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Michael Lohmeyer:
Die 50 größten Ökolügen

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bastian Welzer

Gesetzt in der Premiera

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ISBN: 978-3-99001-582-7

DIE 50 GRÖSSTEN
ÖKOLÜGEN

Wie uns Politik
und Industrie an der
Nase herumführen

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Inhalt

Was und warum?

1.Mit modernen E-Autos und E-Geräten schützen wir die Umwelt

2.E-Autos befreien uns vom Feinstaub

3.E-Autos lösen das Mobilitätsproblem

4.Nationalparks sind Symbole für gelebten Naturschutz

5.Der Regenwald ist die Lunge der Erde

6.Gütesiegel besiegeln Gutes

7.Fliegen ist das größte Umweltproblem

8.Die Schifffahrt ist die stärkste Umweltbelastung

9.Wasserkraft ist sauber

10.Fisch ist das bessere Fleisch

11.Aquakulturen sind nachhaltig

12.Umweltschutz ist teuer

13.Umweltverträglichkeit ist ein Bremsklotz

14.Bei hundert Prozent »Bio« verhungert die ganze Welt

15.Erfindergeist hat uns noch immer gerettet

16.Kompensation rettet das Klima

17.China besiegelt das Schicksal des Weltklimas

18.Wir sind zu klein, um das Weltklima zu beeinflussen

19.Wir brauchen eine neue grüne Revolution

20.Wasserstoff ist DIE Zukunftsenergie

21.Vor Schadstoffen sind alle Menschen gleich

22.Umweltflüchtlinge werden Europa überrollen

23.Es gibt zu viele Menschen

24.Tempolimits bringen der Umwelt so gut wie nichts

25.Wir brauchen mehr Straßen, der Verkehr nimmt zu

26.Lkw bringen, was wir täglich brauchen

27.Just-in-time nützt uns allen

28.Wir kaufen, was wir brauchen

29.Altkleider sind gut für die Ärmsten der Armen

30.Es gibt keine Abfallsorgen

31.Mitteleuropas Wasservorräte sind unerschöpflich

32.Unsere Seen haben Top-Qualität

33.Die Flüsse sind in einem guten Zustand

34.Im Wald ist die Welt noch in Ordnung

35.Die Welt der Äcker ist eine heile Welt

36.Obst und Gemüse können bedenkenlos gegessen werden

37.Gentechnik macht Lebensmittel widerstandsfähig

38.Jede Milchkuh auf der Weide ist eine glückliche Kuh

39.EU-Förderungen lassen Bauern und Bäuerinnen überleben

40.Auch den Umweltschutz regelt der Markt

41.Blumen machen Freude

42.Ohne Atomkraft ist die Energiewende undenkbar

43.Ozon macht uns keine Probleme mehr

44.Beton ist der Klimabaustoff der Zukunft

45.Arten sind schon immer verschwunden

46.Bäume zu setzen, ist die Lösung aller Klimaprobleme

47.Wir sind Umweltvorreiter

48.Auf Reisen reicht es aus, auf die Klimabilanz zu achten

49.Der Klimawandel ist nichts Außergewöhnliches

50.Als einzelner Mensch kann ich nichts bewirken

Was nun?

Materialien

Was und warum?

Mit Vollgas in die Nebelwand

Als wäre es gestern gewesen: Es ist Mitte Mai, aber der norwegische Frühling geizt mit der Nähe des Sommers. Im Restaurant am Hafen sitzt das Grüppchen aus Österreich deshalb hinter Glaswänden, aber immerhin mit freier Sicht auf den Meeresarm und die hereinbrechende Dämmerung. Das Klima ist deutlich frischer als in Wien. Das passt recht gut zu den Ereignissen tagsüber, die auch am Ende der Konferenz stehen sollten.

Auf dieser Umweltkonferenz im Jahr 1990, zu der Norwegen und die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) eingeladen hatten, ist die Stimmung unterkühlt. Es will nichts und nichts weitergehen. Während wir Journalist*innen vor den geschlossenen Verhandlungssälen unzählige Stunden warten, wird drinnen um Punkt und Beistrich gestritten. Immer wieder kommen die Leute der österreichischen Umweltministerin heraus, um zu berichten, was dann doch nicht berichtenswert ist. Zu flüchtig, zu wackelig. Weniger und weitaus selektiver ist von den aufgeregten und wohl auch hitzigen Telefonaten der Ministerin mit ihrem Parteifreund, dem Außenminister, zu hören, der sich mit zu viel Verbindlichkeit im Text auch nicht so recht anfreunden will.

Am Schluss reicht es nicht einmal für ein offizielles gemeinsames Schlussdokument, sondern die 34 Umweltminister*innen aus Europa und Nordamerika raufen sich lediglich zur »Bergen Declaration« zusammen. Die hält immerhin das Eingeständnis fest, dass beinahe drei Viertel des Energieverbrauchs von den Industriestaaten zu verantworten sind, und fordert das damals erst frisch gegründete Wissenschaftler*innengremium IPCC auf, zu untersuchen, welche (positiven) Auswirkungen es hätte, wenn der Ausstoß von Kohlendioxid bis 2005 um ein Fünftel verringert werden würde (Basisjahr 1988). Das »Toronto-Ziel« wird zwar erwähnt, aber nur beispielhaft.

Der Spuk in Bergen, der bis in die Gegenwart noch so viele Auftritte haben sollte (und wohl auch in der Zukunft noch haben wird), ist nach drei Tagen vorbei. Die Klimakonferenzen von heute haben dort ihre Generalprobe durchgespielt, auch wenn die detaillierten Vorbereitungen für den »Weltgipfel« im Juni 1992 in Rio de Janeiro noch nicht begonnen hatten und von jährlichen Klimakonferenzen noch keine Rede sein sollte.

Was damals in der Öffentlichkeit – und fast ausschließlich nur in einer informierten Öffentlichkeit – kursierte, schien in weiter Ferne zu liegen. Weit weg davon, dass irgendetwas davon, was auch damals schon in zahlreichen und in deren Grundaussage präzisen Expertisen beschrieben wurde, zu unseren Lebzeiten konkret und Realität werden sollte.

Seither sind mehr als drei Jahrzehnte verstrichen. Vom »Toronto-Ziel«, an dem Österreich so lange festgehalten und für dessen Erreichen es so gar nichts unternommen hat, ist schon lange keine Rede mehr. Viele Erklärungen sind seither feierlich abgegeben, viele Benchmarks gesetzt und verfehlt worden.

Jetzt, 15 Bundesregierungen und elf Umweltminister*innen später, geht es nicht mehr um Schönwetterpolitik, die sich in den Nebel der fernen Zukunft schleicht und über vollmundige Ankündigungen der Vergangenheit den Schatten des Vergessens legt.

Der Weg durch die Jahrzehnte ist gesäumt von Ökolügen. Das war damals so und ist heute nicht anders. Aber es hat sich etwas geändert. Die Umweltkrise ist konkret geworden, sie ist im Alltag angekommen, im breiten Bewusstsein. Sie ist greifbar, sie ist zu spüren. Jetzt geht es um die Umsetzung.

Aber was überhaupt ist denn, bitte schön, eine Ökolüge? Und warum können sie überhaupt ihre Wirkung entfalten und uns in Sicherheit wiegen? Die Wolle, aus der die Ökolügen in der Vergangenheit gestrickt wurden, ist nicht grundsätzlich anders, bloß die Strickmuster sind neu. Ökolügen sollen uns glauben machen, dass die anstehenden Fragestellungen eine einfache Antwort haben und dass sich am Status quo möglichst wenig ändern muss.

Beispiel Mobilität: Macht euch keine Sorgen, wir haben das Elektroauto. Die werden leise durch die Städte gleiten und die Luftverschmutzung wird der Vergangenheit angehören. Die Versprechung klingt nach einem großen Sprung nach vorne, sie ist allerdings nichts anderes als eine Ökolüge. Beispiel Landwirtschaft: Wer redet davon, dass wir unsere Lebensgewohnheiten oder vielmehr Essensgewohnheiten ändern sollen? Wir machen weiter wie bisher und stecken alles in eine Verpackung, der wir einen umweltverträglichen Anstrich geben. Wir regeln das schon.

Es liegt auf der Hand, warum Ökolügen funktionieren. Sie lassen verschnaufen. Die Politik hat sich auch in der Vergangenheit nicht zur Avantgarde der Umwelt formiert und sie hat bisher kaum Beispiele geliefert, über den Tellerrand der Legislaturperiode hinauszudenken. Entscheidungen, die anstehen, schlagen sich in ihren Auswirkungen in Jahrzehnten nieder, in denen die Wahlergebnisse von heute eine Episode aus der entfernten Vergangenheit sein werden.

Und bei den Konsument*innen sind Ökolügen verpönt und willkommen zugleich. Verpönt sind sie dann, wenn offensichtlich wird, dass man verschaukelt worden ist. Zunächst einmal sind sie aber willkommen, weil Ökolügen – ob dreist, ob schleichend – Sicherheit und Kontinuität vortäuschen: »Ich brauche wenig zu ändern.« Das klingt einmal sympathisch. Wer hier dagegenredet, verunsichert. Das macht den Rückenwind aus, mit dem sich Ökolügen in unserem Bewusstsein ausbreiten.

Aus dem Straßenverkehr kennen wir das Prinzip »auf Sicht fahren«: Es bedeutet, anhalten zu können innerhalb des Bereichs, den wir überblicken, und, wenn’s eng wird, auf »halbe Sicht« zu fahren. Klingt irgendwie logisch.

Für den Umgang mit Umweltgütern ist dies ebenfalls angeraten. Praktiziert wird das freilich konsequent nicht: Ständig werden Grenzen verschoben und ungedeckte Wechsel ausgestellt. Chemie, Luftverschmutzung, Bodenschwund, Energie: »Kann sein, dass es ein Problem gibt, aber wir werden das schon lösen. Irgendwie. Das hat noch immer funktioniert.«

Mit Vollgas in die Nebelwand. Das ist heute deutlich gefährlicher als in den vergangenen Jahrzehnten. Denn wir haben viele Gelegenheiten, gestaltend einzugreifen, verstreichen lassen. Anders gesagt: Je länger die Weichenstellung für eine ökologische Verträglichkeit auf sich warten lässt, desto kleiner wird der Handlungsspielraum und desto drastischer werden die Eingriffe sein müssen. Wenn man will, lässt sich erkennen: Der Spielraum ist bereits in den vergangenen Jahrzehnten enger geworden.

Was zu tun ist, ist weitgehend bekannt. Aber es besteht noch keine Einigkeit, wie das Steuer herumgerissen werden soll, in welcher Geschwindigkeit dies geschehen muss und welcher Kurs danach einzuschlagen ist. Hier funken Ökolügen am stärksten dazwischen. Es geht um handfeste wirtschaftliche Interessen.

Aber Sie können sich wehren. Das vorliegende Buch setzt sich auf die Fährte derer, die mit einfachen Slogans glauben lassen wollen, es sei alles im Griff. Und es ermöglicht, sich einen fundierten Überblick zu verschaffen und nicht mehr Behauptungen und Versprechungen ausgeliefert zu sein.

Diese Zeit ist gefährlich, weil die Sehnsucht groß ist, sich mit Ökolügen in Sicherheit wiegen zu lassen, sich in den eigenen Ängsten »abgeholt« zu fühlen. Werbe- und PR-Maschinerie machen das, gut geschmiert und gerne, und breiten Strickmuster aus, die den Wind der Veränderung von den eigenen Interessen fernhalten sollen.

Im Sturm der Zeit sind Artenvielfalt und Klima die großen Fragen der Gegenwart und es sind Themen, bei denen derzeit noch alles aus dem Ruder läuft. Aber es gibt Auswege, es gibt Lösungen und es gibt Chancen. Die müssen am Schopf gepackt und umgesetzt werden.

Den Ökolügen dürfen wir keinen Platz einräumen.

1. Ökolüge

Mit modernen E-Autos und E-Geräten schützen wir die Umwelt

Das hört die Industrie gerne: Umsteigen auf neue, energieeffiziente Geräte – oder auch auf E-Autos – ist gelebter Umweltschutz. Bei genauer Rechnung freilich ist oft das Gegenteil wahr.

Mit dem beinahe über Nacht eingesetzt habenden Boom von Elektroautos wird ein Ladenhüter der Verbraucher*innenratgeber wieder in die erste Reihe gespült. Und mit ihm die Behauptung, dass die Energieeffizienz beflügelt werde. Je früher auf neue Geräte umgestiegen wird, desto besser. Das ist freilich in den allermeisten Fällen schlichtweg falsch – eine Ökolüge.

Wie bei allen Wahrscheinlichkeitsrechnungen spielen freilich die konkreten Umstände, also Daten, die entscheidende Rolle. Die umfangreichste Arbeit jüngeren Datums ist vom Vorarlberger Energieinstitut in Auftrag gegeben worden, deren Autorin und deren Autor zahlreiche internationale Studien zu dem Thema analysiert haben. Ausgewertet wurden Studien aus Österreich, der Schweiz und aus Deutschland. Dabei ging es um »Weißware«, also Haushaltsgeräte wie Waschmaschine oder Kühlschrank, und deren Energieeffizienz. Nachgegangen wurde dabei zwei Fragen: Wann ist der optimale Zeitpunkt, um auf ein Neugerät umzusteigen – einerseits aus ökonomischer Sicht und andererseits aus ökologischer Sicht?

Die eine Antwort gibt es nicht. Ausschlaggebend sind beim Umstieg nämlich die konkreten Spezifikationen und auch die konkrete Nutzungshäufigkeit und Nutzungsweise. Im Zentrum der Abwägungen standen zwei Parameter: der kumulierte Energieaufwand und das Treibhauspotenzial. Der Einsatz von Ressourcen wurde nicht ins Kalkül einbezogen. »Je nach technischem Fortschritt von Produkten kann es daher sinnvoll sein, das Produkt heute, in Zukunft oder gar nicht zu ersetzen.«

Dieser allgemein formulierte Satz lässt sich in konkrete Zahlen übersetzen. Der Umstieg von einem energieverschleudernden Altgerät auf ein Gerät, das beim Energiekonsum ein Topgerät darstellt, amortisiert sich innerhalb von vier bis sechs Jahren. In diesem Fall rechnet sich der Umstieg sowohl ökonomisch als auch ökologisch. Wie wahrscheinlich es allerdings ist, dass jemand eine derartige energiepolitische Wandlung durchlebt, wird nicht erörtert.

In Zeiten, in denen Energieeffizienz keine Neuheit mehr ist, dürfte es wohl so sein, dass die Energiesparwilligen bereits energiesparende Geräte nutzen. Die Variante ist also wahrscheinlicher, dass jemand von einem guten Gerät auf ein neues, etwas besseres Gerät umsteigt. Dabei ergeben sich dann ganz andere Wartezeiten auf den Break-even. Bei Kühlgeräten beziehungsweise Kühl- und Gefrierkombis ergeben sich Zeiträume zwischen 25 bis dreißig Jahren, bei den Tiefkühltruhen sogar von mehr als hundert Jahren.

Bei Waschmaschinen ergibt sich schon beim Switch von »ganz schlecht« auf »ganz gut« eine Amortisationszeit von 19 bis dreißig Jahren, bei anderen Umstiegskonstellationen dann von mehr als vierzig Jahren. Wäschetrockner haben eine ähnliche Performance wie Kühlgeräte, Geschirrspüler eine eher kurze Amortisationszeit. Es sei denn, der Wechsel findet vom alten Topgerät zu einem neueren statt. Da bewegt sich die Zeit bis zum Break-even dann doch wieder zwischen acht und zwölf Jahren.

Bei all den Szenarien sind zwei Faktoren bestimmend: Erstens geht es um die Häufigkeit, mit der die Geräte genutzt werden – je seltener, desto länger schiebt sich der Zeitpunkt des Öko-Break-even in die Zukunft. Zweitens geht die Rechnung nur auf, wenn Altgeräte tatsächlich außer Nutzung genommen und in einem fachgerechten Recycling zerlegt werden.

Bei Unterhaltungselektronik und Bürohardware kommt das Öko-Institut in Freiburg zu einem noch deutlicheren Schluss: »Auch wenn das neue Notebook etwa zehn Prozent weniger Energie in der Nutzung braucht als das alte Gerät, müsste man es über 80 Jahre lang nutzen, bis man den Aufwand für die Herstellung durch die Einsparung in der Nutzung aufgewogen hat. Bei anderen elektronischen Geräten, wie Fernsehgeräte und Smartphones, ist es ebenfalls aus Umweltgesichtspunkten sinnvoll, diese möglichst lang zu nutzen.«

Effizienz, Umstieg auf die neueste Technologie – die Schlagworte schreien regelrecht danach, aufs Auto übertragen zu werden. Studien gibt’s dazu nicht, wohl aber eine Fülle von Fakten, die bloß in der richtigen Reihenfolge aufgefädelt werden müssen. Bei den vertiefenden Betrachtungen zu diesem Thema wird sich zeigen, dass E-Autos bei der Kraftübertragung zwar effizienter sind, in der Herstellung aber eher mehr Emissionen produzieren als herkömmliche fossilbetriebene Fahrzeuge.

Die Materialien sind möglicherweise ökologisch problematischer, die Technologie größerer Batteriesätze für Fahrzeuge kann noch nicht als ausgereift bezeichnet werden. Und dann: Der Zeitpunkt, zu dem Strom zur Gänze aus unbedenklichen erneuerbaren Quellen kommt, ist noch in weiter Ferne. All das zusammengenommen ruiniert die CO2-Bilanz und auch die gesamte Öko-Bilanz eines E-Autos. Außerdem ist davon auszugehen, dass nach dem Umstieg auf ein E-Auto das Altfahrzeug nicht entsorgt, sondern von anderen weiter über die Straßen chauffiert wird.

Also doch kein E-Auto? Was dann? Wer ein Auto besitzt, sollte zunächst einmal gedanklich auf die Bremse steigen und abwägen, ob diese eine Autofahrt tatsächlich nötig ist. Und wenn sie es ist, dann ist das Wie entscheidend. Der Treibstoffverbrauch nimmt signifikant ab, wenn das Gaspedal nur sanften Druck bekommt. Der Verbrauch sinkt überproportional. Wer statt mit 130 auf der Autobahn mit 110 unterwegs ist, kann schon viel Treibstoff sparen.

2. Ökolüge

E-Autos befreien uns vom Feinstaub

Der Boom der E-Autos hängt auch mit der Behauptung zusammen, dass ihnen nachgesagt wird, uns vom Feinstaub zu befreien. Zutreffend ist das nicht.

»E-Autos befreien uns vom Feinstaub.« Das mag vielversprechend klingen, ist aber nicht wahr – eine Ökolüge.

Den klassischen Schadstoffrucksack gibt es nicht (die Schadstoffe entstehen andernorts; mehr dazu im vorigen Kapitel). Bei E-Autos werden keine Abgase aus einem Auspuff in die Luft geblasen. Im Alltag schadstofffrei sind E-Autos deshalb aber nicht. Verantwortlich dafür sind vor allem Reifenabrieb, Aufwirbelung (von Partikeln auf der Straße) und Bremsen. Hier gelangen auch ganz winzige Partikel in Luft und Wasser – je schwerer und schneller das Fahrzeug ist, umso mehr.

Was in der Luft herumwirbelt, hat auch eine gute Chance,- ins Fahrzeuginnere zu gelangen. Dort ist nämlich die Belastung sehr oft sehr hoch. Das haben Wissenschaftler der Technischen Universität Wien schon in den 1990er-Jahren nachgewiesen.

In die Tiefe gegangen sind Wissenschaftler bei dieser Frage dann vor etwa 15 Jahren. Dabei spielte Michael Riediker eine wesentliche Rolle. Er ist der Gründer und Direktor des Schweizerischen Zentrums für Arbeits- und Umweltgesundheit (SCOEH). In seiner Doktorarbeit hat er Allergene und die Luftschadstoffbelastung in der Stadt Zürich in den Mittelpunkt gestellt.

Die Rede soll hier aber nicht von Zürich sein, sondern vom US-Bundesstaat North Carolina. Dort wurden neun gesunde Polizisten, allesamt Nichtraucher, vermessen. Sie patrouillierten auf den Highways des Bundesstaats und saßen deshalb neun Stunden lang im Streifenwagen. Die Tests waren eindeutig: erhöhte Partikelbelastung im Fahrzeuginneren und deutliche Auffälligkeiten im Herzrhythmus – verstärkt zurückzuführen auf den Bremsenabrieb. Die Ergebnisse wurden 2004 veröffentlicht.

Auf diese Arbeit zurückblickend sagt Riediker heute: »Es war damals schon klar – die Partikel kommen in der Regel- von außen ins Fahrzeug, es sind also nicht die eigenen Bremspartikel, sondern diejenigen der anderen Fahrzeuge, die vor ihnen auf der Straße gefahren sind. Partikel, die noch in der Luft schwebten. Das trifft bei allen modernen Fahrzeugen auch auf die Abgase zu.«

Abhilfe für die Fahrzeuginsass*innen schafft lediglich ein Luftreinigungssystem, das mit Filtern ausgestattet ist, die in Operationssälen und auf Intensivstationen eingesetzt werden, mit sogenannten HEPA-Filtern (High-Efficiency Particulate Air).

In den USA gilt ein Filter als »True HEPA«, wenn 99,97 Prozent der Partikel gefiltert werden. Das liegt zwischen den in Europa üblichen Klassifizierungen H13 (99,95 Prozent) und H14 (99,995 Prozent).

Derartige Systeme sind nur in wenigen Autos der Luxusklasse eingebaut. Wer mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs ist, hat ebenso Pech gehabt wie die Anrainer*innen. Sie sind den Partikeln ausgesetzt, ob sie nun vom Auspuff herrühren, vom Reifenabrieb, von der Aufwirbelung dessen, was an Feinstaub auf dem Straßenbelag liegt, oder von Bremsscheiben und -belägen.

Amerikanische Wissenschaftler*innen sehen auch einen Zusammenhang zwischen Reifenabrieb und Lachssterben an der amerikanischen Westküste nach Regenfällen, die p-Phenylendiamine (PPDs) in die Gewässer gespült haben. PPDs werden häufig als Antioxidationsmittel eingesetzt.

»Wir haben ein Problem, von dem niemand weiß, wie groß es ist.« Mit diesem Satz meldete sich die Technische Universität Graz zu Wort, die sich mit dem Abrieb von Bremsen und Reifen beschäftigt. Einer Schätzung der TU zufolge werden jährlich allein in Österreich pro Jahr von Reifen 10.000 Tonnen Feinstaub abgerieben, von Bremsen 2.500 Tonnen. Bei den Bremsen werden dreißig bis vierzig Prozent des Abriebs von den Bremsscheiben verursacht, der Rest von den Bremsbelägen.

Je kleiner diese Partikel sind, desto länger verbleiben sie in der Luft und desto weiter dringen sie in den Körper vor. Mittlerweile macht die Feinstaubbelastung durch Reifen, Bremsen und Aufwirbelung vom Asphalt vier Fünftel der gesamten Feinstaubbelastung aus, die vom Auto herrührt.

Im Auftrag der deutschen Bundesanstalt für Straßenwesen haben Forscher*innen die Masse des Reifenabriebs allein auf 70.000 bis 90.000 Tonnen berechnet (in Deutschland) und gehen davon aus, dass das meiste auf dem und im Boden verbleibt, etwa ein Zehntel bis zu einem Fünftel ins Wasser gelangt und ein geringerer Anteil die Feinstaubbelastung erhöht.

Die Masse allerdings ist nicht die allein aussagekräftige Größenordnung. Je kleiner die Partikel, desto weniger Masse. Aber je kleiner, desto gefährlicher, weil winzige Partikel länger in der Luft schweben und auch weiter in den Organismus vordringen. Die Schranke zum Blut kann überschritten werden, wenn Partikel PM0,1 klein sind. Es sind also Mikro- und Nanopartikel der übleren Art. Und außerdem: In je mehr Partikel sich der Feinstaub zerbröselt, desto größer ist die Gesamtfläche, an die andere Schadstoffe »andocken« können.

Der Abrieb von Bremsen ist gefährlicher, weil hier deutlich höhere Temperaturen entstehen (bis zu 600 Grad Celsius) und »unter anderem Titan, Barium, Zirkonium, Eisen und sogar Blei (bei Nachbau-Bremsscheiben)« festgestellt worden sind. Derzeit aber gibt es für die Wissenschaft noch viele Lücken. Es fehlen Messmethoden und gesetzliche Reglementierungen, aber so das TU-Statement: »Wir befürchten hier wirklich Schlimmes.«

Zumindest in Bezug auf den Feinstaub, der von den Bremsen herrührt, könnte sich durch E-Autos Linderung ergeben. Durch die Rückgewinnung von Energie kann die Notwendigkeit, zu bremsen, stark abnehmen. Weniger Bremsen heißt weniger Abrieb. Aber das setzt ein völlig anderes Fahrverhalten voraus.

Mitte der 2020er-Jahre dürfte es die ersten Regelungen und Grenzwerte für den Abrieb geben. Die OECD hat sich mit dem Thema genauer auseinandergesetzt. Rechnerisch ist die Abriebpartikel-Belastung bei Leichtfahrzeugen um elf bis 13 Prozent geringer. Allerdings steigt die Feinstaubemission bei schwereren Elektrofahrzeugen um bis zu acht Prozent. Auf den Markt drängen derzeit vor allem die schweren Modelle.

Soweit zur Feinstaubfracht von E-Autos. Betrachtet man den gesamten Lebenszyklus von Fahrzeugen, so klingt der Schluss, der in einer Broschüre des deutschen Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, in der die E-Mobilität bewertet wird, gezogen wird, niederschmetternd: »Auch bei den Stickoxidemissionen schneiden Elektroautos über den gesamten Lebensweg nicht zwangsläufig besser ab.« Aber: »Die Herstellungsemissionen entstehen dabei jedoch, anders als die Auspuffabgase, überwiegend außerhalb dicht bewohnter Gebiete.«

Ähnlich schließlich auch die Analyse von 38 Studien zum Thema, die der Congressional Research Service des US-Kongresses im Juni 2020 erstellt hat. Da heißt es: »Die Studien deuten darauf hin, dass E-Autos für höhere Toxizität für Menschen und Ökosysteme verantwortlich sein könnten als Autos mit Verbrennungsmotoren, vor allem wegen der derzeitigen Abbau- und Recycling-Technologien.«

Die Werbe- und PR-Maschinerie stellen die wegfallenden Auspuffabgase in den Mittelpunkt und gehen mit allem Übrigen nach einem altbewährten Prinzip vor: »Aus den Augen, aus dem Sinn«.

3. Ökolüge

E-Mobile lösen das Mobilitätsproblem

E-Mobile werden von den meisten als Lösung der Mobilitätsprobleme gesehen. Es klingt paradox, aber die über Jahre kriselnde Autobranche hat die Klimakrise zum Rettungsanker umfunktioniert. Bloß die Argumente stimmen halt nicht.

Damals, 2018, schien sich die Zeit endgültig gewandelt zu haben: Die Automobilindustrie versank immer tiefer im Sumpf von »Dieselgate«, als bestimmendes Element tauchte – für viele wie aus dem Nichts – die Klimadiskussion in der öffentlichen Debatte auf. Beinahe übersehen blieb dabei, wie es hinter all diesen Umwälzungen einem Fossil hervorragend gelang, sich neu zu positionieren: der Autoindustrie.

Spätestens seit den 1990er-Jahren war sie ins Fadenkreuz der Umweltengagierten geraten. Maluspunkte über Maluspunkte, Schadstoffe, Lobbying in Brüssel, Washington und Berlin, verwässerte Abgasvorschriften. Das gipfelte Mitte der 1990er-Jahre darin, dass Greenpeace den Drei-Liter-Kleinwagen »Smile« entwickelte, um zu zeigen, was möglich wäre. Der damalige Flottenverbrauch von Pkw lag weit darüber (und ist auch heute noch deutlich höher), den Vorstoß der Umweltschützer*innen hat die Autobranche einfach ignoriert. Es war noch die Zeit, in der bei den meisten die Aussage unwidersprochen durchging, Diesel sei umweltfreundlich und deshalb sei eine steuerliche Begünstigung zu rechtfertigen.

Es sollte fast zwanzig Jahre ziemlich ruhig werden. Es wurde zwar an der Effizienz der Motoren geschraubt, gleichzeitig kamen aber immer schwerere Karosserien mit PS-stärkeren Motoren auf den Markt. »SUV« (Sport Utility Vehicle) lautete das Zauberwort. Dann flog der Dieselskandal auf. Die staunende Weltöffentlichkeit musste zur Kenntnis nehmen, dass fast ein Jahrzehnt lang manipulierte Software dafür gesorgt hat, die Motorsteuerung weitgehend abzuschalten, um die zulässigen Abgasgrenzwerte verlässlich nicht einzuhalten. Eingeschaltet wurde die Motorsteuerung nur auf Prüfständen, für die ein eigener Softwaremodus programmiert worden war. Als bekannt wurde, dass nicht nur VW auf derartige Manipulationen setzte, schien die Branche erledigt.

Heute steht sie stärker da denn je. Wie das? Das lässt sich mit einem Wort beantworten: Klimakrise.

Paradox, aber auch konsequente Strategie. Die Autobranche hat sich einem radikalen Relaunch unterzogen, die letzten Dieselpartikel abgeschüttelt und die alten Verbündeten – die Ölindustrie – im Stich gelassen. Innovation und Fortschritt werden an die Fahnen geheftet. Glaubt man Werbung und PR (mehr dazu im vorigen Kapitel), dann wird es dem Elektroauto zu verdanken sein, dass schon in wenigen Jahren ökologisch unbedenkliche Mobilität möglich sein wird. Mission accomplished, Mobilitätsproblem gelöst.

Eine glatte Ökolüge, denn auch E-Autos tragen einen ökologischen Rucksack, obwohl es im direkten Betrieb keine Abgase aus einem Auspuff mehr gibt. E-Autos aber lagern einen Teil der Belastungen aus. Die Produktion, bei der Emissionen entstehen, ist weit weg, die Entsorgung ebenso. Da lässt sich’s locker mit dem SUV durch die Städte gleiten. So funktionieren Ökolügen.

In zwei Punkten haben E-Autos einen Vorsprung: Sie kommen auf etwas leiseren Sohlen daher. Es gibt nur noch die Lärmentwicklung durch die Räder. Zweites Asset: E-Autos schneiden beim Energieverbrauch deutlich besser ab. Sie verbrauchen etwa zwei Drittel weniger Energie.

Das bleibt jedoch Theorie, wenn sich der Trend zu schwerer und stärker fortsetzt. Gewichte jenseits von zwei Tonnen sind keine Seltenheit. SUVs werden zum Inbegriff von Freiheit hochstilisiert, auch wenn die meisten das Allradvehikel bloß für innerstädtische Kurzwege verwenden.

Die Quelle des Stroms spielt bei der Einschätzung von E-Autos eine zentrale Rolle: PV-Anlage, Windrad, Staumauer, Kohle, Gas, Öl oder Atomstrom? Solange keine komplette Versorgung mit erneuerbarer Energie gesichert ist, erübrigt sich jeder Öko-Vergleich. E-Autos schneiden schlechter ab.

In der Produktion werden insgesamt nicht weniger Rohstoffe und Ressourcen verbraucht, wiewohl Rationalisierungen seit jeher im Interesse der Autohersteller sind. Aber auch bei E-Autos gibt es Wasserverbrauch, fallen Abfall und Abwasser an, es finden die unterschiedlichen Metalle Verwendung und es werden in jedem Auto ein paar Hundert Kilo Kunststoff verbaut.

Dass Umweltschutz und herkömmliche Treibstoffe nicht zusammenpassen, ist auf den ersten Blick zu erkennen. Bei E-Autos ist dies genauso, bedarf aber eines strengeren Blicks. Für die Herstellung der Batterien – die überwiegend in Südkorea, Japan, Indonesien und vor allem China über die Bühne geht – ist Lithium ein ganz wesentlicher Bestandteil. Zwei Drittel der Vorkommen lagern in Chile und Australien, große Player sind außerdem China und Argentinien. Weniger als ein Fünftel ist auf die übrigen Länder verteilt. Die »Mineral Commodity Summaries« der U.S. Geological Survey weisen Such- und Explorationstätigkeiten in 19 weiteren Staaten aus – sechs mehr als im Jahr zuvor und auch in Deutschland und Österreich. China ist das einzige Land, in dem alle Komponenten vorhanden sind, um eine Batterie für E-Autos herzustellen.

Was ein forcierter Abbau von Lithium bedeuten kann, ist noch völlig unklar. Von den bisherigen Lithiumminen ist bekannt, dass Grundwasservorkommen beeinträchtigt und Flüsse belastet werden können – ohne noch auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten einzugehen.

Völlig zu kurz greifen auch Aussagen, in denen versichert wird, dass die Lithiumvorräte ohnehin für 244 Jahre reichen. Diese Rechnung ist zwar im Augenblick korrekt, geht aber vom heutigen Verbrauch aus. Um Lithium herrscht Goldgräber*innenstimmung. Wie sehr, lässt sich an anderen Zahlen messen: Weltweit gibt es mehr als eine Milliarde Autos, in der EU allein mehr als 260 Millionen. Die meisten werden mit Benzin betrieben, knapp gefolgt von Fahrzeugen mit Dieselmotoren. Elektrofahrzeuge und Hybridautos sind (von Skandinavien abgesehen) derzeit die absolute Ausnahme.

Was den Bedarf an Lithium betrifft, ist noch zu bedenken, dass Lithium (und andere seltene Metalle) nicht nur in der Autoindustrie Anwendung findet, sondern auch in zahlreichen anderen Produkten unerlässlich ist, für Mobiltelefone, Tablets und Laptops zum Beispiel. All das hat zwingend zur Folge, dass der Kapazitätspolster von einem Vierteljahrtausend auf wenige Jahrzehnte zusammenschrumpft.

Die Welt begibt sich also von der Abhängigkeit von einem Rohstoff (Öl) in die Abhängigkeit von einem anderen (Lithium für die Batterieproduktion). Die Herstellung der Batterien selbst ist ebenfalls kein umweltschonendes Unterfangen. Schließlich liegt auch deren Entsorgung noch weitgehend im Dunkeln.

Die Umrüstung des kompletten Fahrzeugbestands – mehr als eine Milliarde Autos – ist vor allem eines: ein gutes Geschäft. Mitte Jänner 2022 hat das chilenische Bergbauministerium an den chinesischen E-Auto-Bauer BYD eines von zwei Abbaurechten vergeben. Es kostet 61 Millionen US-Dollar und gibt grünes Licht für die Abbaurechte von 80.000 Tonnen Lithium (fast die vierfache derzeitige Fördermenge des Landes). 2021 wurden in Chile 26.000 Tonnen gefördert. Die »Mineral Commodity Summaries« der U.S. Geological Survey weisen für 2021 eine weltweite Lithium-Jahresproduktion von 100.000 Tonnen aus.

Wieder einmal: Wenn die Weichen nicht anders gestellt werden, dann wird der ökonomische Druck auf die Ökologie auch hier steigen. In einer Studie der Schweizer Akademie der Wissenschaften heißt es dazu nüchtern: »Die erwartete starke Zunahme der Nachfrage nach wiederaufladbaren Lithiumbatterien wird voraussichtlich eine deutliche Erhöhung der Primärproduktion von Lithium erforderlich machen. Dies wird eine Ausweitung der Förderaktivitäten auf weitere, bisher unberührte Landschaften (zum Beispiel den bolivianischen Salar de Uyuni oder den tibetischen Zabuye--Salzsee) nach sich ziehen – mit entsprechenden Folgen für die Ökosysteme. Aufgrund der in diesen Regionen weniger idealen Voraussetzungen für eine Lithiumgewinnung ist davon auszugehen, dass der Aufwand für die Lithiumproduktion wie auch die damit zusammenhängenden Umweltauswirkungen zunehmen werden.«

4. Ökolüge

Nationalparks sind Symbole für gelebten Naturschutz

Nationalparks gelten als Symbole von Umwelt- und Naturschutz. Die Medaille hat freilich eine dunkle Kehrseite.

Nationalparks sind in Mitteleuropa ein Ruhmesblatt. Hier sind wichtige Erholungszonen für Natur und Mensch eingerichtet. So oder so ähnlich klingen die Wortmeldungen, mit denen Schutzgebiete von Politiker*innen gepriesen werden. Stimmt das wirklich? Sind Nationalparks tatsächlich das Aushängeschild gelungener Umwelt- und Naturschutzpolitik? Auch das ist eine Ökolüge.

Nationalparks legen vielmehr Zeugnis davon ab, wie der Umgang mit der Natur und Umwelt tatsächlich abläuft. Auch bei diesem Thema ist Österreich ein Paradebeispiel, weshalb sich die Betrachtungen zunächst auf die Alpenrepublik konzentrieren.

Vor Kurzem wurde ein rundes Jubiläum gefeiert: »50 Jahre Nationalparks«. Das klingt nach lange und tief verwurzelt. Allerdings sind zumindest die fünfzig Jahre eine Irreführung. Denn viel war da nicht.

Im Oktober 1971 haben sich drei Landeshauptleute getroffen, um eine Absichtserklärung zu unterschreiben, den Nationalpark Hohe Tauern schaffen zu wollen. Und die folgenden zehn Jahre wurde dann auch nicht viel. Nach der feierlichen und gut fotografierten Unterzeichnung geschah zunächst einmal nichts. Außer dass eine Kommission beauftragt wurde, die die konkrete Durchführbarkeit vorbereiten sollte. Das sollte zehn Jahre dauern. 1981 stellte das Bundesland Kärnten die ersten Gebiete unter Schutz. Es vergingen weitere zehn Jahre, bis tatsächlich Gebiete aus allen drei Bundesländern – Kärnten, Tirol, Salzburg – als Nationalpark deklariert waren. Zwanzig Jahre lagen also zwischen Absichtserklärung und Verwirklichung.

Ähnlich kurios im Thayatal, wo – ebenfalls im Herbst 2021 – zu einer »50 Jahre Fachkonferenz« geladen wurde. In den Chronologien sucht man die fünf Jahrzehnte vergebens. Es finden sich die dreißig Jahre, die seit der Begründung des Nationalparks auf tschechischer Seite vergangen sind, und die zwanzig Jahre, die das Schutzgebiet auf österreichischer Seite Bestand hat.

Die beiden Jahrzehntefeiern ließen sich als Kuriosum abhaken, wenn sie nicht so symptomatisch für den Stellenwert unberührter Natur wären. Sie ist dort möglich, wo gerade keine Interessen dagegensprechen. Der Nationalpark Hohe Tauern, der sich fünfzig wissen möchte, liefert dafür aktuell ein gutes Beispiel: In Diskussion ist gerade der Bau einer Hütte – in der Kernzone des Nationalparks, in der an und für sich bauliche Eingriffe tabu sein sollten.

Vor diesem Hintergrund kann es auch nicht verwundern, dass es in Österreich besonders lange dauern sollte, ehe die Meldung der »Natura 2000«-Gebiete an die EU von dieser als zufriedenstellend bewertet worden ist – Zonen also, die von supranationaler Bedeutung für die Ökologie Europas sind, insbesondere für den Schutz von Vögeln und für die Erhaltung von einzigartigen natürlichen Lebensräumen. Es waren zahlreiche Verfahren beim Europäischen Gerichtshof anhängig, ehe es die neun Bundesländer schaffen sollten, den EU-Vorgaben einigermaßen zu entsprechen. Einigermaßen deshalb, weil weitere Vertragsverletzungsverfahren nicht ausgeschlossen sind – zum Beispiel wegen der Pläne, Kraftwerke errichten zu wollen.

Derartig grundsätzlicher Kritik sind auch deutsche Behörden ausgesetzt: Die EU-Kommission hat angekündigt, ein Verfahren gegen Deutschland einzuleiten. Bemängelt wird, dass Flachland- und Bergmähwiesen in einem ungünstigen Erhaltungszustand seien. Und dabei hat Deutschland einen Coup gelandet, der eine Auswirkung auf den ganzen Kontinent haben sollte.

Es war in der allerletzten Sitzung des DDR-Ministerrats, am 12. September 1990, weniger als einen Monat vor der deutschen Wiedervereinigung, als Michael Succow das DDR-Naturschutzprogramm zum Beschluss vorlegte, und wenig später waren 4.882 Quadratkilometer unter Naturschutz gestellt. Succow, ein zunächst vom DDR-System Verfolgter, wurde in der Wendezeit Vize-Umweltminister und hat damals im Handumdrehen 4,5 Prozent des Territoriums der zu Ende gehenden Deutschen Demokratischen Republik vor dem Zugriff durch Industrialisierung und Vermarktung bewahrt.

Die geschützten Gebiete, viele von ihnen entlang des Todesstreifens zwischen Ost- und Westdeutschland, sind zur Basis des »Grünen Bands« quer durch Europa geworden. Es setzt sich mittlerweile entlang der Zone fort, die für Jahrzehnte den Eisernen Vorhang bildete.

Deutschland war spät dran in der europäischen Nationalpark-Geschichte, die 1909 in Schweden ihren Ausgang genommen hat. Die Schweiz ist sehr vorsichtig ans Werk gegangen. Hier gibt es lediglich einen Nationalpark im Engadin (Kategorie I, also ein Wildnisgebiet), der durch ein eigenes Gesetz abgesichert ist. Seit 2005 ist das Natur- und Heimatschutzgesetz novelliert, sodass Nationalparks geschaffen werden könnten, die den Kriterien der Kategorie II der IUCN entsprechen. Zwei Anläufe hat es dazu gegeben, die in Volksabstimmungen aber abgeschmettert worden sind.

Wohin man auch blickt, Gebiete außer Nutzung zu stellen und sie sich selbst zu überlassen, ist nach wie vor nicht in Mode.

5. Ökolüge

Der Regenwald ist die Lunge der Erde

Den Regenwald zu erhalten, ist unabdingbar, aber keine Rettung in der Klimakrise. Der Wald in den Tropen steht auf kargem Boden mit wenig Nährstoffen.

Einatmen, ausatmen – das geht automatisch. Wir atmen Sauerstoff ein und Kohlendioxid aus. Ein Wald funktioniert genau umgekehrt: Tagsüber wird Sauerstoff aus- und Kohlendioxid eingeatmet, dann läuft die Photosynthese ab, ehe nachts der Baum den Sauerstoff wieder einatmet.

Die Behauptung »Der Regenwald ist die Lunge der Erde« ist also allein schon deswegen nicht richtig. Und außerdem ist der Regenwald in Bezug auf Sauerstoff so gut wie ein Nullsummenspiel. Jüngste Studien argumentieren sogar, dass der Amazonas-Regenwald mittlerweile zu einer Emissionsquelle geworden ist – vor allem wegen der Waldbrände und der großen Wasserkraftwerke.

Zu Beginn seien die Besonderheiten des Regenwalds dargestellt. Amazonas – das jagt uns Bilder durch den Kopf voll von üppiger Vegetation, schier undurchdringlichem Grün, einer unerschöpflichen Tierwelt und ungezähmten Flüssen voller wilder Wasser. Das alles stimmt (wobei das »ungezähmt« noch einzuschränken sein wird). Das darunter liegende Muster, auf dem sich dieses Bild aufgebaut hat, stimmt aber nicht.

Man mag es glauben oder nicht: Der Überfluss, der hängt am seidenen Faden – nicht erst, seit die erste Brandrodung angefacht worden ist. Diese Vielfalt, die auf dem Planeten einzigartig ist, hat sich aber nicht aufgrund eines besonderen Nährstoffreichtums gebildet. »Im Gegenteil«, schreiben Walter Hödl und Martin Frimmel schon 1992. In einem Beitrag unter dem Titel Aktuelle Entwaldungsursachen erläutern sie, dass Vielfalt durch eine hohe Heterogenität der Vegetation, die immer wieder neue Wechselbeziehungen entstehen lässt, hervorgerufen wird.