselig vor sich hin.

Hilde wirkte so genervt, dass Thekla mit Schmähungen und Flüchen rechnete, die nichts besser machen würden.

Was nottat, war, Wally Unterstützung zu bieten.

Widerstrebend fasste Thekla einen Entschluss. »Ich denke, wir sollten einen Ausflug zum Nationalpark Lusen unternehmen. Wolltest du nicht schon längst einmal über den Baumwipfelpfad zum Baumturm wandern, Hilde? Jetzt wäre die richtige Gelegenheit dafür.«

Hilde rollte die Augen, ließ aber ein kleines Lächeln sehen. »Dann müssen wir diese Gelegenheit wohl beim Schopf packen.«

»Gleich morgen«, schlug Thekla vor. »Damit Wally sich nicht länger quälen muss. Das heißt aber, dass wir Christina noch heute Bescheid geben sollten.« Sie nahm ihr Mobiltelefon aus der Handtasche und reichte es Wally. »Du hast doch ihre Nummer?«

Wally wusste sie auswendig. Sie ging zum Telefonieren nach draußen, und als sie zurückkam, war sie wie ausgewechselt.

»Christina wartet morgen Nachmittag um zwei im Hans-Eisenmann-Haus auf uns. Aber wir können uns auf was gefasst machen, sagt sie. Die Schneewände an der Straße zum Nationalpark sind zwei Meter hoch.«

2

Hilde stellte den Wagen zwischen mannshohen Schneehaufen ab, stieg aus und sah sich betroffen um. »So schlimm habe ich es mir wirklich nicht vorgestellt.«

Thekla und Wally nickten zustimmend. Ihre Blicke wanderten ungläubig über die eindrucksvollen Schneewände, die die Zufahrtsstraße, den Parkplatz und die wenigen frei geräumten Fußwege im Nationalparkzentrum Lusen säumten. Einem Aushang am Infohäuschen war zu entnehmen gewesen, dass der größte Teil der Wanderwege wegen extrem hoher Schneelage und umfangreichen Schneebruchs hatte gesperrt werden müssen.

In der zweiten Januarwoche war innerhalb von ein paar Tagen derartig viel Schnee gefallen, dass im Allgäu und in Teilen Oberbayerns der Notstand ausgerufen werden musste. Im Bayerischen Wald war man glimpflicher davongekommen, aber Schneefall hatte es auch hier mehr als genug gegeben. Viele Straßen waren vor allem wegen umgestürzter Bäume unpassierbar geworden.

Mittlerweile lief der Verkehr auf den Hauptstraßen wieder einigermaßen ungehindert, aber was Wanderwege und Nebensträßchen betraf, würde es noch Wochen oder gar Monate dauern, bis der ganze Schneebruch aufgearbeitet und abtransportiert war.

Hilde eilte auf eine schaufenstergroße Übersichtskarte zu, die sich neben einer Sitzgruppe aus halben Baumstämmen unter dem weit vorstehenden Dach eines lang gestreckten Gebäudes befand. Nachdem sie sie eine Weile studiert hatte, deutete sie auf einen turmartigen Holzbau, in dem sich eine Treppe emporwand, über die man offenbar zu einer Brücke über die Hauptverkehrsstraße gelangte. »Wir müssen da hinauf und über die Brücke. Das Hans-Eisenmann-Haus liegt auf der anderen Seite der Straße auf einem kleinen Hügel.«

Die Treppe erwies sich als so breit, dass sie zu dritt nebeneinander hochsteigen konnten. Andere Besucher zu behindern mussten sie nicht befürchten, denn außer ihnen befand sich niemand im Treppenturm.

Erst in diesem Augenblick kam Hilde zu Bewusstsein, wie ausgestorben das Gelände wirkte. Auf dem riesigen Parkplatz hatte sie höchstens fünf Autos stehen sehen, das Info-Häuschen war verlassen und geschlossen gewesen, und auf dem Weg zu der überdachten Sitzgruppe, neben der sich die Übersichtstafel befand, waren sie keiner Menschenseele begegnet.

Das muss an dem Schneechaos liegen, das die Bayerwäldler heimgesucht hat, überlegte sie. Die Medienberichte und die Straßensperrungen haben dafür gesorgt, dass die Touristen samt und sonders weggeblieben sind.

Als sie auf die Brücke traten, stellte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest, dass ihnen bis zu dem mit Christina vereinbarten Termin noch eine halbe Stunde Zeit blieb. Sie konnten sich also in aller Ruhe von hier oben aus umsehen.

In einiger Entfernung erhob sich das Wahrzeichen des Nationalparks Lusen: ein eiförmiges Gebilde aus Stahlträgern – als Baumturm oder Baum-Ei bekannt –, in dem eine Rampe in luftige Höhen stieg. Davor war ein Teil des Baumwipfelpfades zu erkennen, der ebenfalls in luftiger Höhe in einer weiten Schleife auf das Baum-Ei zuführte. Ihn wollte Hilde unbedingt entlangwandern. Da sie erst gegen Abend wieder zurückfahren mussten, würde bestimmt genügend Zeit dafür zur Verfügung stehen.

Tags zuvor im Krönner hatten sie noch lange beraten, unter welchem Vorwand Wally am besten von zu Hause loszueisen wäre.

»Fährt der katholische Frauenbund nicht alle naselang zu so einer Marienerscheinung?«, hatte Thekla gefragt. »Sepp wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn du ihm vorgaukelst, dass du dich der Pilgerfahrt anschließen willst.«

Hilde hatte die Idee ganz prima gefunden, aber Wally hatte sie beide mit vorwurfsvollen Krötenaugen angesehen. »Der Frauenbund fährt seit ein paar Jahren regelmäßig nach Međjugorje. Viele Gläubige aus aller Welt finden sich dort ein, um zu hören, was uns die Mutter Gottes zu sagen hat. Međjugorje ist einzigartig.« Ihre Augen waren wieder feucht geworden. »Ich wäre so gern einmal dabei.«

»Dann kannst du ja wenigstens so tun, als ob«, hatte Hilde darauf trocken gesagt.

»Aber da müsste ich ja eine ganze Woche untertauchen«, erwiderte Wally erschrocken.

Als sie Hildes und Theklas erstaunte Gesichter sah, stöhnte sie leise auf. »Ihr wisst ja nicht einmal, wo Međjugorje liegt.«

Thekla gestand es sofort ein, und Hilde musste zugeben, dass sie nicht den kleinsten Gedanken daran verschwendet hatte.

»Međjugorje liegt im Südwesten von Bosnien-Herzegowina nahe der kroatischen Grenze. Eine Pilgerreise dorthin dauert mindestens eine Woche«, hatte ihnen Wally daraufhin nachsichtig erklärt.

»Gut«, hatte Hilde unbeeindruckt entschieden. »Dann kommen wir darauf zurück, falls du irgendwann einmal für längere Zeit bei Christina in Neuschönau bleiben willst.«

Schließlich hatten sie einen neuen Anlauf genommen, weitere Vorschläge gemacht und allesamt wieder verworfen, bis es Hilde zu bunt geworden war. »Wieso sagst du ihm nicht einfach die Wahrheit?« Sie hob die Hand, um Wally am Protest zu hindern. »Die da lautet: ›Ich werde mit meinen beiden alten Freundinnen Thekla und Hilde einen Tagesausflug machen.‹ Ich wette, er fragt nicht einmal, wohin es gehen soll. Und wenn doch, dann sagst du, die liebe Hilde hätte sich eine Überraschung ausgedacht.«

Tatsächlich hatte Sepp nicht nachgefragt, und Wally hatte sich heute Morgen guter Dinge an der Scheuerbacher Kreuzung eingefunden, wo sie in Hildes Wagen stieg.

Die Ellbogen aufs Brückengeländer gestützt, ließ Hilde den Blick müßig über verschneite Tannen schweifen, über Fichten, die sich unter ihrer Schneelast krümmten, und über die kahlen Äste einiger Buchen, auf denen fette, nasse Schneeklumpen hockten.

Als sie sich gerade abwenden wollte, entdeckte sie das Bein. Es steckte in einem Stiefel, der von einer Tanne herunterhing und sich leise auf und ab bewegte, so als würde der Ast, der sein Gewicht trug, atmen.

»Da soll mich doch der Teufel …« Hilde merkte, dass sie halblaut gesprochen hatte, klappte den Mund zu und konzentrierte sich. Ein Bein konnte nicht einfach so dahängen, es musste zu jemandem gehören.

Sie fasste es scharf ins Auge, versuchte, seinem Verlauf zu folgen, fand ein Knie und dann nichts mehr. Sosehr sie den Hals auch reckte und verdrehte, mehr wollte sich nicht zeigen.

Vielleicht half es ja, den Standort zu wechseln.

»Wonach hältst du denn Ausschau?«, fragte Thekla, als Hilde ein paar Schritte zur Seite trat und erneut die Tanne anpeilte, in deren Geäst sie das mysteriöse Bein entdeckt hatte.

Hilde deutete auf den Baum. »Nach einem, der sein Bein vermisst.«

Thekla warf ihr einen verdutzten Blick zu, schaute dann aber in die angegebene Richtung. »Woran kann ich mich orientieren?«

»Am Baumwipfelpfad«, antwortete Hilde. »Da vorne, wo er einen Knick macht und dann nicht mehr zu sehen ist, steht eine Tanne. Einer ihrer Äste berührt fast das Geländer. Hast du sie im Visier?«

Thekla nickte.

»Von diesem Ast aus gehst du etwa zwei Meter nach unten und einen nach rechts in Richtung Baumstamm. Da, wo zwei starke Äste eine Art …«

Wallys Aufschrei ließ sie herumwirbeln.

Hatte Wally etwa den Besitzer des Beins entdeckt?

Wohl kaum, denn sie hatte sich über das Brückengeländer gebeugt, schaute auf die Straße hinunter und winkte frenetisch.

»Ali steht da unten. Was macht er denn hier? Hallo, Ali! Wir sind auch da! Direkt über dir. Auf der Brücke. Du musst nach oben gucken, dann kannst du uns sehen!«

Ein schneller Blick überzeugte Hilde davon, dass Kreisbrandrat Ali Schraufstetter tatsächlich unter der Brücke stand und offenbar im Begriff war, die Straße zu überqueren.

Egal, was er hier verloren hat, dachte sie, Ali kommt wie gerufen. Als Amtsperson muss er schließlich wissen, was wegen dieses Beins zu unternehmen ist. »Ali, hier sind wir«, fiel sie in Wallys Rufen ein.

Endlich blickte er zu ihnen hoch, lächelte überrascht, winkte dann aber nur kurz und ging weiter. Offenbar strebte er dem Parkplatz zu, wo wahrscheinlich sein Auto stand.

»Willst du wegfahren?«, rief Hilde zu ihm hinunter.

Er nickte im Gehen.

»Aber nicht jetzt«, bestimmte Hilde. »Komm auf die Brücke. Du musst dir etwas ansehen.«

Ali ließ sich nicht beirren. Er hob nur kurz den Arm und deutete bezeichnend auf seine Armbanduhr. Offenbar war er in großer Eile, denn normalerweise nahm er sich stets Zeit für sie.

»Ali! Es ist wichtig!« Aus Hildes Stimme sprach eine Dringlichkeit, die ihn veranlasste, nun doch stehen zu bleiben.

Bevor ihn Hilde ein weiteres Mal dazu auffordern konnte, auf die Brücke zu kommen, legte sich Wallys Hand auf ihren Arm. »Lass ihn. Er scheint es eilig zu haben. Und wir haben ja selbst keine Zeit zu vertrödeln. Wir sind doch mit Christina verabredet.«

Hilde machte sich nicht die Mühe, ihr zu erklären, weshalb Ali aufgehalten werden musste, dass ihnen bis zu dem Treffen mit Christina noch gut zwanzig Minuten blieben und dass Wally die paar Schritte zum Hans-Eisenmann-Haus schließlich auch allein gehen könne.

Wally das alles mitzuteilen hätte viel zu lange gedauert. In der Zwischenzeit wäre ihr Ali längst durch die Lappen gegangen, denn er hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, steuerte erneut auf den Parkplatz zu und würde bald außer Hörweite sein.

Kurz entschlossen steckte Hilde zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus, der Ali wie erhofft zusammenzucken ließ. Er drehte sich auf dem Absatz um und schaute zu ihr hoch. Trotz der Entfernung konnte Hilde sein Stirnrunzeln erkennen. Sie hob beide Hände und winkte ihn zu sich heran, als wolle sie einen Lkw in eine Parklücke einweisen.

Ali schüttelte unwillig den Kopf. Hilde winkte nachdrücklicher. Schließlich gab er sich geschlagen, bot die Handflächen dar, um ihr zu signalisieren, dass sie gewonnen hatte, und hastete auf den Treppenturm zu.

Er musste die etlichen Dutzend Stufen, die sich darin emporwanden, regelrecht hinaufgeschossen sein, denn schon wenige Sekunden später erschien er auf der Brücke und stand im nächsten Augenblick schwer atmend neben Hilde.

Sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. So wie er schnaufte, würde er ohnehin nichts herausbringen.

Geradezu anklagend deutete sie auf die Tanne. »Schau mal dahin.«

Anstatt den Blick in die angegebene Richtung zu wenden, starrte Ali sie entgeistert an, als frage er sich, ob sie noch ganz richtig im Kopf war.

Hilde knuffte ihn in die Seite. »Verdammt, Ali. Jetzt schau gefälligst da rüber und sag mir, was du in der Tanne hängen siehst, die genau an der Stelle steht, wo der Baumwipfelpfad einen Knick macht.«

Als Ali noch immer nicht reagierte, griff Thekla ein. Offenbar hatte sie das gestiefelte Bein mittlerweile entdeckt.

Sie packte Ali an der Schulter. »Ali, es ist wirklich wichtig, dass du dir ansiehst, was dort im Baum hängt. Ich glaube sogar, das ist ein Fall für die Feuerwehr.«

Hilde nickte beifällig, und endlich wandte Ali sich um und spähte in die angezeigte Richtung.

»Die Tanne. Im Knick, den der Baumwipfelpfad macht.« Hilde wiederholte die Anweisungen, die sie bereits gegeben hatte. »Der Ast, der fast das Geländer des Baumwipfelpfads berührt. Hast du ihn im Blick? Herrgott noch mal, er ist doch deutlich zu sehen.« Sie verlor langsam die Geduld, weil Ali offenbar mit Blindheit geschlagen war.

Doch irgendwann fand er den bezeichneten Ast, folgte Hildes weiteren Anweisungen und stieß plötzlich zischend die Luft aus. »Was zum Henker …«

Er reckte den Hals, wie Hilde es getan hatte, konnte aber offenbar ebenso wenig erkennen wie sie zuvor. »Wir müssen auf den Baumwipfelpfad steigen. Von da oben haben wir halbwegs freie Sicht.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und hastete davon. Hilde folgte ihm auf dem Fuß, spürte, wie Thekla zu ihr aufschloss. Auch Wally schien mitkommen zu wollen. Hilde vernahm ihre etwas zögerlichen Schritte auf den Holzbohlen der Brücke.

Um auf den Baumwipfelpfad zu gelangen, mussten sie ein Drehkreuz passieren, das sich nur dann in Bewegung setzen ließ, wenn man es mit einem zuvor an der Kasse gelösten Ticket fütterte.

Hilde hielt es für aussichtslos, mit der Begründung »Notfall« um freien Zutritt zu ersuchen. »Wir zahlen. Sonst stehen wir morgen früh noch da und diskutieren mit der Kassiererin.«

Sie hatte bereits ihr Portemonnaie gezückt und kaufte vier Tickets. Dann stürmten sie nacheinander das Drehkreuz und stiegen auf den Baumwipfelpfad.

Hilde hatte damit gerechnet, dass der gut einen Meter breite, auf Stahlstützen schwebende Steg schwanken und schlingern würde wie ein Floß, und war erstaunt, als sich die Konstruktion ebenso stabil und robust zeigte wie die Brücke, auf der sie wenige Minuten zuvor gestanden hatten. Sogar das Geländer des Stegs – es sah genauso aus wie das auf der Brücke – erwies sich als festgefügt und solide. Vierkantstahlprofile stützten den Handlauf in regelmäßigen Abständen, Stahlnetze schlossen die Lücken dazwischen.

Perfekt gesichert, ging es Hilde durch den Kopf. Nicht einmal eine Maus könnte durchrutschen.

Sie prallte gegen Ali, der abrupt stehen geblieben war.

»Das müsste die Stelle doch sein«, sagte er irritiert.

Hilde nickte. Sie hatte übersehen, dass sie bereits an dem Knick des Baumwipfelpfads angekommen waren, den sie als markanten Punkt festgelegt hatte. Genau hier musste die Tanne stehen, und von hier aus sollte man den besten Blick in ihr Geäst haben.

Ali beugte sich bereits über das Geländer, das ihm etwa bis zur Taille reichte, wandte sich nach links, dann nach rechts, veränderte die Position, blickte wieder nach links und rechts und sog schließlich scharf die Luft ein. »Nicht zu fassen.«

Bevor Hilde seiner Blickrichtung folgen konnte, zückte er bereits sein Mobiltelefon und tippte etwas ein.

Er setzt einen Notruf ab dachte Hilde, womit sie ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah.

Während Ali telefonierte, fasste sie die Tanne ins Auge, die sie mittlerweile ausgemacht hatte, und ließ den Blick langsam vom Gipfel abwärtsgleiten. Ungefähr auf halber Höhe entdeckte sie den Mann.

Im ersten Moment machte er den Eindruck, als würde er gemütlich auf einem Ast sitzen und die Beine baumeln lassen. Aber bei näherem Hinsehen wurde klar, dass der Oberkörper des Mannes vom Stamm und von Ästen aufrecht und an Ort und Stelle gehalten wurde. Schultern, Arme, Rumpf, Gesäß und Oberschenkel mussten sich im Geäst derart verhakt haben, dass der Tote nicht abstürzen konnte. Denn tot war der Mann, daran hegte Hilde nicht den geringsten Zweifel.

»Der arme Kerl hat sich das Genick gebrochen«, murmelte sie.

Was nicht schwer zu erraten war, denn sein Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel zur Seite.

Wer ist der Mann?, fragte sich Hilde unvermittelt. Ein Tourist, der etwas zu tollkühn war? Ein Tierpfleger, der einen kranken Uhu retten wollte?

Sie musterte seine Kleidung, registrierte einen dicken, ein wenig schäbig anmutenden Anorak, eine bunte Mütze mit Bommel und wasserfeste Überhosen.

»Ja«, sagte Ali gerade ins Telefon. »Ich bin mir ganz sicher, obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann. Aber die Kleidung identifiziert ihn eindeutig. So eine Mütze habe ich bei keinem anderen gesehen.«

Hieß das, Ali kannte den Mann?

Hilde musste sich noch eine ganze Weile gedulden, bis sie ihn danach fragen konnte.

»Der Mann heißt Gruber«, antwortete Ali, nachdem er das Telefongespräch beendet hatte. »Er arbeitet ehrenamtlich als Waldführer im Nationalpark und hat mich heute Vormittag herumgeführt und mir erklärt, wie der Rettungseinsatz gestern gelaufen ist.«

»Was für ein Einsatz?« Kaum hatte sie es ausgesprochen, sagte sich Hilde, dass es keine Rolle spielte. Sie wollte schon abwinken, um zu erkennen zu geben, dass sie auf eine Antwort verzichtete, aber Ali berichtete bereits: »Gestern haben sich zwei Schneeschuhwanderer verirrt und sind irgendwann weit abseits der geräumten Wege im Schnee stecken geblieben. Sie konnten nicht mehr vor und nicht mehr zurück und waren total erschöpft. Am Ende ist ihnen nichts anderes übrig geblieben, als die 112 zu wählen.«

»Was eine Rettungsaktion einleitete«, warf Thekla ein. Sie und Wally hatten ebenfalls ins Geäst der Tanne gespäht, ihre Aufmerksamkeit dann aber Ali zugewandt.

Ali nickte. »Die sich aber als extrem schwierig erwies. Deswegen hat mich die Sache so interessiert. Ich wollte Näheres darüber wissen. Und weil ich heute früh zufällig in Grafenau zu tun gehabt habe, bin ich hergekommen, um mich zu informieren.«

Alis Blick glitt nachdenklich über die Baumwipfel. »Wie oft wir das nun schon erlebt haben, dass sich Leute aus Unvernunft, Mutwillen oder einfach aus Dummheit in Gefahr bringen. Von uns Einsatzkräften erwarten sie dann, dass wir sie schleunigst aus ihrem Schlamassel herausholen. Als ob wir Wunder wirken könnten. Normalerweise ist es ja kein großes Problem, zwei Leute in einem Wald zu orten und herauszuholen«, erklärte er. »Aber unter diesen extremen Verhältnissen …«, er deutete auf die Schneewände, die überall aufragten, »… konnte das Rettungsteam nicht zu den beiden vordringen. Der Motorschlitten blieb schon auf den ersten hundert Metern stecken. Sich zu Fuß durchzukämpfen hätte Stunden gedauert, und bei einsetzender Dunkelheit …« Seine Stimme versandete.

»Blieb der Heli«, fuhr er nach einer Pause fort. »Der allerdings konnte den Ort, wo sich die beiden aufhielten, zwar überfliegen, fand aber keine Stelle zum Landen. Der Pilot musste das Ding in der Luft halten, bis die zwei mit der Seilwinde geborgen waren.« Sein Blick kehrte widerstrebend zu dem Toten im Baum zurück. »Die Stelle, wo der Heli die beiden geborgen hat, ist zu Fuß und mit dem Schlitten noch immer nicht erreichbar, aber Anselm ist mit mir …«

Der Schrei, den Wally, die bisher schweigend zugehört hatte, in diesem Moment ausstieß, ließ Hilde zusammenfahren, Ali abrupt innehalten und Thekla beide Hände heben, als müsse sie einen Angriff abwehren. Alle drei wandten sich ihr erschrocken zu.

Wally brauchte einige Augenblicke, bis sie sprechen konnte, und Hilde ahnte bereits, was kommen würde. Wie viele ehrenamtliche Waldführer mit Vornamen Anselm konnte es im Nationalpark schon geben? Nicht mehr als einen. Und dieser eine war ausgerechnet derjenige, mit dem Wallys Tochter ein neues Leben beginnen wollte.

Christina. Hilde warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass es bereits kurz nach zwei war. Christina saß wohl schon eine Weile in der Cafeteria im Hans-Eisenmann-Haus, wartete auf ihre Mutter und hatte keine Ahnung von dem Geschehen hier draußen am Baumwipfelpfad.