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Ralf Lankau (Hrsg.)

Autonom und mündig am Touchscreen

Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule

Prof. Dr. Ralf Lankau ist Grafiker, Philologe und Kunstpädagoge. Er unterrichtet seit 2002 als Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg und forscht zu Digitaltechnik, Kommunikationswissenschaft und Medienpädagogik.

Inhaltsverzeichnis

EinleitungSchule, Computer und Unterricht

Wenn aus Science-Fiction Realität wirdDigitalisierung statt pädagogischer Konzepte

In der Matrix

Beziehung, Präsenz, KommunikationBildungstheoretische und bildungsethische Überlegungen zur digitalen Unterrichtsentwicklung

Der menschliche Leib im medialen ZeitalterAspekte einer Pädagogik der Kreativität im digitalen Zeitalter

Von Stroh zu Gold und wieder zu Stroh?Die Einsozialisierung der jungen Generation in das digitale Zeitalter

Wie das Lernen nicht funktioniertKinder bewerten ihren Handygebrauch – eine empirische Pilotstudie

Digitales RaubrittertumWarum wir im elektrischen Strom nicht baden können – und wie Kinder den Ausschaltknopf finden

Homeschooling – vielfältige Probleme, wenig VereinbarkeitEine interdisziplinäre Betrachtung des Distanzlernens nach Haushaltskonstellationen

Von kompetenten Ignoranten und kreativen TagträumernWarum es traditionellem europäischen Denken widerspricht, den Kompetenzbegriff zum zentralen Bildungsbegriff zu machen – gerade im digitalen Zeitalter

Worum es geht – und worum nichtDigitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht statt »digitale Transformation von Schule«Der Text erschien erstmals 2020 als »Flugschrift Nr. 1« der Gesellschaft für Bildung und Wissen e. V.

Werkzeug im Unterricht statt AllheilmittelAlternative IT-Konzepte für Schulen

Lehr-Lernplattformen und Erziehung zur Mündigkeit

Unblack the BoxAnregungen für eine (selbst)bewusste Auseinandersetzung mit digitaler Bildung

Autorinnen und Autoren

Einleitung

Schule, Computer und Unterricht

»Wer hätte gedacht, dass unsere Generation mal einen Computer an die Wand werfen will«, wird ein Studierender im neunten Semester, dem Alter nach ein »Digital Na(t)ive«, im Gespräch mit dem Bundespräsidenten zu Corona zitiert. Eingesperrt ins Jugend- oder WG-Zimmer sitzen sie seit drei Semestern vor ihren Laptops und haben eine Videositzung nach der anderen oder arbeiten Aufgaben der Lernplattformen ab. Der Überdruss am Digitalen wachse, die Kommunikation untereinander wie mit den Dozierenden fehle. Ohne das soziale studentische Leben mit Mensa, WG und Wohnheim sei es gar kein Studium. Doch nicht nur Studierende sehnen sich nach Kontakt. Auch Schülerinnen und Schüler möchten zurück in ihre Klassen, die Kleinen zurück in die Kita. Freundinnen und Freunde fehlen, auch die Erzieherinnen und Lehrkräfte. Das ist wohl die erste Lektion der Pandemie: zu begreifen, dass Kitas, Schulen und Hochschulen nicht nur Orte des Lehrens und Lernens sind, sondern alle Bildungseinrichtungen, von der Kita bis zur Universität, als soziale Räume und Orte der Gemeinschaft bedeutend sind.

Die zweite Lektion ist, dass eine Pandemie nicht alle gleichermaßen hart trifft. Das soziale Umfeld bestimmt darüber, wie gut oder schlecht Kinder und Jugendliche solche außergewöhnlichen Phasen überstehen. Wer in einem stabilen sozialen und bildungsfreundlichen Umfeld aufwächst, Unterstützung und Betreuung von Eltern, Großeltern oder Geschwistern erfährt, wird auch Phasen von Fern- und Hybridunterricht ohne allzu große Lerndefizite überstehen. Wer hingegen in bildungsfernen Familien aufwächst, vielleicht mit vielen Geschwistern auf engem Raum lebt, womöglich ohne digitale Endgeräte und vor allem ohne Betreuung und Hilfe, verliert schnell den Anschluss. Die Pandemie beschleunigt die soziale Spaltung, die Ausdifferenzierung zwischen Arm und Reich. Erste Studien, etwa aus digital gut ausgestatteten Schulen aus den Niederlanden zeigen, dass Technik alleine eben nicht genügt. Eine Studie mit Testergebnissen von zentralen Leistungstests von etwa 350 000 niederländischen Schülerinnen und Schülern im Alter von sieben bis elf Jahren belegt: Trotz guter technischer Ausstattung der Schulen, trotz vorhandener Endgeräte lag der Lernfortschritt in der Pandemie 20 Prozent unter dem erwartbaren Wert – was genau der Zeit im Schuljahr entspricht, in der diese Schulen keinen Präsenzunterricht anbieten konnten. Die Schüler hätten beim Lernen von zu Hause aus kaum oder gar keine Fortschritte gemacht, so der Co-Autor Per Engzell. Soziale und ökonomische Faktoren verschärften die Lerndefizite ebenso wie der Bildungsstand der Eltern (Engzell et al. 2020).

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Präsenzlehre ist mittlerweile in immer mehr Gesellschaften ein Wohlstandsprivileg und Symbol sozialer Exklusion. »Geld gewinnt«, schreibt Hubert Wetzel in der Süddeutschen Zeitung. Präsenzunterricht sei etwas für Kinder wohlhabender Eltern. Während die 160 000 Schülerinnen und Schüler der öffentlichen Schulen im Montgomery County ausschließlich Online-Unterricht hätten, ließen die privaten Schulen ihre Eleven in die Klassenräume zurückkommen, für 30 000 bis 40 000 Dollar pro Kind und Schuljahr. In Frankreich trifft es Studierende: Während Kinderbetreuung und Schulen offen bleiben, sind die staatlichen Massenuniversitäten geschlossen. Die Elitehochschulen hingegen, die Grandes Ecoles, an denen auch Präsident Macron studierte, ermöglichen Präsenzunterricht für ihre Vorbereitungsklassen.

Diese Beispiele ließen sich beliebig ergänzen, etwa mit Facebooks Summit Learning oder High-Tech-Parents aus dem Silicon Valley, die die Bildschirme aus den Klassenzimmern ihrer Kinder ganz verbannen. Der Tenor weltweit ist: Es wird teuer, wenn Kinder, Jugendliche oder Studierende nicht am Bildschirm sitzen sollen, sondern im Klassen- und Seminarraum von realen Menschen unterrichtet werden (sollen). Gleichwohl wird die digitale Transformation von Schule und Unterricht ohne demokratischen Diskurs derzeit ohne Widerrede beschleunigt. Es werden Infrastrukturen (Schul-Cloud, Lernmanagementsoftware, Endgeräte im Verleih) fach- und schulübergreifend für den generellen Fernunterricht an staatlichen Schulen etabliert. Die Digitalisierung von Lehre und Unterricht scheint gesetzt:

»Der Rubikon ist schon überschritten, es gibt kein Zurück mehr, was die Digitalisierung nach der Corona-Krise betrifft. Der Druck, über intelligente Software zu verfügen, wird immer größer, auch um die Lehrkräfte zu entlasten. (…) Solche Systeme werden sich durchsetzen, auch weil alle damit rechnen, dass sich Krisen, wie wir sie jetzt durch Covid-19 erleben, wiederholen können. Kein Bundesland wird es sich mehr leisten können, keine Digitalisierungsstrategie für die Schulen zu haben.« (Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, zit. n. Ebbinghaus 2020)

Geht es in Corona-Zeiten nicht anders als per Fernunterricht und Web? Richtig: Im Lockdown benutzt man technische Infrastrukturen anders als in normalen Zeiten. In Ausnahmesituationen sind Fernunterricht und Videokonferenzen eine Möglichkeit, den Kontakt zu Schülerinnen und Schülern aufrechtzuhalten. Aber es ist wie mit einem Rollstuhl oder einer Krücke: Wenn ich mir ein Bein gebrochen habe, freue ich mich über diese Hilfsmittel, um halbwegs mobil zu bleiben. Aber ich behaupte doch nicht, das sei das neue Laufen. Schule und Unterricht definieren sich nicht über Medientechnik, sondern über die beteiligten Personen, über Beziehung und Bindung, über Fachinhalte selbstverständlich und das soziale Miteinander. Medien (analog wie digital) sind sowohl Gegenstand wie Mittel im Unterricht, aber nie Selbstzweck. Digitaltechnik ist ein mögliches, kein notwendiges Hilfsmittel.

Informatisches Denken als neue Kulturtechnik?

An dieser Stelle müssen ein paar grundlegende Überlegungen stehen. In der öffentlichen Diskussion über Digitaltechnik für Bildungseinrichtungen, etwa mit den Geldern des Digitalpakt Schule, wird oft so getan, als ginge es nur um die technische Aufrüstung der Schulen für »modernen« Unterricht. Abgesehen davon, dass der Einsatz aktueller Medientechnik nicht automatisch zu einem besseren Unterricht oder zu Lernerfolgen führt, wird dabei ausgeblendet, um was es im Kern geht. Das Stichwort ist digitale Transformation aller Lebensbereiche (Arbeit, Bildung, Gesundheit, Kommunikation, Konsum …) – mit dem Ziel der digitalen Organisation dieser Lebensbereiche. Der Begriff dafür ist »smart« – Smart Home, Smart School, Smart City – und basiert auf immer mehr Nutzerdaten, wie es im Einstiegskapitel »Wenn aus Science-Fiction Realität wird. Digitalisierung statt pädagogischer Konzepte« ausgeführt wird. Dazu gehört, Kinder möglichst früh an das Arbeiten am Bildschirm als Verhaltensmuster zu gewöhnen. Gleich mehrere Lehrerverbände unterstützen eine Initiative der IT-Wirtschaft und ihrer Lobbyverbände, die »Offensive Digitale Schultransformation« (#Odigs), die den Schulalltag und die Lehrerausbildung ganz nach den Bedarfen der Informationstechnik und ihrer Anbieter umzuformen gedenkt:

»Dazu gehört unter anderem die verpflichtende informatische und digitale Grundbildung in der Breite der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung, verpflichtender Informatikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler und mehr IT-Fachpersonal für die Schulen, das digitale Infrastrukturen aufbauen und dauerhaft pflegen kann.« (GI 2020)

Kurioserweise fragt keiner nach, was informatische Grundbildung bzw. informatisches Denken bedeutet. Der englische Originalbegriff heißt Computational Thinking und verkürzt das Denken auf Fragen der Berechenbarkeit. Alle Menschen sollen lernen zu »denken« (funktionieren) wie ein Computer. Ein Computer aber ist eine Rechen- bzw. eine Datenverarbeitungsmaschine.

»Informatisches Denken beruht auf der Mächtigkeit und den Grenzen von Berechnungsprozessen, ob sie nun von Menschen oder Maschinen ausgeführt werden. Berechnungsmethoden und -modelle geben uns Mittel an die Hand, Probleme zu lösen und Systeme zu entwerfen, die niemand von uns alleine zu lösen in der Lage wäre. Was kann der Mensch besser als ein Computer? Was können Computer besser als Menschen? Grundsätzlich wird die Frage behandelt: Was ist berechenbar?« (Wang 2006)

Informatikunterricht fördert so eine spezifische Art von Problemlösungsstrategien, die eine Aufgabe so lange in Teilaufgaben zerlegt, bis man diese Teilaufgaben mathematisch beschreiben und einem Computer(-programm) zum Berechnen geben kann. Dazu gehört, dass jede Teilaufgabe letztlich so systematisiert werden muss, dass als Berechnungsergebnis ein eindeutiger (binärer) Wert herauskommt: Ja oder Nein, Richtig oder Falsch, Eins oder Null. Binäre Logik ist in technischen Bereichen hilfreich, verkürzt und trainiert aber ein Denken in Schwarz-Weiß-Schemata

Die Berechenbarkeit von Prozessen weist zugleich darauf hin, dass sehr vieles von dem, was den Menschen und sein Leben in Gemeinschaft ausmacht, nicht berechenbar ist und das nicht Berechenbare des Menschen seine Lebenswelt ausmacht. Man nennt es Kultur. Im Gegensatz zu Technik beruht sie weder auf mathematischen noch informatorischen Denkmodellen, sondern auf der Vielfalt menschlicher Schöpfungskräfte. Hier wiederholt sich eine Fehlfokussierung der Diskussion über Schulfächer, die schon bei MINT- bzw. WiMINT1 zu beobachten war. Sollen Unterricht und Lerninhalte utilitaristisch auf Inhalte verkürzt werden, die »die Wirtschaft« vermeintlich braucht? Weiß man nicht mehr, aus der Geschichte wie der pädagogischen Praxis, dass gerade Fächer wie Kunst und Musik das kreative, ergebnisoffene Denken trainieren und damit die Grundlage für das bilden, was man Neugier, Spieltrieb und Innovation nennt? Zukunftsorientiert würde man das Spektrum der Fächer um Musik, Sport und Sprachen öffnen oder auch Theaterkurse anbieten, anstatt schon Kinder an Touchscreens zu setzen. Wer logisch und mathematisch denken lernt, kann auch informatorisch denken, umgekehrt funktioniert es nicht. Der PISA-Chef-Koordinator Andreas Schleicher hat daher auf die Frage, ob alle Schülerinnen und Schüler programmieren lernen müssen, verneinend geantwortet:

»… damit bereiten wir junge Menschen eher auf unsere Gegenwart vor als auf ihre Zukunft. Denn in einer sich rasant verändernden Welt werden sie sich vielleicht noch vor dem Ende der Schulzeit fragen, was Programmieren eigentlich einmal war.« (Schleicher 2018)

Hilfreich für alle wäre hingegen Logikunterricht, also Mathematik und Philosophie, weil logisches und strukturiertes Denken und das schlüssige Argumentieren an (Verbal-)Sprachen gebunden sind. Die philosophische Logik definiert, was gültige (wahre) Aussagen oder zulässige Prämissen sind. Logisches Denken in Sprach- und Zeichensystemen (auch Mathematik ist ein Sprachsystem) bildet eine Grundlage für die meisten Lernbereiche. Die Forderung nach mehr Sprachunterricht, nach Philosophie und Mathematik für alle wäre die sinnvolle Forderung, nicht die Verkürzung auf Informatikunterricht und binäres, also dualistisch verkürztes, letztlich technisch determiniertes Denken. Wer Kindern und Jugendlichen selbstbestimmte Perspektiven öffnen möchte, schafft Räume für Neugier, Spieltrieb und Fantasie, anstatt Ja-Nein-Schemata zu trainieren. Wer logisch-mathematisch denkt, interessiert sich oft auch für Computer und IT. Für Interessierte kann man ab der Sekundarstufe I Informatik-AGs auf freiwilliger Basis anbieten, sobald das logisch-rationale Denken und ein entsprechendes Abstraktions- und Reflexionsvermögen ausgebildet sind. Das Argument auch von Lehrerverbänden für die Verkürzung auf Informatik zulasten eines breit aufgestellten Fächerkanons ist die Hoffnung, Einfluss nehmen und »mitreden« zu können. Dabei genügt ein Blick auf die Webseiten entsprechender Unternehmen, um sich von dieser Illusion zu verabschieden. Das Ziel der IT-Anbieter ist nicht der ergänzende Einsatz von digitalen Medien im Präsenzunterricht, sondern der IT-gesteuerte Unterricht, der auf Handlungsdaten und Lernprofilen der Schülerinnen und Schüler basiert (Open Source 2020). Die zugrundeliegenden Denkschemata kommen nicht aus der Pädagogik, sondern aus der Kybernetik (Programmierung und Systemoptimierung) – als sei Lernen ein steuerbarer Produktionsprozess.

Die Forderungen der IT-Verbände sind seit über 30 Jahren konstant: mehr Geld, mehr Stellen, mehr Einfluss in Politik und Gesellschaft. Durch den Einsatz von immer mehr Digitaltechnik in immer mehr Bereichen fehlen zunehmend Fachkräfte. Immer komplexere Hackerangriffe erfordern zugleich immer mehr Cybersecurity-Mitarbeiter und Computerforensiker (derzeit ca. 15 Prozent der Kosten und Stellen). Die Folge: Die Kosten für den Aufbau wie die Sicherung der Systeme steigen mit deren Expansion. Die Finanzierung der Systeme frisst die Automatisierungseinsparungen. Am Ende ein Nullsummenspiel als Verschiebung der Personalkosten? Im Detail gefordert werden:

  • Intensivierung des Einsatzes von digitalen Lehr- und Lernmedien in der Schule und beim Home-Learning; Schulen müssten in der Unterrichtsgestaltung die »Anforderungen und die Standards einer zunehmend automatisierten, vernetzten und digitalen Lebens- und Arbeitswelt reflektieren«;

  • Ausstattung der Schulen und Schüler/innen mit Endgeräten, Ausbau der Netze und »langfristige Finanzierungsstrukturen für digitale Bildungsinhalte«;

  • Ausweitung des verpflichtenden Informatikunterrichts für alle ab der Sekundarstufe I und Nutzung von digitalen Werkzeugen in allen Fächern sowie die Aufwertung der Informatik (Gleichstellung mit den anderen MINT-Fächern);

  • Verpflichtende Aus- und Weiterbildung aller Lehrkräfte (Informatik- und Medienkompetenz), da zeitgemäßer und zukunftsorientierter Unterricht an didaktische Fähigkeiten des Lehrens und Lernens mit digitalen Medien sowie an Informatik- und Medienkompetenzen gekoppelt sei;

  • Auf- und Ausbau von Schul-Cloud, Lernplattformen als zentralisierter Infrastruktur (statt Insellösungen), die »flächendeckend an Schulen gebracht [werden] und verlässlich für die Unterrichtsorganisation und -durchführung in Form von interaktivem Fernunterricht in Echtzeit und selbstständigem und kollaborativen Lernen zur Verfügung stehen« müssten;

  • mehr IT-Fachpersonal, Medienpädagog*innen, Beratung von Lehrkräften und Schulträgern zur Verwendung von passenden digitalen Unterrichtslösungen;

  • staatlich finanzierte Hard- und Software für die Lehrkräfte.

Das finanziert die eigene Klientel, greift aber zu kurz. Es bleibt dem informatischen Denken verpflichtet. Wir müssen stattdessen IT neu denken und konkrete Alternativen zu derzeitigen Strukturen entwickeln, bevor wir überhaupt weiter mit IT arbeiten wollen. Denn weder der »unbeschränkte Digitalkapitalismus nach amerikanischem Vorbild« noch die »orwellianische Staatsüberwachung« wie in China sind laut Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf dem Kirchentag 2019 eine Option für Europa und schon gar nicht für Schulen (Quelle: https://offensive-digitale-schultransformation.de/).

Andere Software-Anbieter werben gleich offensiv mit der Vermessung und Steuerung von Lernprozessen: »Wir richten Ihr Moodle [eine Lernplattform; rl] so ein, dass Sie von den Analytik-Funktionen optimal profitieren. Moodle-Analytics wird damit nicht zur Glaskugel – aber fast«, steht auf der Website eines offiziellen Moodle-Partners für Deutschland (Moodle 2020). Die Idee dahinter: Die digitale Transformation ist ein Zwei-Phasen-Modell. In Phase Eins werden Lehrkräfte darin geschult, Schülerinnen und Schüler an die Geräte zu gewöhnen. In Phase Zwei werden sie zu Lernbegleitern, das Beschulen übernehmen die Systeme. Dazu kommt die Personalisierung der Daten. Christoph Meinel, Leiter des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam (HPI), das die zunächst mit 7 Millionen Euro aus dem Wissenschaftsministerium (BMBF) geförderte (wegen Corona um weitere 14 Millionen aufgestockte) HPI-Schul-Cloud mitentwickelt, hat es so formuliert:

»Viele dieser interaktiven Systeme funktionieren nur, wenn sie den Nutzer kennen. Das bedeutet, dass Daten protokolliert werden: Was hat der Betreffende gestern gemacht? Welche Frage konnte er nicht beantworten? Wo müssen wir wieder ansetzen?« (Meinel 2020a)

Dabei geht es nicht um einzelne Schülerinnen oder Schüler als Individuum. Sie sind nur ein Fall in einer Reihe von beobachteten und vermessenen Lernern. Im HPI-Blog-Beitrag zu Bildungsdaten schreibt Meinel, dass Lernsysteme »Vergleichsanalysen mit den Verhaltensdaten aller anderen jemals eingeloggten Lerner durchführen und darauf aufbauend die weiteren Interaktionen dem anvisierten Lernziel entsprechend steuern (können)« (Meinel 2020b).

Lernsysteme würden sich »erinnern« (genauer: speichern), welche Matheaufgaben nicht richtig gelöst wurden, oft sogar die Ursache erkennen. Das System speichert, »welche Vokabeln nicht richtig sitzen und deshalb weiter geübt und trainiert werden müssten«. Solche kleinteiligen Lernleistungsprüfungen könnten Lernmanagement-, genauer: Lernkontrollsysteme, viel besser umsetzen, als es Lehrkräften je möglich wäre. Durch »passgenaue Angebote« (ein beliebtes Wort der Prozessoptimierer) würden Schwächen der Schüler/innen erkannt und überwunden und »zielgenau« (ein ebenso beliebter Begriff) Stärken individuell gefördert. Das Ziel gibt selbstredend das Lernprogramm vor und ist für Lernende ebenso intransparent wie die Leistungsmessung. Dafür müsse man allerdings personenbezogene Daten und Klarnamen speichern. Das System müsse »wissen«, wer vor dem Bildschirm sitzt, und dazu alle Interaktionen mit dem System aufzeichnen.

»In dieser Lern‐ und Arbeitsumgebung sind Klarnamen unerlässlich. Lehrer müssen ihre Schüler erkennen, Schüler ihre Klassenkameraden, Teilnehmer ihre Arbeitsgemeinschaften.« (Meinel 2020)

An dieser Stelle könnte ein Exkurs stehen über die integrierten Identitätsmanagement-Systeme (IDM) solcher Anwendungen, die alle Aktionen der Probanden protokollieren, über (Pseudo-)Anonymisierung und die einfache Re-Personalisierung von Daten oder die Unmöglichkeit, Rechner im Netz vor Angriffen zu schützen (Lankau 2016). Aber das Thema Datenschutz ist so wichtig und komplex, dass hier nur auf die Aktion »Keine Schülerdaten für US-Unternehmen« (Bündnis 2020) und auf den Verein »Digitalcourage« verwiesen werden kann, der den Big Brother Award 2020 unter anderem an die Kultusministerin von Baden-Württemberg für das Beharren auf den Einsatz von US-Software verliehen hat (Digitalcourage 2020).

Diese Beispiele verdeutlichen vor allem, dass es bei der Frage nach IT und Schule nicht darum gehen kann, nur die Software anderer Anbieter einzusetzen (damit bliebe man in der Logik der IT-Wirtschaft, der Datenökonomie und der Bildungshierarchie), sondern dass man die IT-Strukturen insgesamt neu denken und aufbauen muss, bevor man diese Technologien überhaupt in Schulen einsetzt. Andernfalls läuft man Gefahr, selbst den Boden für Entwicklungen zu bereiten, die man nicht beabsichtigt, mit denen man aber eine Infrastruktur und ein Nutzerverhalten (schon Kinder arbeiten am Bildschirm) etabliert, die dann jederzeit umgestellt werden können auf Mainstream-Anwendungen der IT-Monopole.

Shoshana Zuboff hat 2018 das Buch »Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus« zu den Monopolstrukturen der IT-Industrie publiziert. Zusammen mit Matthias Burchardt (Universität Köln) habe ich in Aufsätzen gezeigt, wie durch den Aufbau einer digitalen Infrastruktur in Schulen mit Schul-Cloud und Netzdiensten von US-Konzernen eine Überwachungspädagogik nach den gleichen Parametern (psychometrische Vermessung, Profilierung, persuasive bzw. verhaltensändernde Technologien etc.) möglich wird. Paradebeispiel ist Facebooks Summit Learning. Weitere Stichworte sind datengestützte Schulentwicklung, Learning Analytics und der Austausch von menschlichen Lernbegleitern durch Hard- und Software: »Digitale Geräte werden zu Lernbegleitern«, heißt ein Aufsatz in der Zeitschrift Schulverwaltung-Spezial (Heft 1/2021, S. 36–39) von Achim Lebert.

Psychometrie und Verhaltenssteuerung durch Digital Devices

Digitale Beschulungssysteme, digitalkonforme Lerninhalte und eine digital ausgerichtete Lehrerschaft: Wer als Pädagoge und Wissenschaftler das Thema »Digitalisierung und Unterricht« kritisch reflektiert, stellt fest, dass nur Wenige die Tragweite der schon lange beabsichtigten Transformation von Bildungseinrichtungen zu IT-konformen, algorithmisch gesteuerten Lernfabriken realisieren. Die Corona-Pandemie ist nur der aktuelle Anlass, um seit Langem bekannte Digitalisierungsstrategien noch schneller umzusetzen. Dabei ist der Wechsel von ursprünglich pädagogischen Prämissen als Basis von Lehr- und Lernprozessen hin zum Paradigma der datengestützten Schulentwicklung der empirischen Bildungsforschung (Messen und Steuern) wesentlich. Daten und Statistik dominieren das Individuum wie das Unterrichtsgeschehen. Es bedeutet notwendig und sachlogisch, möglichst viele Daten der Schülerinnen und Schüler zu sammeln, auszuwerten und zur Grundlage von Entscheidungen über weitere Lerninhalte und -prozesse zu machen. Lehren und Lernen wird, wie schon einmal beim »programmierten Lernen« der 1950er Jahre, als ein (heute digital) steuerbarer Prozess behauptet.

Allerdings haben sich das mediale Umfeld und das Mediennutzungsverhalten durch Digital- und Webtechnologien in den letzten 20 Jahren stark verändert. Internetdienste wie Amazon und Google (mit YouTube) oder Social-Media-Plattformen wie Facebook (mit WhatsApp und Instagram) haben heute Reichweiten, die weit über Printpublikationen oder TV-Kanäle hinausgehen. Mit Smartphones (ab 2007) und Tablets (ab 2010) wurden mobile Geräte und Dienste ständige Begleiter. Der entscheidende Unterschied zu allen bisherigen Medienkanälen ist daher der permanente Rückkanal für personenbezogene (personalisierte) Daten. Gerätehersteller und Diensteanbieter wissen, wer und wo wir sind, wer dabei ist und was wir im Netz tun:

»Mit jedem Klick im Netz hinterlassen Menschen digitale Spuren. Aber auch wer das Handy unbenutzt in der Tasche mit sich herumträgt, verrät viel über sich selbst. Denn die Bewegungen des Benutzers, die ein Smartphone mit seinen Inertialsensoren erfasst, ermöglichen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der Nutzer.« (Siegle 2019)

Social-Media-Aktivitäten als Spiegel der Persönlichkeit

Eine aktuelle Studie bestätigt, dass sich aus Aktivitäten in sozialen Medien weitreichende Schlüsse auf den Charakter der Nutzerinnen und Nutzer ziehen lassen. Eine Forschergruppe um Clemens Stachl warnt im Fachmagazin »Proceedings of the National Academy of Sciences« (PNAS) vor möglichen Einschränkungen der Privatsphäre, da personenscharfe Profile die gezielte Beeinflussung ermöglichen (Stachl 2020). Smartphones zeichnen Nutzerdaten auf, aus denen sich die fünf Dimensionen des Big-Five-Modells der Persönlichkeitspsychologie (Ocean-Methode; Tab. 1) vorhersagen lassen. Das sind die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität sowie deren Ausprägung. Das ergibt, zusammen mit Bewegungs- und Kommunikationsprofilen, sehr präzise Abbilder der Persönlichkeitsstruktur, der mentalen und psychischen Belastbarkeit (z. B. Stressresistenz) und des emotionalen wie sozialen Verhaltens. Allein über die Bewegungen mit Smartphones verraten Nutzer ihre alltäglichen Gewohnheiten, den Aktionsradius und direkte Kontakte. Das lässt zuverlässige Rückschlüsse auf die Persönlichkeit und erwartbares Verhalten zu (Prognostik). Das Sammeln von Nutzerdaten hat als Ziel ja die Voraussage des wahrscheinlichen Verhaltens, um entsprechende Angebote zu machen oder passende Werbung zu schalten. Das wiederum ist die Geschäftsgrundlage der digitalen Plattformökonomie: »kostenlose« Angebote gegen Nutzerdaten.

Tab. 1: Die Big Five der Persönlichkeitspsychologie (dt.: Fünf-Faktoren-Modell, FFM)

Mit Smartphone und Tablet, App und Web kommen diese Systeme auch in Schulen zum Einsatz. Die entscheidende Frage ist daher, ob sich Deutschland und Europa den Bedingungen der Datenökonomie und der Heilslehre des Data-Ismus (Harari) unterordnen – wobei es letztlich egal wäre, ob es um Konsummaximierung (USA) oder Gehorsam gegenüber dem Staat (China) geht, da die Autonomie und Selbstbestimmung des Individuums in beiden Fällen negiert wird. Oder ob die Bürgerinnen und Bürger Widerstand leisten gegen diese De-Humanisierung durch vermeintlich intelligente Systeme.

»Viele digitale Medienangebote sind ›addictive by design‹: Sie sind durch Nudging so aufgebaut, dass die Nutzerinnen und Nutzer fast nicht mehr abschalten können und Ängste entwickeln, etwas zu verpassen, wenn sie offline sind«, sagt Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der ZHAW und Mediensozialisation und -kompetenz an der Universität Zürich als Co-Leiter der James-Studie. Es liege nicht in erster Linie an den Jugendlichen, wenn sie nicht mehr von TikTok, Fortnite, Netflix und Co. wegkämen – sie hätten schlicht nur eine beschränkte Macht über ihr eigenes Nutzungsverhalten, wenn sie nicht über eine hohe Medienkompetenz, Selbstreflexion und -disziplin verfügten (ZHAW 2020).

Fernunterricht erhöht den Betreuungsaufwand

Der deutsche Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch hat den Satz »Bindung kommt vor Bildung« geprägt. Gemeint ist damit, dass Kinder und Jugendliche erst dann lernen können, wenn sie sich emotional sicher fühlen. Das bedeutet, dass sie eine sichere Bindung zur Lehrperson aufbauen müssen, bevor sie Lernstoff aufnehmen können. Der Fernunterricht erschwert nicht nur diese Bindung, er wirkt sich auch auf die Motivation aus – gemeinsames Lernen wirkt ansteckend. »Jugendliche gehen vor allem wegen des sozialen Austauschs gern in die Schule«, sagt auch der Medienpsychologe Süss. Die Vorstellung, dass man in Zukunft große Teile der Schule als Fernunterricht gestalten könne, sei ein Trugschluss. »Es braucht die anregende räumliche und soziale Umgebung zum Lernen. Gute Schule ist mit allen Sinnen verbunden, der Fernunterricht am Laptop reduziert sie auf das Audiovisuelle« (Rostetter 2021, S. 9).

Anders als von den Digitalbefürwortern proklamiert unterstreicht die Ausnahmesituation der Pandemie daher sowohl die Bedeutung des Präsenzunterrichts wie die Notwendigkeit persönlicher Beziehung und intensiver Betreuung bei Fernunterricht und Hybridveranstaltungen. Selbst die Kultusministerien haben bei ihrer Besprechung im Januar 2021 bestätigt, dass es sinnvollen »digitalen Unterricht« für Sechs-, Acht- oder sogar Zehnjährige gar nicht geben könne. Es reiche nicht, Kinder mit Tablets auszustatten und Aufgaben zu stellen. Selbstverantwortlich und selbstorganisiert Lernen könnten nicht einmal die Älteren ohne Anleitung und regelmäßige Unterstützung durch qualifizierte Lehrkräfte. Das gilt selbst für Erstsemester, die nicht aus Akademikerhaushalten kommen und ohne begleitendes Mentoring das Studium überdurchschnittlich oft abbrechen, weil ihnen die Orientierung und der soziale Rahmen des Studierens fehlen (Rahaus 2020).

Lernen ist nun mal ein individueller und sozialer Prozess, wenn es um mehr geht als das Auswendiglernen von Repetitionswissen. Um denken zu lernen als Ziel von Lehre und Unterricht, brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So schreibt es bereits Immanuel Kant im Text »Was heißt: sich im Denken orientieren?« (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbstständig denken und Fragen stellen könnten. Menschen aller Altersstufen brauchen für Verstehensprozesse den Diskurs. Lernen ist ja viel mehr als Lesen oder das Schauen von Lehrfilmen (heute Videos). Selbstlernphasen mit Medien sind ein erster Schritt, um sich Bestandswissen anzueignen. Präsenzlehre als Kern und Wesen für Verstehensprozesse durch Dialog und Diskurs ist so elementar, dass Schulen wie Hochschulen allein aus Verantwortung gegenüber den Schülerinnen und Schülern bzw. Studierenden bestrebt sein müssen, den regulären Präsenzlehrbetrieb so schnell wie möglich wiederaufzunehmen. Wir lernen in Beziehung, nicht am Bildschirm. Es ist daher erstaunlich, wie schnell und vor allem ohne Widerspruch die Bedeutung des Sozial- und Schutzraums Schule vergessen wird und das automatisierte Beschulen am Rechner zum Normalfall umdefiniert werden soll. Die einen fordern, den Fernunterricht auch in Normalzeiten als Standard zu etablieren,2 andere wie der IT-Lobbyverband BitKom plädieren neben dem »Recht auf digitalen Unterricht« gleich für »das Recht auf digitale Bildung«,3 als könne man Bildung einfordern wie ein Konsumgut und an eine Medientechnik koppeln. »Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein«, schreibt der Schweizer Philosoph Peter Bieri in seinem Beitrag. »Wie es wäre, gebildet zu sein« und verweist darauf, dass »sich bilden« etwas ist, das man selber tun muss, weder an andere noch an Technik delegieren kann (Bieri 2005).