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© 2019 Gabriele Reiß

Cover-Gestaltung: Julian Reiß

Buchblock-Fotos: Heike Krüger, Gabriele Reiß

Cover-Portraitfoto: Christian Hochwind, Wasserburg am Inn

Cover-Naturfotos Meraner Höhenweg, Südtirol: Heike Krüger

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7504-6282-3

Euch allen,
die sie rufen wie mich

Wohin du auch gehst,
geh mit deinem ganzen Herzen.

Konfuzius

Dieses Buch enthält eine Auswahl von Geschichten, die nach Themen, nicht nach zeitlicher Abfolge geordnet sind, und eine Spanne von achtzehn Jahren umfassen. Auf genaue Zeitangaben hat die Autorin verzichtet.

Inhaltsverzeichnis

Zeitlebens ein Gast

Unter vielen Ereignissen des Jahres 1953 gab es zwei, die die große Welt begeisterten: In der Westminster Abbey wurde Elizabeth II. zur Königin gekrönt und im Himalaya kämpften sich in einem elften Versuch der Brite Edmund Hillary und der Nepalese Tenzing Norgay in – nach heutigem Maßstab – unfassbar wenig kälteisolierender Expeditionskleidung als erste Menschen auf die Spitze des Mount Everest.

Für eine vergleichsweise winzige Welt löste abseits der Everest-Sensation und der Krönungszeremonie ein anderes Ereignis noch mehr Freude aus: In einem Gelsenkirchener Krankenhaus, Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut und dringend modernisierungsbedürftig, legte man einer jungen Wöchnerin nach langen Geburtswehen ein Mädchen in den Arm; wenn man so will, auch ein Pionierereignis – das erste Kind seiner Eltern, das erste Enkelkind seiner Großeltern.

Der Sherpa Norgay und Sir Hillary sind verstorben, Legenden auf immer. Elizabeth II., das am längsten amtierende Staatsoberhaupt der Welt, lebt in London wie eh und je. Und das kleine Mädchen? Blieb auch dort, wo das Schicksal es hingepflanzt hatte: in seiner pulsierenden Ruhrgebietsheimat.

Bis heute hat sich nichts daran geändert. Ich bin, wo ich bin, fern der Alpen. Allerdings hat das Ruhrgebiet längst seine eigenen Berge: Halden aus dem Bergbau, auf denen Wald und Wiesen grünen – Aussichtspunkte und Naherholungsorte. Die gottgeschaffenen Alpenberge mit ihren Schneegipfeln blieben mir jahrzehntelang fremd. Was sollte ich dort? Mochten sie wohl schön anzusehen sein, die Vorstellung quälender Berganstiege schreckte mich ab. Nein, ich hatte dort nichts zu suchen.

Doch man weiß, dass selten etwas bliebt, wie es ist.

Fast vierzig musste ich werden, bis die Stunde kam, in der ein Bergwanderer seine Eindrücke und Erlebnisse derart mitreißend schilderte, dass mich endlich Neugier packte. Und so machte ich mich im Jahr darauf mit Rucksack und Wanderschuhen ins Vorarlberger Montafon auf. Dort würde ich nun echte Berge kennenlernen, Berge des Rätikon mit Namen, die man ihnen zur Zeit der Romantik gegeben hatte, von denen aber einige klingen, als entstammten sie schauerlichen Sagen: Drei Drusentürme, Drusenfluh, Totalpköpfe…

Sie nahmen mich gefangen, fraßen mich mit Haut und Haar. Auf diese Berge hatte ich gewartet, ohne es zu wissen. Obwohl die Plackerei der Aufstiege noch ärger war als vermutet. Obwohl ich in meiner Eigenschaft als unbedarfte Flachlandlandtirolerin für dieses Abenteuer in jeder Hinsicht unzureichend gerüstet war. Fortan klammerte ich andere Ferienziele aus, nahm jedes Jahr ein- bis zweimal den Weg in den Rätikon oder in andere Alpenregionen. Und sie taten ihren Teil dazu, riefen und riefen, als vermissten sie mich wie ich sie.

Wenn nach schmachtender Abstinenz endlich wieder sandiger Schotter unter den Sohlen knirscht, denke ich oft an jenen ersten Tag, als ich mich, schwer atmend und mit noch unharmonisch mühsamem Schritt, in die Höhe begeben und, sprachlos vor Ehrfurcht, diese ursprüngliche, so entlegene Welt erblickt hatte. Wer bin ich, hatte ich mich gefragt – Eva? Was ich hier mit eigenen Augen sah und fühlte, übertraf alles, was ich mir vorgestellt hatte. Ich war überwältigt und hatte gleich in der ersten Stunde dieser Wanderung begriffen, dass ich wieder kommen würde.

Aber was ist schon ein Besuch im Jahr, jetzt, da ich die Berge so glühend liebte? Viel zu wenig! Natürlich hatte ich, nachdem sich meine drei erwachsenen Kinder auf eigene Füße gestellt hatten, darüber sinniert, Arbeitsstelle und Wohnort nach Süden zu verlegen, die Wurzeln auszureißen – und die Idee gleich wieder verworfen. Dann würde mir eine noch schlimmere Trennung zu schaffen machen, die von meiner Familie. Am Status quo gab es nichts zu rütteln: Das Ruhrgebiet würde mein Zuhause bleiben, die Alpen mein Sehnsuchtsort.

So reihten sich die Wandertage aneinander, entwickelte sich die Geschichte einer Liebe, die einst mit einem überfallsartigen Verlieben begann. Was ich im Gebirge erlebe, fällt auf fruchtbaren Boden. Nie hatte ich das Empfinden der Flüchtigkeit, alles fühlte sich intensiv an – jeder Kraftakt, jedes Schweigen, jedes Verweilen, jede Ausgelassenheit, jedes Geheimnis, das mir die Bergwelt offenbarte. In ihr verliere ich mich, weine nicht selten Tränen der Erschöpfung, der Demut, des puren Glücks. Lebensgefühl und Lebensschule sind mir die Berge geworden, weit mehr als ein landschaftlich beeindruckendes Urlaubsziel.

Es bedeutete mir viel, mit der Natur möglichst oft allein zu sein, weshalb ich mich entweder solo, zu zweit oder zu dritt auf den Weg machte, in den ersten Jahren mit dem jüngeren meiner Söhne. Später dann nahmen wir zu jeder Tour einen seiner Freunde mit, 1998 meinen damals siebzigjährigen Vater. Für ihn war es die erste und letzte Bergwanderung, eine Qual für die Knie, und doch erzählt er bis heute begeistert davon. Wie um dieses einzige Erlebnis zu krönen, kamen wir an einem 1. August zur Schweizer Carschina-Hütte, wo man anlässlich des Nationalfeiertags abseits des Hauses einen riesigen Kegel aus Holz aufgestapelt hatte. In der Schweiz ist es Brauch, an diesem Tag auf Anhöhen und Berggipfeln Augustfeuer zu entzünden.

In den Folgejahren war ich auf der Suche nach einer beständigen Wandergefährtin und hatte sie beinahe in Hildegard gefunden, einer besonnenen, zugleich unerschrockenen Frau. Drei Touren hatten wir miteinander erlebt und dann kamen für Hildegard Lebensumstände dazwischen, die das Begonnene beendeten.

Mit Annette, Heike II., Ulrike und meiner Tochter Annike war ich in Gebieten unterwegs, von denen in diesem Buch häufig die Rede sein wird, und mit meiner sechzehnjährigen Nichte Hannah erlebte ich zwei dreitägige Herbstwanderungen im Estergebirge. Allen bin ich dankbar, dass sie sich auf das Abenteuer Berge eingelassen hatten, die Wege mit mir rauf und runter gelaufen waren, sich den Anstrengungen und unvermeidlichen Tiefblicken gestellt hatten. Das große Sehnen hatte sie alle nicht gepackt, so dass ich nach wie vor allein auf weiter Flur stand. Wer würde mit mir gehen? Und zwar jedes Jahr?

2002 war es soweit: Es wurde das Geburtsjahr meiner bis heute dauernden Wanderfreundschaft mit Heike. Dass sie ein knappes Jahrzehnt jünger ist als ich, spielte nie eine Rolle.

Das Klettern erlernte ich nie, dazu fehlten Gelegenheit und Zeit, am Interesse hätte es mir nicht gefehlt. Meine Erfahrungen mit Steiganlagen und ausgesetztem Gelände sind gering, so dass ich ausnahmslos von Orten berichte, die auf Wanderpfaden erreichbar sind. Alle anderen, samt ihrer Zugänge über Kletterpassagen, Grate und Gletscher, bekam ich nie zu Gesicht. Sollte ich das bedauern? Ach nein. Froh über alles, was ich bislang als Kind des Ruhrgebiets in den Alpen erfahren durfte, bin ich dort zeitlebens ein Gast – eine Frau, die mit allen Sinnen die beglückenden Orte aufsaugt, die sie besucht.

Ja, der Weg von hier nach dort ist weit, sechshundert bis tausend Kilometer, je nachdem, wo sich mein Ziel befindet. Die Sehnsucht indessen überbrückt jede Distanz. Sie ist mein Schmerz, meine Chance, mein Motor. Bergnatur, Mensch und Kultur beschenken mich reich – im Tal und in dreitausend Metern Höhe, mit oder ohne Gipfel – und das erfahrene Glück klingt nach wie die Halsglocken der Ziegen, die hinter mir zurückbleiben.

Lehrjahre

Bergwandern wär‘ schön, leider bin ich nicht sportlich genug dafür – zigmal habe ich diesen Satz gehört, wobei ich nie genau weiß, was sich die Person, die ihn äußert, unter ‚sportlich‘ eigentlich vorstellt – schlank und muskulös vom Hals bis zur Fußspitze?

Das war ich noch nie. Fest steht aber auch, dass sich meine Bergpassion ohne Sport nicht hätte entwickeln können. Ich musste meine körperlichen Ressourcen erweitern, um zu tun, wonach es mich verlangte – Ausdauer und Kondition erheblich verbessern, den Rücken und meine instabilen Fußgelenke stärken, und schließlich dreizehn Jahre später der Kniearthrose entgegenwirken, die ein Arzt erstmalig diagnostiziert hatte.

Heute bin ich überzeugt davon, dass jeder Mensch seine physischen und mentalen Fähigkeiten erweitern kann, hat er erst einmal gefunden, was ihn motiviert und antreibt – nämlich seine persönliche Sehnsucht.

Als es das Wort ‚Berge‘ in meinem Vokabular zwar gab, ich aber nie eine hautnahe Begegnung mit ihnen hatte, plagten mich häufige Bronchialkrankheiten, ohne Luftnot kam ich keine hohe Treppe hinauf. Vor diesem Hintergrund wird klar, was mir die erste Gebirgstour abverlangt hatte, bei der allein die aufbrechende Begeisterung und der daraus wachsende Wille die Energie freigesetzt und mich bergan getrieben hatten. Als ich in den Monaten danach anfing, die Atmung, das HerzKreislauf-System sowie Kraft und Ausdauer zu trainieren, und mich auch in anderer Hinsicht auf das Bergwandern vorbereitete, spürte ich schon zu Hause, dass mir die nächste Tour leichter fallen würde.

Und tatsächlich: Bei den langen Aufstiegen musste ich zwar immer noch alles geben, regenerierte mich während der Pausen aber rascher, Energie strömte minutenschnell nach. Bei jeder neuen Tour übte ich mich an der Kraftdosierung des Bergaufgehens: Nur, wenn ich stetig und langsam ging, dass Verschnaufpausen kaum nötig waren, konnte ich mir gewiss sein, mein Ziel tatsächlich zu erreichen. So wurden tausend bis tausendvierhundert Höhenmeter als machbares Tagespensum zur Normalität.

Womit wir unweigerlich auf das Thema ‚Grenzen‘ und ‚Grenzverlagerung‘ kommen. Der Punkt, wo die Leistungsgrenze eines Menschen erreicht ist, ist so indivividuell wie der Umgang mit ihr. Der eine mag sie erst gar nicht berühren, der andere will es unbedingt, sucht sie zu überwinden und verschiebt sie auf diese Weise immer weiter nach hinten, mitunter in Sphären, über die ein Lichtlein wie ich nur staunen kann.

Ich habe meine eigene Antwort auf meine eigenen Bergabenteuer gefunden und mich dabei zwangsläufig mit dem Begriff ‚Bezwingen‘ befasst, der in früheren Zeiten in Bergsteigerkreisen gebräuchlich war. So erlaube ich mir, die Leistungen großer Bergsportler und Bergsportlerinnen auf die ‚harmlosen‘ Alpenberge herunter zu brechen, mit denen ich mich auseinandersetzen durfte, und damit meine ich gewiss nicht nur die Gipfel. Auch eine als leicht eingestufte Tour kann in ernsten Schwierigkeiten enden – siehe die Rettungseinsätze für Wanderer, die alljährlich in nicht lösbare Situationen geraten. Wenn von ‚Bezwingen‘ überhaupt die Rede sein kann, waren es vielmehr die Berge, die mich in die Schule schickten und im Selbstbezwingen unterrichteten, sei es auch nur mit der gebotenen Einsicht und Selbsteinschätzung den Entschluss zur Umkehr zu fassen, vielleicht sogar auf das ersehnte Ziel zu verzichten. Und es waren auch die Berge, die alle Mühe belohnten, mich ermutigten und zu neuen Herausforderungen lockten.

Allerdings war mit dem Grundfach ‚Fitness und körperliche Gesundheit‘ der Lehrplan für das Wandern in den Bergen nicht komplett. Es kam noch eine ganze Reihe von Fächern hinzu, die mir als Frau des Ruhrgebiets im Großen und Ganzen fremd waren, so dass ich quasi als Erstklässlerin in die Themen einstieg. Seitdem sind viele Jahre vergangen, mit weit mehr als tausend Alpen-Wanderstunden – und ich gehe immer noch zur Schule. Wie im Leben überhaupt, ist man mit dem Lernen im Gebirge nie fertig.

Ich musste meine Orientierungsfähigkeit und Höhentoleranz üben, lernen, Ängste positiv zu nutzen, mich in der Abgeschiedenheit der Bergpfade angemessen zu verhalten und was ich im Notfall eigenverantwortlich zu tun habe. Es galt zu erforschen, mit welchen trink- und essbaren Lebensmitteln mein Körper unterwegs gut versorgt ist, und mit welchen Dingen ich den Rucksack sinnbringend bepacke. Nach und nach eignete ich mir Kenntnisse über die Natur, über das Wetterverhalten im Gebirge, über Tiere, Pflanzen und Gesteine an, über Bewegungsvorgänge in diesen Landschaften, die auf den ersten Blick so ruhig dazuliegen scheinen. Das alles brauchte seine Zeit.

Beim Stichwort ‚Orientierung‘ möchte ich an dieser Stelle ein kleines Plädoyer für die klassische Wanderkarte halten. Sie zu entziffern ist eine aufschlussreiche, spannende Beschäftigung!

Mit Hilfe der Legende und ihrer Symbole kann ich mir ein erstaunlich gutes Bild von jeder Strecke machen. Berghütten, Almen und andere Orte, wo der Wanderer Unterschlupf finden kann, sind verzeichnet, und natürlich Seilbahnen, die die Auf- oder Abstiege kürzen. Die Karte gibt Auskunft über Entfernungen und Höhenunterschiede, über den Grad des Gefälles und der Steigungen, vermittelt einen Eindruck vom Charakter der Wege. Ich erkenne, wo sich ‚Sackgassen‘ befinden, jene Stellen, wo Wege in Steige münden. Ist man darauf nicht vorbereitet, kann eine Umkehr an einem solchen Punkt zwingend nötig sein und eine Umgehung, die womöglich mehrere Stunden beansprucht. Stattdessen ist es ratsam, bereits vor Antritt der Wanderung anhand der Karte einen Alternativplan zu entwerfen.

Abgesehen von allem in der Bergnatur nicht Planbaren, kann sie mich vor den meisten unangenehmen Erfahrungen bewahren. Für mich ist sie ein Geheimnis, das es zu lüften, eine Schatzkarte, die es zu entschlüsseln gilt.

Mit kribbelnder Vorfreude entfalte ich sie daheim am Küchentisch, beuge mich über die abstrakten Zeichen, das Muster der Linien, erschließe mit Geduld und Neugier diese Welt, bis sie im Kopf Gestalt annimmt. Ich finde eintönige Karrenwege, aufregende Gebirgspfade, denen ich in meiner Fantasie folge, erkenne Punkte, an denen die Aussicht atemberaubend sein wird, sehe mich Grasmatten überqueren, an einer Alm ankommen, den Rucksack abstellen, fühle, wie Schauer über den schweißnassen Rücken kriechen, solange die Sonnenwärme ihn trocknet. Bis zum Tag der Abfahrt habe ich die bevorstehende Wanderung etliche Male in Gedanken erlebt.

Ein Mobiltelefon befindet sich zu meiner und zur Beruhigung meiner Angehörigen im Gepäck, um gegebenenfalls einen Notruf abzusetzen – sofern ich mich vor Ort aus etwaigen ‚Funkschatten‘ hinausbewegen kann. An elektronischer Navigation bin ich beim Wandern nicht interessiert – kein Display, auf das ich starren will, und keine Computerstimme, die mich dirigieren soll. Unter anderem begebe ich mich ja in die Berge, weil ich das drängende Bedürfnis habe, mich meinem komplexen, digitalisierten Alltag zu entziehen, weshalb also sollte ich einen Teil von ihm mitnehmen? Weil die Navi-App preisgünstiger als Wanderkarten und praktischer zu handhaben ist? Für mich macht das keinen Sinn, will ich mich ja mit nichts anderem als der Bergnatur vernetzen.

Ein Navi, das mich stressfrei durch Städte leitet und mir tatsächlich ein Stück Orientierung beschert, möchte ich nicht mehr missen, aber in den Bergen brauche ich es nicht. Stattdessen habe ich meinen Spaß daran, dem digitalen Netz für kurze Zeit zu entwischen. Denn eines ist klar: Netze fangen uns auf, aber auch ein und ehe man sich versieht, lassen sie uns nicht mehr los.

Vorfreude auf Gleis Eins

Meine Reisen fangen mit dem Abschließen der Haustür an, mit dem Aufschließen enden sie. Natürlich könnte man die langen Hin- und Rückfahrten in die Alpen als unwichtig einstufen. Schade wär‘s, weil sie alles andere als bedeutungslos sind und in der Regel ein Viertel der uns für eine Wandertour zur Verfügung stehenden Urlaubstage ausmachen. Meine Wanderfreundin Heike und ich erleben unsere Art des Reisens als entspannend und abwechslungsreich – und damit ist nicht der Unterhaltungswert gemeint, den stundenlanges Ausharren im Stau hat.

Unser bevorzugtes Transportmittel ist die Bahn.

Unvollkommen und mehr oder weniger oft deutschuntypisch unpünktlich, fügt sie sich mit ihrer eigenwilligen Art zäh in unsere streng getakteten Tagesabläufe – und ist für mein Empfinden doch so liebenswert. Ja, ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für unsere viel geschimpfte Bahn brechen, die mich vom ersten Tag an Jahr für Jahr in die Alpen bringt und dabei Muße im Überfluss schenkt, mich einzustimmen auf meine rar gesäten, kostbaren Zeiten in den Bergen.

Keine Bahnfahrt ist wie die andere. Von Anfang an bin ich als Reisende nicht nur auf Verzögerungen, auch auf unerwartete Ereignisse eingestellt, auf die gratis dazu gelieferten Geschichten. Die Welt der Bahn ist nämlich prädestiniert dazu, sie führt das große bunte Leben mit sich, das ich auf der Fahrt nach Süden auf mich wirken lasse. Züge stoppen auf Bahnhöfen, Türen öffnen sich – wer mag, fährt weiter oder steigt aus, um an Ort und Stelle ein neues Leben zu beginnen.

Heike und ich kommen gerne mal zu spät, eine Eigenschaft, die ausgesprochen ungünstig ist, wenn es um das Erreichen eines Zuges geht. Die Bahn hat nun mal das alleinige Recht, sich zu verspäten. Wir Fahrgäste müssen pünktlich auf dem - richtigen - Bahnsteig warten, denn wenn der Zug kommt, dann kommt er, und auf zwei trödelnde Freundinnen wird keine Rücksicht genommen. Ich gebe zu, dass wir den Regionalzug in unserer Heimatstadt schon verpasst haben, den ICE in Essen noch nie. Dort bleibt uns sogar eine halbe Stunde Zeit für Einkäufe. Heike ist immer ganz wild auf ein Buttercroissant vom Bäckerstand X, an anderer Stelle kauft sie ritualmäßig einen Salat und eine Frauenillustrierte.

Und dann stehen wir mit unseren großen Rucksäcken auf dem Bahnsteig. Wir können nicht anders, lächeln uns immerfort an. Mein Herz freut sich wie das eines Kindes - bald bin ich da, dann sehe ich sie wieder, die hellblaue Skyline der Berge! Meine Hand tastet nach hinten, an die Seite des Rucksacks, wo die Wanderstöcke unter den Schlaufen festgezurrt sind. Bald werde ich das Klack-Klack hören, dieses liebgewonnene Geräusch, das mir während des Gehens den Takt vorgibt.

Überraschend leise rauscht er heran, unser kraftstrotzender, Ehrfurcht gebietender Intercity-Express, König auf Deutschlands Schienen. Selbst, wenn er sich verspätet, kann ich nicht umhin, ihm, der Marathonläufer und Sprinter zugleich ist, Respekt zu zollen.

Fahrgäste verlassen den Zug. Wir warten, bis sie mitsamt Gepäckstücken auf dem Bahnsteig stehen, steigen dann ein. Sogleich empfängt uns die mittlerweile recht abgegriffene Eleganz der Inneneinrichtung eines Hochgeschwindigkeitszuges, der sich nach wenigen Minuten Halt erneut in Bewegung setzt, aus dem Bahnhofsgebäude gleitet und sofort beschleunigt. Schneller und schneller zischt die Landschaft vorbei, auf der Anzeige unterm Wagendach klettert die Zahl, nähert sich der Zweihundert.

Wir arbeiten uns zu unseren reservierten Plätzen vor.

Heikes ist leer, auf meinem sitzt ein hübscher junger Mann mit zart sprießendem Barthaar, lockiger Frisur und Kopfhörern auf den Ohren.

„Entschuldigen Sie, der Platz ist für mich reserviert“, sage ich freundlich und deute auf das Anzeigetäfelchen über ihm. Seine Miene drückt Enttäuschung aus. Ich unterstelle ihm nicht, dass er mir Übles gewünscht hat, aber für ihn wäre es eindeutig von Vorteil gewesen, wäre ich krank oder verstorben. Etwas verlegen entschuldigt er sich und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn verscheuche, mir eine Platzreservierung leisten kann und er womöglich nicht. Noch schlechter fühle ich mich, als er folgsam die Kopfhörer abnimmt, seine Siebensachen packt und sich davontrollt.

Es ist kurz nach acht. Frühstückszeit.

Das Croissant schmeckt tatsächlich nach Butter, auch der Kaffee ist gut, die Bequemlichkeit der Sitze, unsere Stimmung. Meine Wanderfreundin kramt in ihrer Tasche, kurz darauf zischt es, als sie zwei Piccolos öffnet und einschenkt. Ich habe das Handy noch nicht ausgeschaltet und jetzt kommt eine WhatsApp an. Von meiner Tochter. Sie schickt ein Kuss-Emoji, wünscht uns eine gute Reise und Morgen eine herrliche Wandertour. Ich danke ihr und schicke einen Kuss zurück. Ohne Frage, mein Taschencomputer hat auch seine Sonnenseiten.

Der Zug läuft am Fuße des Doms in den geschichtsträchtigen Kölner Hauptbahnhof ein. Ein Herzschlagort, an dem sich für kurze Zeit die Leben unzähliger Menschen kreuzen - Knotenpunkte im Netz der Beziehungen. Zeit für Beobachtungen.

Auf dem Bahnsteig wird geküsst und geschmust, hält man sich umfangen und will sich nicht trennen. Oder jemand kommt heim oder nach langer Zeit zu Besuch, stürzt in die ausgebreiteten Arme eines anderen. Hier flüchtiges Verabschieden ohne Handschlag, dort markiges Schulterklopfen. Unter meinem Fenster treffen ein junger und ein älterer Mann aufeinander. Ihre Blicke sind ernst, nein, traurig, der ältere zieht ein Taschentuch hervor, hebt es an die Augen. Sie entfernen sich in Richtung Bahnsteigausgang, ich sehe, wie der jüngere Mann die Hand auf den Rücken des älteren legt.

Kinder werden an den Händen gehalten, fern der Bahnsteigkante. Ein kleiner Junge reißt sich los, macht Anstalten, wegzulaufen. Seine Mutter stürzt ihm nach, bekommt ihn zu fassen und reißt ihn unsanft zu der Stelle zurück, wo das Gepäck steht. Dort schreit sie ihn aufgebracht an, redet eindringlich auf ihn ein. Sie wird ihn doch nicht ohrfeigen? Nein, zum Glück nicht. Verstockt steht er da, sein kleines Gesicht spricht Bände, er würde wieder weglaufen, ließe sie seine Hand los.

Eine blutjunge, blasse Frau hält ihr ebenso blasses Mädchen auf dem Schoß, flüstert ihm etwas ins Ohr, worauf es zaghaft lächelt. Geschäftsreisende eilen an meinem Fenster vorbei, eine perfekt geschminkte Frau im dunkelblauen Business-Kostüm hastet mit kunstvoller Behändigkeit auf High-Heels zur Treppe, den Trolley hinter sich herziehend. Zwei männliche Dienstreisende stehen wartend – flüchtige Blicke zur Uhr, ein dritter sitzt mit aufgeklapptem Notebook auf der Bank. Für viele Fahrgäste wird Frankfurt Flughafen der Zielbahnhof sein.