Cover

Frank-Walter Steinmeier (Hg.) 

Wegbereiter der
deutschen Demokratie

30 mutige Frauen und Männer
1789–1918

C.H.Beck

Zum Buch

Dieses Buch porträtiert Frauen und Männer, die für die Freiheit, für Menschen- und Bürgerrechte in Deutschland gekämpft haben. Zu ihrer Zeit oft unterdrückt, waren sie doch zukunftsweisend und schufen das politische Fundament unserer Republik. Es sind bewegende Biographien – erzählt von bekannten Autorinnen und Autoren –, die zusammen ein lebendiges Panorama der Demokratiegeschichte in Deutschland von der Französischen Revolution bis zur Gründung der Weimarer Republik ergeben.

Das «Nie wieder» ist nach Vernichtungskrieg und Schoah zu Recht der Kern der deutschen Erinnerungskultur. Aber die Bundesrepublik erklärt sich nicht allein ex negativo. Wer verstehen will, wie Deutschland nach dem Zivilisationsbruch von 1933 bis 1945 zur Demokratie zurückgefunden hat, muss auch seine Demokratiegeschichte kennen. Ihr fehlt bis heute der Platz, der ihr im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und im Traditionsverständnis der Republik gebührt. Dieses Buch macht auf spannende Weise deutlich, wie reich und vielfältig, auch widersprüchlich unsere eigene demokratische Vergangenheit ist.

Über den Herausgeber
und die Beiträgerinnen und Beiträger

Frank-Walter Steinmeier ist Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Er hat es zum Leitthema seiner Präsidentschaft gemacht, unsere Demokratie zu stärken und setzt sich dafür ein, dass die deutsche Demokratiegeschichte, deren Orte und Protagonisten fester Teil unserer Gedenkkultur und republikanischen Tradition werden.

Mit Beiträgen von: Sabine Appel, Hans-Peter Becht, Wilhelm Bleek, Christopher Clark, Michael Dreyer, Sabine Freitag, Ute Gerhard, Jürgen Goldstein, Ewald Grothe, Rüdiger Hachtmann, Kirsten Heinsohn, Irina Hundt, Christian Jansen, Alexander Košenina, Norbert Lammert, Dieter Langewiesche, Herfried Münkler, Paul Nolte, Heribert Prantl, Hedwig Richter, Julius H. Schoeps, Susanne Schötz, Werner Schulz, Jörg Schweigard, Barbara Sichtermann, Frank-Walter Steinmeier, Barbara Stollberg-Rilinger, Dietmar Süß, Uwe Timm, Volker Ullrich und Kerstin Wolff.

Inhalt

Frank-Walter Steinmeier: Geschichte für die Republik

Was wir den Wegbereitern der deutschen Demokratie verdanken und warum sie für unser Land so wichtig bleiben

Barbara Stollberg-Rilinger: Viele Wege zur Demokratie

Aus dem Ständestaat in die Bürgergesellschaft

Zum Weiterlesen

I. 
Mainzer Republik und
frühe Demokraten

Jürgen Goldstein: Georg Forster – (1754–1794) 

Weltumsegler und Kopf der Mainzer Republik

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Sabine Appel: Caroline Schlegel-Schelling – (1763–1809)

Als Demokratin im Kerker

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Alexander Košenina: Adolph Freiherr Knigge – (1752–1796) 

Ein Menschenkenner fordert Menschenrechte

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Jörg Schweigard: Friedrich Lehne – (1771–1836) 

Diener der Freiheit unter dreierlei Herren

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II. 
Hambacher Fest und Vormärz 

Heribert Prantl: Philipp Jakob Siebenpfeiffer – (1789–1845)

Das Fest, das Deutschland hoffen ließ

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Ewald Grothe: Sylvester Jordan – (1792–1861)

Die modernste Verfassung ihrer Zeit

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Hans-Peter Becht: Adam von Itzstein – (1775–1855)

Metternichs stiller Gegenspieler

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Barbara Sichtermann: Louise Aston – (1814–1871)

Sie war so frei

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Herfried Münkler: Georg Herwegh – (1817–1875)

Ein Republikaner in Wort und Tat

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Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann – (1785–1860)

Von den Göttinger Sieben zur Paulskirche

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III. 
Die
Revolution 1848 und
das Parlament in der Paulskirche

Christopher Clark: Robert Blum – (1807–1848)

Mann des Volkes, Märtyrer der Revolution

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Sabine Freitag: Friedrich Hecker – (1811–1881)

Der Traum von der deutschen Republik

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Irina Hundt: Mathilde Franziska Anneke – (1817–1884)

Eine radikale Demokratin auf zwei Kontinenten

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Rüdiger Hachtmann: Johann Jacoby – (1805–1877)

Bürgermut vorm Königsthron

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Julius H. Schoeps: Gabriel Riesser – (1806–1863)

Gleiche Rechte für die Juden:
Eine Rede macht Geschichte

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Christian Jansen: Jakob Venedey (1805–1871) und Henriette Obermüller-Venedey (1817–1893)

Im Kampf für einen demokratischen Nationalstaat

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Susanne Schötz: Louise Otto-Peters – (1819–1895)

«Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen»

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Uwe Timm: Carl Schurz – (1829–1906)

Ein deutscher Revolutionär
als amerikanischer Staatsmann

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IV. 
Reichsgründung und Kaiserreich

Dieter Langewiesche: Ludwig Bamberger – (1823–1899)

Der deutsche Nationalstaat –
Lebenstraum und Enttäuschung

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Norbert Lammert: Ludwig Windthorst – (1812–1891)

Katholischer Streiter gegen den autoritären Staat
und «schärfster politischer Kopf» im Reichstag

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Hedwig Richter: Hedwig Dohm – (1831–1919)

«Die Menschenrechte haben kein Geschlecht»

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Paul Nolte: Eugen Richter – (1838–1906)

Alle Macht dem Parlament

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Kirsten Heinsohn: Minna Cauer – (1841–1922)

Empfindsame Bürgerin,
entschlossene Frauenrechtlerin

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Volker Ullrich: August Bebel – (1840–1913)

Idol und Paria, Praktiker und Visionär

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Kerstin Wolff: Emma Ihrer – (1857–1911)

Frau der Arbeit, aufgewacht!

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Dietmar Süß: Carl Legien – (1861–1920)

Wirtschaft braucht Demokratie

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Ute Gerhard: Anita Augspurg (1857–1943) und Lida Gustava Heymann (1868–1943)

Für das Recht der Frauen, Rechte zu haben

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Michael Dreyer: Hugo Preuß – (1860–1925)

Aufbruch in die neue Zeit:
Die Weimarer Verfassung

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Werner Schulz: «Wir sind das Volk» oder:
Was 1989 mit 1848 verbindet

Ein Nachwort

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Frank-Walter Steinmeier: Geschichte für die Republik

Jürgen Goldstein: Georg Forster

Sabine Appel: Caroline Schlegel-Schelling

Alexander Košenina: Adolph Freiherr Knigge

Jörg Schweigard: Friedrich Lehne

Heribert Prantl: Philipp Jakob Siebenpfeiffer

Ewald Grothe: Sylvester Jordan

Hans-Peter Becht: Adam von Itzstein

Barbara Sichtermann: Louise Aston

Herfried Münkler: Georg Herwegh

Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann

Christopher Clark: Robert Blum

Sabine Freitag: Friedrich Hecker

Irina Hundt: Mathilde Franziska Anneke

Rüdiger Hachtmann: Johann Jacoby

Julius H. Schoeps: Gabriel Riesser

Christian Jansen: Jakob Venedey und Henriette Obermüller-Venedey

Susanne Schötz: Louise Otto-Peters

Uwe Timm: Carl Schurz

Dieter Langewiesche: Ludwig Bamberger

Norbert Lammert: Ludwig Windthorst

Hedwig Richter: Hedwig Dohm

Paul Nolte: Eugen Richter

Kirsten Heinsohn: Minna Cauer

Volker Ullrich: August Bebel

Kerstin Wolff: Emma Ihrer

Dietmar Süß: Carl Legien

Ute Gerhard: Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann

Michael Dreyer: Hugo Preuß

Werner Schulz: «Wir sind das Volk» oder:
Was 1989 mit 1848 verbindet

Die Autorinnen und Autoren

Bildnachweis

Ortsregister 

Personenregister

Fußnoten

Frank-Walter Steinmeier

Geschichte für die Republik

Was wir den Wegbereitern der deutschen Demokratie verdanken und warum sie für unser Land so wichtig bleiben

Ich sterbe für die Freiheit, möge das Vaterland meiner eingedenk sein» – das, so will es die Überlieferung, waren die letzten Worte von Robert Blum.[1] Am 9. November 1848 trafen ihn die Kugeln eines Hinrichtungskommandos des kaiserlichen Militärs. Der deutsche Demokrat und Freiheitskämpfer, einer der bekanntesten Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, starb auf einem Sandhaufen im Wiener Vorort Brigittenau.

Robert Blum starb für die Freiheit – aber «seiner eingedenk» ist heute fast niemand mehr. Der Schriftsteller Ludwig Pfau, auch er ein kaum noch genannter deutscher Revolutionär, schrieb über Blum: «Sein Volk wird ihm ein Denkmal setzen, größer als die Denkmale aller seiner Gefeierten; denn dieses Denkmal wird die deutsche Republik sein.»[2] Heute müssen wir feststellen, dass diese Prophezeiung sich nur zur Hälfte bewahrheitet hat. Die deutsche Republik, in Recht und Freiheit geeint, ist 1990 Wirklichkeit geworden, zum zweiten Mal nach 1918. Aber wer Robert Blum war und was er mit dieser Republik zu tun hat, das ist heute kaum noch jemandem bewusst.

Menschenrechte und Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus, Gleichberechtigung und sozialer Ausgleich – alle diese Werte, die heute im Grundgesetz verankert sind und die wir leben, verdanken wir auch dem Engagement von Menschen, die früher als andere und oft mit viel Mut und unter großen persönlichen Opfern für sie eingetreten sind.

Doch viel zu lange ist unsere Erinnerungskultur mit den Köpfen, Ereignissen und Orten der deutschen Demokratiegeschichte sehr stiefmütterlich umgegangen. Bedeutende Akteure wie Robert Blum sind oft nur noch dem Namen nach oder gar als bloßes Zerrbild bekannt, wie etwa der republikanische Aufklärer Adolph Knigge, der im kollektiven Gedächtnis zu einem Benimm-Lehrer degradiert worden ist.

Der 18. März ist mit Fixpunkten deutscher Demokratiegeschichte in drei Jahrhunderten verbunden: der Ausrufung der Mainzer Republik 1793, der Revolution 1848 in Berlin und der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR 1990. Trotzdem ist der 18. März nie ein nationaler Gedenktag geworden.

Das Hambacher Schloss war lange vor allem Event-Location und Kulisse für Hochzeiten. Und die Frankfurter Paulskirche, eine der bedeutendsten Stätten der deutschen Demokratiegeschichte, wird den Ansprüchen, die wir heute an einen ebenso würdigen wie lebendigen Erinnerungs- und Lernort der Demokratie stellen, nicht gerecht.

Die geringe Wertschätzung für unsere Demokratiegeschichte liegt freilich nicht etwa daran, dass die deutsche Erinnerungskultur heute stark von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geprägt ist. Im Gegenteil. Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen bleibt ein unverzichtbarer Teil demokratischer Selbstbesinnung. Die Gründe liegen vielmehr weiter zurück und sind gerade in jenen historischen Entwicklungssträngen zu finden, die maßgeblich zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben. Nach der Reichsgründung 1871 dominierte eine national-borussische Geschichtsschreibung, welche die deutsche Geschichte auf das Streben nach staatlicher Einheit reduzierte, das Preußentum heroisierte und Otto von Bismarck zum genialen Erfüller nationaler Sehnsüchte verklärte.

Statt an Freiheitsbewegungen erinnerte man an die Befreiungskriege gegen Napoleon. Damit wurde nicht nur der Grundstein zur nationalistischen Ideologie einer Erbfeindschaft mit dem französischen Nachbarn gelegt, sondern auch die positive Seite des Freiheitsbegriffs, die Freiheit zu bürgerlicher Selbstbestimmung, ausgeblendet. Die Ideen der Französischen Revolution von 1789 wurden schon im Ursprung des deutschen Nationalismus als westlich und undeutsch abgelehnt. «Die deutsche Antwort auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Quintessenz der westlichen Demokratie, lautete, verkürzt gesagt, Ordnung, Zucht und Innerlichkeit», so hat Heinrich August Winkler es treffend auf den Punkt gebracht.[3]

Der Reichsgründer Bismarck hatte mit seiner Verachtung für die deliberative Demokratie, also für Meinungskampf, Parlamente und Mehrheitsentscheide, nie hinter dem Berg gehalten: «Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut.»[4] So lautete sein verstörend einflussreiches Credo, dessen Echo bis in den totalitären Staat des 20. Jahrhunderts hörbar blieb. Unter diesem Vorzeichen ließen sich die demokratische Revolution von 1848/49 und die Nationalversammlung der Paulskirche leicht mit dem Verdikt «gescheitert» versehen und selbst epochale Leistungen wie die in Frankfurt entworfene und verabschiedete Verfassung mit den «Grundrechten des deutschen Volkes» ignorieren.

So entstanden zwar zahllose Bismarck-Denkmäler und Kaiser-Wilhelm-Monumente, wenn aber Demokraten auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain der Freiheitskämpfer des Jahres 1848 gedachten, ließ die preußische Polizei jede Kranzschleife durch ihre Gendarmen genau kontrollieren – aus Furcht vor zu viel aktiver Erinnerung an Freiheit, Demokratie und Revolution.

Die Weimarer Republik knüpfte mit ihrer Verfassung an die liberal-demokratischen Ideen von 1848/49 an und stellte sich auch symbolisch in die Tradition der Freiheitsbewegungen: Schwarz-Rot-Gold, die deutsche Trikolore der Freiheit vom Hambacher Fest 1832, wurde Nationalflagge. Diese demokratische Traditionsbildung hat vielfach Feindschaft auf sich gezogen. Denn zur fortdauernden Dominanz der national-borussischen Geschichtsschreibung von rechts kam das antiliberale Denken von links. Der beißende Spott und die höhnische Verachtung der bürgerlichen Freiheiten im Gefolge von Karl Marx sind nicht zu unterschätzen, etwa wenn Rosa Luxemburg gegen «kleinbürgerliche Illusionisten und Schwätzer von Anno 1848» agitierte.[5]

Selbst nach 1945, nach Diktatur, Weltkrieg und Völkermord, wirkte die eingeübte Ignoranz gegen die Freiheits- und Demokratiegeschichte fort. Die einen sahen im Nationalsozialismus nur einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte, der seine Ursache just in der modernen, mit der Französischen Revolution beginnenden demokratisch verfassten Massengesellschaft gehabt haben soll. Andere sahen die Gründe für Hitler und Holocaust vor allem im Fehlen proletarischer Revolutionen in Deutschland. Gemeinsam war beiden Deutungen, dass sie die freiheitlichen Bewegungen in der deutschen Geschichte gering schätzten.

Es war einer meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten, Gustav Heinemann, der Anfang der 1970er-Jahre mit Leidenschaft dafür warb, «in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gelebt und gekämpft haben, damit das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann».[6] Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, den Heinemann als «Preis für die Schuljugend zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen» ins Leben rief, und die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt sind bleibende Resultate seines Engagements. Aber es wurde – und zwar aus guten Gründen – von einem anderen drängenden Thema überlagert: der notwendigen und viel zu lange verweigerten Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen.

Heute ist unsere Erinnerungskultur maßgeblich geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Tätern, Mitläufern und seiner Ideologie, sowie von der Erinnerung an die Millionen Opfer. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis – zunächst, kaum wahrgenommen, Bundespräsident Walter Scheel – dann vor allem Richard von Weizsäcker an den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung erinnern konnte. Diese Verzögerung ist kein Zufall. Denn 1945 hatte Deutschlands Befreiung von außen kommen müssen. Noch lange Zeit danach empfanden große Teile der Nachkriegsgesellschaft das Datum vor allem als Niederlage und Unglück. Erst in dem Maße, in dem das Verdrängen und Beschweigen der deutschen Verbrechen beendet wurde, konnte der Befreiung von außen eine innere Befreiung im Zeichen neu verwurzelter demokratischer Überzeugungen folgen. Es war ein langer, mühsamer und oft schmerzhafter Prozess der Aufklärung und Aufarbeitung von Mittäterschaft und Mitwisserschaft. Erst dadurch konnte die Bundesrepublik Deutschland demokratisches Selbstvertrauen gewinnen, nicht durch Abwehr und Schlussstrich. Die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoah ist so zu einem unverrückbaren Teil unserer freiheitlichen demokratischen Identität geworden – und muss es bleiben. Was sich nicht wiederholen soll, darf auch nicht vergessen werden.

Dieser Zusammenhang von Demokratisierung und Aufarbeitung der NS-Zeit erklärt auch, warum sich unsere Republik nicht allein aus dem»Nie wieder!» begründen lässt. Es braucht vielmehr ein Bewusstsein für die weitverzweigten Wurzeln von Demokratie- und Freiheitsbestrebungen, die es über Jahrhunderte hinweg gegeben hat und aus denen die Bundesrepublik nach 1945 wachsen konnte. Es stimmt: Das Grundgesetz entstand unter dem Eindruck des Zivilisationsbruchs, unter dem Eindruck von Auschwitz, Babyn Jar und Treblinka. Der Neuanfang nach der Befreiung 1945 wäre aber gar nicht denkbar gewesen ohne die Erfahrungen aus der ersten deutschen Republik und den Kämpfen des 19. Jahrhunderts.

Natürlich war diese Demokratiegeschichte alles andere als eine gradlinige Erfolgsgeschichte. Sie war voller Rückschläge und Widersprüche, voller Um- und auch mancher Abwege. Wir können dennoch stolz sein auf die Kämpfe für Freiheit und Demokratie. Es waren auch diese Ideale, die den Widerstand gegen den Nationalsozialismus prägten. In ihrem Geist werden wir den Blick in den Abgrund der Shoah nicht vermeiden.

All die deutschen Parteigänger der Französischen Revolution, die Vormärzliberalen und -demokraten, Paulskirchendeputierten, die Streiterinnen für die Gleichberechtigung, frühe Gewerkschafter und die engagierten Parlamentarier des Kaiserreiches, all diese zu ihrer Zeit oft genug Erfolglosen und Besiegten finden wir heute auf der Siegerseite der Geschichte. Nicht die autoritären Kräfte und Mächte, sondern sie haben sich mit ihren Vorstellungen von Freiheit, Recht und Einigkeit durchgesetzt. Daher hat die Erinnerung an sie heute eine doppelte Bedeutung: Sie stiftet Zusammenhalt und sie stärkt unsere Demokratie.

Wir alle haben ein tiefes Bedürfnis nach Heimat, Zusammenhalt und Orientierung. Der Blick auf die eigene Geschichte spielt dabei eine entscheidende Rolle. Jedes Volk sucht Sinn und Verbundenheit in seiner Geschichte – warum sollte das für uns Deutsche nicht gelten?

Es geht hier allerdings um weit mehr als nur um Zugehörigkeit. Es geht auch um das europäische Erbe und die Zukunft unserer Demokratie. Indem wir uns wieder stärker der Freiheits- und Demokratiebewegungen des 19. Jahrhunderts erinnern, nehmen wir auch jene Fäden auf, die uns einst mit unseren europäischen Nachbarn verbanden und die 1871 gekappt worden sind. Die Mainzer Republik, das Hambacher Fest, die Revolution 1848 – all das waren keine rein nationalen Ereignisse. In vielen Ländern Europas wagten damals Menschen den Aufstand für politische Freiheit, für nationale Selbstbestimmung und auch für soziale Gerechtigkeit. Nicht überall waren die Revolutionen unmittelbar erfolgreich – Scheitern und Rückschläge gab es keineswegs nur in Deutschland. Diese Ereignisse waren Teil eines europäischen Völkerfrühlings, der uns mit unseren Nachbarn in Frankreich und Polen, Ungarn und Italien verbindet. Genauso, wie auch 1989 eine europäische Freiheitsrevolution war, die uns Deutsche mit Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken verbunden hat und in deren Folge die Spaltung Europas überwunden werden konnte. Wir tun gut daran, uns gerade heute dieser Ideale und unserer Gemeinsamkeiten wieder stärker zu besinnen.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus rief der amerikanische Historiker Francis Fukuyama das Ende der Geschichte aus. Die Werte des Westens schienen weltweit siegreich zu sein. Es schien nur noch um ein Mehr an Demokratie, an Gleichberechtigung und an individueller Freiheit zu gehen. Inzwischen haben wir gelernt, dass es kein Ende der Geschichte gibt. Im Gegenteil: Demokratie und Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte sind weltweit neuen Pressionen ausgesetzt.

Russland und China präsentieren sich heute als autoritäre Gegenmodelle zur westlichen Demokratie. Im Innern unterdrücken ihre Machthaber die Freiheit des Einzelnen, nach außen sind sie imperiale Mächte, die mit aggressiven Methoden versuchen, ihren Einfluss auszuweiten und sich Dominanz zu verschaffen. Gleichzeitig erleben wir, wie in Europa und in den USA festgefügte Demokratien ins Wanken geraten können, wenn Mehrheiten missbraucht werden, um den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz auszuhöhlen sowie die Freiheit von Medien, Kunst und Wissenschaft einzuschränken. Wir erleben, wie politische Gegner zu Feinden gestempelt werden und der demokratische Wettbewerb zum eigenen Vorteil manipuliert wird.

Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit; ihr Bestand ist nicht auf Dauer garantiert. Seien wir nicht naiv, geben wir uns keinen Illusionen hin: Auch Deutschland ist nicht gefeit vor der Rückkehr des Autoritären; manche Verächter von Freiheit und Demokratie sitzen bereits in unseren Parlamenten. Es ist auch dieser besorgniserregende Befund, der mich antreibt, der Geschichte unserer Demokratie mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, wie mühevoll, opferreich, verschlungen und voller Rückschläge die Wege zu Freiheit und Demokratie gewesen sind. Dieses Wissen lässt uns den Wert des Erreichten besser erkennen und mahnt, dass wir unsere Werte, für die so viele Wegbereiter unserer Republik gekämpft haben, nicht leichtfertig preisgeben dürfen.

Aber die Besinnung auf die Geschichte soll keineswegs den Status quo konservieren. Es geht auch darum, die Energien, die Leidenschaften zu wecken, die wir brauchen, um Staat und Gesellschaft so fortzuentwickeln, dass wir unsere Werte bewahren können. Die Erinnerung ist kein Selbstzweck, sondern um der Zukunft unserer Demokratie willen wichtig.

Mehr Aufmerksamkeit, mehr Herzblut und mehr finanzielle Mittel den Orten und Protagonisten der deutschen Demokratiegeschichte – diesen Appell habe ich am 9. November 2018 vor dem Deutschen Bundestag an Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik gerichtet, und in den vergangenen Jahren ist manches in Bewegung geraten.[7]

Die Mainzer Republik etwa, die 1793 erstmals auf deutschem Boden «das freie Volk» zum «einzigen rechtmäßigen Souverän» erklärte, würdigte der Rheinland-Pfälzische Landtag zu ihrem 225. Jubiläum mit einem großen Festakt. Für das Hambacher Schloss hat der Bund mehr Geld bereitgestellt und ermöglicht erstmals eine kontinuierliche historisch-politische Bildungsarbeit. Der Friedhof der Märzgefallenen in Berlin bekommt in den nächsten Jahren ein Besucherzentrum und wird zu einer modernen Erinnerungsstätte. Und die sanierungsbedürftige Frankfurter Paulskirche soll zu einem zeitgemäßen, lebendigen Lernort der Demokratie weiterentwickelt werden, darauf haben sich der Bund, das Land Hessen und die Stadt Frankfurt am Main im Sommer 2020 im Schloss Bellevue verständigt.

Auch auf das Kaiserreich blicken wir 150 Jahre nach dessen Gründung inzwischen differenzierter. Sein Nationalismus und sein Militarismus werden seit Langem kritisch gesehen; der Kolonialismus und seine Verbrechen werfen deutliche Schatten auf diese Epoche und verlangen mehr Aufmerksamkeit. Aber wir entdecken auch, dass es in diesem Obrigkeitsstaat zum Beispiel eine aktive Frauenbewegung gab. Und war es nicht eine List der Geschichte, dass der Demokratieverächter Bismarck, der das allgemeine Männerwahlrecht zumindest im Reich (nicht in Preußen) aus rein taktischen Motiven zuließ, damit Raum für die demokratische Arbeiterbewegung, die Herausbildung des Parteiensystems und die Entstehung einer parlamentarischen Tradition in Deutschland schuf? Auch sollte man die Bedeutung des 1871 in Berlin geschaffenen Reichstages als öffentliche Bühne der Politik nicht unterschätzen.

Selbst die Weimarer Republik wird längst nicht mehr nur von ihrem Ende her betrachtet. Ihre Chancen und Leistungen sowie die Frauen und Männer, die damals unter großen Anfeindungen demokratische Verantwortung übernahmen, erfahren inzwischen die verdiente Wertschätzung, zum Beispiel im «Haus der Weimarer Republik», das 2019 in Weimar eröffnete. All die vielen, bisher noch zu wenig beachteten Erinnerungsorte, die bislang kein Teil der Gedenkstättenförderung des Bundes sind, sollen von 2022 an durch eine neue Bundesstiftung «Orte der deutschen Demokratiegeschichte» unterstützt werden.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der SED-Diktatur dagegen ist schon lange ein fester Teil des staatlichen Engagements. Aber mit Blick auf die einstige DDR brauchen wir neben der Erinnerung an Teilung, Unterdrückung und Verfolgung auch mehr Aufmerksamkeit für die Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung. Sie ist ein Teil deutscher Demokratiegeschichte von enormer Bedeutung. Die Anregung, einen herausgehobenen Ort zu schaffen, der an die friedliche Revolution und die Mutigen erinnert, die sie gemacht haben, wird inzwischen breit diskutiert, und diese Debatte wird hoffentlich bald Früchte tragen.

Die größten Defizite unserer demokratischen Erinnerungskultur bestehen noch immer im Hinblick auf die Protagonisten des sogenannten langen 19. Jahrhunderts, also der Zeit von der Französischen Revolution 1789 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

In diesem Band sind die Biografien von dreißig Frauen und Männern zusammengetragen, die allesamt Wegbereiter der Demokratie in Deutschland waren. Vom Aufklärer und Weltumsegler Georg Forster, der 1793 bei der Mainzer Republik dabei war, über Robert Blum bis zur Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters, von Ludwig Windthorst, dem katholischen Streiter für die Rechte der Volksvertretung, über August Bebel, dem Vorkämpfer der sozialen Demokratie, bis hin zum Vater der Weimarer Verfassung, dem Liberalen Hugo Preuß.

Anhand der Lebenswege einzelner Menschen lässt sich Vergangenheit anschaulich darstellen. Soziale Strukturen werden lebendig und bekommen Gesicht und Stimme. Das macht hoffentlich einem breiten Publikum Lust auf die Geschichte unserer Demokratie. Biografien überschreiten nicht nur Epochengrenzen, sondern sie spiegeln auch die Wandlungen und Widersprüche der Menschen. Jedenfalls dann, wenn diese Menschen – wie in diesem Buch – nicht überhöht oder gar heroisiert werden. Wer eine demokratische Walhalla voller Heldinnen und Helden erwartet, wird enttäuscht sein. Auch der fortschrittlichste Vordenker war ein Kind seiner Zeit, selbst wenn sie oder er dieser oft voraus war. Und nicht immer einte sie dieselbe Entschlossenheit: Für den Radikaldemokraten Friedrich Hecker handelten der Liberale Friedrich Christoph Dahlmann und die Parlamentarier der Paulskirche viel zu zögerlich; die Hosen tragende und Zigarren rauchende Louise Aston hingegen war viel zu provokant für die eher strategisch denkende Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters.

Den Begriff der Demokratie muss man beim Blick auf verschiedene Epochen weit fassen. Es wäre geschichtsblind zu erwarten, dass schon im 19. Jahrhundert die Menschen exakt jenes Verständnis von freiheitlicher Demokratie, Gleichberechtigung und sozialem Ausgleich hatten, wie wir es heute teilen. Kaum einer der hier Porträtierten hat diese Werte unserem heutigen Verständnis nach vollständig verfochten, aber alle haben sie mit ihrem Wirken letztlich zur Durchsetzung jener Werte beigetragen. Diese Frauen und Männer waren Wegbereiter der Demokratie, Wegbereiter unserer Republik.

Die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland war nicht frei von Widersprüchen. So zeigte sich während der Mainzer Republik, dass auch die Toleranz der Aufklärer ihre Grenzen hatte, und die Idee der Nation diente 1848 nicht nur zur Fundierung eines demokratischen Staates, sondern wurde auch zur Quelle eines aggressiven Nationalismus. Eine unmittelbare Erfolgsgeschichte war die Demokratie in Deutschland lange Zeit nicht. Die Erinnerung an ihre Wegbereiter taugt deshalb nicht dazu, die tief gründenden Wurzeln des Autoritären und nicht zuletzt des mörderischen Antisemitismus, die im 20. Jahrhundert so fatale Folgen zeitigten, zu relativieren. Wer dies versucht, begibt sich auf einen Holzweg. Aber die historischen Rückschläge für die Demokratie mindern nicht den Wert demokratischer Ideale und unsere Wertschätzung für all jene, die für diese Ideale früher als andere und oft mit großem Mut und unter hohen Opfern eingetreten sind.

Dieses Buch ist eine Auswahl, die notwendigerweise subjektiv und unvollständig ist; es soll kein Kanon sein. Viele weitere bekannte Persönlichkeiten gehören zu den Wegbereitern der Demokratie in Deutschland, zu den Sympathisanten der Freiheit seit 1789: Georg Büchner und Heinrich Heine, Karl von Rotteck und Karl Theodor Welcker, Gustav und Amalie Struve, Heinrich von Gagern und Eduard Simson, Malwida von Meysenbug und Luise Zietz, Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht und Eduard Bernstein. Auch die von der Französischen Revolution inspirierten, viel beschriebenen Projekte der preußischen Reformer enthalten Elemente, die Teil dieser Geschichte sind. Aber es kommt mir darauf an, sowohl jene wieder ins Licht zu rücken, die viel zu lange zu Unrecht vergessen gemacht worden sind, als auch anderen erstmals die verdiente Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dazu gehören vor allem auch die Frauen. Zwar war ihnen bis 1908 das politische Engagement in Preußen verboten, doch viele mehr von ihnen waren politisch aktiv, als bekannt ist.

Darüber hinaus soll dieses Buch auch dazu anregen, sich weiter mit den Orten, Ereignissen und den Köpfen der deutschen Demokratiegeschichte zu befassen, nachzufragen und nachzuforschen. Wäre es nicht schön, wenn alle deutschen Länder ihre Geschichte der Demokratie schrieben, ihre Orte der Demokratie würdigten und vor allem nach den mutigen Frauen und Männern fragten, die in ihrer Region Freiheit und Demokratie in der Vergangenheit vorangebracht haben und heute Ansporn für die Zukunft sein können? Die Geschichte unserer Demokratie und ihre Protagonisten sollten ein selbstverständlicher Teil unserer Gedenkkultur, unserer republikanischen Tradition werden.

Demokratie kennt keine ewigen Wahrheiten. Es sind der Pluralismus, die Vielfalt der Meinungen, Rede und Gegenrede, Versuch und Fehler, Wahl und Abwahl, welche die Demokratie immer wieder befähigen, die Herausforderungen der Zeit zu meistern. Digitale Revolution, Klimawandel, ökonomische Globalisierung und gerechte Teilhabe am Wohlstand – dies und vieles mehr erfordert heute neue Kraft und neue Ideen. Robert Blum schrieb einmal: «Es hätte […] überhaupt nichts Gutes und Großes gegeben, wenn jeder stets gedacht hätte: Du änderst doch nichts!»[8] Der Blick zurück zeigt uns, was Einzelne und ihre Ideen vermögen, die auf der Höhe der Zeit sind. Das macht Mut für die Zukunft, und auch darin liegt der große Wert einer lebendigen Demokratiegeschichte.

Barbara Stollberg-Rilinger 

Viele Wege zur Demokratie

Aus dem Ständestaat in die Bürgergesellschaft

Unsere Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Der parlamentarisch-demokratische Rechtsstaat, wie wir ihn heute kennen, stand den Menschen nicht immer schon als Ziel vor Augen; seine Entstehung war nicht über die Jahrhunderte von langer Hand geplant. Wir sind es gewohnt, uns die Geschichte der Demokratieentwicklung als langen, steinigen Weg vorzustellen, bei dem es große Hindernisse zu überwinden galt, bevor endlich das Ziel erreicht wurde. Dieses Bild ist irreführend. Man sollte sich die Entstehung der modernen Demokratien eher als eine Vielzahl verschiedener Trampelpfade vorstellen, die keineswegs alle in die gleiche Richtung führten und sich eher zufällig kreuzten. Dass demokratische Verfassungsstaaten im modernen Sinne möglich wurden, war nicht vorgezeichnet, sondern vielmehr ganz unwahrscheinlich. Es war das Ergebnis offener, zum Teil gegenläufiger Entwicklungen, die in bestimmten historischen Momenten zusammentrafen. Demokratiegeschichte ist, wie alle Geschichte, kontingent, das heißt, es hätte auch immer ganz anders kommen können. Und auch in Zukunft kann es jederzeit wieder anders kommen.

Dieses Buch beginnt mit dem Symboljahr 1789. In der Französischen Revolution, die manche Deutsche, vom jungen Bonner Komponisten bis zum Königsberger Philosophen, von der Hamburger Salonnière bis zum Ulmer Handwerksmeister, begeistert begrüßten, wurden Forderungen miteinander verknüpft, die zuvor nicht zusammengehört hatten und die nun – in ihrer Kombination – eine durchschlagende Wirkung entfalteten: die Forderung nach allgemeiner politischer Partizipation, das Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit, die Idee, dass alle legitime Staatsgewalt vom Volk ausgehen muss, die Vorstellung unveräußerlicher individueller Freiheitsrechte. Alle diese Elemente hatten ihre je eigene Geschichte und entstammten je verschiedenen historischen Kontexten.

Vormoderne Staaten – oder besser: die Herrschaftsgebilde, aus denen sich Staaten entwickelten – waren in Europa in der überwiegenden Mehrzahl Erbmonarchien. Doch die Fürsten konnten nicht ganz allein herrschen, dazu fehlten ihnen schlicht die Mittel. Sie waren auf Konsens und Unterstützung angewiesen. Denn ihnen standen von jeher andere intermediäre Herrschaftsträger gegenüber. Herrschaftsrechte wurden auf allen Ebenen der Gesellschaft ausgeübt: von adeligen Grundherren vor allem, aber auch von den Räten der Städte, geistlichen Korporationen oder Universitäten. Auch Frauen konnten Herrschaftsrechte innehaben, zum Beispiel als Vorsteherinnen von Reichsdamenstiften oder als adelige Vormundinnen ihrer Söhne. Solche intermediären Herrschaftsträger erhoben Abgaben von ihren Untertanen und übten eigene Gerichtsbarkeit über sie aus. Der Reichtum eines Landes floss in viele Taschen. Ein Fürst, der Geld brauchte – vor allem um Krieg zu führen –, musste diese Herrschaftsträger im Land um Hilfe bitten, er konnte ihnen nicht einfach befehlen. Im Gegenzug ließen diese sich ihre Mitspracherechte verbriefen. Im späten Mittelalter verfestigten sich solche Partizipationsverfahren zu «Reichs-» beziehungsweise «Landtagen», die der Fürst einberief. Dort erschienen die verschiedenen «Stände» und tagten jeweils für sich: Geistliche, Adelige, Stadträte, in Ausnahmefällen auch Vertreter von bäuerlichen Landgemeinden. Politische Partizipation und soziale Ungleichheit waren also untrennbar miteinander verknüpft und verstärkten sich gegenseitig. Denn für ihre Zustimmung zu neuen Steuern und Gesetzen ließen sich die Stände im Gegenzug ihre Privilegien stets aufs Neue bestätigen. Wenn Ständeversammlungen «das ganze Land repräsentierten», dann nur in dem Sinne, dass ihre Beschlüsse für alle Untertanen verbindlich waren – ohne dass diese ihrerseits um ihre Zustimmung gefragt wurden oder die Stände ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen mussten. Politische Partizipation war also hierarchisch, vielgestaltig und ungleich, und diese Vielfalt und Ungleichheit neigte zur Versteinerung. Denn je älter ein Recht, desto legitimer erschien es auch. «Wohlerworbene Rechte» waren schwer wieder aus der Welt zu schaffen.

Bürgerliche Inseln in der adelig dominierten Umwelt waren autonome Stadtgemeinden, die sich Republiken nannten, weil sie sich im Inneren durch einen Rat selbst regierten, die Regierung also eine res publica, eine «öffentliche Sache», war. Das galt vor allem für die rund fünfzig Reichsstädte, die nur dem Kaiser untertan waren. Aber auch wenn die Städte nicht dem Kaiser, sondern einem anderen Stadtherrn (einem Fürsten oder Bischof) zu bestimmten Leistungen verpflichtet waren, so bestimmten sie doch nach ihren eigenen, selbstgesetzten Regeln, wie sie diese Lasten aufbrachten. Die Stadträte und Bürgermeister hatten ihre Ämter auf Zeit inne und wurden durch höchst komplexe Verfahren bestimmt, die sich aus Elementen von Wahl, Los und Selbstergänzung zusammensetzten. Doch auch die Partizipation an der Stadtregierung war keineswegs egalitär. Zum einen waren bei Weitem nicht alle Einwohner einer Stadt auch Bürger im vollen Wortsinne und an der Wahl des Rates beteiligt, sondern nur die männlichen Haushaltsvorstände mit einem bestimmten Eigentum. Ehefrauen, Söhne, Töchter, Knechte, Mägde und Lehrlinge hatten keine eigenen Partizipationsrechte, weil sie der Gewalt ihres Hausherrn unterstanden. Arme, Invalide, Wandergesellen und andere Vaganten gehörten nicht dazu, weil sie keine selbstständige wirtschaftliche Existenz in der Stadt hatten; Juden und Kleriker gehörten nicht dazu, weil für sie Sonderrechte galten. Zum anderen wurden in der Regel nur Angehörige bestimmter «ratsverwandter» Familien in den Rat gewählt. Um am Regiment teilzunehmen, musste man wirtschaftlich abkömmlich sein. Meist gab es komplexe Rotationssysteme zwischen einem «weiteren» und einem «engeren» Rat, in denen sich oft dieselben Familien abwechselten. Zwar kam es regelmäßig zu Krisen, etwa wenn sich Ratsleute allzu schamlos auf Kosten der Gemeinde bereicherten oder die konfessionelle Minderheit von der Mehrheit allzu scharf unterdrückt wurde. Das führte immer wieder zu Aufständen, in denen breitere Schichten eine gleichmäßigere Beteiligung am Ratsregiment forderten. Doch solche Partizipationskonflikte führten eher dazu, dass einzelne Familien in den Kreis der Ratsfähigen aufstiegen, als dazu, dass das politische System als Ganzes egalitärer wurde. Auch in den Städten war Partizipation nicht demokratisch, sondern oligarchisch strukturiert.

In vormodernen Monarchien galten die Herrscher als höchste Richter und Hüter des Rechts; sie leiteten ihre Herrschaft davon ab, dass sie für Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit sorgten. Das heißt aber nicht, dass sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Nach allgemeiner Überzeugung standen sie nicht über dem Recht, sondern waren gebunden an das göttliche und natürliche Recht, das ungeschriebene Gewohnheitsrecht und das «gute alte Herkommen», vor allem aber an die Verpflichtungen, die sie selbst eingegangen waren. Es gab nicht ein einziges, in sich geschlossenes Rechtssystem, sondern eine Vielzahl verschiedener, teilweise miteinander konkurrierender Rechtskreise und Gerichtsinstanzen: landesherrliches, städtisches, kirchliches, grundherrliches Recht, römisches Recht, Hofrecht, Lehnsrecht, Reichsrecht. Diese Vielfalt schränkte einerseits die Stellung der Fürsten ein, bot ihnen aber andererseits in Konfliktfällen auch die Möglichkeit, ihre Position als oberste Schlichtungsinstanz mithilfe professioneller Juristen zu stärken und schrittweise immer weiter auszubauen.

Die stärksten rechtlichen Bindungen, denen Fürsten unterlagen, waren die konkreten «Herrschaftsverträge», die sie mit den Ständen des Landes geschlossen hatten und die als «Landesgrundgesetze», leges fundamentales, galten. Solche Verträge wurden meist nach schweren Thronfolgekrisen oder Konfessionskonflikten ausgehandelt, schriftlich verbrieft und anschließend bei jedem Herrscherwechsel aufs Neue in großen öffentlichen Ritualen durch gegenseitige Eidesleistungen bekräftigt. Der neue Landesherr versprach feierlich, die «Privilegien, Rechte und Freiheiten des Landes» zu wahren, und im Gegenzug wurde ihm in einem kollektiven Huldigungseid Gehorsam versprochen. Diese «Grundgesetze» waren im Unterschied zu einer modernen Verfassung wechselseitige Verträge zwischen Fürst und Ständen; sie galten nur für die, die sie geschlossen hatten. Sie begründeten daher keine abstrakt-allgemeinen, gleichen Rechte für alle Individuen, sondern Privilegien und Freiheiten für bestimmte Familien und Korporationen. Mit anderen Worten: Es gab keine allgemeine staatsbürgerliche Freiheit im Singular, sondern zunächst einmal bestimmte ständisch-korporative Freiheiten im Plural. Und diejenigen, die diese Verträge schlossen, neigten dazu, vor allem ihre eigenen Privilegien immer aufs Neue zu sichern und wenn möglich zu erweitern.

Doch es gab durchaus Ansätze dafür, dass solche ständischen Herrschaftsverträge auch Freiheiten allgemeinerer Art begründeten. Das galt etwa für die Freiheit der Konfession, den zentralen Konfliktgegenstand der Frühen Neuzeit. Zu den wichtigsten Grundgesetzen im Römisch-Deutschen Reich gehörte der Augsburger Religionsfrieden von 1555, der es zum einen den Landesherren überließ, die Konfession in ihrem Land zu bestimmen, aber zum anderen auch den Untertanen abweichender Konfession erlaubte, ihr Hab und Gut zu verkaufen und auszuwandern. Der Westfälische Frieden von 1648 erweiterte die religiösen Rechte der Untertanen, die nun bei ihrem Glauben bleiben durften, wenn der Landesfürst die Konfession wechselte. Das waren zwar bescheidene Rechte, aber sie waren doch insofern unerhört, als sie grundsätzlich für alle Untertanen gleichermaßen galten.

Angesichts der konkreten ständischen Herrschaftsverträge konnten die Gelehrten im Zeitalter der Konfessionskonflikte argumentieren, dass die Monarchen ihre Herrschaft nicht ihrem Erbrecht oder der göttlichen Gnade verdankten, sondern ursprünglich vom Volk, populus, verliehen bekommen hätten. Daraus leiteten die jeweils vom Fürsten unterdrückten konfessionellen Lager das Recht zum gewaltsamen Widerstand ab. Da das Volk dem Fürsten die Herrschaft stets nur unter bestimmten Bedingungen anvertraut habe, hieß es, dürfe das Volk einem vertragsbrüchigen Fürsten die Herrschaft auch wieder nehmen. Mit dieser Begründung wurden Könige von den Ständen mitunter abgesetzt, wie in Dänemark oder Böhmen, ja, wie in England und später in Frankreich, sogar geköpft. Man hat in dieser Lehre den Ursprung des Prinzips der Volkssouveränität gesehen, wonach «alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht». Die Frage ist nur: Wer war «das Volk», oder genauer: Wer war berechtigt, in seinem Namen zu handeln? Im Unterschied zum modernen demokratischen Prinzip der Volkssouveränität waren es hier allerdings stets nur bestimmte privilegierte Repräsentanten, die für sich beanspruchten, das «ganze Volk» zu verkörpern und dessen Rechte auszuüben, ohne selbst ihre Stellung einer allgemeinen, gleichen Wahl durch das ganze Volk zu verdanken.

Das sogenannte Heilige Römische Reich deutscher Nation war ein Sonderfall. Es bestand aus einer heterogenen Vielzahl von Fürstentümern, kleineren Herrschaften und Städten, die alle den Kaiser als (von den Kurfürsten gewähltes) Oberhaupt und eine Reihe von Institutionen gemeinsam hatten. Der Kaiser war der oberste Richter und Lehnsherr der Fürsten, Prälaten, Grafen und Herren, die daher im Rahmen dieses Reichsverbandes keine vollständig souveräne Stellung innehatten. Das Reich besaß eine doppelt ständestaatliche Struktur: Auf der Ebene des Reichsverbandes traten die Landesherren dem Kaiser gegenüber und verhandelten mit ihm in ähnlicher Weise, wie sie ihrerseits auf der Ebene ihrer einzelnen Länder mit ihren eigenen Landständen verhandelten. Reichstage und Landtage folgten ähnlichen Verfahren und gehorchten einer ähnlichen Logik der Gegenseitigkeit. Stets ging es um das Aushandeln von Kompromissen, vor allem um die Bewilligung von Steuern im Austausch gegen Rechtsgarantien.

Das überaus komplexe und schwerfällige Reichsgebilde setzte der Gewalt der einzelnen Glieder gewisse Schranken, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße: den Kleinen mehr, den Großen weniger. Dennoch funktionierte es faktisch als eine Art checks and balances,