Der Autor

Dan McCrum – Foto © Financial Times

Dan McCrum ist seit 2007 Teil des Investigativ-Teams der Financial Times. Für seine Wirecard-Reportage hat er zahlreiche Journalistenpreise erhalten, u.a. den Deutschen Reporterpreis, den Helmut-Schmidt Journalistenpreis sowie den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik.

Das Buch

In fünfzehn Jahren als Journalist der Financial Times hat Dan McCrum schon viele Storys recherchiert und aufgeschrieben, aber diese hier ist seine eigene. Sie packte ihn und ließ ihn nicht mehr los, bis sein Leben auf den Kopf gestellt war – ein Abenteuer voller Lügen, Spione und schmutzigen Geldes. Mehr als einmal dachte er, dass seine Karriere am Ende sei. Er träumte mit Schrecken davon, die Tür zu öffnen und auf Blaulicht und Uniformen zu blicken, und er feilte an Erklärungen für den Tag, an dem die Polizei tatsächlich vor ihm stehen würde.

Als der Skandal sich ausweitete, sprangen Wirecard deutsche Institutionen zur Seite. Unabhängige Zeitungen, aalglatte Banker, reiche Investoren, teure Wirtschaftsprüfer, professionelle Aufsichtsbehörden und gefürchtete Staatsanwälte sahen sich den ungleichen Kampf an und kamen zu dem Schluss, dass Dan McCrum es war, der sich irrte und möglicherweise korrupt war. Ein kaum bekannter Reporter aus London hatte ihnen zufolge die Seiten der Financial Times für einen Rachefeldzug gegen eines der erfolgreichsten Technologieunternehmen Europas gekapert. Wie der Fall Wirecard tatsächlich begann und was niemand sonst berichten könnte, finden Sie in McCrums unvergleichlicher True-Crime-Reportage.

Dan McCrum

House of Wirecard

Wie ich den größte Wirtschaftsbetrug Deutschlands aufdeckte und einen Dax-Konzern zu Fall brachte

Aus dem Englischen
von Ulrich Mihr

Ullstein

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www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Money Men. A Hot Startup, A Billion Dollar Fraud, A Fight for the Truth bei Transworld Publishers, London.

ISBN 978-3-8437-2592-7
© der Originalausgabe
Transworld Publishers, London 2022
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Redaktion: Michael Schickerling, schickerling.cc, München
Umschlaggestaltung: FHCM® Designagentur, Berlin
Autorenfoto: © Financial Times
Umschlagmotiv: © Jorge A. Godoy, Designer @ Kunai
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Widmung

Für Charlotte

Vorwort zur deutschen Ausgabe

»Wir kannten Sie nur als den Teufel«, sagte ein ehemaliger Mitarbeiter, nachdem die Aufregung um seinen früheren Arbeitgeber Wirecard sich endlich gelegt hatte. Ich schüttelte mir den Münchner Schnee von den Schuhen, als er mich mit frisch gebackenen Brezeln in seinem Haus empfing. Wir wollten darüber sprechen, wie er so lange getäuscht werden konnte und was alles getan worden war, um Wirecard an die Spitze der deutschen Wirtschaft, in den DAX 30, zu bringen. Er war, wie so viele Menschen im Land der Dichter und Denker, denen ich seit der Aufdeckung des Betrugs begegnet bin: herzlich, offen, selbstkritisch und ein wenig beschämt über die vergangenen Ereignisse.

Die Geschichte, die Sie nun in den Händen halten, musste ich erzählen – ich hatte keine andere Wahl. In fünfzehn Jahren als Journalist der Financial Times habe ich schon viele Storys recherchiert und aufgeschrieben, aber diese hier ist meine eigene. Sie ist persönlich und wirklich besonders. Sie packte mich am Kragen und ließ mich nicht mehr los, bis mein Leben auf den Kopf gestellt war – ein Abenteuer voller Lügen, Spione und schmutzigen Geldes. Mehr als einmal glaubte ich, meine Karriere sei am Ende. Es gab unglaubliche Momente, in denen ich dachte, dass die Welt da draußen sie niemals wahrnehmen würde. Zeitweise behandelte ich mein Smartphone wie einen Feind, ein potenzielles Abhörgerät. Ich träumte mit Schrecken davon, die Tür zu öffnen und auf Blaulicht und Uniformen zu blicken, und ich feilte an Erklärungen für den Tag, an dem die Polizei tatsächlich vor mir stehen würde.

Eines der merkwürdigsten Dinge an dieser Geschichte voller ebenso seltsamer wie wunderbarer Charaktere ist: Es war ein anderes Land, das alles auf den Kopf stellte. Ich forderte ein deutsches Unternehmen heraus, Wirecard, indem ich zunächst in meinen Artikeln fragte, ob die veröffentlichten Bilanzen überhaupt schlüssig waren, und dann anhand der Aussagen von Whistleblowern darüber berichtete, was wirklich im Inneren des Konzerns geschah. Als der Skandal sich ausweitete, sprangen ihm deutsche Institutionen zur Seite. Jedes außergewöhnliche Detail wurde wegdiskutiert. Unabhängige Zeitungen, aalglatte Banker, reiche Investoren, teure Wirtschaftsprüfer, professionelle Aufsichtsbehörden und gefürchtete Staatsanwälte sahen sich den ungleichen Kampf an und kamen zu dem Schluss, dass ich es war, der sich irrte und möglicherweise korrupt war. Ein kaum bekannter Reporter drüben in London hatte die Seiten der FT für einen Rachefeldzug gegen eines der erfolgreichsten Technologieunternehmen Europas gekapert.

Über das Wie, das Wann und ein Teil des Warums ist inzwischen etliches bekannt. Der Wirecard-Skandal entwickelte sich aus kleinen und großen, sich steigernden Unfällen. Ordnungswidrigkeiten und Geschäfte im Graubereich wurden zu zunächst kleinen, wenig greifbaren Straftaten. Anzugträger verschoben Geld über unterschiedliche Rechtssysteme, die Annehmlichkeiten sowie Diskretion versprachen – Deutsche brachen in Deutschland keine Gesetze. Doch dann wurde ein junges österreichisches Wunderkind, Jan Marsalek, über seine Fähigkeiten hinaus befördert, zumindest mit Blick auf die legale Geschäftswelt.

Noch als die krummen Geschäfte größere Dimensionen annahmen, als Hunderte von Millionen und dann Milliarden Euro von Investoren und Banken gestohlen wurden, galt Wirecard als seriös. Im Zweifel vertraute man dem Unternehmen, unterstützt durch den beruhigenden Sog der Gier. Die Anleger sahen, was sie sehen wollten – eine Geldmaschine –, und wurden dafür belohnt. Der stetig steigende Aktienkurs bestätigte sie. Wir stellen uns Betrüger als Hütchenspieler an der Straßenecke vor oder als charismatischen Charmeur, der einem reichen amerikanischen Touristen den Eiffelturm verkauft. Was Wirecard jedoch missbrauchte, war das moderne Gesellschaften prägende Vertrauen. Deutschland hat eine gut funktionierende Wirtschaft, in der es die absolute Ausnahme ist, sich ins Gesicht zu lügen.

Dass ein Anleger an der Börse jedes potenzielle Investment argwöhnisch prüft oder ein Banker jeden Standort eines Unternehmens, das einen Kredit aufnimmt, besucht, wäre genauso sinnvoll, als würde sich der Käufer eines Liters Milch nach dem Gesundheitszustand der Kuh erkundigen. Diese Art von Milliardenbetrug ist nur möglich durch den Missbrauch dieses Vertrauens, ohne das Gesellschaft und Wirtschaft nicht funktionieren können. In seiner farbenfrohen Geschichte der Betrügereien Lying for Money hat Dan Davies es so formuliert: »Wirtschaftskriminalität funktioniert meist durch die Manipulation der institutionellen Psychologie. Man schafft etwas, das weitestmöglich wie eine normale Folge von Transaktionen aussieht. Das Drama kommt später, wenn sich alles auflöst.« Immer wieder ist deutlich geworden, dass alles viel früher hätte aufgeklärt werden können, wenn nur jemand, irgendjemand, die Fakten überprüft hätte.

Was bei Wirecard – wo das Drama früh begann und stetig eskalierte – auffällt, sind die vielen Versuche, diese Fakten durch externe Beobachter zu überprüfen, sowie das Versagen der mit der Kontrolle betrauten Institutionen. Ernst & Young prüfte ein Jahrzehnt lang die Abschlüsse von Wirecard. Eine der kleinen Erkenntnisse beim Lesen durchgesickerter interner Wirecard-E-Mails war, dass sich 2015 jemand in der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die detaillierten Fragen, die ich an EY geschickt hatte, genauer ansah und das Finanzteam von Wirecard dazu befragte. Es schien jedoch nichts zu bewirken. Darüber hinaus haben Whistleblower, Investoren und das US-Justizministerium zu unterschiedlichen Zeitpunkten versucht, die Börsenaufsicht BaFin oder die Münchner Staatsanwaltschaft für die mutmaßlichen Straftaten bei Wirecard zu interessieren – ohne Erfolg. Immer wieder wurden Gelegenheiten verpasst, die Fassade einzureißen.

Selbst ich muss mich zu denen zählen, die sie verpasst haben. Die Geschichte von Wirecard ist eine nicht glattgebügelte Abfolge von Fehlern, auch von meinen, und stellt eine harte Lektion dar. Wirecard schaffte es, ausländische Spekulanten, insbesondere die anonymen, zu dämonisieren, um das Establishment hinter sich zu scharen. Warum die Verschwörungstheorien und die fingierten Geschäfte bei den Reichen und Mächtigen so viel Anklang fanden, müssen andere beantworten. Ich kann nur zeigen, wie sich die Ereignisse entwickelt haben. Wenn meine Geschichte von einer ständigen Verwunderung über die vorgefundene Art der Regeln, Institutionen und Haltungen geprägt ist – ich war ja immer ein naiver Reisender –, dann nur, um über die unterschiedlichen Hindernisse verglichen mit meiner Heimat zu staunen, um sie ins Licht zu rücken, nicht aber, um sie als minderwertig zu verurteilen. Diese Bildungsreise setzte sich für mich fort, als das Manuskript für dieses Buch ins Deutsche übersetzt wurde. Als Journalist bin ich darauf trainiert, Londons Gerichtsbarkeit in Sachen Verleumdung zu vermeiden, und entdeckte, dass die deutsche Variante ein wenig anders funktioniert. Es gibt deshalb einige kleine Änderungen in der deutschen Fassung. Vor allem wurden weitere Fußnoten aufgenommen, um die Statements der Hauptakteure wiederzugeben, außerdem wurden einige Beteiligte anonymisiert.

Deutschland war mit seiner Unterstützung von Wirecard nicht allein. Die zahlreichen Londoner Wegbereiter – die grimmigen Anwaltskanzleien, die schlüpfrigen Privatdetektive, die PR-Spindoktoren, die Banker und die Berater – waren hocherfreut, das Geld des Unternehmens einzusacken. Es gibt einen Grund, warum Oligarchen und die Großfamilien von Despoten die Stadt an der Themse seit Langem als willkommenes Zuhause empfinden. Das Vereinigte Königreich hat auch eine bemerkenswerte Geschichte, was die strafrechtliche Verfolgung von Finanzbetrug nach aufgedeckten Bilanzierungsproblemen angeht, und eine umfassende öffentliche Untersuchung eines pleitegegangenen Unternehmens ist praktisch unbekannt.

In dieser Hinsicht war Deutschland ungewöhnlich hartnäckig in seinem Bestreben, die Lehren aus den vergangenen Geschehnissen zu ziehen. Nachdem ich viele Monate damit verbracht hatte, mich zu fragen, ob ich bei einer Bayern-Reise eine Verhaftung riskieren würde, war es surreal, im November 2020 in den Bundestag eingeladen zu werden, um an einer parlamentarischen Untersuchung teilzunehmen und als Experte befragt zu werden. Ein wenig später wurde ich von Olaf Scholz gelobt, der als damaliger Finanzminister den Regulierungsapparat beaufsichtigte, der mich verfolgt hatte. Er dankte mir für »große Verdienste um den Rechtsstaat«, als er mir den Sonderpreis des »Deutschen Reporterpreises« überreichte. Die lange, gründliche und erschöpfende öffentliche Untersuchung deutet auf die Bereitschaft hin, Lehren aus dem Fall Wirecard zu ziehen – eine Zielstrebigkeit, von der ich nur hoffen kann, dass sie zur Beseitigung der Schwachstellen genutzt wird, die den Betrug erst ermöglicht haben.

Bezogen auf Lektionen, die mein neuer Freund und ich an jenem kalten Tag in München miteinander besprachen, so wurde mir als Reporter beigebracht, eher zu zeigen, als zu erzählen. Dieses Buch ist die Geschichte von Wirecard, dessen unglaublichem Aufstieg sowie dessen Kampf mit der FT, der zum Untergang des Unternehmens führte. Ich bin froh, dass so viele davon Betroffene dieses Buch auf Deutsch lesen können. Am wichtigsten ist vielleicht, dass am Ende die Wahrheit zählte, die nicht weggewischt oder unterdrückt werden konnte. Aber, wie Sie sehen werden: Es war eine knappe Angelegenheit.

Dan McCrum im April 2022

Akteure

Wirecard

Markus Braun: Vorstandsvorsitzender und ab 2007 Hauptaktionär. Hat eine Schwäche für schwarze Rollkragenpullover.


Jan Marsalek: Wunderkind, das zum Vorstand fürs operative Geschäft avancierte. Fan von Jiu-Jitsu und militärischer Taktik, hat Kreditkarte aus echtem Gold.


Burkhard Ley: Finanzvorstand von 2006 bis 2017. Leidenschaftlicher Tänzer.


Hamid »Ray« Akhavan: Kalifornischer Porno-Baron, Freund von Jan Marsalek, Wirecard-Geschäftspartner. Unterhielt ein persönliches Waffenlager in Calabasas, Kalifornien.


Paul Bauer-Schlichtegroll: Unternehmer, Pornograf, Gründer der Firma Electronic Billing Systems, Wirecard-Eigentümer von 2002 bis 2005, Mitglied des Aufsichtsrats bis 2009. Auch bekannt als »Disco-Paule«.


Christopher Bauer: Bustouren-Veranstalter und langjähriger Wirecard-Geschäftspartner, beteiligt an Ashazi Services in Bahrain und PayEasy Solutions auf den Philippinen. Mitglied der Motorradgang Iron Cross Sons.


Oliver B.: Früher Wirecard-Angestellter. Abstinent lebender Rennfahrer, der zum Geschäftsführer der größten Wirecard-Niederlassung wurde, CardSystems Middle East in Dubai.


»Colin«: Freund von Jan Marsalek, den er kennenlernte, als dieser auf der Terrasse der Münchner Diskothek Pacha mit Markus Braun Champagner schlürfte. Betrieb das Reiseunternehmen Goomo in Mumbai, Indien.


Simon Dowson: Produzent von Dokumenten, führte Brinken Merchant Incorporations in Consett, County Durham, Großbritannien.


Andrea Görres: Rechtsanwältin, Chefjustiziarin. Wirecard-Angestellte Nummer 13.


Pav Gill: Rechtsanwalt, Wirecard-Justiziar für Asien, Operationsbasis Singapur. Ein Produkt der Entschlossenheit seiner alleinerziehenden Mutter.


Detlev Hoppenrath: Wirecards erster CEO. Ein vertrauensvoller Techniker.


Dietmar Knöchelmann: Geschäftsmann, der 2007 die Firma G2Pay an Wirecard verkaufte und sie dann noch ein weiteres Jahr leitete.


Alexander von Knoop: Wirtschaftsprüfer, Wirecard-Finanzvorstand von 2018 bis 2020.


Edo Kurniawan: Workaholic und Chefbuchhalter von Wirecards Asian Finance Team, Singapur. Brüstete sich gern damit, das von anderen hinterlassene Chaos aufzuräumen.


Henry O’Sullivan: Geschäftsmann, öffentlichkeitsscheuer Dealmaker, lärmender Unterhalter, begeisterter Sportschütze und Freund von Jan Marsalek.


Ramu und Palani Ramasamy: Brüder. Die ursprünglichen Eigentümer der indischen Firma Hermes i-Tickets, die 2015 von Wirecard gekauft wurde. Bekannt als »The Boys«.


»Herr Samt«: Spindoctor, Jan Marsaleks persönlicher PR-Guru. Lego-Enthusiast.


Simon Smaul: Vertriebschef für G2Pay in Dublin, Irland. Verließ Wirecard 2010, um eine unabhängige Partnerfirma zu betreiben. Autofanatiker.


Rüdiger Trautmann: Verkäufer, Wirecard-Vorstand fürs operative Geschäft von 2005 bis 2009; dann ging er, um Präsident des Wirecard-Konkurrenten Inatec Payment zu werden. Plappermaul.


Spione

Andrey Chuprygin: Russe. Ehemaliger Oberst, Akademiker an der Wirtschaftshochschule Moskau, spezialisiert auf Libyen.


Hayley E.: Brite. Privatdetektiv. Ex-MI5.


Rami El Obeidi: Libyer. Ehemaliger Chef des Auslandsgeheimdiensts der Übergangsregierung von Libyen. Stammgast des Dorchester Hotels in London.


Grey Raynor: Brite. Seine Firma APG Protection war an mehreren Überwachungsoperationen beteiligt. Aus Manchester.


Shortseller und Analysten

Carson Block: Aktivistischer Shortseller (Leerverkäufer) mit Operationsbasis San Francisco. Brachte Sino-Forest und den im Aktienindex FTSE 100 gelisteten Gesundheitskonzern NMC Health zu Fall. Betrieb früher einen Selfstorage-Anbieter in Schanghai.


Matthew Earl: Blogger und Shortseller, der hinter dem 2016 veröffentlichten Zatarra Report steckte. Idealistischer, von Hackern schikanierter Kämpfer.


John Hempton: Australischer Geschichtenerzähler. Betreiber des Hedgefonds Bronte Capital Management.


Eduardo Marques: Brasilianischer Shortseller bei Valiant Capital Management, San Francisco. Prototyp eines Hedgefonds-Managers.


Heike Pauls: Analystin, Commerzbank. Ein Wirecard-Fangirl.


Fraser Perring: Mitgründer von Zatarra Research & Investigatitions. Ein entlassener Sozialarbeiter, der zum Trader wurde.


Leo Perry: Investor von Ennismore Fund Management, London. Früher Shortseller von Wirecard-Aktien. Stiller Bewunderer von Bilanzbetrug.


Banditen1

Nick Gold: Bandit, Geschäftsführer und Miteigentümer von The Box Soho, Cabaret und Nachtclub in London.


Gary Kilbey: Bandit, Eigentümer des Nachtclubs Fabric in London, geheimer Informant von Paul Murphy.


Tom Kilbey: Bandit, Sohn von Gary, ehemaliger Profi-Fußballer und Reality-TV-Star.


Financial Times

Lionel Barber: Chefredakteur. »Lionel the Movie«.


Nigel Hanson: Justiziar. Sorgfältiger, rigoroser, knallharter Typ.


Sam Jones: Investigationsteam. Kennt sich aus mit Spukgeschichten und russischer Literatur.


Cynthia O’Murchu: Investigationsteam. Hat einen sicheren Instinkt für belastende Dokumente.


Paul Murphy: Gründer von FT Alphaville. Weiß, was ein Geschäftsessen wert ist.


Stefania Palma: Korrespondentin in Singapur. »Donna Stefania«.

Prolog

Ende 2018 und Anfang 2019 hatte ich zwei Monate wie ein Eremit in einem Bunker an einer Seite des Newsrooms der Financial Times zugebracht. Ich hatte »off the grid« gearbeitet, abseits vom Netz und außerhalb der Reichweite von Hackern; jeden Abend hatte ich meinen Offline-Computer und meine Notizhefte in einen Tresor mit 15 Zentimeter dicken Stahlwänden weggeschlossen. Doch die Paranoia nahm ich mit mir nach Hause, beäugte andere Pendler mit Argwohn und achtete auf Anzeichen dafür, dass ich überwacht würde, denn ich wusste, dass meine Informanten unter Beobachtung standen. Sie waren nervös und ungeduldig, und dann wurde eine von ihnen krank. Sie hatte gedacht, es sei Stress, doch der Arzt hatte schlechte Nachrichten: Es sehe aus wie ein Hirntumor. Würde ihr noch genug Zeit bleiben, um Gerechtigkeit zu erleben?

Mit gesenktem Kopf erwartete ich das Urteil des Chefredakteurs Lionel Barber. Wir saßen in seinem Büro im ersten Stock des FT-Gebäudes in London, direkt an der Themse mit Blick über die Southwark Bridge. In diesem Raum schwang er anfeuernde Reden oder machte Leute zur Sau. Ich saß mit dem Rücken zum Fluss und blickte auf ein Foto, das Barber mit Imran Khan – einem ehemaligen pakistanischen Profi-Kricketspieler, der zum Politiker mutiert war – beim Kricket zeigte, während ich versuchte, meinen nervös wippenden Fuß unter Kontrolle zu bringen. Barber war ein beliebter und respektierter Journalist und bekannt als Namedropper. Er hatte sich den Spitznamen »Lionel the Movie« erworben, weil er dazu neigte, sich in den Mittelpunkt dramatischer Ereignisse zu stellen. Er war ein geselliger und begeisterungsfähiger Typ, wenn alles gut lief – aber wenn nicht, war er kleinkariert und bissig.

Draußen war es dunkel, der Tag ging zu Ende, die internationale Ausgabe der Zeitung war fast fertig, und Barber hatte Zeit, uns zu treffen. Ich beobachtete ihn in seinem Anzug, mit Krawatte und Joggingschuhen, einer bloßen Andeutung von Grau an den Schläfen und Lesebrille auf der Nasenspitze, während er die Story mit einem Füller redigierte und in strengem Ton Korrekturen und Ergänzungen vorlas. Als er fertig war, hielt er einen Moment inne und wog das Manuskript in seinen Händen.

»Dieser Whistleblower – ich will seinen Namen nicht wissen, aber wer ist er? Er erwartet von mir, dass ich den guten Ruf der Financial Times aufs Spiel setze.« Er stieß mit spitzem Finger auf den Text. »Sagen Sie mir, warum ich ihm vertrauen sollte.«

Selbst hier im Allerheiligsten zögerte ich, Details zu nennen. Das Objekt unserer Recherchen war ein renommiertes Tech-Unternehmen, und manch ein Kritiker des Konzerns hatte zu seinem Leidwesen feststellen müssen, dass Hacker seine privaten Textbotschaften und E-Mails im Internet gestreut hatten. In diesem Raum gab es keine Mobiltelefone, eine Vorkehrung gegen elektronische Lauschangriffe. War es möglich, dass der Raum verwanzt sein könnte?

Ich atmete einmal tief durch. »Er ist Anwalt, und er riskiert seine Karriere und seine persönliche Sicherheit, indem er mit uns spricht. Er will das Richtige tun, und ich glaube ihm, aber das Entscheidende ist, dass wir nicht darauf angewiesen sind, ihm zu glauben. Wir haben die Dokumente.« Ich hatte hieb- und stichfeste Beweise für jeden einzelnen Aspekt dieser Story, und so berief ich mich auf die Fakten und zählte Details auf. Barber hörte konzentriert zu.

Zu meiner Linken saß Paul Murphy, ein altgedienter FT-Redakteur, der mich in dieser Sache auf jedem Schritt des Weges begleitet hatte. Was wir vermuteten, aber nicht mit Sicherheit wussten, war, dass Barber seine eigene Uhr ticken hatte. Es waren Gerüchte im Umlauf, dass er kurz davorstand, in den Ruhestand zu gehen; was wir als Nächstes tun würden, konnte sein Vermächtnis krönen – oder es komplett ruinieren, falls wir falschlagen. Als Paul sah, dass Barber mit den Augen rollte, da ich mich wieder einmal allzu sehr in Details verlor, unterbrach er mich und kam direkt zur Sache. »Wissen Sie, selbst die eigenen Anwälte der Firma glauben, dass sie Betrüger sind, ohne Zweifel. Wir haben es schwarz auf weiß.«

Instinktiv vermied er es, den Namen der Firma auszusprechen, als ob dessen Nennung sie plötzlich wie Lord Voldemort erscheinen lassen würde. Es war ein unausgesprochener Aberglaube, dem Murphy und ich uns verschrieben hatten, um nicht eventuellen Lauschern ein Stichwort zu liefern und ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Wir sprachen immer nur von »The Company« oder, im Kontext dieser Recherchen, von »Ahab«; ich war der Firma so lange auf den Spuren gewesen, dass sie zu einem Running Gag im Newsroom geworden war – einem großen weißen Wal, den ich nicht entkommen lassen konnte, wie seinerzeit Kapitän Ahab in Herman Melvilles Abenteuerroman Moby Dick. Was ich mit Sicherheit wusste, war Folgendes: Die Firma hieß Wirecard. Sie hatte etliche Milliarden Euro an der Börse eingesammelt, als Europas Antwort auf PayPal, ein Bezahldienst, der Provisionen kassiert auf Online-Zahlungen in Höhe von vielen Billionen Euro, die jedes Jahr durchs Netz strömen. Doch die Wahrheit war viel bemerkenswerter: Die Firma war von einem Porno-Magnaten an die Börse gebracht worden und hatte mittlerweile Dutzende von Tochtergesellschaften weltweit, von denen manche gar kein aktives Geschäft zu betreiben schienen; Kritiker der Firma waren von Hackern angegriffen, gestalkt oder körperlich bedroht worden. Überall blinkten rote Alarmsignale, und dennoch schworen viele Aktienanalysten Stein und Bein, dass der Kaiser prächtig gekleidet sei – soeben hatte die Firma am Aktienmarkt sogar die Deutsche Bank überholt. Wirecards milliardenschwerer Vorstandsvorsitzender, neudeutsch CEO, und Hauptaktionär wurde als technologischer Visionär gefeiert, Wegbereiter einer Zukunft, in der es keine Banknoten und Münzen mehr geben und alles Geld digital sein würde.

Am Anfang fiel es mir schwer, dem Anwalt der Financial Times zu erklären, was Wirecard eigentlich war, doch im Lauf von fünf Jahren investigativer Recherche wurde mir klar, dass dahinter System steckte. Niemand, weder die Investoren noch die zuständigen Aufsichtsbehörden, verstanden wirklich, was sich in der Firma abspielte. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass Wirecard von österreichischen Gangstern betrieben wurde, die aus unerfindlichen Gründen von deutschen Behörden nicht gestoppt wurden. Sie wateten knietief in einem Sumpf der schlimmsten Formen von Porno, illegalem Glücksspiel und Online-Betrügereien. Ihre hohen Tiere schienen mit Warlords, Spionen und Söldnern unter einer Decke zu stecken. Endlich hatte ich Beweise dafür, dass irgendetwas in der Firma oberfaul war – ein Dokument, das mir den Atem stocken ließ, als ich es zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Auf jeder Seite stand oben eine nachdrückliche Warnung: »Rechtlich geschützt und streng vertraulich. An einem geheimen und sicheren Ort aufbewahren. Es ist nicht gestattet, dieses Dokument zu kopieren oder es Dritten zugänglich zu machen.« Es war der kühnste Traum eines jeden Investigativreporters – ich wusste, dass nur wirklich brisante Sachen in den Genuss einer solchen Behandlung kommen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich auf das Display meines Smartphones und überflog das Inhaltsverzeichnis des Dokuments, abgefasst in Großbuchstaben. Zuerst kam eine Folge von seltsam klingenden Firmennamen, aber dann sprangen einzelne Worte hervor: BILANZBETRUG; FÄLSCHUNG; KORRUPTION; GELDWÄSCHE. Es war unglaublich. Mir wurde schwindelig; seit Monaten hatte ich darauf hingearbeitet, genug Selbstgewissheit aufzubauen, um diese Worte in gedruckter Form zu veröffentlichen.

Ich schlug in die gleiche Kerbe wie Murphy. »Ihr ganzes Geschäft besteht darin, Geld um die Welt zu schicken. Sie haben ihre eigene Bank, die sich ins internationale Finanzsystem eingeschlichen hat. Sie tun so, als ob sie eine blütenweiße Weste hätten.«

Barber nickte. Er drehte sich zur vierten Person am Tisch, Nigel Hanson, einem spöttischen Anwalt in Hemdsärmeln, der in einem dicken Ordner alles, was gesagt wurde, detailliert notierte. Er hatte die Geschichte mit größter Sorgfalt auf eventuelle juristische Probleme durchkämmt, und bei jedem Durchgang fand er einen neuen Stolperstein, der aus dem Weg geräumt werden musste – ein unbedachtes Wort, das einem der gefürchtetsten juristischen Kettenhunde Londons, der Kanzlei Schillings, etwas gab, woran er sich festbeißen konnte. Hanson wirkte manchmal ein bisschen gequält, wie der heldenhafte Verteidiger der Financial Times, und nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um allzu kantige Formulierungen ein bisschen zu entschärfen, soweit das möglich war. Barber vertraute ihm. »Wie hoch ist das juristische Risiko?«

Hanson legte seinen Stift beiseite. Ausnahmsweise wirkte er entspannt. »Im Hinblick auf eine Verleumdungsklage haben wir starke Argumente: solide Beweise, ein klares öffentliches Interesse und die begründete Überzeugung, dass das, was wir haben, wahr ist. Aber wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, dass sie trotzdem klagen, weil die Geschichte für sie extrem schädlich ist. Sie haben unbegrenzte Ressourcen.«

Das brachte die Entscheidung. Barber sagte erbost: »Ich werde mich nicht einschüchtern lassen. Die Story ist gut. Wenn sie uns verklagen wollen, sollen sie es ruhig versuchen.«

Das war für uns das Signal zu gehen. Angesichts der Aussicht, die Story auf die Öffentlichkeit loszulassen, nachdem ich monatelang daran gearbeitet hatte, fühlte ich eine Mischung aus Hochstimmung und Übelkeit. Ich würde den Informanten das geben, was sie unbedingt erreichen wollten, sie aber auch dem Risiko aussetzen, aufzufliegen. Als wir aufstanden, äußerte Hanson ein letztes Anliegen: »Wenn es okay ist, würde ich gern eine zweite Meinung einholen, nur um auf der sicheren Seite zu sein.«

Tags darauf, am Freitagmorgen, kamen Hanson Zweifel. Als er wie jeden Tag ins Büro radelte, lieferte er ein gedrucktes Exemplar des Manuskripts in der Anwaltskanzlei ab, mit der die FT zusammenarbeitete, da er E-Mails nicht vertraute. Sobald er an seinem Schreibtisch im Newsroom ankam, der unter aufgetürmten Fallakten kaum zu sehen war, wurde er von dem externen Anwalt angerufen. Er meinte, das Problem, das uns Sorgen machen sollte, sei nicht etwa eine Verleumdungsklage, sondern eine einstweilige Verfügung. Wenn wir nicht aufpassten, würde die Firma verhindern können, dass die Story jemals das Licht der Welt erblickte. Es müsste eine dritte Meinung eingeholt werden, und zwar von einem sogenannten Barrister – einem bei den Obergerichten zugelassenen Anwalt, wie ihn die Firma engagieren würde, um ihren Fall vor Gericht zu vertreten, wenn er denn überhaupt so weit kommen würde. Hastig wurde eine Konferenz organisiert.

Um 18.30 Uhr an jenem Abend warteten Hanson und ich vor Barbers Büro, in der sogenannten »Spitzkehre«, dem Korridor der Macht am Ende des Newsrooms, wo die höheren Tiere ihre Büros hatten. Wir waren im Begriff, an einem der teuersten Gespräche teilzunehmen, bei dem ich je dabei war: einem Telefonat mit einem »Silk« (Seidentalar), einer »Queens Counsel« (Kronanwältin), die auf der obersten Stufe der juristischen Karriereleiter angekommen war. Murphy instruierte mich stichwortartig, wie man mit einem so exotischen Biest umzugehen hat. »Sie glauben, Götter zu sein. Kolossale Egos. Ganz egal, wie’s läuft, gerate nicht in eine Diskussion. Ein QC ist es gewohnt, die wichtigste Person im Raum zu sein. Wenn du anderer Meinung bist als sie, besteht sie nur noch hartnäckiger auf ihrem Standpunkt.«

Die Dame kam direkt zur Sache. »Ich habe den Bericht des Anwalts und den Entwurf des Berichts überflogen. Würde ich die andere Seite beraten, dann würde ich ihnen empfehlen, eine einstweilige Verfügung zu beantragen.«

Hanson konnte sie dazu bewegen, etwas genauer zu erklären, was sie damit meinte. Die Kanzlei Schillings konnte am Obersten Gerichtshof in London einen Eilantrag stellen und fordern, die Veröffentlichung der Story zu stoppen, wegen eines Bruchs der Vertraulichkeit durch die Weitergabe interner Geschäftsunterlagen. Wir würden vor Gericht erscheinen müssen, zeigen, was wir drucken wollten, und dann versuchen, den Richter zu überzeugen, dass die Veröffentlichung im öffentlichen Interesse sei. Vielleicht würde die Sache sofort entschieden, aber wahrscheinlicher sei, dass das Gericht sich um sechs Wochen vertagen würde, um beiden Seiten genug Zeit zu geben, ihre Argumentation vorzubereiten. In dieser Zeit würden wir den Bericht nicht drucken können, was eine Katastrophe wäre. Wirecard würde sechs Wochen Zeit bekommen, möglicherweise Spuren verwischen und Tarngeschichten erfinden, und es bestand die Gefahr, dass man uns endgültig einen Knebel verpassen würde. Wir würden riskieren, unsere Informanten preiszugeben, ohne damit irgendetwas zu erreichen. Und dann wären da ja auch noch die potenziellen Prozesskosten für beide Seiten, mit Leichtigkeit ein sechsstelliger Betrag.

Der Chefredakteur sagte in wohlerwogenen Worten: »Hier spricht Lionel Barber. Sie sagen mir, wir können die Geschichte nicht drucken. Das kann ich nicht glauben – wir wollen betrügerische Machenschaften bei einem großen, börsennotierten Konzern aufdecken, und Sie sagen mir, das seien Geschäftsgeheimnisse.«

»Meiner Einschätzung nach würden Sie ein hohes Risiko eingehen, dass eine einstweilige Verfügung beantragt und erlassen würde.«

Barber streckte die Arme aus, als ob er gegen die Entscheidung eines Schiedsrichters protestieren wollte. »Und wo bleibt das öffentliche Interesse?«

Es gelang mir nicht, meinen Ärger zu kontrollieren, und ich mischte mich ein: »Wir haben klare Beweise für kriminelles Verhalten. Es liegt doch bestimmt im öffentlichen Interesse, das aufzudecken?«

Sie ließ sich nicht beeindrucken. »Klare Beweise? Es heißt, dies sei lediglich ein Zwischenbericht. Wo sind die endgültigen Ergebnisse der Ermittlungen?«

Ich wollte schreien. »Die Ermittlungen wurden eingestellt. Darum ist der Whistleblower ja überhaupt erst auf uns zugekommen, weil die Sache vertuscht wurde.«

»Und würde diese Person das in einem Gerichtsverfahren bezeugen?«

Rings um den Tisch waren grimmige Gesichter zu sehen; wir alle kannten die Antwort auf diese Frage. Ich hatte lange genug als Journalist gearbeitet, um zu wissen, dass die Londoner Gerichte eine Katastrophe waren, der man lieber aus dem Weg gehen sollte – eine Waffe, die Oligarchen und Despoten einsetzen, um Widersacher einzuschüchtern und offene Rechnungen zu begleichen. Aber dies war ein neuer Tiefpunkt. Als das Telefonat beendet war, hatten wir mehrere Tausend Pfund aus der Kasse der Financial Times ausgegeben – und das nur, um jetzt meinen Bericht zu schreddern. Murphy fluchte, wie idiotisch das System sei. Ich stand unter Schock; dies war die beste Chance, die ich je gehabt hatte. Was sollte ich bloß den Whistleblowern sagen?

Barber schickte uns raus in die Dunkelheit: »Dieses Problem werden wir heute Abend nicht mehr lösen, und ich muss meinen Flug nach Tokio kriegen. Ich will, dass wir eine Möglichkeit finden, diese Story zu drucken.«


Fünf Tage nachdem die Kronanwältin die Story abgeschossen hatte, klingelte mein Wecker morgens um 5.30 Uhr. Es war Mittwoch, der 30. Januar 2019. Ich hatte schlecht geschlafen in der vorigen Nacht, und sobald ich die Augen öffnete, spürte ich einen Adrenalinschub. Dies war der Moment der Wahrheit. Wir hatten die Story auf das absolute Minimum zusammengestrichen und sie auf einer Präsentation aus meinem Bestand an Dokumenten aufgebaut, in der weder Vertraulichkeit noch das Anwaltsgeheimnis erwähnt waren. Gegen einen Chefbuchhalter im mittleren Management des asiatischen Hauptsitzes des Konzerns war ermittelt worden, weil der Verdacht bestand, er habe die Bücher frisiert. Doch anstatt suspendiert oder gefeuert zu werden, war er befördert worden.

An diesem Morgen musste ich nur herausfinden, ob das tatsächlich zutraf. In den vergangenen Monaten hatte sich bei meinen Recherchen ein letztes Detail als schwer greifbar erwiesen: Hatte dieser Mensch nach wie vor seinen Job? Falls er gegangen war, hatten wir keine Story. Wir konnten erst im allerletzten Moment Kontakt zu ihm aufnehmen, um unsere Karten nicht zu früh aufzudecken. Wir mussten ihm und der Firma angemessen viel Zeit lassen, um zu reagieren, aber nicht mehr. Das Risiko einer einstweiligen Verfügung schwebte nach wie vor im Raum.

Es war zu früh, um Kaffee zu machen; die Kaffeemühle hätte die Kinder aufgeweckt. Also begnügte ich mich mit Tee, setzte mich in meinem abgetragenen Morgenmantel an den Schreibtisch und bereitete mich darauf vor, ihn unter seiner Büronummer anzurufen. Der Plan war, um 6 Uhr morgens Fragen zu schicken, dann war es früher Nachmittag in Singapur und Arbeitsbeginn in München, das London eine Stunde voraus war. Ich wartete bis 5.53 Uhr und wählte dann seine Nummer.

»Hallo, spreche ich mit Edo?«

»Ja, hallo.«

»Edo Kurniawan?«

»Ja. Kann ich Ihnen helfen?«

»Und Sie sind nach wie vor Chef des Bereichs International Finance?« Ich hörte ein zustimmendes Geräusch. »Prima. Ich heiße Dan McCrum und rufe im Namen der Financial Times an, ich bin eine Zeitung.« Nein, ich war keine Zeitung, vielleicht hätte ich doch Kaffee machen sollen. »Pardon, für die Zeitung Financial Times. Ich wollte, ähm, ich wollte mit Ihnen über eine Angelegenheit sprechen, hmhmm, über die wir berichtet haben. Ich werde Ihnen nach diesem Telefonat ein paar Fragen schicken und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie einmal einen Blick darauf werfen könnten, und zwar relativ bald. Falls Sie dazu Stellung nehmen möchten, müssten Sie das bis heute Abend tun, bis spätestens 21 Uhr Singapur-Zeit. Ja, spätestens heute Abend.« Mein Herz hämmerte. Jetzt kommt’s: »Okay. Also, die Hauptsache ist, dass nach meinen Informationen gegen Sie wegen Ihrer Beteiligung an verdächtigen Transaktionen bei Wirecard, Rückdatierung und Fälschung von Dokumenten ermittelt wurde.«

Kurniawan unterbrach mich. »Davon weiß ich nichts. Ich bin im Moment mitten in einem Meeting. Tatsächlich bin ich gerade dabei, die Konzernabschlussprüfung fertigzustellen«, sagte er. Es war klar, dass er höflich, aber möglichst schnell das Telefonat beenden wollte. »Ich danke Ihnen. Auf Wiederhören.« Klack.

Ich warf triumphierend die Arme hoch. Wir waren im Geschäft, die Story war okay. Sie war nur ein winziger Bruchteil dessen, was ich über die Firma wusste, der Fakten, Theorien und Gerüchte, die ich über die Jahre gehört hatte: dass sie Zahlungen für Hardcore-Pornografie abgewickelt habe, mit der Mafia unter einer Decke stecke, Aufsichtsbeamte und Politiker geschmiert habe, angeblich florierende Tochterunternehmen lediglich Scheinfirmen seien, sie vor kaum etwas zurückschrecke, um nicht aufzufliegen. Aber die Story war ein Anfang, ein Signal für den Rest der Welt, dass etwas nicht stimmte. Würde es funktionieren? Die Fragen waren fertig, und ich schickte sie ab. In sieben Stunden würden wir Antworten haben.