Cover

Die neue Praxis Dr. Norden
– Staffel 3 –

E-Book 21-30

Carmen von Lindenau

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74099-389-4

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot
Weitere Titel im Angebot
Cover

Eva unter Verdacht

Die schöne Erzieherin ist sich keiner Schuld bewusst

Roman von von Lindenau, Carmen

Olivia und Daniel waren sich einig darüber, dass Oda und Vincent erst nach ihrem zweiten Geburtstag in den Kindergarten gehen sollten. Bis dahin würden sie sich regelmäßig mit Freunden treffen, die gleichaltrige Kinder hatten, um gemeinsam mit ihnen etwas zu unternehmen. Da Kindergartenplätze aber wie überall knapp waren, sahen sie sich bereits ein paar Wochen nach der Geburt der Zwillinge nach zwei Plätzen um. Von dem Kindergarten in ihrem Stadtviertel, der nur ein paar Minuten von ihnen entfernt war, hatten sie bisher nur Gutes gehört und hatten deshalb für den Donnerstagabend einen Gesprächstermin mit Gerda Michelmann, der Kindergartenleiterin, vereinbart.

Der Kindergarten war in einem renovierten Altbau am Waldrand untergebracht. Das Haus mit den zwei Stockwerken lag inmitten eines Gartens mit alten Kastanien und Ahornbäumen. Es gab einen Spielplatz mit Sandkasten, Rutsche und Klettergerüsten. Im Erdgeschoss waren die Räume für die Jüngeren, der erste Stock war für die Vorschulkinder eingerichtet.

»Von Montag bis Donnerstag haben wir von 7 bis 18 Uhr geöffnet, an den Freitagen bis 15 Uhr. Eltern, die länger arbeiten müssen, haben Vereinbarungen mit Verwandten oder Freunden getroffen, die ihre Kinder gegebenenfalls abholen. Natürlich nur nach vorheriger Absprache mit uns. Wir übergeben die Kinder niemals an einen Fremden«, versicherte Gerda Michelmann Olivia und Daniel, als sie auf dem Sofa in der Besucherecke ihres Büros saßen. »Das ist eine Liste unserer Angebote. Wir bieten Englischkurse, Musikunterricht, Theaterkurse und später Vorschulunterricht. Die sportliche Ausbildung überlassen wir allerdings den Turnvereinen, bei uns sollen sich die Kleinen einfach nur ganz ungezwungen bewegen, entweder im Garten oder bei schlechtem Wetter in unserem Toberaum im Keller. Ich könnte Sie jetzt durch die Räumlichkeiten führen, falls Sie das möchten«, schlug Gerda schließlich vor.

»Sehr gern«, erklärten sich Daniel und Olivia mit der Führung auch sofort einverstanden.

Das, was sie sahen, gefiel ihnen. Die Räume waren alle hell und freundlich eingerichtet, hatten große Fenster und schöne Dielenböden. Die Tische und Stühle waren aus hellem Holz, und es gab reichlich Spielzeug, Bücher und Malbücher. Die Küche, in der das Frühstück und das Mittagessen zubereitet wurde, und die Sanitärräume waren sauber und hell.

»Darf ich vorstellen, Eva Lindner, eine unserer Erzieherinnen. Sie hat heute den Spätdienst übernommen«, machte Gerda Olivia und Daniel mit einer jungen Frau bekannt, die mit fünf Kindern im Vorschulalter in einem der Räume im ersten Stock auf dem Boden saß und ihnen aus einem Buch vorlas.

»Wir kennen uns, hallo, Doktor Norden« begrüßte Eva den jungen Arzt, den sie sich vor einigen Monaten als Hausarzt ausgesucht hatte, nachdem ihr bisheriger in den Ruhestand gegangen war.

»Hallo, Frau Lindner«, entgegnete Daniel freundlich. Es scheint ihr nicht gut zu gehen, dachte er. Trotz des Make-ups, das sie aufgetragen hatte, konnte er die tiefen Augenringe erkennen, die die schlanke junge Frau mit dem dunklen kurzen Haar offensichtlich zu verbergen versuchte. Aber er würde sie sicher nicht vor ihrer Chefin darauf ansprechen.

»Ich hoffe, unser Angebot und unsere Räumlichkeiten konnten Sie davon überzeugen, dass Ihre Kinder sich hier wohlfühlen werden. Selbstverständlich legen wir auch großen Wert auf die Fortbildung unserer Erzieherinnen. Wir alle arbeiten hier ausschließlich zum Wohl der Kinder«, versicherte Gerda Olivia und Daniel, nachdem sie den Raum, in dem sich Eva mit den Kindern aufhielt, wieder verlassen hatten und die schöne alte Holztreppe, deren Stufen ein wenig knarrten, in das Erdgeschoss hinuntergingen.

»Wir danken Ihnen für Ihre Zeit, Frau Michelmann. Wir geben Ihnen in den nächsten Tagen Bescheid, wie wir uns entschieden haben«, sagte Olivia.

»Lassen Sie sich aber nicht allzu viel Zeit, unsere Plätze sind äußerst gefragt«, entgegnete Gerda, die ein wenig enttäuscht schien, dass sie nicht gleich eine Zusage erhielt.

»Wie meine Frau schon sagte, wir melden uns in den nächsten Tagen«, schloss sich Daniel Olivia an.

Sie bedankten sich noch einmal für die Führung und verabschiedeten sich von Gerda. Da der Kindergarten nur etwa zwanzig Minuten zu Fuß von ihrem Haus entfernt war, hatten sie ihren Besuch dort mit einem Spaziergang verbunden. Jetzt auf dem Rückweg wollten sie noch ein paar Einkäufe erledigen. Es war kurz vor sechs, und die Geschäfte in der Fußgängerzone hatten alle bis sieben Uhr geöffnet.

»Hattest du auch den Eindruck, dass es Frau Lindner nicht gut geht?«, wollte Daniel von Olivia wissen, nachdem sie den Kindergarten verlassen hatten.

»Sie sieht schon ein bisschen mitgenommen aus, das stimmt. Aber vielleicht war sie auch einfach nur müde. Sie wird sich schon bei dir melden, falls sie ein Problem hat.«

»Das hoffe ich.«

»Darüber musst du gar nicht nachdenken. Deine Patienten vertrauen dir, mein Schatz«, sagte Olivia lächelnd und küsste Daniel zärtlich auf die Wange. »Und überhaupt, viel Schlaf bekommen wir im Moment auch nicht. Ich möchte nicht wissen, wie wir beide im Moment auf andere wirken.«

»Wir sind glückliche Eltern, das ist es, was die Leute sehen, wenn sie uns begegnen.«

»Das ist es auch, wenn ich in den Spiegel sehe, aber so ganz vertreibt das die Müdigkeit nicht«, seufzte Olivia. »In ein paar Wochen sind diese unruhigen Nächte aber vorbei, dann schlafen die Zwillinge nachts durch.«

»Dann werden wir aber erst einmal weiterhin hochschießen, um uns davon zu überzeugen, dass es ihnen gutgeht.«

»Das kann durchaus sein«, stimmte Olivia ihm lächelnd zu.

»Hallo, Doktor Norden, Frau Doktor Norden-Mai«, wurden sie gleich darauf von einer Frau im bunten Sommerkleid begrüßt, die ihnen in der Fußgängerzone entgegenkam.

»Hallo, Frau Meier, wie geht es Ihnen?«, fragte Daniel die rundliche Mittvierzigerin, nachdem er und Olivia stehen geblieben waren.

»Mir und meinem Mann geht es wieder gut, was wir Ihnen beiden zu verdanken haben. Sie haben die Krankheit meines Ferdis erkannt. Ohne Ihre Hilfe wären wir vermutlich nicht mehr zusammen.«

»Genauso ist es«, stimmte ihr der große starke Mann in dem blauweiß karierten Hemd zu, der mit einer kleinen weißen Papiertüte aus der Apotheke kam. »Ich bin wirklich sehr froh, dass wir Sie als unseren Hausarzt gewählt haben, Herr Doktor. Wer weiß, ob ein anderer Arzt ebenso schnell diese Diagnose gestellt hätte.«

»Die Hauptsache, es geht Ihnen wieder gut«, sagte Daniel. Ferdi Meier hatte an einer Pilzerkrankung gelitten, deren Auswirkungen ihn als alkoholkrank erscheinen ließen. Daniel und Olivia hatten die seltene Krankheit erkannt, und Ferdis Frau, die schon glaubte, ihr Mann würde den Alkohol ihr vorziehen, hatte ihre Ehe nicht länger in Gefahr gesehen.

»Ich halte mich auch genau an Ihre Anweisungen. Ich habe mir gerade wieder die Tabletten geholt, die ich noch ein paar Wochen nehmen soll«, sagte Ferdi und deutete auf die weiße Papiertüte, bevor er sie in einer seiner Hosentaschen verschwinden ließ.

»Es sind nur ein paar Aufbaupräparate. Sobald die Packung zu Ende ist, machen wir noch einmal ein großes Blutbild. Sollten dann alle Werte im grünen Bereich sein, müssen Sie sie nicht mehr einnehmen«, sagte Daniel.

»In Ordnung, ich komme pünktlich vorbei.«

»Wissen Sie, Gusti, Ferdis Tante, sagt immer, dass es auch für uns, die Leute hier in diesem kleinen verträumten Stadtteil von München ein großes Glück ist, dass Sie beide sich gefunden haben. Manchmal haben körperliche Probleme seelische Ursachen, oder seelische entstehen auf Grund eines körperlichen Leidens. In jedem Fall sind wir bei Ihnen an der richtigen Adresse. Nicht wahr, mein Schatz, du stimmst mir doch gewiss zu?«, wandte sich Frau Meier ihrem Mann zu.

»So ist es, mein Herzblatt, aber jetzt wollen wir den Herrn Doktor und die Frau Doktor nicht länger aufhalten.«

»Du hast recht, junge Eltern sind immer ein bisschen in Eile«, stimmte seine Frau ihm lächelnd zu, und sie und Ferdi verabschiedeten sich von Olivia und Daniel.

»Ein glückliches Paar«, stellte Olivia fest und schaute den beiden nach.

»Wir sind auch ein glückliches Paar, denke ich zumindest«, sagte Daniel.

»Nein, das weißt du«, entgegnete Olivia lächelnd und hakte sich bei ihm unter.

*

Wie immer am frühen Abend herrschte in der Fußgängerzone reges Treiben. Bewohner des Stadtteils, die in der Innenstadt arbeiteten, wollten auf dem Heimweg noch etwas einkaufen und hatten es immer ein bisschen eilig, weil sie endlich nach Hause wollten. Auch einige, die nicht mehr im Berufsleben standen, gingen um diese Uhrzeit gern einkaufen. Manchmal störten sich die Eiligen daran, weil es ihnen an den Kassen dann nicht schnell genug ging.

»Ich mag den Trubel am Abend, da spüre ich das Leben. Es tut mir leid, wenn die jungen Leute sich dann von mir gestört fühlen, aber ich brauche einfach dieses Gefühl, noch dazuzugehören«, hatte eine der alten Damen, die Olivias Gesprächstherapien im Seniorenheim besuchten, einmal zu ihr gesagt.

An diesem warmen Frühsommerabend waren aber offensichtlich alle, die in der Fußgängerzone unterwegs waren, bestens gelaunt. Der Himmel war noch strahlend blau, die Sonne schien, und die Blumen in den Steinkübeln, die die Eingänge der Geschäfte flankierten, verbreiteten ihren verführerischen Duft.

»Hallo, Doktor Norden, Frau Doktor Norden-Mai!«, wurden Daniel und Olivia immer wieder freundlich begrüßt.

Inzwischen war es für die beiden so gut wie unmöglich, nicht erkannt zu werden, wenn sie in diesem Stadtteil mit seinem eher dörflichen Charakter unterwegs waren. Die meisten Einheimischen wohnten schon seit mehreren Generationen in denselben Häusern und kannten sich gut. Den jungen Arzt und seine Familie hatten sie inzwischen mit Freude in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Sie gehörten zu ihnen.

Als Daniel und Olivia die Drogerie betraten, wurden sie gleich wieder von einigen Kunden herzlich begrüßt, und alle erkundigten sich nach den Zwillingen. Sie versicherten ihnen, dass die beiden sich prächtig entwickelten, während sie an den Regalen vorbeigingen und alles in den Einkaufswagen luden, was auf ihrem Einkaufszettel stand.

»Da schau her, diese Seife nehm ich auch am liebsten«, sagte eine füllige Blondinne in Caprihosen und weit ausgeschnittenem T-Shirt, die zur selben Zeit wie Olivia und Daniel das Regal mit den Seifen und Shampoos erreichte und die gleiche Flüssigseife in ihren Einkaufswagen packte, wie die beiden.

»Wir wechseln hin und wieder die Marke, Frau Dornsberg. Wir probieren gern auch mal etwas Neues aus«, entgegnete Olivia lächelnd.

»Freilich, das mach ich auch. Wenn wir schon die Auswahl haben, dann sollten wir sie auch nutzen«, sagte Frau Dornsberg und nahm auch noch die Flüssigseife einer anderen Firma aus dem Regal, während sie Daniel und Olivia nachschaute: »Mei, so ein schönes Paar«, murmelte sie.

Nachdem Daniel und Olivia ihre Einkäufe in der Drogerie erledigt hatten, machten sie sich auf den Weg zur Bäckerei Listner am Ende der Fußgängerzone. Bevor sie die Bäckerei betraten, wurde Daniel von einem älteren Mann mit welligem Haar und freundlichen dunklen Augen angesprochen.

»Verzeihen Sie die Störung, Herr Doktor, Frau Doktor«, wandte er sich auch Olivia kurz zu, bevor er wieder Daniel anschaute und ihn um ein kurzes Gespräch bat.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Kerner?«, fragte Daniel Gerold Kerner, einen seiner Patienten, der wegen seiner Arthrose bei ihm in Behandlung war, die er aber mit Sport ganz gut im Griff hatte. Daniel hoffte, der besorgte Blick seines Patienten bedeutete nicht, dass er befürchtete, ernsthaft krank zu sein.

»Lass dir Zeit«, sagte Olivia und ließ Daniel mit seinem Patienten allein. Falls Gerold Kerner ein medizinisches Problem mit Daniel besprechen wollte, war es ihm sicher lieber, wenn er mit ihm allein reden konnte.

»Gehen wir ein paar Schritte«, schlug Daniel vor. Den meisten Menschen fiel es leichter, über unangenehme Dinge zu sprechen, wenn sie sich bewegten.

*

Die Bäckerei mit ihren weißblauen Wandfliesen, den Regalen und dem Verkaufstresen aus dunklem Holz war ein beliebter Treffpunkt für die Nachbarschaft. Sie war schon seit über 100 Jahren im Besitz der Familie Listner. Das Flair der längst vergangenen Zeit war noch immer zu spüren. Einer der Gründe, warum ihre Kunden nicht nur zum Einkaufen kamen. Der andere war die Kaffeetheke. Die aus dunklem Holz angefertigte Theke war vor dem Fenster angebracht und erlaubte den Kunden, die noch auf einen Kaffee blieben, um ein wenig mit den Nachbarn zu plaudern, einen weiten Blick auf die Fußgängerzone.

Der Verkaufsraum der Bäckerei war nicht sehr groß, und die Kunden und Kundinnen standen eng beieinander, als Olivia hereinkam. Eleonore Listner, die Frau des Bäckers, eine rundliche Mittfünfzigerin, stand wie immer gut gelaunt hinter dem Tresen und plauderte mit ihren Kunden. Die ältere Dame, in dem eleganten dunklen Kostüm und den halblangen silbergrauen Haaren, die gerade an der Reihe war, konnte mit dieser Freundlichkeit aber offensichtlich nicht viel anfangen.

»Zwei Weißbrote, wie immer, was denn sonst?«, fuhr sie Frau Listner an, nachdem sie sie nach ihren Wünschen gefragt hatte.

»Verzeihung, Frau von Lenfeld, aber Ihr Sohn hat jetzt schon einige Male eines unserer dunklen Brote gekauft. Ich dachte, Sie würden auch gern einmal etwas Neues …

»Papperlapapp, ich will nichts Neues ausprobieren. Zwei Weißbrote, und gut ist es.«

»Geh, Agathe, warum bist du denn in letzter Zeit so grantig?«, mischte sich eine Frau im hellblauen Trachtenkostüm in das Gespräch ein.

»Ich bin nicht grantig, ich habe es nur eilig. So ist das, wenn man noch mitten im Leben steht, Edelgard. Nicht jeder kann es sich mit seiner Rente bequem machen«, sagte Agathe von Lenfeld und betrachtete Edelgard mit einem herablassenden Blick.

»Schlecht geht es dir mit eurem Juwelierladen wohl nicht, und so eingespannt bist du dort auch nicht mehr.«

»Schon vergessen, was uns erst kürzlich zugestoßen ist?«, fuhr Agathe Edelgard an.

»Falls du von dem Raub sprichst, das Collier, das euch gestohlen wurde, ist doch wieder aufgetaucht. Ein echter Schaden ist euch also nicht entstanden.«

»Aber wir hatten jede Menge Unannehmlichkeiten. Und ganz nebenbei kümmere ich mich auch noch um meinen Enkel. Das dürfte wohl jedem hier bekannt sein.«

»Mei, vielleicht wird dir diese Aufgabe schon bald abgenommen. Ist es nicht das, was dich gerad so ärgert?«, fragte Edelgard schmunzelnd.

»Jetzt spricht sie wohl von der neuen Liebe deines Sohnes, die dir doch so gar nicht in den Kram passt, wie es heißt«, mischte sich eine hagere Frau im beigen Dirndl ein, die genau wie die anderen Kunden in der Bäckerei diesem Gespräch zwischen Edelgard und Agathe aufmerksam zuhörte.

»Was mir nicht in den Kram passt, wie du es nennst, Walburga, das hat auch keinen Bestand. Und jetzt kümmert euch um euren eigenen Kram«, herrschte Agathe die beiden an.

»Wer ist diese Liebe eigentlich wirklich? Ich meine, man sieht deinen Sohn ja immer mal wieder mit einer Frau. In letzter Zeit allerdings recht häufig mit …«

»Halte dich mit deinen Vermutungen zurück, da wird nie etwas sein. Hast du das verstanden, meine Liebe?«

»Geh, jetzt flipp doch nicht gleich so aus. Ein bissel mehr Gelassenheit würde dir das Leben erleichtern, Agathe«, entgegnete Walburga, die ungefähr so alt wie Edelgard war. »Vielleicht solltest du mal zum Yoga gehen«, riet sie Agathe.

Aber Agathe hörte nicht mehr zu. Sie nahm die beiden Weißbrote entgegen, die Frau Listner ihr reichte, bezahlte sie und verließ grußlos den Laden.

»Wieso seid ihr sie so angegangen?«, fragte Frau Listner Edelgard und Walburga, nachdem die Tür hinter Agathe zugefallen war.

»Ihr Standesdünkel muss erschüttert werden, sonst macht sie ihrem armen Sohn das Leben noch zur Hölle. Er hat so lange gebraucht, um über den Tod seiner Frau hinwegzukommen und jetzt hat er sich endlich wieder verliebt …«

»… und ihr passt die Frau nicht, weil sie nicht aus einem alten Adelshaus stammt«, setzte Edelgard Walburgas Erklärung für ihr beider Verhalten fort.

»Genauso ist es«, murmelten auch einige der anderen Kundinnen, die vor Olivia in der Reihe standen.

»Kann’s jetzt weitergehen?«, fragte Frau Listner in die Runde.

»Freilich, ich hätt dann gern ein Krustenvollkorn und sechs Brötchen«, sagte Edelgard.

Olivia hatte den Eindruck, dass sie die einzige in der Bäckerei war, die nicht wusste, wer diese Frau war, in die sich der Juwelier Elmar von Lenfeld verliebt hatte. Ich werde mich nicht an den Spekulationen, was gut oder schlecht für den Mann ist, beteiligen, deshalb werde ich auch nicht weiter nachfragen, dachte sie.

»Darf es noch etwas sein, außer dem Brot und den Brötchen?«, fragte Frau Listner, nachdem sie alles zusammengepackt hatte, was Edelgard hatte haben wollen.

»Ich hätt gern noch zwei Stück von dem Erdbeerkuchen, damit werd ich meinen Mann nach dem Abendessen überraschen«, sagte Edelgard. »Also dann, einen schönen Abend noch«, verabschiedete sie sich, nachdem Frau Listner ihr auch den Kuchen gereicht hatte und sie ihre Einkäufe bezahlt hatte.

»Wer ist denn als nächstes an der Reihe?«, fragte Frau Listner in die Runde.

»Ich!«, rief eine junge Frau in Jeans und T-Shirt.

»Was darf es denn sein, Ela?«, fragte Frau Listner und wandte sich ihrer Kundin zu, während die anderen, die noch im Laden waren, einen Blick auf einen der Flyer warfen, die auf der Kaffeetheke lagen und über die Sonderangebote der nächsten Woche informierten.

»Ein Kürbiskernbrot für Sie, Frau Doktor?«, wollte Frau Listner wissen, als Olivia ein paar Minuten später an der Reihe war.

»Ja, bitte, ein Kürbiskernbrot und drei Stück Blaubeerkuchen«, antwortete Olivia.

»Sehr gern, drei Stück von dem frischgebackenen Blaubeerkuchen. Ich pack ein extra großes Stück für Ihre Ophelia ein. Ich weiß doch, dass sie diesen Kuchen besonders gern mag«, entgegnete Frau Listner.

»Er ist sogar ihr absoluter Lieblingskuchen«, versicherte Olivia Frau Listner, die dieses Kompliment mit einem überaus zufriedenen Lächeln quittierte.

»Grüßen Sie Ihre Tochter von mir«, bat Frau Listner, als Olivia den Laden wenig später verließ.

»Das mache ich«, sagte Olivia.

*

»Macht dir das, was Herr Kerner dir gesagt hat, Sorgen?«, fragte Olivia, weil ihr Daniel so nachdenklich erschien, als sie mit ihrem Einkauf aus der Bäckerei kam.

»Ein wenig schon«, gab Daniel zu.

»Willst du darüber sprechen?«, fragte Olivia, als sie gleich darauf die Fußgängerzone verließen und in die Straße einbogen, in der sie wohnten.

»Ja, das würde ich gern tun.«

»Um was geht es?«, fragte Olivia, die den Einkaufskorb mit dem Brot und dem Kuchen über ihren rechten Unterarm gehängt hatte, während Daniel die beiden Stofftaschen mit dem Einkauf aus der Drogerie nach Hause trug.

»Grüß Gott, Herr Doktor, Frau Doktor!«, rief eine pummelige Mitsechzigerin im hellen Trachtenkostüm, die aus einer Seitenstraße kam und sich ihnen anschloss.

»Wir reden später weiter«, raunte Daniel Olivia zu, bevor sie sich Gusti Meier, Ferdis Tante, zuwandten.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, in unserer Familie herrscht wieder Frieden«, sagte Gusti. »Wir hatten schon alle befürchtet, dass der Ferdi und seine Frau nicht mehr miteinander auskämen, aber jetzt ist er wieder gesund, und die zwei verstehen sich besser als zuvor.«

»Wir haben die beiden vorhin getroffen. Sie scheinen wirklich wieder glücklich miteinander zu sein«, stimmte Olivia Gusti zu.

»Mei, so geht’s halt, wenn ein guter Arzt und eine gute Psychologin in der Nachbarschaft wohnen, die sich Zeit für unsere Sorgen nehmen. Wie geht es dem Nachwuchs? Alles gesund und munter?«, erkundigte sich Gusti nach den Zwillingen.

»Oda und Vincent geht es gut«, versicherte ihr Olivia.

»Vermutlich herrscht gerade recht viel Trubel bei Ihnen. Solange die Kinder nachts nicht durchschlafen, ist es für alle ein bissel anstrengend. Ich kann mich noch gut an die ersten Monate nach der Geburt meines Sohnes erinnern, die waren so etwas von anstrengend«, seufzte Gusti. »Also dann, einen schönen Abend noch«, verabschiedete sie sich wenig später vor Daniels und Olivias Haus und eilte mit einem zufriedenen Lächeln davon.

»Es duftet nach Blaubeerkuchen«, stellte Ophelia fest, die Daniel und Olivia gleich darauf die Tür aufhielt.

»Gutes Näschen«, entgegnete Olivia lächelnd und drückte ihrer Tochter den eingepackten Kuchen in die Hand, den sie in der Bäckerei Listner gekauft hatte. »Wie war es? Haben deine Geschwister dich sehr in Anspruch genommen?«, fragte sie.

»Nein, gar nicht, sie sind absolut perfekte Babys. Seht selbst«, sagte Ophelia und führte die beiden ins Wohnzimmer.

Oda und Vincent lagen umgeben von Stofftieren auf der weichen grünen Decke, die Ophelia auf dem Boden ausgebreitet hatte. Sie trugen beide blaue Hosen, weiße T-Shirts und weiße Söckchen und sahen vollkommen zufrieden aus.

»Ich habe ihnen Tee zu trinken gegeben, und ich habe sie gewickelt, das hat alles super geklappt.«

»Danke, Schätzchen, du machst das wirklich großartig«, lobte Olivia ihre Tochter.

»Das stimmt, du bist eine wundervolle große Schwester«, sagte Daniel und streichelte Ophelia über das Haar.

»Ich gebe mir Mühe«, entgegnete sie und konnte nicht ganz verbergen, dass sie dieses Lob ein wenig stolz machte. »Wie war es im Kindergarten?«, fragte sie.

»Wir hatten einen guten Eindruck, wir werden die beiden wahrscheinlich dort anmelden. Und jetzt kümmere ich mich um das Abendessen«, sagte Olivia.

»Okay, dann gehe ich ein bisschen telefonieren. Bis nachher, ihr Süßen!«, rief Ophelia ihren Geschwistern zu und lief die Treppe hinauf zu ihrem Appartement im Dachgeschoss.

»Und ich werde ein wenig Zeit auf dem Boden verbringen.«

»Du wirst was?«, fragte Olivia und sah Daniel überrascht an.

»Ich bin gleich zurück, ich wasche mir nur die Hände«, antwortete er schmunzelnd.

»Das hast du also gemeint, damit machst du deinen Kindern eine große Freude«, stellte Olivia fest, als Daniel zurückkam und sich zu den Zwillingen auf die Decke legte. Das Lächeln der Babys verriet, dass sie ihren Vater erkannten.

Er hatte sich auf den Bauch gelegt, betrachtete die beiden einen Moment lang und küsste dann zuerst Vincent und danach Oda auf den Bauch. Danach nahm er eines der Stofftiere, einen Pinguin in die Hand, bewegte ihn über die Decke und erzählte den Kindern die Geschichte eines kleinen Pinguins, der gemeinsam mit seinen Eltern zum ersten Mal im Eismeer schwimmt. »Auch wir werden euch das Schwimmen beibringen, aber da wir keine Pinguinfamilie sind, wird das nicht ausreichen, um ein glückliches Leben zu führen, da gibt es noch viel mehr. Eure Mama und ich werden euch begleiten und euch alles beibringen, was ihr braucht. Darauf dürft ihr euch immer verlassen«, versicherte Daniel seinen Kindern, nachdem er ihnen die Geschichte von dem kleinen Pinguin erzählt hatte.

Olivia stand währenddessen in der Küche und bereitete die Toastscheiben zu, die sie für das Abendessen geplant hatte, dabei hörte sie zu, wie Daniel mit den Zwillingen sprach. Er liebt seine Kinder, diese Liebe spiegelt sich in jedem Wort wider, das er an sie richtet, dachte sie.

Als sie eine halbe Stunde später mit ihm und Ophelia am Tisch in der großen hellen Wohnküche saß, die Zwillinge in ihrem Stubenwagen lagen, den sie in die Küche geschoben hatten, und Ortrud, die rotgetigerte Katze, sich neben dem Stubenwagen auf dem Boden ausstreckte, spürte sie eine wohlige innerliche Wärme. Sie hatte einen wundervollen Mann, eine bildhübsche Tochter, die ihr mit ihrem roten Haar und den hellen blauen Augen unglaublich ähnelte, und da waren die Zwillinge, zwei gesunde schöne Babys, an die sich inzwischen sogar Ortrud gewöhnt hatte, was sie damit zum Ausdruck brachte, dass sie ihre Nähe suchte. Manchmal ist das Glück so groß, dass man es kaum fassen kann, dachte sie und betrachtete ihre Familie mit einem liebevollen Lächeln.

*

Nach dem Abendessen zog sich Ophelia in ihr Zimmer zurück, um mit Freunden zu skypen. Olivia und Daniel versorgten die Zwillinge. Als sie schliefen, setzten sie sich mit einem Glas Eistee auf die Terrasse.

»Was hältst du von Frau Michelmann?«, wollte Olivia von Daniel wissen.

»Sie macht einen ziemlich geschäftstüchtigen Eindruck.«

»Ja, auf mich auch, aber das sollte nicht unbedingt die hervorstechende Eigenschaft einer Kindergartenleiterin sein.«

»Nein, eigentlich nicht«, stimmte Daniel ihr zu. »Andererseits ist sie für die Leitung des Kindergartens zuständig und hat keine eigene Gruppe, so wie sie uns erzählt hat. Von den anderen Erzieherinnen hast du aber bisher nur Gutes gehört.«

»Stimmt, das spricht für diesen Kindergarten. Außerdem ist das Haus schön gelegen, so direkt am Wald, und der Garten gefällt mir auch.«

»Ich denke, wir sollten uns erst einmal nicht zu viele Gedanken um den Kindergarten machen. Oda und Vincent werden nicht dort einziehen, sie werden nur ein paar Stunden am Tag dort verbringen. Da sie zu zweit sein werden, müssen wir uns ohnehin weniger Gedanken machen als andere Eltern. Sie werden aufeinander aufpassen.«

»Du meinst, wir sollten die Plätze gleich reservieren lassen?«, fragte Olivia.

»Wir können auch noch ein paar Tage warten.«

»Ich denke, das sollten wir auch tun. Vielleicht sehe ich mir den Kindergarten auch mal am Vormittag an, wenn dort richtig Betrieb ist. Und jetzt erzähle mir von Herrn Kerners Problem«, bat Olivia.

»Herr Kerner selbst hat kein Problem. Es geht um Eva Lindner.«

»Die Erzieherin aus dem Kindergarten?«

»Richtig, sie ist eine seiner Mieterinnen und wohnt in dem Appartement neben ihm. Sie hat sich im letzten Jahr, als er die Grippe hatte, um ihn gekümmert. Seitdem sind sie befreundet.«

»Herrn Kerner gehört doch das Sechsfamilienhaus gegenüber des Kindergartens.«

»So ist es. Er war vorhin gerade auf dem Weg in die Fußgängerzone, als wir in den Kindergarten hineingingen. Er wollte von mir wissen, ob wir Eva gesehen haben und ob uns aufgefallen sei, dass es ihr nicht gut geht.«

»Was hast du gesagt?«

»Dass wir sie nur kurz gesehen haben, aber nicht näher mit ihr gesprochen haben.«

»Weiß er, warum es ihr nicht gut geht?«

»Er denkt, es hat mit ihrer Beziehung zu einem Mann zu tun. Seine Mutter scheint sie nicht zu mögen, das macht ihr wohl so schwer zu schaffen, dass es körperliche Auswirkungen hat.«

»Wie heißt der Mann, mit dem sie zusammen ist?«

»Das hat er nicht gesagt, und ich habe ihn auch nicht danach gefragt.«

»Ich habe da so eine Ahnung.«

»Ach ja? Wer ist es?«

»Ich denke, Eva ist mit Elmar von Lenfeld zusammen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich habe in der Bäckerei etwas gehört.«

»Ich bin schon sehr gespannt«, sagte Daniel, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Olivia an.

»Frau von Lenfeld sollte sich darüber bewusst sein, dass sie am Ende allein dastehen wird, sollte sie sich weiter gegen die Frau stellen, die ihr Sohn liebt«, stellte Olivia abschließend fest, nachdem sie Daniel von ihrem Erlebnis in der Bäckerei erzählt hatte.

»Falls du richtig liegst, und Eva ist die Frau, die mit Elmar zusammen ist, dann kann ich verstehen, dass ihr das große Sorgen macht. Frau von Lenfeld ist sicher nur schwer von ihrer Meinung abzubringen.«

»Das befürchte ich auch. Wie werden wir wohl reagieren, wenn sich unsere Kinder in jemanden verlieben, der uns möglicherweise gar nicht gefällt?«

»Wir werden demjenigen eine Chance geben, weil wir davon ausgehen, dass unsere Kinder sich niemanden aussuchen, der ihnen nicht guttut«, sagte Daniel.

»Das hoffen wir, davon ausgehen können wir nicht. Liebe kann blind machen, das weißt du doch«, entgegnete Olivia lächelnd.

»Gut, dann hoffe ich eben, dass Oda und Vincent sich an ihrer großen Schwester orientieren. Mit Leander hat sie eine gute Wahl getroffen.«

»Es könnten auch noch andere kommen. Leander ist ihr erster fester Freund.«

»Es könnte doch trotzdem die einzige große Liebe sein.«

»Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass es so ist.«

»Aber ich mag Leander.«

»Ich weiß«, sagte Olivia und küsste Daniel zärtlich auf die Wange. Auch wenn Daniel nicht Ophelias Vater war, war er stets so besorgt um sie, als wäre er es.

»Das Wichtigste ist, dass Ophelia uns beiden vertraut, dann wird sie uns auch erzählen, in wen sie sich gerade verliebt hat, und hoffentlich auch von all den anderen Dingen, die für sie wichtig sind.«

»Es wird keine großen Geheimnisse geben«, erklärte Ophelia, die unbemerkt von ihnen auf die Terrasse gekommen war.

»Aber kleine schon, nehme ich an?«, fragte Olivia.

»Ja, schon, ein paar Geheimisse wird es geben, aber ich verspreche euch, wenn es um etwas Ernstes geht, werde ich mit euch bestimmt darüber sprechen. Ich vertraue euch nämlich tatsächlich.«

»Ja, mein Schatz, ich weiß«, sagte Olivia und zog ihre Tochter liebevoll auf ihren Schoss.

»Solltest du irgendwann eine Dummheit begehen, dann kannst du uns jederzeit um Hilfe bitten. Wir werden dir wieder heraushelfen, egal, um was es geht«, versicherte Daniel dem Mädchen.

»Ich hoffe, ich werde mit euch sprechen, bevor ich eine Dummheit begehe.«

»Das würde mich sehr freuen, mein Schatz«, sagte Olivia und streichelte Ophelia liebevoll über das Haar.

»Okay, damit wäre die Vertrauensfrage geklärt. Ich lass euch wieder allein. Ich wollte mir eigentlich nur etwas zu trinken holen. Ich bin noch in einer Skype-Konferenz«, ließ Ophelia Daniel und ihre Mutter wissen.

»Wir mussten uns in ihrem Alter noch aus dem Haus bewegen, wenn wir Freunde sehen wollten, heute schalten sie einfach den Computer ein«, erinnerte sich Olivia an ihre eigene Jugend.

»Dafür können wir uns aber gleichzeitig mit Freunden in der ganzen Welt unterhalten und sie dabei auch noch sehen«, schilderte Ophelia die Vorteile des Internets. »Ich bin sehr froh, dass ich heute leben, und ich bin echt dankbar, dass die Menschheit sich in den letzten hundert Jahren so schnell weiterentwickelt hat.«

»Das hat sie ohne Zweifel getan. Vor hundert Jahren kannten die Menschen gerade das Telefon und nur wenige konnten darüber verfügen«, sagte Daniel.

»Und vor 200 Jahren sind die Leute noch mit Kutschen gefahren«, meldete sich Olivia zu Wort.

»Was bedeutet, wir leben in einer äußerst interessanten Zeit. Vielleicht werden wir noch die Möglichkeit bekommen, zum Mars zu fliegen. Ich meine, wir alle, oder wenigstens die Zwillinge und ich«, fügte Ophelia hinzu. »Bis später, Leute, ich muss jetzt wirklich wieder los und mit meinen Freunden in Kalifornien und Norwegen sprechen«, verabschiedete sie sich und huschte ins Haus.

»Würdest du gern zum Mars fliegen?«, fragte Daniel Olivia.

»Ja, schon, und würdest du mitkommen?«

»Ich würde verrückt werden, wenn ich ohne dich hierbleiben müsste. Aber bis es so weit ist, können wir uns die Sterne von der Erde aus ansehen. Das finde ich auch immer wieder interessant.«

»Die Venus scheint heute besonders hell«, stellte Olivia fest, als sie an den Horizont schaute und den Abendstern betrachtete, der als erster Stern am Nachthimmel aufleuchtete.

»Vielleicht ist die Luft heute besonders klar.«

»Ja, vielleicht. Was ist?«, fragte Olivia lächelnd und wandte sich Daniel zu, weil sie spürte, dass er sie ansah.

»Ich schaue mir gern den Sternenhimmel an, aber noch viel lieber sehe ich dich an«, sagte er leise und streichelte zärtlich über Olivias Wange.

»Ich habe es gern, wenn du mich ansiehst«, antwortete sie und hielt seinen Blick fest.

»Wollen wir schlafen gehen?«, fragte Daniel.

»Ja, bitte, lass uns schlafen gehen«, sagte sie.

*

»Wir sind heute Morgen schon wieder gut besetzt«, ließ Sophia, eine zierliche junge Frau mit blondem langem Haar, Daniel wissen, als er am nächsten Morgen in die Praxis kam.

Sophia und ihre Kollegin Lydia standen in ihrer Praxiskleidung, weiße Jeans und türkisfarbene T-Shirts, hinter dem weißen Tresen in der Empfangsdiele, nahmen Telefongespräche entgegen und trugen die eintreffenden Patienten in eine Liste ein, die Daniel auf dem Computer in seinem Sprechzimmer aufrufen konnte.

»Wir fangen am besten gleich an«, sagte Daniel. Er warf einen kurzen Blick in das Wartzimmer mit seinen gelben Sesseln und den hochgewachsenen Grünpflanzen, das nur durch eine Glaswand von der Empfangsdiele getrennt war. »Wann ist Frau Lindner an der Reihe?«, fragte er, als er Eva unter den Patienten entdeckte.

»Sie ist heute die erste Patientin«, antwortete ihm Lydia. »Ihr scheint es wirklich nicht gut zu gehen. Sie kann kaum aufrecht stehen. Sie sagt, es sei der Magen.«

»Ich werde mich gleich um sie kümmern.«

»Aber zuerst die Rezepte unterschreiben«, bat Lydia und legte einen Rezeptblock vor Daniel auf den Tresen. So musste sie ihn nicht wegen der Dauerrezepte, die ihre Patienten abholen wollten, während der Sprechstunde stören. »Gut, das war es, fangen wir an«, sagte Daniel, reichte Lydia den Rezeptblock und machte sich auf den Weg zu seinem Sprechzimmer.

»Guten Morgen, die Damen!«, rief Gusti Meier gut gelaunt, die kurz darauf die Praxis betrat.

»Guten Morgen, Frau Meier«, antworteten Lydia und Sophia mit einem freundlichen Lächeln.

»Falls Sie zum Herrn Doktor wollen, brauchen Sie heute ein wenig Geduld. Das Wartezimmer ist schon recht voll«, klärte Lydia Gusti auf.

»Ich möcht heut nur ein Rezept abholen. Die Blutdrucktabletten von meinem Mann gehen bald zu Ende«, sagte Gusti und legte das Versicherungskärtchen ihres Mannes auf den Tresen.

»Ich kümmere mich darum«, entgegnete Lydia und scannte das Kärtchen in ihre Datenbank ein.

»Geh, die Eva Lindner ist auch hier. Das Madl schaut aber schlecht aus«, stellte sie fest, als sie ins Wartezimmer schaute und Eva entdeckte, die in sich zusammengesunken in einem Sessel am Fenster saß.

»Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie viele Leute Sie kennen, Frau Meier«, sagte Lydia, als sie Gusti die Versicherungskarte und das ausgefüllte Rezept reichte.

»Ich komm halt viel herum und habe eine gesellige Natur. Ich find es schön, zu wissen, wer meine Nachbarn sind und wie es ihnen geht. Ich leb halt gern in einer großen Gemeinschaft, wo sich die Menschen umeinander kümmern.«

»So möchte wohl jeder gern leben«, stimmte Lydia ihr zu. »Leider funktioniert das in großen Städten meistens nicht.«

»Bei uns schon, weil wir so ein kleiner gemütlicher Teil einer Großstadt sind«, entgegnete Gusti. »Mei, so wie das Madl ausschaut, macht ihr ihre Situation mehr zu schaffen, als sie es vielleicht selbst glaubt«, mutmaßte Gusti, als sie sich wieder Eva zuwandte. »Nun gut, ich geh dann mal. Ein schönes Wochenende für euch beide«, verabschiedete sie sich und ging ebenso fröhlich, wie sie gekommen war, wieder davon.

»Was meint sie mit Eva Lindners Situation?«, fragte Lydia, während sie Gusti nachschaute.

»Keine Ahnung«, antwortete Sophia achselzuckend. »Aber genug geplaudert, ich werde dann mal mit den Blutentnahmen beginnen. Frau Grosser, bitte ins Labor«, rief sie ihre erste Patientin an diesem Morgen über den Lautsprecher auf und ging schon voraus ins Labor.

»Gehen Sie einfach durch, Frau von Arnsfeld erwartet Sie«, sagte Lydia, als Frau Grosser, eine Frau Mitte vierzig, die ein helles Sommerkleid und Turnschuhe trug, aus dem Wartezimmer kam und erst einmal am Tresen stehen blieb.

»Ist recht«, antwortete Frau Grosser und ging weiter.

Gleich darauf hörte Lydia, wie Daniel Eva Lindner durch den Lautsprecher im Wartezimmer aufrief, zu ihm zu kommen. In diesem Zustand kann sie den Tag im Kindergarten sicher nicht überstehen, dachte sie, als Eva sie kurz mit einem gequälten Lächeln ansah, als sie auf dem Weg zum Sprechzimmer am Tresen vorbeikam.

»Praxis Daniel Norden, wie kann ich Ihnen helfen?«, meldete sich Lydia, als das Telefon läutete und sie aus ihren Gedanken riss. »Wir sind heute schon ziemlich gut besucht. Wenn Sie heute noch zum Herrn Doktor wollen, dann müssen Sie Geduld mitbringen«, erklärte sie dem Patienten, der wissen wollte, ob er an diesem Vormittag noch vorbeikommen konnte. »Das könnte heute mal wieder länger dauern«, murmelte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. Es gab so Tage, da wollte der Patientenstrom einfach nicht nachlassen, und heute schien so ein Tag zu sein.

*

»Was kann ich für Sie tun, Frau Lindner?«, fragte Daniel mit einfühlsamer Stimme, nachdem Eva auf einem der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Mir geht es seit einigen Tagen nicht gut, Herr Doktor. Ich habe ständig Kopfschmerzen, und seit gestern sind auch noch Magenschmerzen hinzugekommen.«

»Ist Ihnen übel?«

»Nein, da ist nur so ein Ziehen.«

»Haben Sie Fieber?«

»Nein, bisher nicht. Mit Fieber wäre ich auch nicht in den Kindergarten gegangen. Aber mit diesen Schmerzen kann ich mich auch nicht um die Kinder kümmern.«

»Dann sollten wir herausfinden, was Ihnen fehlt.«

»Ich hoffe, es ist nichts Ernstes. Herr Kerner, mein Vermieter und väterlicher Freund, hat mich gestern Abend zu einem Glas Wein eingeladen und mir eröffnet, dass er sich Sorgen um mich macht. Er hat mich gebeten, mich von Ihnen untersuchen zu lassen. Im Kindergarten haben mich auch schon einige Kinder gefragt, ob ich nicht gut schlafe. Daraus kann ich wohl schließen, dass ich wirklich krank aussehe.«

»Schlafen Sie denn tatsächlich schlecht?«, fragte Daniel und sah Eva aufmerksam an.

»Ich kann nur schwer einschlafen und wache nach zwei drei Stunden wieder auf. Mir geht einfach zu viel durch den Kopf.«

»Was belastet Sie denn?«, fragte Daniel, als er sah, wie Eva nervös am Saum der roten Bluse zupfte, die sie zu einer hellblauen Jeans trug, und schließlich ihre Hände ineinander verkrampfte. Offensichtlich kostete es sie Überwindung, über ihre Sorgen zu sprechen.

»Ich bin mit Elmar von Lenfeld zusammen, den ich sehr liebe, aber seine Mutter ist mit seiner Wahl nicht einverstanden. Sie straft mich mit Missachtung.«

»Das tut mir sehr leid. Was unternimmt Herr von Lenfeld dagegen?«, fragte Daniel. Olivia hatte also recht mit ihrer Vermutung, dass Eva und Elmar ein Paar waren.

»Elmar versucht ihr klarzumachen, dass es allein seine Entscheidung ist, in wen er sich verliebt. Aber das lässt sie nicht gelten, sie meint, er sei ihr etwas schuldig, und das ist für sie gleichbedeutend mit einer standesgemäßen Heirat.«

»Sie hat sich seit dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren um ihren Enkel Anton gekümmert. Ist das die Rechnung, die sie aufmacht?«

»Richtig, sie betont aber auch ihre Unterstützung für den Juwelierladen, in der Zeit, als Elmar noch in einem seelischen Tief steckte, weil er den Tod seiner Frau nicht überwinden konnte.«

»Ich nehme an, dass Elmar von Lenfeld sich von seiner Mutter aber trotzdem nicht vorschreiben lassen wird, mit wem er sein Leben verbringt.«

»Er hat mir versichert, dass das nicht passieren wird. Aber Agathe macht es uns wirklich schwer. Sie geht mir aus dem Weg und tut so, als existierte diese Verbindung zwischen Elmar und mir nicht. Sie hat sich wohl eingeredet, dass ihr Sohn sich für eine Jugendfreundin, eine Frau aus ihren Kreisen, entscheiden würde, und jetzt ist sie enttäuscht.«

»Was ist mit Anton? Weiß er denn Bescheid?«

»Er weiß, dass sein Vater und ich befreundet sind. Wir haben auch schon einige Male etwas zu dritt unternommen. Aber ich denke nicht, dass ihm bewusst ist, was diese Beziehung wirklich bedeutet.«

»Hat sich denn sein Verhalten Ihnen gegenüber verändert?«

»Ich habe den Eindruck, dass er hin und wieder meine Nähe sucht, was darauf hindeutet, dass er möglicherweise etwas mehr weiß, als wir glauben.«

»Wenn er Ihre Nähe sucht, dann heißt das auch, dass er Sie mag.«

»Das sehe ich auch so, und Frau von Lenfeld hat das wohl auch schon bemerkt. Als sie Anton vorgestern vom Kindergarten abholte, sagte sie zu mir, dass ich das Kind beeinflusse und es gegen sie aufbrächte. Aber das mache ich nicht. Ich würde gegenüber Anton nie etwas Schlechtes über seine Großmutter sagen.«

»Wenn Elmar von Lenfeld sie liebt, dann wird er zu Ihnen stehen, egal, was seine Mutter sich einfallen lässt«, versicherte Daniel Eva, als er sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. Es wunderte ihn nicht, dass sie in ihrer Lage unter Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Magenschmerzen litt.

»Elmars Frau stammte aus einer einflussreichen Bankiersfamilie. Sie war Agathe auch ohne Adelstitel willkommen. Die Frau, die sie sich nun als Stiefmutter für Anton wünscht, hat einen Adelstitel und ist die Erbin einer internationalen Juwelierkette. Wenn sie und Agathe von Lenfeld sich verbünden, dann bin ich nicht sicher, ob Elmar das aushält.«

»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«, fragte Daniel.