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Inhalt

Fußnoten

1.1 Zielsetzung der Arbeit

Die Linguistic-Landscape-Forschung stellt ein jüngeres Interessengebiet der Soziolinguistik und anderer fächerübergreifender Forschungsbereiche dar, in dem es inhaltlich primär darum geht, „how language constructs public space“ (ANDROUTSOPOULOS 2014: 82). Die Bezeichnung Linguistic Landscape bezieht sich nach GORTER auf „any display of visible written language“ (2013: 190). Übersetzen lässt sie sich etwa mit ,Schrift-‘ oder ,Sprachlandschaft‘. Eine Übersetzung mit ,Linguistische Landschaft‘ ist hingegen nicht treffend, weil linguistisch im Deutschen in der Bedeutung ,sprachwissenschaftlich‘ gebraucht wird (MARTEN UND LAZDIŅA 2016: 78).

Namescape ist eine Bezeichnung aus der Linguistic-Landscape-Forschung, die sich beispielsweise bei PUZEY (2016: 404) und bei VUOLTEENAHO UND KOLAMO (2012: 132ff.) findet. VUOLTEENAHO UND KOLAMO (2012) sprechen von Namescapes, um auf die Namen von Orten und Gebäuden innerhalb eines bestimmten Raumes (in diesem Fall innerhalb Finnlands) zu referieren, es geht also primär um Orts- und Objektnamen. Nach PUZEY wird Namescape mitunter auch synonym zur Bezeichnung Topoonomastikon verwendet, „but usually with more of an emphasis on the connotative potential of names and the role of names as components of readable landscapes“ (2016: 404). Im Folgenden wird die Bezeichnung Namescape jedoch so verwendet, dass sie auf die Gesamtheit der Namen verweist, die im öffentlichen Raum in schriftlicher Form auftritt. Wird Namescape so verwendet, besteht die onymische Landschaft nicht nur aus Orts- und Objektnamen, sondern – wie noch zu zeigen ist – auch aus Personennamen.

Graffitinamen werden in dieser Arbeit – aus Gründen der Lesbarkeit – generell in Großbuchstaben notiert, auch wenn sie auf den Fotos anders geschrieben sind, wie es etwa bei ShoP der Fall ist.

Wenn in dieser Arbeit Bildbeispiele herangezogen werden, handelt es sich um Fotografien aus dem der Arbeit zugrunde liegenden Korpus (vgl. dazu die Abschnitte 1.2 und 7.1). Die Nummer in Klammern, die bei jedem Foto in dieser Arbeit zu finden ist, ist die UID-Nummer, mit der jedes Foto in der Datenbank INGRID (PAPENBROCK ET AL. 2016–, https://www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/ingrid/) aufgefunden werden kann. Die Bilder sind unter der Lizenz CC BY SA-3.0 DE nutzbar.

In DUDEN – „Das große Wörterbuch der deutschen Sprache“ (2012) ist zu lesen, dass Graffiti mittlerweile auch als Singularform, Plural Graffitis, akzeptiert ist. In diesem Wörterbuch findet sich allerdings auch eine zweite Variante, bei der Graffito die Singularform darstellt. In dieser Arbeit wird jedoch die erste Variante verwendet, die flexionsmorphologisch in das Deutsche integriert ist. Um auf das Phänomen an sich zu verweisen, wird die Singularform Graffiti verwendet.

Onomastik leitet sich vom altgriech. Wort onyma (bzw. onoma) für ,Name‘ ab und bezeichnet „die Wissenschaft von den Namen“ (NÜBLING ET AL. 2015: 17). Nach NÜBLING UND HIRSCHAUER ist die Onomastik damit „[w]ie keine andere Subdisziplin der Linguistik […] auf eine Wortart [spezialisiert]“ (2018: 6).

Vgl. zu Straßen- und Platznamen z.B. NAUMANN (2004), zu Gasthausnamen WOLK (2005) und zu Institutionsnamen VASIL'EVA (2004).

Die Bezeichnungen Name, Onym (altgriech. onyma, onoma) und Proprium (lat. nomen proprium) werden hier synonym verwendet, wie es auch bei NÜBLING ET AL. (2015: 16) der Fall ist.

Zu den entsprechenden Publikationen vgl. Abschnitt 1.3.1.

Diese Forschungslücke ist sicherlich auch auf den Umstand zurückzuführen, dass für derartige Untersuchungen bislang keine Datengrundlage in Form von geeigneten Korpora zur Verfügung stand, mit der eine systematische Beschreibung möglich gewesen wäre (vgl. dazu Abschnitt 1.2).

Vgl. zum Thema Schriftbildlichkeit die Sammelbände von STRÄTLING UND WITTE (2006) und KRÄMER ET AL. (2012). In der vorliegenden Arbeit wird das Konzept der Schriftbildlichkeit insbesondere in Abschnitt 6.1.3 thematisiert.

Unter Bildlinguistik versteht man eine text- und medienlinguistische Perspektive, die dafür plädiert, Bilder sowie insbesondere ihre Verknüpfung mit Sprache als linguistischen Analysegegenstand zu etablieren (vgl. dazu das Sammelwerk von DIEKMANNSHENKE ET AL. 2011).

Zur Linguistic-Landscape-Forschung vgl. etwa die Sammelwerke von SHOHAMY UND GORTER (2009) und SHOHAMY ET AL. (2010) sowie die Habilitationsschrift von DOMKE (2014). Einen Überblick zur Entstehung und Entwicklung dieses Forschungsbereichs liefert GORTER (2013).

Das Korpus weist neben anderen Zeichen, z.B. kommerziellen und infrastrukturellen, auch 4680 Tags und 122 „echte Graffiti (die also über einfache Tags hinausgehen)“ auf, die infolgedessen analysiert werden konnten (WACHENDORFF ET AL. 2017: 160).

Die Bezeichnung Sozioonomastik geht zurück auf den deutschen Namenforscher WALTHER, der sie 1971 erstmals verwendete und als grundlegende Interessenschwerpunkte die Betrachtung der Namen in ihrem sozialen Ursprung bzw. die Erforschung des jeweiligen Kontextes, in dem Namen verwendet werden, nannte (AINIALA 2016: 372). Diese Ausrichtung gilt prinzipiell bis heute.

Die Bezeichnung inoffizielle Personennamen stammt von KANY, der sie in seiner 1992 erschienenen Monographie „Inoffizielle Personennamen“ verwendet (1ff.). Die Bezeichnung bezieht sich bei ihm auf alle Personennamen, die sich vom offiziellen Personennamen unterscheiden (KANY 1992: 11). Allerdings werden Pseudonyme bei KANY als „offizialisierte“ Namen (1992: 1f.) gefasst und somit nicht zu den inoffiziellen Personennamen gezählt. Dies spielt vermutlich auf die Tatsache an, dass Pseudonyme auch in den Pass eingetragen und somit zu einem Teil des offiziellen Namens werden können. Da diese Eintragung jedoch nur in Ausnahmefällen vorgenommen wird, werden Pseudonyme hier als Subtyp der inoffiziellen Personennamen verstanden.

Vgl. dazu auch den Forschungsüberblick in 1.3.3.

Graffitinamen sind auch deshalb ein besonderer Untersuchungsgegenstand, weil die Graffitisprüher ihre Namen selbst wählen. Ein solcher Vorgang der Selbstbenennung ergibt sich – von WWW-Kontexten abgesehen – nur unter einigen wenigen Umständen. Zu einer Änderung des Familiennamens kann es beispielsweise kommen, wenn dieser als anstößig oder unpassend empfunden wird, was LEIBRING in einem Essay zu sozioökonomischen Motiven der Familiennamenänderung thematisiert (2012). Eine Selbstbenennung erfolgt auch bei der Annahme eines Tarn- bzw. Deck- oder Künstlernamens (s. Kapitel 4). Eine Änderung des Rufnamens wird etwa beim Eintritt in einen Orden oder bei der Ernennung zum Papst relevant. Auch im Falle eines Geschlechtswechsels wird typischerweise ein neuer Name gewählt. Mit diesem Prinzip der Namenwahl beschäftigt sich das Projekt „TrasnsOnym – Onymische Grenzmarkierungen: Die Selbstbenennung von Transpersonen in Deutschland“, bei dem es sich um ein Teilprojekt der durch die DFG geförderten Forschergruppe „Un/doing differences: Praktiken der Humandifferenzierung“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz handelt. Zum Rufnamenwechsel von Transpersonen vgl. den Aufsatz von SCHMIDT-JÜNGST (2018).

Vgl. dazu auch Abschnitt 5.2.2.

Vgl. zu den Methoden der Sozioonomastik auch AINIALA (2016: 372f.).

Daneben werden auch die Diskurse der Graffitiszene, in denen sich Writer zu ihren Namen äußern, als Informationsquelle genutzt. Eine genaue Beschreibung der Methodik findet sich in Abschnitt 7.2.

Vgl. zu den Methoden der Linguistic-Landscape-Forschung auch GORTER (2013: 198ff.) und MARTEN UND LAZDIŅA (2016: 78ff.). Letztere schreiben ebenfalls, dass der erste Arbeitsschritt bei der Erforschung der Linguistic Landscape in der Dokumentation der sprachlichen Zeichen besteht, was typischerweise durch „das systematische Fotografieren mit einer Digitalkamera“ erfolgt (MARTEN UND LAZDIŅA 2016: 79).

Szenesprachliche Bezeichnungen werden bei ihrer ersten Nennung kursiv gesetzt. Bei weiteren Nennungen wird auf die Kursivierung aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet.

1.2 Forschungsgegenstand

Bei streetfiles.org handelt es sich um ein ca. 800000 Fotos umfassendes Archiv an Graffitibildern, das allerdings 2013 von den Betreibern vom Netz genommen wurde. Die Fotos stammten von den Usern, wurden jedoch durch die Betreiber der Seite geprüft. Seit ihrer Entstehung im Jahr 2008 hatte die Seite nach Aussagen der Betreiber ca. 80000 Mitglieder und ca. 18000 tägliche Besucher. Die Abschiedsnachricht der Betreiber mit Erklärungen kann auf ilovegraffiti.de nachgelesen werden (URL: http://ilovegraffiti.de/blog/2013/03/14/streetfiles-org-goes-offline/, Zugriff am 09.05.2018). Es ist unklar, wie und wo das Archiv heutzutage gespeichert ist.

Norbert Siegl betreibt ein privates „Institut für Graffiti-Forschung“, das über 80000 Graffitiaufnahmen verfügt. Auf der Internetseite graffitieuropa.org (URL: http://www.graffitieuropa.org/foto.htm) wird ein Fotoservice angeboten, bei dem Bilder käuflich erworben werden können. Die Sammlung von Peter Kreuzer ist über das Stadtarchiv München zwar frei zugänglich, sie war allerdings bislang nicht digitalisiert (die Digitalisierung wurde im Rahmen des INGRID-Projekts vorgenommen).

40 000 annotierte Graffitis sind für die wissenschaftliche Forschung bereits über ein DFN-AAI-Login zugänglich (https://www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/ingrid/).

Der Ethnologe Peter Kreuzer fotografierte in den 80er-Jahren Graffitis in München und übergab die Sammlung, bestehend aus etwa 5400 Bildern aus den Jahren 1983 bis 1985, anschließend dem Münchener Stadtarchiv, das die Bestände dem Projekt INGRID zur Verfügung stellte.

Vgl. dazu auch die Internetseite des Projekts auf www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/ingrid/.

Zur korpusgebundenen Onomastik vgl. auch den Beitrag von GREULE „Methoden und Probleme der corpusgebundenen Namenforschung“ (1995).

1.3.1 Graffiti als Forschungsgegenstand

READ ([1935] 1977) sammelte unter dem Titel „Classic American Graffiti“ beispielsweise Wandbeschriftungen jeglicher Art, die er bereits 1935 erstmals veröffentlicht. 1971 veröffentlicht REISNER seine Publikation „Two Thousand Years of Wall Writing“, in der er Wandbeschriftungen verschiedener Zeiträume als Graffitis bezeichnet. Nach VAN TREECK hat der Begriff Graffiti durch die Publikation von REISNER (1971) eine Bedeutungserweiterung erfahren, weil er dort für „alle illegal angebrachten Schriften“ im Allgemeinen verwendet wird (1993: 128).

Eine weitere frühe Veröffentlichung, bei der es sich vornehmlich um eine Beschreibung des Phänomens Graffiti handelt, stammt von GRIDER (1975). In ihrem Aufsatz schildert sie, wie mexikanischstämmige Amerikaner zunehmend ihre Spitznamen an Wänden im öffentlichen Raum anbringen, sodass man bereits von einer „folk art“ sprechen könnte (GRIDER 1975: 133).

Zur Diskussion vgl. etwa STAHL (1990: 33ff.).

Erst in den 80er-Jahren kommt das Szenegraffiti als Bestandteil der Hip-Hop-Bewegung in Europa an. Die Anfänge der Szeneaktivitäten in Deutschland werden in verschiedenen Publikationen auf die Jahre 1983 bis 1985 datiert (DOMENTAT 1994a: 24; BEHFOROUZI 2006: 22; KREUZER 1990: 147).

Die Bezeichnung Graffiti erscheint zwar auch in weiteren Publikationen aus diesem Zeitraum, in diesen geht es allerdings nicht um das Szenegraffiti im engeren Sinn. HESSE stellt 1979 unter dem Untertitel „Graffitis aus deutschen Gefängnissen“ beispielsweise die schriftlichen und bildlichen Zeichen an Gefängniswänden vor. BLUME (1980, 1981, 1985) beschreibt unter der Bezeichnung Graffiti informelle schriftliche Schüleräußerungen (auf ihre Arbeiten wird in Abschnitt 1.3.2 Bezug genommen). Auch APPUHN UND SKASA-WEISS (1982) sowie RAABE (1982) verwenden die Bezeichnung Graffiti im Titel ihrer Publikationen. Dabei handelt es sich allerdings um Bild- und Spruchsammlungen, die nicht dem Szenegraffiti zuzuordnen sind.

Im Rahmen eines Forschungsüberblicks zum Thema Graffiti ist auch auf den Kasseler Sozialpädagogen Axel Thiel zu verweisen, der sich dafür einsetzte, Graffiti als wissenschaftlichen Gegenstand zu etablieren. Er veröffentlichte etwa ab 1983 im Selbstverlag eine aus 33 Teilen bestehende „Einführung in die Graffiti-Forschung“. In dieser Einführung geht es allerdings nicht um das Szenegraffiti. Darüber hinaus erstellte er seit 1978 ein privates „Kasseler Archiv für Graffiti-Forschung“, das Pressetexte und wissenschaftliche Publikationen zum Thema Graffiti enthält. Nach seinem Tod wurden die Bestände 2007 vom Berliner „Archiv der Jugendkulturen e.V.“ übernommen.

1995 veröffentlicht VAN TREECK auch ein Lexikon speziell für Writer („Writer Lexikon“), 2001 publiziert er „Das große Graffiti-Lexikon“ als stark erweiterte Neuausgabe.

Der Fokus der „Graffiti-Art“-Reihe liegt zwar darauf, Bilder von Graffitis aus den entsprechenden Gebieten, z.B. München, Berlin, Norddeutschland u.a., zu zeigen, viele Ausgaben beinhalten aber auch interessante Zitate und Beiträge. Zu einer Übersicht der Ausgaben vgl. VAN TREECK (2001: 134).

1.3.2 Graffiti als Forschungsgegenstand der Linguistik

Im Bereich der Orthographie erfolgt die Orientierung zwangsläufig an der Schreibnorm, was nach SCHUSTER UND TOPHINKE allerdings die Vorstellung „einer idealerweise homogenen und invarianten Schriftlichkeit“ erzeugt (2012a: 14). Mit Formen des gezielten „Andersschreibens“ hat sich die Linguistik daher lange Zeit nicht systematisch befasst, obwohl diese nicht nur im Graffiti, sondern auch in anderen Bereichen der öffentlichen Schriftlichkeit (z.B. in der Werbekommunikation) sowie in der halböffentlichen bzw. privaten Kommunikation (z.B. in den digitalen Medien) verbreitet sind (SCHUSTER UND TOPHINKE 2012a: 13). Vgl. dazu auch Abschnitt 7.4.6.

Insgesamt galt Schrift als ein der Sprache untergeordnetes System und wurde primär als Medium gesehen, mit dem gesprochene Sprache wiedergegeben wird (KRÄMER 2005: 24f.). Nach KRÄMER hat sich eine Perspektive auf Schrift, in der sie als der Lautschrift gleichberechtigt angesehen wird, erst etwa in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelt (2005: 25).

Schrift beinhaltet sowohl Zeichen als auch organisatorische Prinzipien, die sich nicht einfach in die gesprochene Sprache übertragen lassen. So gibt es beispielsweise für die Satzzeichen und auch die Groß- und Kleinschreibung kein Äquivalent in der Lautsprache (KRÄMER 2005: 29, 33). Ferner ist die Schrift durch Leerzeichen und Zwischenräume organisiert, die im Lautstrom der mündlichen Rede nicht bestehen (KRÄMER 2005: 29).

Von einem aufkommenden linguistischen Interesse am Thema Graffiti zeugen auch zwei linguistische Abschlussarbeiten aus dem Jahr 1985. MAYER legt 1985 an der Universität Heidelberg seine Magisterarbeit zum Thema Graffiti vor, in der er ein eigenes Korpus, bestehend aus Straßen- und Toilettengraffitis, syntaktisch und semantisch analysiert. TOLKSDORF reicht an der Ruhr-Universität Bochum eine schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt (Sekundarstufe I/II) zum Thema „Beschreibung und Analyse der sprachlichen Form von Graffiti“ ein (1985). Er stellt dabei ein Korpus von 750 Graffitis aus dem Ruhrgebiet zusammen und analysiert die Graffitis hinsichtlich ihrer Inhalte und Formen.

Blackbooks sind Bücher, in denen Writer Skizzen für ihre zukünftigen Pieces entwerfen (WACŁAWEK 2012: 21).

Vgl. hierzu auch SCOLLON UND SCOLLON (2003).

1.3.3 Pseudonyme als Forschungsgegenstand der Onomastik

Auch weitere frühe Publikationen der Pseudonymenforschung stammen aus dem Bereich der Rechtswissenschaft, z.B. die Dissertationen von MANES (1898) und BALDOW (1916). Als jüngere rechtswissenschaftliche Veröffentlichungen sind die Dissertationen von MEYERS (1985) und SCHERER (2002) sowie die sprachwissenschaftlich-rechtswissenschaftliche Publikation von SEUTTER (1996) zu nennen.

Zur Entwicklung der Onomastik vgl. DEBUS 2012: 1723.

Vgl. dazu die Beiträge von NEUMANN (1973) und NAUMANN (1977) in „Namenkundliche Informationen“.

Eine Ausnahme stellt die Einführung „Die Personennamen im Deutschen“ von SEIBICKE dar, die 1982 erscheint und dem Thema Pseudonymie ein umfassendes Kapitel widmet.

ZIEGLER beschäftigt sich mit Pseudonymen im deutschsprachigen Chat, JOHNOVÁ analysiert Nicknamen einer britischen Chatseite und STOMMEL untersucht Pseudonyme in einem deutschsprachigen Forum für Essstörungen.

GLÄSERS Definition wird beispielsweise auch im onomastischen Einführungswerk von NÜBLING ET AL. verwendet (2015: 178). Sie findet sich auch in dieser Arbeit (vgl. Kapitel 4 zu den Pseudonymen).

ALEKSIEJUK spricht hier von „usernames“ (2016).

2. Graffiti

Damit wird „Ortsfestigkeit“ hier anders verwendet als bei AUER (2010), der von ortsfester Schrift spricht, wenn nicht nur eine materiale, sondern auch eine semantische Bindung zum Anbringungsort besteht (2010: 272). Wenn Schrift untrennbar mit ihrem Untergrund verbunden ist (z.B. bei einer in Stein gemeißelten Inschrift), bezeichnet AUER sie stattdessen als „dingfest“ (2010: 273).

Dies zeigt etwa auch die folgende Aussage des Writers PHASE2 im Interview mit DANYSZ an, der statt von Graffiti von Writing sprechen möchte: „Undoubtedly, from the very beginning and quite officially, writers referred to themselves as ,writers‘ and what they did as ,writing‘, for the simple fact that this is what they did.“ (2010: 14) Auch TEMESCHINKO betont, dass die Szenepraktik – also das Writing – „wenig bis überhaupt nichts mit anderen Darstellungsformen von Graffiti in Form von Sprüchen, Parolen, Schablonenbildern o.ä. gemein“ hat (2015: 15).

2.1.1 Bild und Schrift

Die Bezeichnung „Sehfläche“ wird von SCHMITZ 2005 eingeführt, um auf Flächen Bezug nehmen zu können, „auf denen Zeichen unterschiedlicher Art verteilt sind, die für uns eine Bedeutung haben können oder sollen“ (2). SCHMITZ zeigt beispielsweise anhand der „Sehfläche“ eines Nutella-Döschens auf, wie Schrift und Bild eine Komposition bilden und wechselseitig aufeinander referieren (2011: 26ff.). Durch dieses Zusammenspiel ergibt sich die beabsichtigte Botschaft, dass sich in dem Döschen Nutella befindet, die braun und cremig ist und auf Brot zu streichen ist (SCHMITZ 2011: 27). Zu „Sehflächen“ vgl. auch ZIEGLER (2013b: 321ff.).

Nach TOPHINKE sprechen die Akteure mitunter auch von „Malen“ (2016: 417). Dies ist besonders in solchen Kontexten der Fall, in denen es um die Bildlichkeit der Werke geht.

Seit den Anfängen des modernen Graffitis haben sich einige konventionelle Grundstilrichtungen (z.B. Wild Style und Bubble Style) herausgebildet. Auch bei individuellen Werken lässt sich daher ein zugrunde liegender Style ausmachen, an dem sich die Macher orientierten. Style ist auch in anderen Jugendszenen ein zentraler Begriff, vgl. dazu etwa die Aussage von KROSIGK: „Style ist das mit Abstand begehrteste Gut im Skateboarding“ (2009: 57).

2.1.2 Intransparent

Damit wird einer Aussage von VAN TREECK widersprochen, der schreibt, dass Pieces für Szeneunkundige generell unlesbar sind: „Sie [Anm. JR: die Buchstaben] sind im Gegenteil so verschlüsselt dargestellt, dass sie für den Außenstehenden eben nicht lesbar sind.“ (2003: 103)

Vgl. dazu auch JÄGERS Aufsatz „Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen“ von 2004.

Als Type oder Typus wird hier mit WEHDE „ganz allgemein der normative Zeichenaspekt bezeichnet, aufgrund dessen ein Zeichenereignis immer wieder (re)produziert und seine Exemplare als Varianten eines zugrundeliegenden Modells identifiziert werden können“ (2000: 70). WEHDE bezieht sich dabei auch auf SCHÖNRICH, der feststellt, dass Alphabetisierung (auch) bedeutet, dass Zeichenverwender über „die ,verborgene Kunst‘ der Schematisierung“ verfügen, indem sie „ein Zeichenereignis als Fall einer Regel hervorzubringen oder wiederzuerkennen“ wissen (SCHÖNRICH 1990: 408f.).

Szeneinterne können den zugrunde liegenden Buchstabentype aufgrund ihres graphostilistischen Vorwissens auch noch bei einem hohen formalen Abstraktionsgrad ausmachen (VAN TREECK 2003: 103). Diese Erkenntnis geht auch aus eigenen Beobachtungen hervor: Als Mitgliedern der Paderborner Graffitiszene Fotos aus dem Mannheimer Korpus vorgelegt wurden, konnten sie in einem Großteil der Fälle die Buchstaben erkennen.

Dies gilt allerdings primär für Druckschriften, weil die Buchstaben in handschriftlicher Schreibschrift durchaus ohne Absetzen der Linie ineinander übergehen. Gemeint ist aber, dass die Buchstaben nicht übereinandergeschrieben werden können, dass also eine gewisse Abfolge der Buchstaben gegeben sein muss.

Während spitze Klammern anzeigen, dass es sich um Grapheme handelt, werden die senkrechten Striche im Folgenden verwendet, um die Bezugnahme auf die materielle Seite der Schriftzeichen zu kennzeichnen. Bislang wird auf diese Klammerkonvention nur in einigen wenigen linguistischen Publikationen verwiesen: Sie findet sich beispielsweise bei OSSNER (2010: 26) und FUHRHOP UND PETERS (2013: 192). Diese Notation ist allerdings insbesondere für eine Arbeit sinnvoll, die (auch) die Materialität und Bildlichkeit von Schrift in den Blick nimmt, weil sie explizit kennzeichnet, auf welcher Ebene argumentiert wird.

„Meaning-making“ wird von TOPHINKE (2017: 163) in ihrem Aufsatz „Minimalismus als Konzept: Schrift-Bild-Konstruktionen im Graffiti“ verwendet, in dem sie erläutert, wie sich bei Formen minimaler Schriftlichkeit die Sinnzuweisung ergibt.

Lange Buchstabenkombinationen werden allerdings vermieden, weil sich dadurch die Anbringungszeit erhöht. Präferiert werden daher kurze Kombinationen.

2.1.3 Transgressiv

SCOLLON UND SCOLLON verorten den theoretischen Rahmen, den sie als Geosemiotik bezeichnen, in verschiedenen Disziplinen. Sie geben an, Informationen aus Linguistik, Soziologie und Geographie zu verarbeiten (2003: 2).

Vgl. dazu auch PENNYCOOK, der feststellt, dass nicht nur die Platzierung der Graffitis einen transgressiven Akt darstellt, sondern auch Graffitis selbst transgressiv sind, weil sie gegenüber der anderen Schrift im öffentlichen Raum nicht autorisiert sind (2009: 307).

Vgl. dazu auch den Graffitibegriff von BEHFOROUZI: „Für die Charakterisierung des Begriffs Graffiti spielt demnach nicht nur die Technik der Herstellung, die Inhalte, die Orte […] oder die Zugehörigkeit des Urhebers zu einer bestimmten Gruppierung eine Rolle. Entscheidend ist vielmehr die Anonymität ihrer Entstehung unter der billigenden Inkaufnahme der Übertretung gesellschaftlicher und gesetzlicher Normen.“ (2006: 7)

2.1.4 Ortsfest und ephemer

Eine Sonderstellung nehmen Graffitis ein, die auf Züge gesprüht werden. Zwar ist die Farbe hier ebenfalls fest mit dem Untergrund, also der Außenwand des Zuges, verbunden, die Züge selbst sind allerdings mobil.

Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 5.2.6.

Eine Hall of Fame ist eine Fläche, an der legal gesprüht werden kann (BEHFOROUZI 2006: 45). Weil die Akteure an einer Hall keinen Zeitdruck haben und typischerweise nur geübte Sprayer zugelassen werden, finden sich dort qualitativ sehr hochwertige Werke. Wer an welcher Stelle der Hall sprühen darf, wird oft durch die lokale Sprüherszene geregelt (VAN TREECK 2003: 108f.).

Zur „ephemeren Qualität“ der Graffitis und Street-Art-Werke vgl. auch WACŁAWEK (2012: 9196).

PAPENBROCK nennt als Beispiele für diesen „Denkmalschutz“ die Werke von Harald Naegeli und Blek le Rat, die in Zürich und Leipzig konserviert wurden (2015: 176f.).

Radiointerview mit Harald Naegeli im Deutschlandfunk (04.12.2014).

Nach FERRELL werden Kamera und Smartphone in der Szene mittlerweile fast so selbstverständlich mitgeführt wie die Sprühdose. Die eigenen Werke und die Werke anderer Sprayer werden fotografiert und in Blogs, auf Graffitiseiten und weiteren Onlinediensten veröffentlicht. „Taken as a whole, this process creates what anti-graffiti campaigns, urban redevelopment, and the ongoing vulnerabilities of the street take away: a vast visual archive of global graffiti and its history, spread across web sites and hard drives, and growing day by day.“ (FERRELL 2016: xxxiv)

Vgl. dazu auch DITTMAR, der feststellt, dass sich zwar einzelne Graffitis auf das Umfeld beziehen, „das Gros sich jedoch durch eine Ästhetik aus[zeichnet], die sie nicht als auf das Umfeld und dessen Gestaltung reagierende Ergänzung erscheinen lassen” (2009: 101).

Zum Konzept des Grounding nach LANGACKER (2008: 260ff.) vgl. Abschnitt 3.2.1.

Zu den nicht-indexikalischen Zeichen gehören im Bereich der öffentlichen Schriftlichkeit etwa auch Werbesprüche und Plakate, da sie sich in der Regel ebenfalls nicht auf ihre Umgebung beziehen und daher auch ohne diese zu deuten sind (AUER 2010: 279f.).

2.1.5 Öffentlich

Vgl. dazu etwa NEEF (2008: 320) und REINECKE (2012: 27).

Vgl. dazu auch WACŁAWEK, die feststellt, „dass es keinen Konsens darüber gibt, wodurch sich ,öffentlicher Raum‘ definiert“ (2012: 66).

Diese Definition liegt auch der Ausgabe des „International Journal of Multilingualism“ (2006 Vol 3, No. 1) zum Thema „The Study of the Linguistic Language as a New Approach to Multilingualism“ zugrunde (GORTER 2006: 2).

2.1.6 Urban

Interessanterweise ist auch für die Hip-Hop-Szene der urbane Raum konstitutiv. Rapper inszenieren sich etwa in ihren Videos fast ausschließlich über Bilder des Urbanen, wie KLEIN UND FRIEDRICH anhand von Hip-Hop-Videoanalysen aufzeigen (2003).

Beispiele für Graffitis an ebendiesen Anbringungsorten finden sich in der Datenbank INGRID.

Vgl. dazu auch die Ergebnisse von SCHNEIDER, die in ihrer Dissertation u.a. der Frage nachgeht, welche Räume von den Writern präferiert verwendet werden (2012a). Sie stellt dabei fest, dass Writer und Street-Art-Künstler insbesondere Räume wie Ruinen, Seitengassen oder Tunnelschächte verwenden, denen keine besondere Nutzung zukommt (SCHNEIDER 2012a: 208).

Die Bezeichnung „Nicht-Orte“ geht auf den frz. Anthropologen Marc Augé zurück. „Nicht-Orte“, die sich für ihn durch das Fehlen von Geschichte, Identität und Relation auszeichnen, breiten sich in der Moderne aus, werden seiner These nach zunehmend zum „Maß unserer Zeit“ (AUGÉ [1992], 1994: 92ff.). Zu den Nicht-Orten zählt AUGÉ beispielsweise Räume, die der schnelleren Fortbewegung des Menschen dienen (Flugrouten, Straßen, Bahntrassen sowie Flughäfen, Bahnhöfe), aber auch die Räume innerhalb der Fortbewegungsmittel (Auto, Bahn, Flugzeug) sowie Hotelketten, Einkaufszentren und Freizeitparks (1994: 94). Diese Orte haben gemeinsam, dass sie „in Bezug auf bestimmte Zwecke (Verkehr, Transit, Handel, Freizeit) konstituiert sind“ (AUGÉ 1994: 110) und dass die Menschen in ihnen nicht ankommen und verbleiben, sondern sie ausschließlich passieren (1994: 93). Beim Passieren befinden sich die Individuen typischerweise in einem Zustand der „einsamen Individualität“ (AUGÉ 1994: 93), weil sich die Treffen mit Freunden und Bekannten an anderen Orten zutragen.

2.1.7 Artefakte

Zu einer praxistheoretischen Perspektive auf Graffitis vgl. den Aufsatz „,In den tiefsten Winkeln unserer Betonwälder tanzten die Namen ein farbenfrohes Fest und wir tanzten mit bis in die Morgenstunden‘ – Zur praktischen Kultur des Szene-Graffiti“ von TOPHINKE (2016).

Die Wiedergabe der Writerinterviews folgt sowohl hier als auch im Folgenden der Schreibung der entsprechenden Szeneseite bzw. des entsprechenden Szenemagazins. Auf eine Korrektur der von der Norm abweichenden Schreibungen wird somit verzichtet.

2.1.8 Zusammenfassung

Vgl. dazu auch MACDOWALL (2017), der die Potenziale und Grenzen des Onlinedienstes Instagram für die Verbreitung von Graffiti und Street-Art beschreibt.

2.2 Die geschichtliche Entwicklung des Graffitis

Etymologisch ist Graffiti eine Pluralform des italienischen Substantivs graffito (was auf das italienische Verb graffiare (,kratzen‘) zurückgeht) und bezieht sich auf in Stein Eingeritztes (DUDEN – Das Herkunftswörterbuch 2014). Ursprünglich bezeichnete Graffito eine Technik der Fassadengestaltung, bei der man mehrere Putzschichten übereinanderlegt (STAHL 2012: 6). In die noch nasse oberste Schicht werden Linien geritzt, sodass die unteren, andersfarbigen Schichten sichtbar werden (STAHL 2012: 6). Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der Entdeckung von Inschriften in der verschütteten Stadt Pompeji, wurde die Bezeichnung Graffiti zunehmend dafür verwendet, um auf solche Schriftzüge zu referieren, die keinem Verfasser zuzuordnen sind (STAHL 2012: 6). Dadurch erhält der Begriff Graffiti die Komponente des Inoffiziellen (STAHL 2012: 6). Anfang der 70er-Jahre wird die Bezeichnung in Medienberichten verwendet, um auf die neu aufkommenden Formen des Szenegraffitis zu referieren (GASTMAN UND NEELON 2011: 5). Nach GASTMAN UND NEELON empfanden die Akteure selbst den Ausdruck jedoch als beleidigend und sprachen stattdessen von Writing, denn Graffiti „meant scratching or crude scrawls“ (2011: 5). Graffiti war demzufolge noch deutlich negativ konnotiert. Es erfuhr aber innerhalb kürzester Zeit eine Bedeutungsveränderung und wurde seit Mitte der 70er-Jahre nun auch mit Bedeutungen wie ,neu‘, ,aufregend‘ und ,bunt‘ in Verbindung gebracht (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 89, GASTMAN UND NEELON 2011: 5).

Im „Routledge Handbook of Graffiti and Street Art“ (2016) wird zwar zwischen „ancient“ und „modern“ Graffiti unterschieden, BAIRD UND TAYLOR ordnen jedoch beide Formen als Graffiti ein: „Graffiti are commonplace within the urban cityscape, so much so that we easily think that this is a phenomenon of modern life. But graffiti are also found in many historical societies, both literate and pre-literate, from ancient Egypt to pre-Islamic Arabia to medieval Italy and beyond“ (2016: 17). Allerdings gehen BAIRD UND TAYLOR auch auf die Problematik ein, die eine Einordnung der historischen Formen als Graffiti mit sich bringt (2016: 19).

2.2.1 In- und Aufschriften seit der Steinzeit

Vgl. zum Zusammenhang von Graffiti und Höhlenmalerei auch SKROTZKI: „Beide benutzen die Wand als Medium, beide wollen eine Botschaft transportieren, und beiden liegt eine durchdachte Farbgebung zugrunde. Graffiti des 20. Jahrhunderts sind daher nichts völlig Selbstständiges, sondern in der Tradition der Beschriftung und Bemalung der Wände seit der Steinzeit zu sehen.“ (1999: 13). Ähnlich auch BEHFOROUZI, der Höhlenzeichnung als „früheste Form von Graffiti“ bezeichnet (2006: 11).

Vgl. dazu auch BEYER (2012) zum Thema Graffiti und Politik (S. 18f.).

Bei den antiken und mittelalterlichen Inschriften kann nicht genau geklärt werden, ob die Herstellung illegal war. BEYER dazu: „In diesem frühen Stadium der Geschichte sind wesentliche Verbindungen jener alten Zivilisation mit den Themen Sachbeschädigung, Privateigentum und Öffentlichkeit von der Wissenschaft nicht ausreichend erforscht.“ (2012: 13f.) NORTHOFF argumentiert ähnlich und gibt zu bedenken, dass vor der Erfindung von Tontafel, Papyrus und Papier nur Wände und andere freie Flächen als Medium existierten, um Zeichnungen und Schriftzüge zu hinterlassen (2005: 123). Erst als sich papierartige Unterlagen und damit Alternativen zur Wand entwickelten, „konnte sich eine eindeutig inoffizielle Beschriftungs-Form der Wände entwickelt haben“ (NORTHOFF 2005: 123). Bevor das Papier erfunden wurde, war das Beschriften der Wand daher nicht die Ausnahme, sondern gängige Praxis.

2.2.2 Die Entwicklung des Szenegraffitis in den USA

Detaillierte Informationen über die Anfänge und Entwicklung der Szene liefert STEWART (1992: 817).

Straßengangs wie die „Black Spades“ oder die „Savage Skulls“ hatten in den New Yorker Ghettos eine Vielzahl von Körperverletzungen, Morden und Raubüberfällen zu verantworten (DOMENTAT 1994c: 10).

Bis heute orientieren sich die Akteure im Graffiti an einigen konventionalisierten Stilrichtungen. Zu nennen ist hier etwa der Blockbuster Style, bei dem die Buchstaben groß und rechteckig wirken und eine simple Farbgestaltung aufweisen. Wegen ihrer guten Lesbarkeit eignen sich Blockbusters besonders für Orte wie Autobahnbrücken und Schallschutzmauern, die aus der Ferne einsehbar sind (SCHMITT UND IRION 2001: 32). Ferner existiert der Bubble Style, der die Buchstaben rund und aufgeblasen wie sich berührende Seifenblasen (engl. soap bubbles) wirken lässt. Bubbles bestehen häufig aus nur zwei Farben, sind aber schwieriger zu lesen als Blockbusters (SCHMITT UND IRION 2001: 33). Geläufig ist auch der Simple Style, der sich durch gut lesbare aber im Gegensatz zu Bubbles und Blockbusters viel filigranere Buchstaben auszeichnet. SCHMITT UND IRION unterscheiden außerdem zwischen Semi Wild Style und Wild Style, von denen letzterer durch den gleichnamigen Film zur wohl bekanntesten Stilrichtung avancierte. Im Semi Wild Style sind die Buchstaben bereits stark verfremdet und verschlungen; im Wild Style wird das Verfahren noch intensiviert. Buchstaben, Pfeile und weitere Stilelemente verschmelzen dabei zu einem einheitlichen Bild (SCHMITT UND IRION 2001: 33f.).

Als ab 1976 die ersten Whole Trains in New York rollten, sollen die Menschen der Erzählung nach mit Erstaunen und Begeisterung reagiert haben. KREUZER berichtet sogar von applaudierenden Menschen auf den Bahnhöfen, die anschließend ihre Züge verpasst hätten und zu spät zur Arbeit gekommen seien (1986: 113).

Ab 1989 ließ die Manhattan Transit Authority (MTA) die Züge außerdem mit einer Substanz beschichten, von der Sprühfarbe abperlte (DOMENTAT 1994c: 14).

1972 wurde beispielsweise die Vereinigung UGA (United Graffiti Artists) von Hogo Martinez, einem Soziologiestudenten, gegründet, um besonders talentierte Writer zu fördern (BEHFOROUZI 2006: 21). Erste Ausstellungen fanden ab 1978 in New York statt. 1982 konnten sich Graffitiwriter sogar an der Documenta in Kassel beteiligen (BEHFOROUZI 2006: 21).

In der Literatur zum Thema ist zu lesen, dass sich Graffiti losgelöst von Hip-Hop entwickelt hat. SNYDER stellt beispielsweise fest, dass es in den Anfangsjahren des Szenegraffitis noch kein Hip-Hop gab und sagt sogar, dass „[t]hose who claim that writing is exclusively an element of hip hop culture fail to understand the history of writing culture“ (2009: 27). Ähnlich äußert sich HOMBERGER: „Als sich die in den siebziger Jahren entstandene urbane Jugendkultur Graffiti entwickelte, existierte der Begriff Hip-Hop noch nicht.“ (2008: 90)

Vgl. dazu etwa PENNYCOOK, der Graffiti als „distinctive subculture on its own“ bezeichnet (2009: 303).

2.2.3 Die Entwicklung einer Szene in Europa

Zu den bekanntesten Magazinen, die sich seit 1989 entwickelten, gehören nach BEHFOROUZI die Magazine „Stylewars“, „Aerosol“ und „Backspin“ (2006: 26).

Einige Akteure wie etwa Keith Haring reisten auf Einladung an, um sich bei anschließender Pressekonferenz auf der Berliner Mauer zu verewigen (WALDENBURG 1993: 13). Zur Beschriftung der Berliner Mauer siehe auch die Beiträge in BIANCHI (Hg.) 1984.

Harald Naegelis Popularität wurde entscheidend durch seine Inhaftierung im Jahr 1983 vorangetrieben, die damals auch durch die Bemühungen von Politikern wie Willy Brandt und Joseph Beuys nicht verhindert werden konnte (STAHL 1989: 63ff.). Naegeli wurde dadurch in der ganzen Welt bekannt. Zur Bewertung seines künstlerischen Schaffens siehe verschiedene Beiträge in BIANCHI (Hg.) 1984.

Naegeli machte beispielsweise auf einen Chemieunfall am Rhein aufmerksam, indem er am Rheinufer an verschiedenen Stellen Fische mit einem Totenkopf im Bauch zeichnete (STAHL 1989: 67).

2.2.4 Graffiti und Street Art

Als alternative Bezeichnungen tauchen in der Literatur auch „Urban Art“ und „Straßenkunst“ auf (KRAUSE UND HEINICKE 2006: 58).

Als Beispiel kann hier auf Magda Sayeg verwiesen werden, die 2005 mit ihrer Crew Knitta Please in verschiedenen Städten „Gestricktes“ anbrachte (WACŁAWEK 2012: 71). Die Strick-Installationen stellen gegenüber Graffitis ein weniger aggressives Eindringen in den öffentlichen Raum dar, weil die Kreationen mit einer Schere entfernt werden können und damit keinen Fall von Sachbeschädigung darstellen.

Die Wahrnehmung von Graffiti als Vandalismus wurde unter anderem durch die 1982 aufkommende Broken-Window-Theorie bekräftigt. Diese besagt, dass erste Zeichen der Verwahrlosung zu weiteren Straftaten einladen. Die Theorie wurde insbesondere von Politikern genutzt, um das Vorgehen gegen Graffitidelikte zu rechtfertigen (DERWANZ 2013: 115). Sie konnte durch die empirische Sozialforschung allerdings nur teilweise verifiziert werden. Nach SACKMANN UND KASTIRKE verweisen Zeichen wie Graffitis auf eine Störung der kollektiven Selbstwirksamkeit eines Stadtteils. Kriminalitätsdelikte würden aufgrund dieser Störung ansteigen, nicht jedoch wegen Graffitis und anderer „Zeichen von Unordnung“ (2009: 206f.). Graffitis würden in derartigen Kontexten allerdings ein Misstrauen der Bürger bewirken, weil diese das Gefühl bekommen, die soziale Kontrolle über ihr Viertel verloren zu haben.

2.3.1 Graffiti als Szene

Vgl. dazu etwa das Interview mit ZEB in „Backspin“ (98/2008: 79), in dem der Interviewer fragt, ob ZEB „irgendwelche Idole in der Szene“ habe.

Mit „Stilisieren“ meinen HITZLER UND NIEDERBACHER hier „das nach (bestimmten, nämlich szenespezifischen) ästhetischen Kriterien selektierte Verwenden von Zeichen(-arrangements) mit der Absicht, einen (kulturell relativ) kompetenten und zugleich originellen Eindruck zu machen“ (2010a: 187, Hervorh. i.O.).

2.3.2 Crews als „Communities of Practice“

Der Hinweis, dass Crews als „Communities of Practice“ bezeichnet werden können, findet sich bei TOPHINKE (2016: 413f.).

Als Lerner verstehen LAVE & WENGER dabei nicht nur Schüler in typischen Schulkontexten, sondern vielmehr alle Individuen, die über die Teilhabe an sozialen Praktiken lernen.

LAVE UND WENGER erläutern ihre Vorstellung von Lernen anhand der Ausbildung yukatekischer Geburtshelferinnen: Diese erhalten keine ausführliche Einführung in ihre Tätigkeit, sondern sie lernen durch Beobachtung, um so zu vollwertigen Mitgliedern der „Community of Practice“ zu werden (2003: 68f.).

Vgl. dazu auch SPITZMÜLLER, der feststellt, dass es sich „[i]n gewissem Sinn […] bei Szenen also um Communities of Practice“ handelt (2013: 360, Hervorh. i.O.).

Eine Phase des Experimentierens und Übens ist nötig, weil das Sprühen wie ein Handwerk erlernt werden muss. Wer die Technik nicht beherrscht, erhält Blasen, hässliche Farbverläufe und unsaubere Linien (SCHMITT UND IRION 2001: 40). Die Modifikation des Farbstrahls erfolgt u.a. durch unterschiedliche Kappen-Größen, die auf die Sprühdose gesetzt werden. Fat-Caps eignen sich zum Füllen von Buchstaben, Skinny-Caps für die Umrandung der Buchstaben, die Outlines (SCHMITT UND IRION 2001: 40). Das Sprühen erfordert neben dem ästhetischen Vermögen und der technischen Versiertheit auch den kontrollierten Einsatz des ganzen Körpers. Um saubere Linien zu erhalten, bewegt sich der Writer seitwärts zur Wand mit aufeinander abgestimmten Arm- und Beinbewegungen, damit der Strahl der Sprühdose jeweils im gewünschten Winkel auf die Fläche trifft. Der Sprüher ESPO bezeichnet das Malen daher als „Graffiti-Workout“ (SNYDER 2009: 40) und auch der Berliner Writer DAZE betont die Bedeutung der ganzkörperlichen Bewegung, wenn er sagt: „Ich brauche keinen Sport, habe ja das volle Programm“ (TRUE 2 THE GAME 2003, o.S.).

CHRISTEN vergleicht Graffiticrews daher sogar mit „medieval guilds or trade unions, with apprentices assisting on works designed by masters, often painting backgrounds and filling in outlines in preparation for the finer detailed work“ (2003:63).

FERRELL UND WEIDE weisen allerdings darauf hin, dass Neulinge, die noch nicht richtig in der Szene sozialisiert sind, mitunter gegen diese Regeln verstoßen (2010: 55).

Die Bezeichnung Toy (engl. ,Spielzeug‘) wird typischerweise verwendet, um sich auf junge, unerfahrene Writer zu beziehen, die sich innerhalb der Gemeinschaft erst beweisen müssen (REINECKE 2012: 32). Das Wort fungiert in der Szene daher gleichzeitig als Beleidigung. Pieces von geringer Qualität werden bisweilen mit den Wörtern „toy“ oder „toystyle“ gecrosst (VAN TREECK 2001: 388).

Die Writerin GINA aus Berlin gab beispielsweise an, dass ihre Crew COMIC LUZIES nach eineinhalb Jahren aufgelöst wurde. „Wir hatten uns auseinandergelebt“, nannte sie als Begründung (DOMENTAT 1994a: 43).

In der Literatur zum Thema wird häufig der Unterschied zwischen Graffiticrews und amerikanischen Straßengangs herausgestellt, wobei dabei auf die erhöhte Gewaltbereitschaft letzterer Gruppierung verwiesen wird (MACGILLIVRAY UND SAUCEDA CURWEN 2007: 358ff., SCHMITT UND IRION 2001: 91). Eine Gang zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein bestimmtes Territorium, „turf“ genannt, zu ihrem eigenen erklärt und dieses Gebiet gegenüber den Besitzansprüchen anderer Gangs verteidigt (WELZ 1984: 195). Derartige Straßengangs formierten sich in den 70er- und 80er-Jahren unter anderem in den New Yorker Bezirken Bronx und Harlem, aber auch in anderen amerikanischen Städten. Zum Leben in den New Yorker Vororten, auch “Ghettos” genannt, und zur Formierung von Straßengangs vgl. WELZ (1984: 192ff.). Werden die Grenzen überschritten, sanktionieren Gangs den Verstoß häufig mit Gewalt (SCHMITT UND IRION 2001: 91). Crews verfolgen hingegen andere Ziele: Es geht darum, den eigenen Namen so oft wie möglich im Stadtbild anzubringen und ihn dadurch bekannt zu machen. Es ist für die Akteure kein räumliches Territorium zu verteidigen, weil der Name idealerweise in der gesamten Stadt zu sehen ist. Konfliktreiche Aufeinandertreffen kommen daher selten zustande.