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   Sumaya Farhat-Naser– Im Schatten des Feigenbaums– Herausgegeben von Willi Herzig und Chudi Bürgi– Lenos Verlag

Die Autorin

Sumaya Farhat-Naser, geboren 1948 in Birseit bei Ramallah. Studium der Biologie, Geographie und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Promotion in Angewandter Botanik. Seit 1982 Dozentin für Botanik und Ökologie an der Universität Birseit in Palästina. Mitbegründerin und Mitglied zahlreicher Organisationen, u.a. von Women Waging Peace an der Harvard-Universität und von Global Fund for Women in San Francisco. Von 1997 bis 2001 Leiterin des palästinensischen Jerusalem Center for Women. Regelmässige Vorträge in Deutschland, Österreich und der Schweiz, u.a. über Erziehung, Alltag, Ökologie, Frauen und die politische Lage in Palästina. Sie lebt in Birseit.

1989 erhielt Sumaya Farhat-Naser die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Münster. 1995 wurde sie mit dem Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte und 1997 mit dem Evangelischen Buchpreis des Deutschen Verbands Evangelischer Büchereien sowie dem Versöhnungspreis Mount Zion Award in Jerusalem ausgezeichnet. Zudem erhielt sie 2000 den Augsburger Friedenspreis, ihr wurden die Hermann-Kesten-Medaille des P.E.N.-Zentrums Deutschland (2002), der Bremer Solidaritätspreis (2002), der Profaxpreis (2003) und der AMOS-Preis für Zivilcourage in Religion, Kirchen und Gesellschaft (2011) verliehen.

Die Herausgeber

Willi Herzig, geboren 1949, Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften mit Lizentiat in Genf. Auslandredaktor bei verschiedenen Tageszeitungen, Leiter des Ressorts International der Basler Zeitung (1989–2009). Häufige Reisen nach Israel, Palästina und in die arabischen Nachbarländer.

Chudi Bürgi, geboren 1956, Studium der Germanistik und Volksliteratur in Zürich und Berlin. Langjährige Beschäftigung mit Literatur aus verschiedenen Kulturen als Journalistin und (Mit-)Herausgeberin. Bei artlink, Büro für Kulturkooperation (www.artlink.ch) u.a. zuständig für Literatur.

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 573 1

Im Schatten des Feigenbaums

Vorwort

Wer seine Lebensgeschichte schreibt, tut dies in der Regel in einem einzigen Buch, das die prägendsten Stationen festhält. So beschreibt Sumaya Farhat-Naser in ihrer 1995 unter dem Titel Thymian und Steine veröffentlichten Lebensgeschichte die Kindheit und Jugend in Palästina und ihren späteren Werdegang auf so eindringliche und anschauliche Weise, dass das Buch bis heute viele Leserinnen und Leser erreicht und noch 2012 in Köln zum »Buch für die Stadt« gewählt wurde.

Doch die Situation in Palästina rechtfertigt es, ja macht es gar notwendig, dass über ein einzelnes Buch hinaus weitererzählt wird, was passiert. Mit Im Schatten des Feigenbaums legt die Palästinenserin, die in Birzeit bei Ramallah lebt, bereits das vierte Zeugnis in Buchform vor. Es bündelt ihre Erfahrungen der letzten fünfeinhalb Jahre.

Sumaya Farhat-Naser habe ich vor über fünfundzwanzig Jahren kennengelernt. Bei unserer ersten Begegnung im Spätherbst 1987 in Bern schilderte sie, damals Dozentin für Botanik und Ökologie an der Universität Birzeit, den beschwerlichen Alltag in den von Israel besetzten Gebieten. Zwei Aussagen der charismatischen, fliessend Deutsch sprechenden Palästinenserin beeindruckten mich besonders: Zum einen ihre Prognose, die explosive Stimmung unter jungen Palästinensern könne jederzeit einen Gewaltausbruch auslösen; prompt brach wenige Wochen später, im Dezember 1987, im Westjordanland und im Gazastreifen die Intifada aus, ein Volksaufstand gegen die Besatzungsmacht. Zum andern blieb mir Sumaya Farhat-Nasers pessimistische Einschätzung unvergessen, Israel wolle »Frieden mit einem Land ohne Palästinenser«.

Die Entwicklung der letzten fünfundzwanzig Jahre scheint ihr recht zu geben. »Unser Land wird uns systematisch weggenommen«, zieht die Autorin heute Bilanz und belegt mit eigenen Beobachtungen und konkreten Beispielen, wie Palästinenser im Westjordanland und in Ostjerusalem durch den israelischen Siedlungsbau verdrängt werden. Damals wie heute zeigt sich der israelisch-palästinensische Konflikt als unerbittlicher Streit um Land, aber deutlicher als je zuvor zeichnet sich das Schicksal der Palästinenser als grosse Verlierer ab.

In den letzten Jahren hat Israel den Druck auf die Palästinenser massiv verstärkt und ihre Entwicklungsmöglichkeiten weiter eingeschränkt. Auf den im Gazastreifen eingesperrten Menschen lastet eine israelische Blockade. Im Westjordanland und in Ostjerusalem sind sie eingeschnürt von Mauern, Zäunen, militärischen Kontrollposten (Checkpoints) und einem dichten Geflecht von Strassen für die mehr als 500000 israelischen Siedler. Rund um die »grösseren und kleineren Gefängnisse und Käfige«, wie Sumaya Farhat-Naser die schrumpfenden Lebensräume nennt, schafft Israel mit seiner völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik laufend neue Fakten; die international beschworene »Zwei-Staaten-Lösung« mit Israel und Palästina wird buchstäblich verbaut.

Neu an dieser Politik der Verdrängung ist, dass mehr und mehr israelische Siedler das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. Unter dem Schutz der Armee zerstören sie Weinberge, Obstgärten und Olivenhaine, rauben das Land und die Wasserquellen, mithin die Lebensgrundlage vieler Palästinenser. Sumaya Farhat-Naser dokumentiert in diesem Buch, wie ihrem Volk gleichsam der Teppich unter den Füssen weggezogen wird. Zugleich bringt sie ihre Enttäuschung über die Passivität der Aussenwelt zum Ausdruck: »Es ist unglaublich, was geschieht, und alle schauen zu, gleichgültig und mutlos.«

Zusätzlich frustrierend ist in dieser schwierigen Lage das Neben- und Gegeneinander zweier palästinensischer Regierungen, die eine in Gaza, die andere in Ramallah; sie zerstören »mühevoll erreichte demokratische Ansätze«, wie die politisch unabhängige Autorin feststellt.

Dem bitteren Befund zum Trotz lässt sich Sumaya Farhat-Naser nicht entmutigen. In Schulen und Frauengruppen lehrt sie mit grossem Engagement gewaltfreie Kommunikation und den Umgang mit Konflikten, unermüdlich kämpft sie gegen Hoffnungslosigkeit und Resignation. Dabei freut sie sich selbst über jeden Fortschritt und macht auf positive gesellschaftliche Entwicklungen »von unten« aufmerksam. So etwa zielen lokale Initiativen auf die Erhaltung kulturhistorisch wertvoller Ortskerne und Bauten und versuchen, identitätsstiftend die Erinnerung an die eigene Geschichte zu festigen.

Neben starken Momenten der Trauer, etwa beim Tod ihrer geliebten Mutter, beschreibt Sumaya Farhat-Naser auch Momente des Glücks im wachsenden Familienkreis, wo sie Kraft und Zuversicht schöpft. Im eigenen Haus mit Terrasse und schattiger Pergola tankt die Autorin, mit fünfundsechzig Jahren immer noch vital und voller Tatkraft, neue Energie, ebenso im eigenen Weinberg, einem idyllischen Refugium etwas oberhalb von Birzeit. Dort freut sich die promovierte Botanikerin besonders auch an den Feigenbäumen und ihren süssen Früchten. Der Feigenbaum, der diesem Buch den Titel gegeben hat, sei »ein Zeichen für Frieden, Sicherheit und Lebensglück«, schreibt Sumaya Farhat-Naser. Hoffnungsvolle Gefühle durchdringen auch das vorliegende Tagebuch dieser starken und couragierten Frau, obwohl es ein trauriges Kapitel der Entrechtung und Enteignung der Palästinenser in ihrer Heimat protokolliert.

Willi Herzig

Einleitung

Mit diesem Tagebuch möchte ich meine Gefühle und Gedanken, das Schöne und Schwere der letzten Jahre erinnern, reflektieren und dokumentieren. Das Interesse an unserem Leben in Palästina unter Militärbesatzung, das ich von so vielen Seiten zu spüren bekomme, hat mich zum Schreiben motiviert. Ich möchte andere an meinem Leben teilnehmen lassen. Ich möchte von unseren Erfahrungen im Durchhalten und Bewältigen schwieriger Situationen berichten und davon, wie die Freude am Leben trotz allem erhalten werden kann. Und ich möchte andere ermutigen, sich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen und sich anderen zu öffnen.

Die Lage in Palästina ist so komplex und aussichtslos, ja deprimierend wie nie zuvor. Die israelische Siedlungstätigkeit auf unserem Land ist intensiviert worden, die Sperren und die Mauer machen das Leben zur Qual und entziehen den Menschen die Existenzgrundlage. Die innerpalästinensische Situation ist frustrierend. Das Versagen der politischen Führungen in Gaza und im Westjordanland ist offensichtlich.

In diesen Jahren war der Feigenbaum die Pflanze, die mich inspiriert hat. Er krönt nach dem Thymian, dem Olivenbaum und den Disteln im Weinberg meiner früheren Bücher mein Schreiben.

In der Bibel ist der Feigenbaum nach dem Olivenbaum die zweitwichtigste Pflanze. Er gehört zu den sieben gesegneten Produkten, die das Heilige Land als wertvolle Kulturlandschaft auszeichnen und zu denen ausserdem die Weinrebe, der Granatapfel, Weizen, Gerste und Honig gehören.

Zum Frühstück und zum Abendbrot essen wir neben Thymian und Olivenöl mit Brot oft auch Feigen und manchmal Joghurt und Schafskäse, Weintrauben und Wassermelone. Die frischen Feigen sind eine nahrhafte Köstlichkeit, und getrocknet oder zu Marmelade verarbeitet versorgen sie uns bis zur nächsten Ernte.

Mit dem Feigenbaum sind viele Weisheiten verbunden. »Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.« So heisst es in der Bibel (Matthäus 24,32) – ein Aufruf zu Zuversicht und Hoffnung: Das Leben erneuert sich, und ein Ausweg wird sich finden.

»Da sagten die Bäume zum Feigenbaum: Komm, sei du unser König! Der Feigenbaum sagte zu ihnen: Soll ich meine Süssigkeit aufgeben und meine guten Früchte und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?« 
(Richter 9,10–11) – ein Aufruf dazu, sich selbst und dem, was man am besten kann, treu zu bleiben, ein Aufruf auch zu Bescheidenheit.

Es war der Feigenbaum bei der Ruine des Bauernhauses meines Urgrossonkels Jakub Isaak im Dorf Ein Arik, der eine besondere Bedeutung bekam. Erinnerungen an meine Kindheit in diesem Haus mit dem Feigenbaum davor haben mir die Energie gegeben, um in den Ruinen etwas Neues zu planen. Denn das ist das Besondere dieser Jahre: dass trotz der Zerstörung und des Unrechts der Wille da ist, die Tradition zu bewahren und Neues entstehen zu lassen.

In der Bibel wird auch davon gesprochen, dass man sich in Friedenszeiten im Schatten des Feigenbaums getroffen hat, um auszuruhen, mit Freunden zu reden und zu lachen – und natürlich, um die süssen Früchte zu geniessen. So ist der Feigenbaum auch ein Zeichen für Frieden, Sicherheit und Lebensglück.

2008

1. Januar

Ein neues Jahr beginnt, und ich setze mich hin, um zu schreiben. In meinem Tagebuch und den Briefen an meine Freunde versuche ich Ereignisse festzuhalten, die den Alltag prägen und die Komplexität unserer Situation aufzeigen.

Aber manchmal, wenn wieder etwas besonders Schlimmes passiert, gelingt es mir weder zu schreiben noch klar zu denken. Dann fühle ich mich dumpf und ausgelaugt. Dann möchte ich fliehen und mir einreden, es sei alles normal. Gründe zum Verzweifeln und zum Trauern gibt es genug. Ich sage mir aber: In meinem Kummer bin ich nicht allein, denn vielen Menschen geht es viel schlechter als mir. Dass wir uns elend fühlen, ist angesichts unserer Situation normal – weil unsere Sinnesorgane noch funktionieren. Weil wir fühlen, empfinden und spüren. Weil wir sehen und hören. Weil wir denken und Pläne und Träume haben und weil wir wirkliche Ängste kennen. Es ist normal, weil wir entschlossen sind, unsere Menschlichkeit zu behalten.

Ich suche dann nach Gedanken, die mich ermutigen, und sage mir: Ich glaube weiterhin daran, dass bessere Zeiten kommen. Ein Keimling braucht einen gewissen Reiz, damit ein neuer Spross emporwächst. Ich will hoffen, denn Hoffnung macht kreativ und verleiht Kraft, damit wir aktiv bleiben und noch aktiver werden. Die Hoffnung trägt.

Das Schönste, was wir im letzten Jahr erleben durften: Munîr und ich sind Grosseltern geworden. Unsere Tochter Ghâda hat am 15. August ihr erstes Kind, Rina, geboren. Dieses wundersame Ereignis bringt uns viel Freude und willkommene Aufgaben.

16. Januar

Die politische Lage ist verfahren und entmutigend. Seit vergangenem Sommer haben wir zwei palästinensische Regierungen, die miteinander verfeindet sind. Die eine wird von der national ausgerichteten Fatah-Bewegung gestellt und regiert als sogenannte Autonomiebehörde im Westjordanland. Die andere gehört der islamistischen Hamâs-Bewegung an und kontrolliert den Gazastreifen. Israel hat Gaza zu einer »feindlichen Entität« erklärt und das Gebiet seit 2006, nach der Entführung eines israelischen Soldaten, immer stärker abgeriegelt. Die Einfuhr lebensnotwendiger Güter für die mehr als 1,5 Millionen eingesperrten Menschen wurde drastisch reduziert.

Mehrere Anläufe, Fatah und Hamâs zu versöhnen, sind gescheitert. Das liegt auch daran, dass beide von fremden Mächten abhängig sind, die an einer Versöhnung kein Interesse haben. Die Fatah-Regierung unter Präsident Mahmûd Abbâs ist auf westliche Hilfsgelder angewiesen und kooperiert mit der Besatzungsmacht Israel, während die Hamâs vor allem von iranischer Unterstützung abhängig ist.

Fatah und Hamâs regieren, ohne grundlegende Menschenrechte oder rechtsstaatliche Prinzipien gesetzlich verankert zu haben, geschweige denn sie zu respektieren. Hunderte politischer Häftlinge der jeweiligen Gegenseite sitzen in ihren Gefängnissen. Der Streit zerstört die mühevoll erreichten demokratischen Ansätze. Meinungs- und Medienfreiheit sind stark eingeschränkt. Aus Angst vor Repressalien äussern die Menschen kaum noch Kritik. Sie sind tief enttäuscht von der Politik und misstrauen den Parteien.

2. Februar

Unser Sohn Anîs ist im Juli 2004, nach abgeschlossenem Medizinstudium in Innsbruck, nach Palästina heimgekehrt. Seither arbeitet er als Allgemeinarzt in Flüchtlingslagern, die von der UNO verwaltet und finanziert werden. Er hat dort einen Tagelohn und verdient im Monat weniger als 400 Euro. Davon kann man nicht leben. Daher hat er in Birzeit in der Wohnung seiner Grossmutter Tekla eine kleine Praxis aufgemacht, für Sprechstunden am Nachmittag und Notfälle. Die Patienten kommen von überall her, und kaum jemand bezahlt die bescheidenen zwei Euro Gebühr, die Anîs verlangt. Viele gehen davon aus, dass die Praxis eine Zweigstelle der Klinik im nahe gelegenen Flüchtlingslager Dschalasun ist, wo die Bewohner kostenlos behandelt werden. Andere sehen in Anîs den Jungen aus dem Dorf, den Freund des Sohnes, den Verwandten, Nachbarn, Schulkameraden, der von ihnen doch sicher nichts verlangt! Patienten mit schweren Leiden und arme Menschen behandelt er von sich aus unentgeltlich. Oft bezahlt er ihnen auch die Medikamente.

Im Flüchtlingslager läuft die medizinische Versorgung wie am Fliessband. Täglich sieht Anîs rund hundert Patienten, oft noch mehr. Da sie nichts zu bezahlen brauchen, kommen viele bloss, um sich zu treffen, zum Zeitvertreib. Einige fragen nach Antibiotika und Schmerzmitteln für mehrere Monate und wollen sie dann heimlich verkaufen. Für Anîs ist es ein ständiger Abwehrkampf. Einmal wurde es gar lebensgefährlich: Ein Mann bedrohte ihn, indem er ihm eine Pistole an die Schläfe hielt.

Seither sucht Anîs nach einer Möglichkeit, sich im Ausland zu spezialisieren. Wir Eltern sehen die Notwendigkeit, doch plagt uns der Gedanke, dass Anîs mit dreiunddreissig Jahren noch keine Braut hat und die ganze Stadt eine Frau für ihn sucht.

Für Christen in Palästina ist es schwer, eine Partnerin oder einen Partner zu finden. Das liegt schon daran, dass sie eine kleine Minderheit von weniger als drei Prozent sind. Zudem verhindern israelische Sperren und administrative Einschränkungen eine Begegnung in den wenigen Orten, in denen noch Christen leben. Früher trafen sich junge Leute an Weihnachten und Ostern zum Gebet, zu Familienbesuchen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen in Jerusalem und Bethlehem. Inzwischen ist das nicht mehr möglich, weil uns die israelischen Besatzungsbehörden unterschiedliche Kategorien von Identitätskarten aufgezwungen haben, die unsere Mobilität eng begrenzen. So dürfen wir vom Westjordanland nicht nach Jerusalem, Israel oder Gaza. Selbst innerhalb des Westjordanlandes sind wir eingeschränkt und dürfen nicht ins Jordantal oder das Gebiet zwischen der Sperrmauer und der israelischen Grenze. Die dort lebenden Menschen oder auch die Bewohner von Gaza dürfen nirgendwohin ohne eine Genehmigung des Militärs, und die wird nur selten erteilt.

Gemeinsam feiern und gemeinsam trauern verbindet, entlastet und festigt die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft mit ihren Traditionen und Sitten. Doch gerade das will die Besatzungspolitik unterbinden. Wer heiraten möchte, dem bleibt nichts anderes übrig, als in der nächsten Umgebung, im eigenen Dorf zu suchen.

Seit seiner Rückkehr nach Birzeit ist Anîs immer wieder darauf angesprochen worden, dass er noch keine Frau hat. »Jetzt ist die Zeit gekommen, du musst heiraten. Wir wollen uns mit dir freuen«, sagten die Leute. »Das will ich auch«, antwortete er, »aber noch suche ich.« Alle wollten sie für ihn suchen, immer wieder kamen Vorschläge. Es wurde zur Nervenprobe. Anîs ärgerte sich, und wir Eltern hofften, er würde in Ruhe gelassen. Als er wütend darüber sprach, sagte ich ihm: »Die Leute meinen es gut, nimm sie so, wie sie sind, reagiere mit Humor.« Einmal waren wir an einem Fest im Garten der Kirche. Wo Anîs auch hinschaute, winkte jemand und zeigte auf ein Mädchen. Er beschloss mitzuspielen: Sobald ihn jemand auf eine junge Frau hinwies, zeigte er auf die andere Seite mit der Bemerkung, es gebe dort andere, die er im Blick habe. Allmählich beruhigten sich die Leute und gaben die Suche auf.

15. April

Ich bin auf Vortragsreise in der Schweiz. Als ich gestern in Bern unterwegs war, erhielt ich einen Anruf von Anîs: »Jamma, es hat geklappt, du kannst schon mal zu trillern beginnen.« Ich wusste sofort Bescheid und liess mitten auf der Strasse einen lauten Jubeltriller ertönen. »Ein Mädchen aus Birzeit?« Er bejahte. »Es ist diejenige, die du mir vor drei Jahren vorgeschlagen hast, Dima, die Tochter der Nachbarn.« Ich trillerte noch einmal. Die Leute, die an mir vorbeigingen, schauten mich erstaunt an, und ich sagte: »Mein Sohn hat seine Braut gefunden.« – »Wieso, war sie verlorengegangen?«, fragte eine Frau. Ich antwortete: »Nein, aber bei uns ist alles schwer, und wenn etwas klappt, dann freuen wir uns von Herzen.«

30. April

Nach meiner Rückkehr habe ich von meinen Kindern die ganze Liebesgeschichte erfahren. Ausgerechnet als es im Februar einmal schneite, sprang der zündende Funke über. Schnee ist bei uns aussergewöhnlich, und da man nicht darauf vorbereitet ist, fallen Arbeit und Schule aus, und alle stürzen ins Freie und spielen im Schnee. Munîr hatte an diesem Morgen Anîs geweckt und ihn gebeten, aufs Dach zu steigen, um den Schnee von den Sonnenkollektoren zu entfernen. Unser Sohn war nicht begeistert, denn es war sehr kalt. Vom Dach aus sah er die Nachbarn übermütig und mit lautem Geschrei im Schnee spielen. Gerade erst aus dem Schlaf gerissen und frierend, war er schlechter Laune und grüsste nicht. Als er sich danach im Haus beim Kaffee aufwärmte, war es ihm peinlich, dass er die Nachbarn vom Dach aus nicht gegrüsst hatte, und er ging nach draussen, um sich den im Schnee Spielenden anzuschliessen. Unter ihnen war auch Dima. Sie bewarfen sich mit Schneebällen, und dabei funkte es zwischen ihnen.

Offen aufeinander zuzugehen ist nicht möglich, es soll kein Gerede geben. Und für ein Mädchen gehört es sich erst recht nicht, den ersten Schritt zu tun; dies würde ein schlechtes Licht auf sie werfen. Nur seiner Schwester Ghâda vertraute Anîs sich an. Ghâda lud Dima zum Kaffee ein, um zu sondieren, ob sie frei sei und allenfalls offen für eine Freundschaft mit Anîs. Dima wollte eine Woche Bedenkzeit. Aber nach drei Tagen rief sie Ghâda an und sagte, dass sie und ihre Eltern eine Verbindung begrüssen würden. Ghâda organisierte ein paar geheime Treffen bei sich zu Hause, damit Anîs und Dima einander näher kennenlernen konnten. Als sie nach etwa zwei Monaten sicher waren, dass sie eine Verbindung eingehen wollten, bat Anîs seine Schwester, ihren Vater zu informieren. Munîr gab umgehend seinen Segen, auch er ist glücklich.

15. Mai

Heute schrieb ich an meine Freunde: »Lange habe ich nichts von mir hören lassen, aber ich weiss, dass ihr mich begleitet und mir eine Stütze seid. Wenn ich von Sorgen und Schmerz niedergedrückt werde, nehme ich mir einen Moment Zeit und denke an euch. Ich finde hier eine Idee und dort einen Gedanken, ich sehe da ein Lächeln und spüre jene Umarmung. Wenn ich mir dies vergegenwärtige, geht es mir besser, und ich lächle.

Unser Sohn Anîs feiert in zwei Monaten Verlobung und wird im August heiraten. Mit uns freut sich die ganze Stadt; wir werden feiern, und Hunderte von Menschen werden dabei sein. Es gehört auch zu unserem Leben, dass wir uns von Herzen freuen und Feste feiern. Das gibt Kraft. Für einmal will ich also nicht von Schwerem und Traurigem berichten. Das tut gut. Es reinigt, entlastet die Nerven und öffnet die Augen und den Raum für einen Neubeginn.«

14. Juni

Heute sind Munîr und ich mit Ghâda und ihrer zehn Monate alten Tochter Rina ans Aprikosenfestival im Nachbardorf Dschifna gegangen. Rina mit ihren grossen dunklen Augen, dem lockigen schwarzen Haar und ihrem Lachen und Schreien macht jede gemeinsam verbrachte Minute zum kostbaren Geschenk. Die Aprikosenbäume von Dschifna sind das Wahrzeichen der ergrünenden Landschaft. Ihre Blütenpracht und ihre süssen Früchte ziehen die Menschen von nah und fern an. Das Festival findet jeweils während einer Woche im Juni statt, um die Aprikosen zu verkaufen und weitere regionale Produkte bekannt zu machen. Handwerkliche Erzeugnisse aus Stoff, Holz, Ton und Stroh werden ausgestellt. Kulturelle Gruppen singen und führen Tänze auf. Es ist eine Initiative, die Freude bereitet und die Wirtschaft belebt.

8. Juli

Bei einer Heirat müssen Rituale befolgt werden. Dazu gehört, dass der Älteste der Familie des Bräutigams den Vater der Braut formell um die Hand seiner Tochter bittet. Dazu hat Dimas Vater heute fünfzehn Männer aus seiner Familie versammelt, zwanzig weitere kamen aus Munîrs Familie. Sie trafen sich im Haus der Braut. Wir Frauen durften nicht dabei sein und warteten im Nebenzimmer auf den Segensspruch, um den Kaffee zu servieren. Die Reden der Männer nahmen kein Ende. Wir erfuhren, dass Dimas Vater zwar seinen Segen gab, aber noch die Zustimmung von Onkel Manuel, dem Priester von Gaza, haben wollte.

Dima ist katholisch und Anîs evangelisch getauft, und traditionsgemäss hat die Frau dem Mann ohne Widerspruch zu folgen. Doch die Familie der Braut wünschte die Zustimmung ihres Priesters.

Drei Stunden lang versuchten die Männer, ihn zu erreichen, aber die Telefonverbindung funktionierte nicht, weil es in Gaza keinen Strom gab. Die israelischen Behörden haben die Stromzufuhr auf wenige Stunden am Tag reduziert, und niemand weiss, wann diese Stunden sind. Endlich erreichten sie den Priester, der auch »Papst von Gaza« genannt wird. Er kann nicht ins Westjordanland reisen, weil die israelischen Behörden ihn dann nicht mehr nach Gaza zurückliessen. Er gab dem Brautpaar seinen Segen und sprach ein Gebet, das über Lautsprecher durchs ganze Haus hallte. Dann rief Dimas Vater: »Mädchen, her mit dem Kaffee!« Und das Trillern der wartenden Frauen setzte ein. Das Brautpaar darf sich jetzt in der Öffentlichkeit zeigen, und alle im Dorf wissen Bescheid.

13. Juli

Gestern fand die Verlobung von Anîs und Dima statt. Auf dem blumengeschmückten Dach des Brauthauses waren mehr als 200 Stühle aufgestellt. Kuchen und Süssigkeiten standen bereit, und alle hatten ihre schönsten Kleider angezogen. Nachdem der Pfarrer seinen Segen gegeben hatte, wurde mit Musik und Tanz gefeiert. Es war ein wunderbares Fest. Nun beginnen die Vorbereitungen auf die Hochzeit.

10. August

Heute ist ein besonderer Tag: Hâla ist nach dem Abschluss ihres Masters in Organisationskommunikation aus den USA nach Hause zurückgekehrt. Viele kamen zum Gratulieren und wollten sich durch sie in der Hoffnung bestätigt fühlen, dass auch ihre Kinder nach dem Studium im Ausland zurückkehren. Ich freue mich sehr, die Familie wieder beieinanderzuhaben. Hâla wird mir in unseren Familienaufgaben und bei meiner Arbeit mit den Frauen beistehen können.

18. August

Für die Hochzeit sind viele Verwandte aus dem Ausland angereist: mein Bruder Farhâd und Wafa, die Frau meines verstorbenen Bruders Bassâm, aus Florida; Firas, der Sohn meines ebenfalls verstorbenen Bruders Adnân, aus Texas, Munîrs Neffe Anîs und meine Schwester Hiâm mit ihrem Mann Issam aus San Francisco. Meine Schwester Nuha aus Amman hat seit zwölf Jahren nicht nach Hause kommen dürfen; mit ihr sind mein Onkel Isaak und seine Frau Munîra angereist, die gar seit fünfzehn Jahren nicht hatten einreisen dürfen. Es ist ein Wunder, dass sie ein Visum bekommen haben, und die Freude darüber ist besonders gross. Auch meine Schwester Ibtisâm, die Zahnärztin aus Berlin, und Cousin Raed-Peter, der Kinderarzt aus Mönchengladbach, sind angereist. Dass sie gekommen sind, ist ein Zeichen grössten Respekts gegenüber dem Brautpaar und zeugt von der Verbundenheit mit der Familie.

21. August

Gestern ging ich wie gewohnt zu meiner Mutter, um ihr beim Waschen, Kämmen, Anziehen und Essen behilflich zu sein. Sie strahlte, als ich zur Tür hereinkam, und sagte: »Heute ist ein besonderer Tag, der Hennatag der Braut. Bring mir das schönste Kleid und auch die goldenen Armbänder, mein Kreuz, die Ohrringe und den Fingerring – ich will heute all meinen Schmuck tragen, was ich seit dem Tod meiner Söhne Bassâm und Adnân nicht mehr gemacht habe. Aber jetzt heiratet Anîs, und damit beginnt eine neue Zeit der Freude.« Am Abend begleitete ich sie zum Hennafest, das immer im Haus der Braut stattfindet. Sie war wie eine Prinzessin, strahlend in ihrem bestickten Trachtenkleid, und schon auf der Treppe zum Haus hinauf liess sie einen Jubeltriller hören. Uns kamen die Tränen vor Rührung.

Dima trug mein über hundert Jahre altes besticktes Kleid und den ebenso alten bestickten, mit goldenem Münzschmuck verzierten Hut meiner Grossmutter. Henna ist ein rot färbendes Pflanzengemisch, das, zu Teig verarbeitet, auf die Hände aufgetragen wird. Es soll Segen und Fruchtbarkeit bringen und die guten Geister ins Haus einladen.

Tante Nadia, einer Cousine meiner Mutter, kam die Aufgabe zu, der Braut Henna auf die Hände aufzutragen. Sie sang dazu ein spezielles Lied und sprach einen Segen aus. Die Frauen, alle in traditionellen Kleidern, wedelten mit bunten Tüchern, während sie im Kreis tanzten und das geschmückte Tablett mit dem Hennateig von einer zur anderen weiterreichten.

Danach luden wir alle Versammelten zu uns nach Hause ein. Im Garten und auf der Terrasse hinter der Küche sassen mehr als hundert Männer und Frauen. Drei Tage lang hatten etwa zehn Frauen das Essen vorbereitet: Gefüllte Zucchini und Auberginen, Weinblätter, gefüllt mit Reis und Fleisch, Braten und fünfzehn verschiedene Salate standen auf den zwanzig Tischen bereit. Unter der Weinrebe und den Pflaumenbäumen wurde getanzt und gefeiert. In einer Ecke begannen acht alte Frauen zu singen, unter ihnen meine Mutter. Ihre Lieder klangen so unbeschreiblich schön, dass wir den CD-Player ausschalteten. Alle stimmten in den Gesang ein. Von Zeit zu Zeit standen die Greisinnen auf, um zu tanzen, und ruhten sich dann wieder aus. Es war ein wunderbares, unvergessliches Geschenk.

23. August

Zum Hochzeitstag gehört das Ritual der Rasur des Bräutigams – selbst wenn es wenig zu rasieren gibt. Das grosse Wohnzimmer wurde ausgeräumt, es blieben nur ein Stuhl für Anîs in der Mitte und einer für meine Mutter. Über sechzig Männer und Frauen drängten sich ins Zimmer. Nachdem der Friseur dem Bräutigam das Gesicht gewaschen hatte, wurde dieser auf seinem Stuhl hochgehoben und tanzend durch den Raum und über die Veranda getragen. Dieser Tanz wurde nach dem Einseifen, Rasieren, Reinigen und Parfümieren jeweils wiederholt.

Die Männer trugen dabei verzierte Stöcke, die der Bräutigam ihnen geschenkt hatte. Die Frauen wedelten mit bunten Tüchern. Dazu wurde Arrak getrunken, und Frauen- und Männergesänge vermischten sich. Die Zeremonie dauerte mehr als zwei Stunden, bis alle erschöpft waren. Meine Mutter schmückte mit ihrer Anwesenheit den Raum. Sie ist achtzig Jahre alt und sehr krank. Es ist ein Geschenk des Himmels, dass sie unerwartet die Kraft gefunden hat, um an der Hochzeit auf diese Weise dabei zu sein.

Nach drei Stunden Pause begann der Hochzeitstanz Zaffeh: Der Bräutigam wurde von Hunderten von Leuten mit Tanz und Gesang von seinem Haus zur katholischen Kirche begleitet. Für den Weg, der eigentlich in einer halben Stunde zurückgelegt werden kann, brauchte man über zwei Stunden.

Neben dem evangelischen Pfarrer beteiligten sich der katholische, der griechisch-orthodoxe und auch der griechisch-katholische Pfarrer am Hochzeitsritual. Die Trauung war eindrücklich und stimmungsvoll. Am Abend fand im Garten der Kirche das Fest statt, an dem mehr als 800 Gäste teilnahmen. Die Hochzeit war ein Fest für alle, für die ganze Stadt.

Es war so schön, zusammen zu tanzen, selbst der fünfundsiebzig Jahre alte Onkel Isaak und meine Mutter wagten ein paar Schritte. Besonders berührt hat mich der Tanz von Hâla und Munîr: Sie, schön und grazil wie eine Prinzessin, passte sich im Rhythmus der Musik Munîrs weichen und eleganten Tanzschritten an, und so schwebten sie beide über die Tanzfläche. Hâla wirkte wie ein leuchtender Stern.

28. August

Vor ihrer Abreise luden wir alle Gäste aus dem Ausland zu einem gemeinsamen Essen ins Dorf Ein Arik bei Ramallah ein. Das Restaurant Fallaha im grünen Tal ist bekannt für sein Musachan: Hähnchen mit Zwiebeln, im Ofen geröstet, auf in Olivenöl getunktem Fladenbrot. Bis das Brot gebacken und die Hähnchen geröstet waren, genossen wir Mezze, die Vorspeise mit vielen köstlichen Salaten. Die Grossmutter des Restaurantbesitzers war die Schwester meines Grossvaters.

30. August

Meine Knie tun weh. Ich kann kaum noch stehen und gehen. Bereits an der Hochzeit musste ich mit Tanzen aufhören, obwohl ich so gerne tanze. Nach der Hochzeit sind die Schmerzen noch schlimmer geworden. Ich muss mich ausruhen und Kräfte sammeln. Ich warte auf die Gelegenheit für eine Knieoperation.

12. Oktober

Gemeinsam mit meiner Freundin Christa Wendling aus Kastellaun in Deutschland, die sich intensiv mit dem Labyrinth beschäftigt, habe ich die Idee von Labyrinthen in Palästina entwickelt. Das Labyrinth ist ein uraltes Symbol, wir finden es in allen Kulturen. Heute erfährt es eine erstaunliche Wiederbelebung, getragen vom Bedürfnis nach Ritualen. Diese helfen, den Schmerz des Abschiednehmens auszuhalten und Angst, Unsicherheit, Verwirrung, Hilflosigkeit und Wut besser in den Griff zu bekommen.