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mensch & tier

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Dr. Karin Hediger, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP und Reittherapeutin (SG-TR), ist als Psychotherapeutin am Zentrum für Psychotherapie der Universität Basel sowie am REHAB Basel tätig.

Mag. Roswitha Zink, Psychotherapeutin für Integrative Therapie i.A.u.S. (Österreich), Reittherapeutin und Pferdetrainerin (ÖKThR, ÖPS), Leitung beim Verein e.motion im sozialmedizinischen Zentrum Otto Wagner Spital und am Lichtblickhof für pferdegestützte Therapie mit Kindern und Jugendlichen.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass der Autor große Sorgfalt darauf verwandt hat, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02967-9 (Print)

ISBN 978-3-497-61332-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61333-5 (EPUB)

2., aktualisierte Auflage

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Covermotiv, Fotos im Innenteil und U4 von Arnd Ötting, Wien.

Textauszüge „Mio, mein Mio“ aus Astrid Lindgrens „Mio, mein Mio“

© Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg.

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

„Nur wer das Licht bewegen lernt, kann den Schatten gebieten“

(Meyrink 1916, 138).

Inhalt

1   Einleitung

2   Grundlagen der Psychotraumatologie

2.1  Klassifikation und Diagnostik

2.2  Behandlungsansätze

2.3  Phasen der Traumatherapie

3   Pferdegestützte Traumatherapie als tiergestützte Intervention

3.1  Verortung im Feld der tiergestützten Interventionen

3.2  Theorien tiergestützter Interventionen

4   Pferdegestützte Traumatherapie in der Literatur

4.1  Forschungsstand

4.2  Methodische Ansätze

5   Wirkmechanismen und Effekte pferdegestützter Traumatherapie

5.1  Tierart-unspezifische Wirkmechanismen

5.2  Pferdespezifische Wirkmechanismen

5.3  Biologie der Pferde

5.4  Mehrwert der pferdegestützten Traumatherapie

6   Voraussetzungen für die Arbeit

6.1  Maßnahmen zur Qualitätssicherung

6.2  Der Therapeut

6.3  Der therapeutische Raum

6.4  Das Therapiebegleitpferd

7   Umsetzung im Alltag

7.1  Einsatzebenen des Pferdes in der Therapie

7.2  Therapeutische Techniken

8   Risiken und Grenzen

8.1  Patient

8.2  Pferde

8.3  Therapeut

9   Ausblick

10 Anhang

Literatur

Dank

Sachregister

1 Einleitung

FALLBEISPIEL

Hannah ist 17 Jahre alt, ihr Leben aber ist steiniger verlaufen als bei anderen jungen Frauen. Ihr blondes Haar hängt in strohigen Strähnen wild und ungepflegt ins Gesicht. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, der Blick ist meist zu Boden gerichtet. „Gott hasst mich!“ ist der erste Satz, den sie zu mir sagt. Sonst ist Hannah still und in sich gekehrt. Ihre Mimik verrät kaum, was sie gerade fühlt. Mehrere Aufenthalte in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen und viele Wohnheime hat sie hinter sich, nirgends fand sie ein Zuhause. Wir stehen am Zaun einer großen grünen Wiese, die steil vor uns den Hang hinaufgeht und den Blick auf eine grasende Pferdeherde freigibt. Die Finger von Hannahs linker Hand tippen auf ihre rechte Handfläche, den Daumen hält sie gespannt. Sie soll eine Woche auf eine Wandertour mit Pferden mitkommen, eine Ewigkeit gehen, sich mehrere Tage auf engstem Raum mit zwölf anderen Jugendlichen abstimmen. Sie soll ein Pferd mit einem Mädchen teilen und sie hasst es jetzt schon – das Mädchen, nicht das Pferd. Das Pferd war der Grund, weswegen sie diesem Projekt zugestimmt hat, weswegen sie bereit war, ein Angebot, welches das Wort „therapeutisch“ beinhaltet, überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ich ziehe das Buch „Mio, mein Mio“ aus meiner Jackentasche und strecke es Hannah entgegen. Das Buch wird uns begleiten, durch Licht und Schatten. Hannah sieht das Buch nicht an und schweigt. Sie lauscht, ihre Finger stellen das Tippen ein. Sie sieht in Gedanken versunken zu den Pferden, als ich das erste Kapitel aufschlage und lese:

Wir waren hoch über den Wolken, und wir schossen vorwärts, schneller als der Blitz und lauter als der Donner. Um uns knisterten Sterne und Sonnen und Monde. Manchmal war alles schwarz wie die Nacht, manchmal so strahlend hell und weiß, dass ich die Augen schließen musste. „Er reist durch Tag und Nacht“, flüsterte ich vor mich hin.

Astrid Lindgren: Mio, mein Mio

Das vorliegende Buch gibt eine Übersicht über die Möglichkeiten von pferdegestützten Interventionen in der Behandlung von Traumafolgestörungen. Es richtet sich an Fachpersonen, die sich therapeutisch mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Traumafolgestörungen auseinandersetzen: an Therapeuten, die bereits mit Pferden in diesem Bereich arbeiten, genauso wie an Personen, die auf der Suche nach weiteren Ansätzen in der Traumatherapie sind. Darüber hinaus soll das Buch das Konzept der pferdegestützten Traumatherapie auch Betroffenen näherbringen sowie allen Menschen, die sich grundsätzlich für tiergestützte Interventionen interessieren.

Das Pferd in der Traumatherapie

Ein Pferd in die Traumatherapie miteinzubeziehen, kann die Therapiemotivation von Patienten erhöhen. Ein Tier hat oft einen hohen Aufforderungscharakter. Es fällt Patienten dadurch leichter, in Beziehung mit dem Therapeuten zu kommen oder in kritischen Phasen in Beziehung zu bleiben. Dies bildet die Basis, um therapeutisch tätig werden zu können. Gerade Patienten, die Gewalt und Machtmissbrauch erlebt haben, kann es helfen, dass das Tier die asymmetrische Beziehung zwischen Therapeut und Patient ein Stück weit auflöst. Das Tier ist nicht im menschlichen Sinn überlegen. Es ermöglicht vielmehr einen offenen Diskurs mit dem Therapeuten darüber, wer wen kontrollieren darf oder soll. Damit ist eine Grundangst vieler Patienten angesprochen und das Thema, sich auf die Führung des Therapeuten einzulassen, bekommt eine zusätzliche Dimension, da auch das Pferd sich auf die Führung des Patienten einlassen soll. Zudem kann über das Tier und durch das gemeinsame Tätigsein von Patient und Therapeut oft schnell eine tragfähige Beziehung zum Patienten hergestellt werden.

Spezifisch für die Traumatherapie mit Pferden ist das hohe Ausmaß an Konfrontation mit dem eigenen Körper. Die Interaktion mit einem Pferd erfordert das Wahrnehmen, Erleben und bewusste Einsetzen des eigenen Körpers. Dies fällt Menschen mit Traumafolgestörungen häufig schwer. Der Kontakt mit dem Pferd hilft ihnen, sich mit ihrem Körper auf eine wenig bedrohliche Weise auseinanderzusetzen. Denn in der Interaktion mit dem Pferd ist man auf einen Bewegungsdialog angewiesen, man kommuniziert ohne Worte. Diesen nicht-sprachlichen Dialog übersetzt der Therapeut in Sprache. Er hilft dem Patienten, Muster in Bezug auf Gedanken, Gefühle und Verhalten zu entdecken, zu verbalisieren und zu reflektieren sowie dysfunktionale Aspekte darin zu verändern.

Pferde zeigen aufgrund ihrer Entwicklungsgeschichte eine hohe Fluchtbereitschaft. Dies ist in der Ausbildung von sicheren Therapiebegleitpferden relevant, bietet aber auch ein großes therapeutisches Potential. Patient und Therapeut können erleben, wie Pferde ihre Angst bewältigen. Gemeinsam können sie Wege suchen, wie man Pferden helfen kann, mit ihrer Angst und ihren Fluchttendenzen umzugehen. Dieses Lernen am Vorbild kann wichtige Impulse für einen differenzierten Dialog zum Thema Furcht und Angst liefern.

Weiter kann das Pferd in der Psychotherapie viele verschiedene Rollen einnehmen. Es kann beobachtet, gestreichelt, gepflegt, geführt, geritten werden oder in einer freien Interaktion Beziehungspartner sein. Je nach Einsatz entsteht so innerhalb der Triade „Patient-Therapeut-Pferd“ ein Dialog mit dem Pferd oder über das Pferd. Dieser Dialog kann ein breiteres Verständnis für den eigenen Körper, die eigenen Emotionen und die eigene Biographie bewirken.

Gelingt die Kooperation zwischen einem gut ausgebildeten Pferd und einem wachsamen und geschulten Psychotherapeuten, so kann dies für den Patienten zu einer ganzheitlichen Erfahrung werden. Dieser Ansatz spricht gleichzeitig die verbale wie die nonverbale Kommunikation und basale emotionale Muster an.

Definition und Verständnis der Autorinnen

Pferdegestützte Traumatherapie ist eine Form von Psychotherapie, bei der ein Pferd oder mehrere Pferde in die therapeutische Arbeit miteinbezogen werden, um Patienten mit einer Traumafolgestörung zu behandeln.

Uns ist wichtig, pferdegestützte Traumatherapie nicht als neue oder eigenständige Therapieart zu definieren. Pferde in der Psychotherapie miteinzubeziehen ist ein Ansatz, um Therapieziele zu erreichen, die vorab mit dem Patienten festgelegt wurden, ähnlich wie beispielsweise der Einsatz von therapeutischem Rollenspiel oder gestalterischen Techniken. Und doch ist dieser Ansatz wesentlich komplexer, da in einem triadischen Setting gearbeitet wird und die Pferde sich als lebendige Interaktionspartner aktiv in die Therapie einbringen.

Das Pferd kann entweder in evaluierte Behandlungsmanuale eingebunden werden. Oder die pferdegestützte Arbeit kann komplementär als Vorbereitung für eine Traumatherapie oder als parallele, ergänzende Maßnahme zur Stabilisierung und Integration durchgeführt werden. Pferdegestützte Traumatherapie ist mit allen Schulen und Richtungen der Psychotherapie kompatibel. Tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapeuten können diesen Ansatz genauso anwenden, wie Vertreter humanistischer Verfahren, der Verhaltenstherapie oder anderer Schulen. Gemäß Petzold (2013) können tiergestützte Therapien zu der sogenannten „dritte Welle“ von Psychotherapieansätzen gezählt werden. Die Tatsache, dass Pferde in unterschiedliche Ansätze integriert werden und somit ganz unterschiedlich pferdegestützt therapeutisch gearbeitet wird, kann eine Chance und Bereicherung sein. Gleichzeitig wird dadurch jedoch auch die Definition erschwert und es können keine allgemeingültigen Manuale und Rezepte bereitgestellt werden. Jeder Therapeut setzt das Pferd vor seinem eigenen Ausbildungshintergrund ein und benötigt ein gewisses Ausmaß an Kreativität, um das Pferd in die bestehenden Therapiekonzepte zu integrieren. Gute Psychotherapie besteht immer aus einer Kombination von Wissen, Beziehungsgestaltung und Intuition. Es braucht daher Manuale genauso wie eine fein abgestimmte Individualisierung.

Pferdegestützte Traumatherapie muss sich immer an der Verbesserung der Lebensqualität der Patienten orientieren und strebt eine Verbesserung von zuvor definierten Symptomen an. Gleichzeitig muss sie sich nach dem Wohl der Pferde ausrichten.

Unser Anliegen

Mit dem Buch möchten wir einen Beitrag zur Behandlung von Traumafolgestörungen leisten. Patienten mit traumatischen Erfahrungen brauchen Beachtung und Unterstützung, damit diese schwierigen Erfahrungen zu einer Erweiterung ihrer Ressourcen werden und nicht in neuer Gewalt gegen sich oder andere münden. Traumafolgestörungen sind oft nicht alleine zu bewältigen. Patienten brauchen verschiedenartige Hilfe und Solidarität von Menschen, die im professionellen Kontext nicht selten alle Kreativität einsetzen müssen, um diese Patienten und ihre Potentiale zu erreichen. Eine mögliche Form, auf die Komplexität der Behandlung von Patienten mit Traumafolgestörungen zu reagieren, ist der Einbezug von Pferden.

Unser Ziel ist es, dem Leser anhand unserer eigenen Erfahrungen Anregungen zu bieten, wie die Auseinandersetzung zwischen Patient und Pferd die Traumatherapie unterstützen und in den psychotherapeutischen Prozess eingebunden werden kann. Das vorliegende Buch soll als Anleitung dienen, sich mit gegenwärtigen Konzepten der Traumatherapie auseinanderzusetzten und dabei kritisch das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das Buch bildet unseren jetzigen Wissens- und Erfahrungsstand ab, den wir in dieser Form fassbar machen wollen. Unser Wunsch ist es, eine Grundlage zu schaffen, von der aus die pferdegestützte Traumatherapie weiterentwickelt werden kann. Wir möchten Diskussionen anregen und so die tiergestützte Therapie weiter voranbringen.

Unser persönliches Anliegen ist die Verknüpfung und der Austausch von Wissenschaft und Praxis im Sinne einer gegenseitigen Bereicherung. Die Zusammenarbeit der beiden Autorinnen, in der dieses Buch entstanden ist, ist Abbild dieses Prozesses. Sie beruht auf der Freude und dem Mut, in Kooperation zu gehen, sich gegenseitig zu hinterfragen und daran zu wachsen.

Inhalt und Aufbau

Der Fokus des Buches liegt auf der Umsetzung des Einbezuges von Pferden innerhalb von wissenschaftlich fundierten traumatherapeutischen Konzepten. Wir gehen nicht vertieft auf Grundlagen der Psychotraumatologie ein. Kenntnisse zu traumatherapeutischen Konzepten und Behandlungsansätzen werden vorausgesetzt oder sollten an anderer Stelle nachgelesen werden (Landolt 2012; Landolt/Hensel 2012; Maercker 2013a; Sack et al. 2013; Schnyder/Cloitre 2015.

Nach einer Einführung in die Grundlagen der Behandlung von Traumafolgestörungen, wird die pferdegestützte Traumatherapie in den Kontext der tiergestützten Interventionen eingebettet. Anschließend wird ein Überblick über bisherige Forschungsergebnisse sowie unterschiedliche praktische Ansätze in der Literatur gegeben. Weiter werden Wirkmechanismen und Effekte von pferdegestützter Traumatherapie diskutiert und Voraussetzungen aufseiten des Pferdes wie auch des Therapeuten aufgezeigt. Die darauffolgende Darstellung der praktischen Umsetzung im Therapiealltag stellt einen Schwerpunkt des Buches dar. Hier werden konkrete Techniken und Übungen vorgestellt. Im Anschluss an die praktische Umsetzung werden mögliche Risiken und Grenzen von pferdegestützten Interventionen bei Traumafolgestörungen angesprochen. Nach einem Ausblick der Autorinnen sind im Anhang die Effekte, aber auch Herausforderungen der pferdegestützten Traumatherapie nochmals in einer Tabelle übersichtlich dargestellt.

Der Text dieses Buches ist in drei sprachlich unterschiedlich gefärbte Ebenen gegliedert. Neben dem eigentlichen Fachtext zieht sich eine Fallgeschichte durch das gesamte Buch. Die Geschichte ist aus der Perspektive der Therapeutin erzählt, punktuell ergänzt mit Notizen der Patientin (Name sowie biografische Daten der Patientin sind geändert, ihre Notizen wurden wörtlich übernommen und daher auch Schreibfehler beibehalten). Als dritte Ebene sind Textauszüge aus dem Buch „Mio, mein Mio“ von Astrid Lindgren (1955) eingeflochten. Das Buch arbeitet das Thema Trauma literarisch auf. Es hat die Therapie von Hannah, der Patientin aus der Fallgeschichte, stets begleitet.

Die Abbildungen in diesem Buch sind in einem Projekt mit betroffenen Kindern und Jugendlichen entstanden. Die Bilder spielen mit Licht und Schatten und stellen eine visuelle Annäherung an das Thema Trauma und pferdegestützte Therapie dar.

2 Grundlagen der Psychotraumatologie

„Jetzt kommt die Nacht“, sagte Jum-Jum. „Ich muß nach Hause gehen.“ „Nein, geh nicht“, sagte ich. „Ich möchte mit diesem wunderlichen Gesang nicht allein sein.“ Und ich zeigte hinauf zu dem schwarzen Vogel und fragte: „Jum-Jum, wer ist er?“ „Das weiß ich nicht“, sagte Jum-Jum. „Ich nenne ihn Trauervogel. Nur weil er so schwarz ist. Vielleicht heißt er ganz anders.“ „Ich glaube, ich mag ihn nicht“, sagte ich. „Ich mag ihn“, sagte Jum-Jum. „Trauervogel hat so gute Augen.“

Astrid Lindgren: Mio, mein Mio

FALLBEISPIEL

Hannah hat Angst vor Menschen. Ihr WG-Zimmer hat sie im letzten Jahr selten verlassen. Sie hasst es, berührt zu werden. Dennoch trägt sich am zweiten Tag des Trekkings Folgendes zu: Es ist Abend, ein Tag voll langer Schatten und gleißendem Sonnenlicht neigt sich dem Ende zu, alle sind erschöpft. Die Jugendlichen sollen nochmals nach den Pferden sehen und Futter vorbereiten. Tamino, Hannahs Pferd, steht mit gesenktem Kopf vor ihr. Plötzlich ergreift Tamino die Initiative und streckt seine Nase in die ausgebreiteten Arme der jungen Frau. Er lehnt seine Stirn gegen ihre Brust und blubbert sanft warme Luft aus seinen Nüstern, so dass ein hörbares Geräusch entsteht. Hannah springt zurück, Entsetzen in ihren Augen. Den ganzen Tag hat sie durchgehalten – wegen ihm. Sie ist neben ihm gewandert, hat ihn geführt und sich schaukelnd von ihm durch die Landschaft tragen lassen. Sie hat sich ihm anvertraut. Und nun, in dieser besonderen Umarmung schnaubt er ihr an den Bauch? Tamino tritt wieder näher an sie heran. Er hält dem Entsetzen stand und bleibt Hannah nahe. Da legt Hannah schluchzend ihre Arme um seinen Kopf. Ihr Gesicht sinkt zwischen seine Ohren. Tamino seufzt hörbar. Die junge Frau schluchzt in die Mähne des Pferdes. Ihr feingliedriger Körper bebt. Ich komme näher, überrascht, dass Hannah so viel Kontakt sucht und erträgt. Ich frage sie, ob ich meine Hand auf ihren Rücken legen darf. Hannah nickt still. Ihr Atem wird ruhiger. Tamino löst seinen Kopf aus ihrer Umklammerung und bläst in ihr verweintes Gesicht. „Es war grauenvoll“, sagt Hannah ganz leise. „Es war grauenvoll. Er hat mir eine SMS geschrieben, ich solle kommen. Es hat gebrummt in meiner Hand. Ich habe gewusst, es war schlecht, aber ich bin zu ihm in die Wohnung gefahren. Und da hing er, braun im Gesicht. Er hing einfach von der Decke.“ Wieder schluchzt sie so, dass man sie nicht mehr verstehen kann, murmelt weiter und sinkt dann sanft zu Boden. Zu Füßen eines starken Pferdes, das sie zu tragen vermag.

Hannah beginnt zu trauern, beginnt, die Geschichte ihres eigenen Lebens zu erzählen. In einem Stall, fernab der Welt, die sie so enttäuscht hat, auf einer erlebnispädagogischen Trekkingtour, die der Start ihrer traumatherapeutischen Behandlung werden soll.

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2.1 Klassifikation und Diagnostik

FALLBEISPIEL

Hannah: 1998 in einer österreichischen Kleinstadt geboren, wohnhaft in einer Einrichtung für betreutes Wohnen, 170 cm groß und 52 Kilo schwer.

Hannah ist in einer Mittelstandsfamilie aufgewachsen. Ihre Entwicklung ist unauffällig verlaufen. Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit und ein liebevolles, normales Zuhause. Auch war Hannah eine durchschnittliche Schülerin. Sie war immer still und fleißig und ist nie besonders aufgefallen. Als Hannah 11 ist, kommt ihre fünf Jahre jüngere Schwester bei einem Autounfall ums Leben. Die Mutter entwickelt in der Folge eine wiederkehrende Depression und verbringt viel Zeit in Rehakliniken. In dieser Zeit sorgt der Vater für Hannah. Es kommt zu ersten sexuellen Übergriffen. Als Hannah 15 ist, nimmt sich ihr Vater das Leben. Es ist Hannah, die ihn findet. Hannahs Mutter ist zu dieser Zeit in einem stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Hannah zieht in eine Krisenwohngemeinschaft, besucht jedoch weiterhin die Hauptschule. Sie zieht sich daraufhin sehr zurück und verliert an Gewicht. Nach einem stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik wechselt Hannah mehrmals die Wohngemeinschaft, bis sie schließlich in ein ausgegliedertes Projekt für Jugendliche kommt, in dem sie selbständig wohnen und zur Schule gehen kann. Die Bedingung für den Start dieses Wohnprojektes war, dass Hannah ein therapeutisches Angebot annimmt. Hannah wählte, zur allgemeinen Überraschung, ein erlebnispädagogisches Pferdetrekking.

Nicht jedes potentiell traumatisierende Ereignis ist auch im engeren Sinne ein Trauma. Der Begriff Trauma steht in der Psychotraumatologie für Ereignisse und Erfahrungen, die als außergewöhnlich belastend erlebt werden und das Individuum in seiner psychischen oder körperlichen Existenz und Integrität bedrohen (Landolt 2012).

Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) definiert ein Trauma relativ breit: als Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine kurz oder lang andauernde Situation mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (Dilling et al. 2015). Gemäß dem DSM-5 (Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) wird ein Trauma als die Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, einer ernsthaften Verletzung oder sexueller Gewalt definiert. Darin eingeschlossen sind sowohl das direkte Erleben, als auch das Erleben solcher traumatischer Ereignisse bei anderen Personen sowie das Erfahren traumatischer Ereignisse im nahem Verwandten- oder Freundeskreis (American Psychiatric Association 2015).

Potentiell traumatisierende Ereignisse können anhand ihrer Häufigkeit und anhand ihrer Ursache eingeteilt werden (Landolt 2012). Typ-I-Traumata bezeichnen akute, unvorhersehbare und einmalige Ereignisse. Beispiele dafür sind Unfälle oder Naturkatastrophen. Typ-II-Traumata hingegen treten wiederholt auf und sind teilweise vorhersehbar. Beispiele dafür sind häusliche Gewalt oder chronischer sexueller Missbrauch. Zudem wird zwischen interpersonellen Traumata, die durch Menschen verursacht wurden (z. B. Überfall, Krieg), und akzidentellen Traumata (z. B. Unwetter, Unfall) unterschieden.

Das Erleben eines potentiell traumatischen Ereignisses kann zu einer akuten Belastungsreaktion (ICD-10) respektive einer akuten Belastungsstörung (DSM-5), zu Anpassungsstörungen, affektiven Störungen oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen. Zusätzlich wird der Begriff der komplexen Traumafolgestörung verwendet (Herman 1992; Rosner/Steil 2012; Sack et al. 2013; van der Kolk et al. 2005), welche im ICD-11 als Diagnose Eingang finden wird. Eine komplexe Traumafolgestörung kann aufgrund von chronischen interpersonellen Traumata entstehen und weist ein klinisches Bild auf, das über die Symptome der PTBS hinaus- und häufig mit diversen Komorbiditäten einhergeht.

Die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung bedingt nebst dem Erleben eines Traumas auch Symptome des Wiedererlebens wie Flashbacks oder Albträume (Intrusionen), Vermeidungsverhalten (bestimmte Orte werden nicht mehr aufgesucht oder bestimmte Reize werden vermieden), ein allgemeiner emotionaler Taubheitszustand, negative Kognitionen sowie ein anhaltendes Hyperarousal (Übererregung). Wenn diese Symptome länger als vier Wochen andauern, mit funktionalen Einschränkungen einhergehen und nicht aufgrund von Substanzen oder Medikamenten verursacht sind, wird eine PTBS diagnostiziert. In diesem Fall ist eine traumazentrierte Therapie indiziert (Maercker 2013a).

Um abzuschätzen, ob eine Behandlung angebracht ist, ist eine umfassende Diagnostik notwendig. Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf potentiell traumatische Erlebnisse. Ein Teil der Betroffenen ist resilient und entwickelt keine klinisch relevante Störung. Hier ist eine psychotherapeutische Behandlung in der Regel nicht indiziert.

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FALLBEISPIEL

Hannah wird mit der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ angemeldet. Die Diagnose wurde bei ihrem letzten Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik gestellt. Vor Aufnahme in die pferdegestützte Therapie war Hannah bereits in zwei ambulanten und zwei stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen. Nirgends hat sie Fuß fassen können. Sie wurde durchgehend als sehr gehemmt beschrieben. Therapien hat sie stets verweigert oder abgebrochen. Das Trekking-Projekt ist seit Langem wieder etwas, was Hannah durchzieht und wo sie sich reinhängt. Hannah wird daher für eine anschließende pferdegestützte Therapie aufgenommen.

Um ein besseres Bild von Hannah zu bekommen, führen wir verschiedene Interviews und Tests durch. Hannah lässt dies mit einsilbigen Antworten über sich ergehen. Manchmal antwortet sie auch nur schriftlich. Im Vordergrund stehen der Selbstmord ihres Vaters und die sexuellen Übergriffe, über die sie nicht sprechen will.

Hannah hat das Interesse an vielem verloren. Ihrem Alter entsprechende Alltagsaktivitäten, Freundschaften, aber auch die eigene Körperpflege oder ihre Kleiderwahl sind ihr gleichgültig. Sie verbringt die meiste Zeit alleine in ihrem Zimmer. Sie kann kaum mehr positive Gefühle empfinden, häufig quälen sie belastende Erinnerungen und Träume. Sie fühlt sich schuldig. Hannah kann sich schlecht konzentrieren, isst kaum mehr und beißt sich regelmäßig auf den Zeigefingermittelknochen, wenn das Gedankenkino zu schlimm wird. Sie ist schreckhaft und zuckt bei unerwarteten Geräuschen zusammen. Immer wieder hat Hannah Panikattacken, was ihr sehr peinlich ist. Sprache, die Körperempfindungen oder Sexualität beinhaltet, vermeidet sie. Sehr häufig spricht sie auch gar nicht. Hannah kann sich selbst in einen Zustand bringen, in dem sie abschaltet und nichts mehr fühlt. Das tut sie manchmal auch in unseren Gesprächen und sie „verschwindet“, während sie vor mir zusammengesunken auf dem Stuhl sitzt. Hannah kann aber auch grundlos, wie sie sagt, sehr wütend werden. Dann wirft sie Dinge durchs Zimmer, bis sie sich plötzlich weinend am Boden wiederfindet.

Hannah will keine Therapie und hat keine Hoffnung, dass ihr jemand helfen könne. Sie will einfach in Ruhe gelassen werden.

2.2 Behandlungsansätze

Es gibt eine ganze Reihe traumafokussierter Behandlungsansätze. Als evidenzbasierte und wirksame Verfahren für Erwachsene gelten verschiedene Formen der kognitiven Verhaltenstherapie sowie die „Eye Movement Desensitization and Reprocessing Therapy“ (EMDR) nach Shapiro (2001) (Bisson et al. 2013; Cusack et al. 2016; Schnyder/Cloitre 2015; Watts et al. 2013). Gut untersucht sind die prolongierte Exposition (PE) nach Foa et al. (2007), die kognitive Therapie nach Ehlers et al. (2005), die kognitive Verarbeitungstherapie (CPT) nach Resick et al. (2007), das imaginative Reprozessieren nach Smucker et al. (2008), die narrative Expositionstherapie (NET) nach Schauer et al. (2011), die kurze eklektische Psychotherapie (BEPP) nach Gersons et al. (2015) sowie die „Skills Training in Affective and Interpersonal Regulation (STAIR) Narrative Therapy“ nach Cloitre et al. (2002) und die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), die für Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt wurde. Nebst diesen Ansätzen nennt Maercker (2013b) zudem die psychodynamische Traumatherapie nach Horowitz (2003) oder die psychodynamisch-imaginative Therapie (PITT) nach Reddemann (2014), hypnotherapeutische Methoden, humanistisch-existentielle Therapien sowie körperbezogene Therapien als komplementäre Behandlungen zu einer traumafokussierten Psychotherapie. Diese Verfahren orientieren sich häufig stark an den Geisteswissenschaften und sind eher qualitativ als quantitativ wissenschaftlich evaluiert.

Bei Kindern ist die Studienlage dünner. Aber auch hier zeigen traumafokussierte kognitiv-behaviorale Therapien sowie die EMDR und die narrative Expositionstherapie (KIDNET) die beste Evidenz (Gillies et al. 2016; Steil/Rosner 2013). Kaum untersucht, jedoch ebenfalls gut konzeptualisiert, sind psychodynamische und für das Kindesalter angepasste Ansätze wie die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) nach Krüger und Reddemann (2007), die Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie (MPTT) nach Fischer (2000), die traumabezogene Spieltherapie, die Hypnotherapie und systemorientierte sowie gruppentherapeutische Verfahren (Landolt 2012; Landolt/Hensel 2012).

Die evidenzbasierten Ansätze unterscheiden sich teilweise deutlich voneinander, weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf. So enthalten die meisten dieser Therapieansätze Elemente der Psychoedukation, Emotionsregulation, Exposition, Veränderung von Kognitionen, Bearbeitung von Emotionen sowie den Aufbau eines autobiografischen Kontext-Gedächtnisses in Form eines sogenannten „Traumanarrativs“ (Schnyder et al. 2015).

Bei der Behandlung von Traumafolgestörungen sind die zumeist auftretenden Begleiterkrankungen zu bedenken. Sie sollten in die Behandlungsplanung miteinbezogen werden. Gerade Menschen mit einer komplexen Traumafolgestörung profitieren häufig von zusätzlichen Behandlungsansätzen und traumaorientierter Pädagogik, die über die oben genannten Therapiemethoden hinausgehen (van der Kolk 2016). Dazu wurden beispielsweise stationäre Behandlungskonzepte, sozial-rehabilitative oder komplementärtherapeutische Ansätze wie die Kunst-, Bewegungs- und Kreativtherapien entwickelt (Maercker 2013b; Sack/Sachsse 2013). Sack und Sachsse (2013) sowie van der Kolk (2016) zählen explizit auch tiergestützte Interventionen dazu, insbesondere zur Stabilisierung und Ressourcenaktivierung von komplex traumatisierten Menschen.

2.3 Phasen der Traumatherapie

Im deutschsprachigen Raum wird die Traumatherapie häufig in drei Phasen unterteilt: Stabilisierung, Traumabearbeitung, Integration. Auch wenn empirische Studien keine Notwendigkeit einer solchen Phasenabfolge aufzeigen (Neuner 2008), ordnen wir die im Buch dargestellten unterschiedlichen Techniken ebenfalls nach diesem Schema (Kap. 7.2). Dabei erscheint uns wichtig, dass alle drei Phasen gleichermaßen zentral sind. Forschungsergebnisse zeigen, dass eine traumazentrierte Arbeit und eine Traumabearbeitung für eine erfolgreiche Behandlung meist zwingend notwendig sind (Bisson et al. 2013).

Menne und Wise (2013) wie auch der Ansatz „Trauma Systems Therapy“ für Kinder und Jugendliche (Saxe et al. 2016, 205) beschreiben gut verständlich, in welchen Fällen die Sicherheit der Betroffenen das primäre Ziel ist und nicht traumafokussiert interveniert werden sollte, in welchen Fällen zuerst die Regulationsfähigkeit und die Stabilisierung im Vordergrund stehen und in welchen Fällen direkt mit der Traumabearbeitung begonnen werden kann.

Die Phase der Stabilisierung dient dazu, die Betroffenen soweit vorzubereiten, dass eine Auseinandersetzung mit dem Trauma möglich wird. Dazu gehört zunächst die körperliche Stabilisierung: Die Betroffenen sollten keine Schmerzen haben und nicht an akutem Schlafmangel leiden. Die soziale Stabilisierung umfasst ein sicheres und möglichst stabiles Umfeld. Die affektive Stabilisierung schließlich beinhaltet, dass keine akute Suizidalität und bei der Konfrontation mit Traumastimuli keine Panikreaktion oder massive dissoziative Symptome vorkommen (Landolt 2012). Dazu werden diverse Techniken insbesondere zur Affektregulation eingesetzt (für eine Übersicht siehe beispielsweise Barnow/Lotz 2013).

Die Traumabearbeitung ist der eigentliche Kern der traumazentrierten Therapie. In dieser Phase geht es um die Reorganisation des Gedächtnisses, da dieses sich unter traumatischem Stress ändert (Schauer et al. 2011). Normalerweise werden alltägliche Ereignisse über den Hippocampus im expliziten Gedächtnis abgespeichert, zu dem wir einen bewussten und verbalen Zugang haben. Dieses wird als deklaratives Gedächtnis oder „cold memory“ bezeichnet. Es enthält Informationen über Ereignisse im Kontext von Zeit und Raum und ermöglicht das chronologische Berichten von Ereignissen. Im Gegensatz dazu werden Ereignisse, die als traumatisch erlebt werden, über die Amygdala im impliziten Gedächtnis abgespeichert, das auch als „Angstgedächtnis“ oder „hot memory“ bezeichnet wird (Ruf et al. 2012). Dieses Gedächtnis lässt sich nicht bewusst steuern. Reize, die an das vergangene traumatische Ereignis erinnern, sogenannte „Trigger“, führen zu sensorischen Erinnerungsfragmenten, die aus dem impliziten Gedächtnis stammen und nicht kontrolliert werden können. Traumatisierte Menschen erleben diese Erinnerungen als aktuell präsent und reagieren darauf, als fände das traumatische Ereignis in der Gegenwart statt (Ehlers/Clark 2000). Dieses buchstäbliche Wiedererleben, das als „Flashback“ bezeichnet wird, ist durch eine rechtshemisphärische Aktivierung der Amygdala bei gleichzeitiger Reduzierung linkshemisphärischer Prozesse zu erklären (Rauch et al. 1996; van der Kolk 2016). In starken Erregungszuständen ist die Aktivität des Präfrontalcortex reduziert, während insbesondere Regionen des limbischen Systems und des Hirnstammes aktiviert sind. Regionen wie der Hippocampus oder der mediale Präfrontalcortex, die dafür sorgen, dass Informationen adäquat gespeichert und integriert werden, sind herunterreguliert (Heim/Nemeroff 2009). Dies führt dazu, dass die Erinnerungen an traumatische Erlebnisse nicht als kohärente Erzählung organisiert werden, sondern als bruchstückhafte sensorische und emotionale Erinnerungen in Form fragmentarischer Bilder, Geräusche und Körperempfindungen (van der Kolk 2016).

Ziel der Traumabearbeitung ist es, die im impliziten Gedächtnis gespeicherten Inhalte zu kontextualisieren und dadurch mit dem expliziten Gedächtnis zu verknüpfen. Bei einigen Therapieformen wird dabei ein sogenanntes Narrativ erstellt, bei dem eine detaillierte und zusammenhängende Geschichte des Ereignisses erarbeitet wird. Es entsteht eine durchgängige Geschichte, die abgeschlossen ist und von der sich die Patienten durch die zeitliche Verortung distanzieren können. Trigger, die Wiedererlebenssymptome auslösen, werden auf diese Weise in das Narrativ eingebettet. Es wird eine Neubewertung möglich und Erinnerungen werden nicht mehr in Form von Flashbacks als gegenwärtig wiedererlebt, sondern als Teil der Vergangenheit wahrgenommen. Wichtig für diese Neuordnung ist, dass die Erinnerungen auf allen Ebenen aktualisiert und explizit gemacht werden. Dies schließt sowohl Emotionen, Kognitionen und Sensorik als auch Perzeption mit ein (Schauer et al. 2011; van der Kolk 2016).

Nach der Traumabearbeitung folgt die Phase der IntegrationMaercker 2013aMenne/Wise 2013van der Kolk 2016