Cover
Titel
Kurzer Brief an Edlef Köppen
Edlef Köppen – In diesen Tagen
Albrecht Franke –
Edlef Köppen. Eine Suche
Suderode: Das Unsagbare
André Schinkel –
April
Eingedenk
Epitaph in erloschener Landschaft
Vor der Enthauptung
Bettina Fügemann – Arras
Birgit Herkula – Edlef Köppen: Spät nicht vergessen
Carmen Winter – Rote Schuhe
Erich Weinert –
Soldaten
Briefe 1915
Franziska Gebauer – „Heeresbericht“ – Montage eines Antikriegsromans
Georges Hartmann – Zwei Haikus
Gert Loschütz – Köppen, Mühlenstraße
Gerd-Eckardt Schuster – Vater, Mutter und die zwei Weltkriege – Skizzenblätter
Günter Hartmann –
eiche vor dem fenster
Soldaten Friedhof
universum im wassertropfen
zeit sprünge
Abzählreim
Katzenköpfe
Aphorismen
„Nein, nichts ist bewältigt“ – Ein Gespräch zwischen Prof. em. Günter Baby Sommer und Ludwig Schumann
Herbert Beesten – Köppen & Rilke 1919 – … was wollt ihr hören …?
Johann Voß –
wem sonst
aber der schnee hat mehr zu sagen
lied für ahlam
beim militär
Jürgen Jankofsky – Edlef Köppen und Walter Bauer – zwei Mahner zwischen den Weltkriegen
Klaus-Peter Köppen – Anruf
Konstatin Schumann – Das Ehrenmal der Bundeswehr
Ludwig Schumann –
Der Tod ist ein leiser aus Deutschland
Piraten. Eine Predigt über die Ostergeschichte bei Markus
Niemand ist auferstanden
Monika und Manfred Helmecke – Von der Macht des Wortes oder Tote Dichter sind gute Dichter
Martin Meißner – Nicht zu spät
Martin Rühmann – Artur. Ein Liedtext
Max Heckel – Niedergang und Renaissance des Individuums? – Ein Vergleich
Paul D. Bartsch – Die Poesie des Grauens. Fritz O. Hartmann – ein unbekannter (Be-)Dichter des Weltkriegs
Fritz O. Hartmann –
Im Tal der Wieprcz
Krieg
Mensch und Krieg
Sommerschlacht
Eppes
Krieg
Mondnacht
Peter Sodann und Ludwig Schumann – Bildung braucht das Land
Renate Sattler –
Der Obelisk
Colbitzer Heide
Lindhorst
Der Kampfjet
Der Rittmeister von Schloß Röderhof
Rita Linke –
Der Alte
Danach
Steuerlos
Wüster Hof
Für einen Toten
Kriege
Rückkehr
Sabine Raczkowski – Mutter Reisigers geheimes Tagebuch
Thomas Böhme – Blätter zum Ersten Weltkrieg
Titus Simon – „Das solltest du mal lesen“
Torsten Olle –
Nach/Krieg
Eines Abends
Ausgang
Väterlicherseits
Unter Eichen
Ulrich Wittstock – Heimatfront
Uta Luise Zimmermann-Krause – Der verdammte Krieg – ein wahres Elend
Vivien Zahn – Blutsbrüder. Kein Anruf nötig
Wilhelm Ziehr – Edlef Köppen, Ernst Jünger und der Stil der literarischen Darstellungen des Ersten Weltkrieges
Wolfgang Eschker –
Das Grab am Elm
Südlich Arras
Rönne
Krüppelkiefer
Telegramm
Ohne Ende
Edlef Köppen. Eine biografische Notiz von Birgit Herkula
Ihre Gesprächspartner, Herr Köppen, sind
Dank
Endnoten
Impressum
Sehr geehrter Herr Köppen,
hundert Jahre sind nun ins Land gegangen, seit Sie als Kriegsfreiwilliger einrückten in jenen Krieg, den wir heute den Ersten Weltkrieg nennen. In diesen Tagen war noch nicht abzusehen, dass Sie einmal einen Roman mit dem Titel „Heeresbericht“ schreiben würden, in dem Sie abrechneten mit dem Aberwitz, dem Irrsinn des Krieges, der wie ein Schatten über Ihrem Leben stehen sollte.
Nicht nur, weil Sie sehr modern schrieben, sondern weil uns Ihre Darstellung beeindruckt, herausfordert, beunruhigt, betroffen macht, weil wir manches davon auch in unserer Gegenwart wiedererkennen, möchten wir mit Ihnen sprechen. Sie sollen analysiert und kategorisiert werden, Ihnen soll zugestimmt und widersprochen werden. Sie sitzen recht bequem, in Uniform und doch mit Lässigkeit auf der Balustrade in Genthin. Sie können sich etwas anhören. Denn Sie haben ja gesagt, was Sie zu sagen hatten.
Ihre Gesprächspartner sind: André Schinkel, Bettina Fügemann, Birgit Herkula, Carmen Winter, Erich Weinert, Franziska Gebauer, Georges Hartmann, Gerd-Eckardt Schuster, Gert Loschütz, Günter Baby Sommer, Günter Hartmann, Herbert Beesten, Johann Voß, Jürgen Jankofsky, Konstantin Schumann, Ludwig Schumann, Monika Helmecke, Manfred Helmecke, Martin Meißner, Martin Rühmann, Max Heckel, Paul D. Bartsch, Peter Sodann, Renate Sattler, Rita Linke, Sabine Raczkowski, Thomas Böhme, Titus Simon, Torsten Olle, Uli Wittstock, Uta Zimmermann-Krause, Vivien Zahn, Wilhelm Ziehr, Wolfgang Eschker und der Herausgeber. Und an Ihren Neffen, Klaus-Peter Köppen, erinnern Sie sich gewiss. Natürlich kommen Sie zuerst zu Wort.
Sie wissen, geehrter Herr Köppen, dass ich Sie jahrelang gesucht habe. Gefunden habe ich Sie sicherlich nicht, aber etwas nähergekommen bin ich Ihnen, als ich sah, auf wie viele Arten man mit Ihnen sprechen kann.
Ich grüße Sie daher im Namen aller Ihrer Gesprächspartner!
Albrecht Franke
Anna war stiller heute als sonst, wenn wir, ein paar Freunde seit nahezu dreißig Jahren, des Abends hier im Garten saßen, uns unterhielten, Scherz trieben und diesen wunderbaren Sommer voller Sonne und warmer Nächte so ganz auskosteten.
Einer von uns hatte, im Spaß mehr als ernsthaft, von Ereignissen gesprochen, die unvermittelt an uns Menschen herangetragen werden und deren Erklärung sich uns entzieht, die wir nicht deuten können, von denen es im besten Fall „Glauben“ gibt. Andere hatten das Gespräch aufgenommen. Da war dem einen einmal gewahrsagt worden, ein anderer hatte einen Traum gehabt –
„Warum so traurig, Anna“, fragte ich schließlich, weil ich fühlte, daß die seltsame Schweigsamkeit der Frau allmählich auf die Stimmung aller meiner Gäste drückte –, willst du nicht auch einmal etwas zu unserem Thema sagen?“ Aber Anna lächelte so schmerzlich, daß ich erschrak. Hatte ich an Dinge gerührt, die außerhalb unserer Unterhaltung lagen? Sie senkte mehrmals den Kopf. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, sah mich groß an. „Ja“, sagte sie schließlich, „mir ist auch einmal etwas zugestoßen. Ich habe nie bisher davon gesprochen – aber jetzt, nach zwanzig Jahren –“
Sie erzählte. „Es war Juli 1914. Ihr wart zum Teil damals mit mir in München. Einmal war ich des Abends allein im Theater. Eine wundervolle Aufführung von ‚Kabale und Liebe‘. Ich war ziemlich mitgenommen und wollte nach dem Schluß gleich in meine Wohnung. Da stand auf der Straße ein Mann vor mir, den ich eigentlich überhaupt nicht kannte. Das heißt, er war in irgendeinem Seminarkursus mit mir auf der Universität, und einmal früher war mir aufgefallen, daß er – er saß ein paar Reihen seitwärts von mir – unvermittelt mit ganz großen Augen zu mir sah, ganz lange, so, als ginge ihn all das nichts an, was der Professor sagte. Und ein andermal hatte er beim Essen in der Volksküche, wo ich damals mittags saß, ein Gespräch mit mir versucht. Aber ich mochte ihn nicht, weiß nicht, warum –
Er stand also vor dem Theater. Und ehe ich in die Trambahn steigen konnte, war er auch schon neben mir. Er nickte und schob mir seine Hand hin. Und sagte seinen Namen. ‚Ich muß Sie heute abend‘, fuhr er fort, ‚unbedingt sprechen –‘ Ich drehte ihm sofort den Rücken zu. Ich wollte nicht. Die Tram kam auch schon, ich stieg ein, als sei Luft hinter mir.
Aber wie ich im Wagen saß und zur Seite blickte, sah ich etwas Schreckliches. Neben meinem Fenster lief dieser Mann. Lief beinahe Galopp, wie irrsinnig – mir wurde ganz kalt. Wie ein Hund lief er neben mir hin. Das konnte ich denn doch nicht ertragen. Bei der nächsten Haltestelle stieg ich aus. Ich hatte wohl Mitleid mit ihm – aber ich wollte ihm andererseits deutlich meine Meinung sagen. Keuchend stand er da. ‚Ich habe nämlich das Fahrgeld nicht‘, stieß er hervor, ‚aber ich lasse Sie nicht los.‘
Was sollte ich tun? Ich sah ihn, wie er da im Dunkel immer noch keuchend neben mir war – ich ärgerte mich zwar ein wenig, vermutete einen reichlich plumpen Versuch, sich anzubiedern – aber irgend etwas an dem Mann rührte mich. Ich erlaubte ihm also, daß er mich ins Café begleitete. Der Mann bestellte uns Kaffee.
Er redete nicht. Er malte mit dem Finger auf der Tischplatte. Er dachte offenbar nach. Schließlich verlor ich die Geduld. ‚Was wollen Sie denn eigentlich?‘ Er sah auf.
‚Ich will …? Gar nichts will ich. Ich will nur bei Ihnen sitzen …‘ – ‚Ja, aber warum denn?‘– Er nickte. ‚Jaja, Sie haben natürlich ein Recht, nach dem Warum zu fragen. Aber ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.‘
Er malte abermals. Nach einer Weile sah er mich wieder an. ‚Glauben Sie an den Krieg?‘ fragte er dann schnell. Ich verstand ihn nicht. ‚Was für einen Krieg?‘ fragte ich, etwas gereizt. ‚Es wird Krieg geben, bestimmt, es wird Krieg geben –‘
Lieber Gott, was sollte ich dazu sagen? Ich war Studentin, war eine Frau, die sich um alles andere mehr kümmerte als um Politik. Und nun wollte man von mir ausgerechnet etwas über die Kriegsaussichten wissen. – Er sah mich immer noch an. Irgendwo im Café brach gerade eine Gelächter aus, das sich dröhnend bis an unseren Tisch ergoß. ‚Krieg‘, sagte ich, ‚nein! Wie kommen Sie denn darauf? Ich wüßte außerdem nicht, was das mit Ihnen und mir –‘
Er strich sich übers Haar. Er wurde ganz lebhaft. ‚Sehen Sie‘, sagte er, ‚Fräulein Anna, das ist es gerade. Es geht uns beide sehr viel an. Ich – ich – also ich habe am 6. August Geburtstag. Da werde ich Zwanzig. Eltern habe ich nicht mehr, niemanden habe ich hier auf der Erde – und – und – ich wollte nicht mehr, als Sie bitten, daß Sie am 6. August an mich denken, weil Sie doch – weil ich doch –‘
Ich möchte euch nicht all das wiederholen, was der Mensch mir in dieser Nacht damals sagte. Ich war jung wie ihr, und ich war, das wißt ihr ja, mehr als empfindlich gegen Menschen, die ihr Herz sozusagen auf der Zunge tragen. Kurz: er machte mir eine lange und erschütternde Liebeserklärung – –“
Anna schwieg. Keiner von uns wagte zu sprechen. Wir sahen nur auf sie, die nach ihrer Erzählung ein wenig zusammengesunken war und auf den Boden blickte.
Als sich schließlich einer unter uns räusperte, sprach Anna weiter. – „Liebeserklärung“, fuhr sie fort, „die ich durchaus nicht begriff. Und auch nicht begreifen wollte. Der Mann neben mir war mir völlig fremd – wir kannten uns doch wirklich nicht – und nun überströmte er mich mit Beteuerungen seiner Liebe – ich konnte wirklich nichts davon begreifen. – Aber ich konnte ihn auch nicht einmal beruhigen, auch nicht trösten. – Ich konnte nur eins: gehen. Und das tat ich. Ich stand auf, nahm meinen Hut. – Er ergriff meine Hand. ‚Bleiben Sie‘, stammelte er, ‚oder erlauben Sie, daß ich mit Ihnen gehe, – sonst – könnten Sie es bereuen –‘
Er zahlte schnell und ging mit mir durch die stillen Straßen Münchens. ‚Gar nichts will ich‘, sagte er noch einmal, und er war jetzt ganz ruhig, ‚als daß Sie am 6. August gut an mich denken. –‘ Als wir durch den Englischen Garten wollten, hinter dem meine Wohnung lag, hörten wir Gesang vieler Stimmen. Das Deutschlandlied und ‚Gott erhalte Franz, den Kaiser‘. Dann sahen wir Menschenmassen, die zur Stadt drängten. ‚Da sehen Sie‘, sagte mein Begleiter, ‚da sehen Sie – wir müssen mit ihnen, nicht wahr –‘ Willenlos ließ ich mich da vom Menschenstrom mitziehen.
In die Stadt! Jubel überall, den ich nicht begriff, Tumulte, in einem Café am Stachus flogen die Splitter der Fensterscheiben auf die nächtlichen Straßen – Menschen umarmten sich, küßten sich, Menschen schrien, weinten, sangen von neuem, tobten –. Immer neben und unter ihnen mein Begleiter und ich. Ich begriff immer noch so gut wie nichts. ‚Sarajewo‘ hörte ich – ‚Mord‘ hörte ich – ‚Weltbrand‘–
‚Verstehen Sie mich nun?‘ Mein Begleiter drückte meine Hand. – ‚Was denn, um Himmels willen?‘ ‚Krieg – der Krieg – da ist er schon. Und bald gehe ich hinaus –‘
Ein bärtiger Bayer schlug mir auf die Schulter. ‚Na, junge Frau‘, lachte er, ‚muß der Alte auch gleich ins Feld, ha?‘
Ich konnte nicht mehr, ich verlor die Nerven. – Ich sah plötzlich ein Taxi durch den Trubel fahren, riß mich von der Seite meines Begleiters, sprang in den Wagen, rief meine Adresse, fuhr davon. – Er rannte wieder hinterher, konnte dann wohl nicht mehr. –
Der Krieg brach wirklich aus. Und ich fuhr zu meinen Eltern hierher nahe bei Berlin. Ich zwang mich in jenen Tagen damals, nicht mehr an den seltsamen Mann zu denken. – Aber es gelang mir nicht.
Ich sprach mit meinem Vater über all das Seltsame jener Begegnung. Er tröstete mich. Das sei nicht einmal ein Zufall mit der Prophezeiung, sagte er begütigend. Denn daß Krieg kommen würde, habe jeder Mann geahnt – diese Voraussage habe weder Übernatürliches noch Unheimliches an sich.
Und dann? – Am 7. August abends kam ein Telegramm an mich. ‚Infanterist K. L. am 6.8. fürs Vaterland vor M. gefallen. Mitteilung erfolgt auf letzten Wunsch des Toten –‘
Am 6. August gefallen, an seinem Geburtstag. Und ich war ihm ausgerückt damals, und er hätte mich vielleicht wirklich nötig gehabt, und ich habe ihn nicht mehr gesehen – versteht ihr das alles? Vielleicht, sage ich noch heute manchmal, hätte ich ihm helfen können …“
Keiner von uns antwortete. Was sollten wir sagen? Anna ging bald nach Haus. Wir bleiben, stumm, versonnen. Bald sind zwanzig Jahre vorüber, daß ihr das geschah. Und ihr „Vielleicht“ – wer will das entscheiden?
(Erschienen am 25.8.1934 im „Berliner Lokalanzeiger“)
15. September 1989, Trabant-Fahrt
Edlef Köppen: geboren am 1. März 1893 in Genthin, gestorben am 21. Februar 1939 in Gießen. Autor des Romans „Heeresbericht“, Autor von „expressionistischen“ Gedichten, die auch in der „AKTION“ gedruckt wurden. Den 1985 in zweiter Auflage vom Verlag der Nation Berlin edierten „Heeresbericht“ samt Nachwort und dokumentarischem Anhang habe ich gelesen, desgleichen die Gedichte in der „AKTION“, zum Beispiel:
NACHTS
Zwischen den Schornsteinen eines zerschossenen Hauses
sitzt der Mond und glotzt ins brennende Dorf und
heult.
Wie Schleier kriechen seine Träume über die Dächer.
Manchmal kläfft ein Gewehr,
und eine Kugel frißt sich durch Holz
oder Scherben –
Manchmal grölt ein Geschütz
und dann flattern singende Fetzen umher
wie Fledermäuse,
irgendwo stürmt ein Schrei durch die Gassen.
Am Christuskreuz blinkt hell ein Schädel.
Wer ist Edlef Köppen?
Im „Trabant“ von Stendal nach Genthin. Zuerst das Standesamt. Dort erklärt man sich wegen einer bevorstehenden Trauung (Eheschließung!) und von Amts wegen für unzuständig; zuständig, so erfahre ich, sei die Urkundenstelle beim Rat des Kreises Genthin. Nach der obligatorischen Ausweiskontrolle an der Pforte werde ich vorgelassen, errege aber mit meinem Ansinnen Misstrauen. Es sei nicht üblich, bekomme ich zu hören, Informationen, die sich aus den Urkunden ergäben, irgendwelchen Besuchern zugänglich zu machen. Ich präsentiere einen Ausweis, der meine Mitgliedschaft im Schriftstellerverband der DDR bestätigt. Nach zwei flüsternd geführten Telefonaten wird mir aus einem Buch vorgelesen: „Joachim Edlef Köppen. Geboren morgens 8.45 Uhr. Vater: Doktor Martin Paul Robert Köppen, praktischer Arzt in Genthin. Mutter: Emma Henriette Köppen, geb. Hosmann.“ Mehr, so wird mir bedeutet, gäben die Unterlagen nicht her.
Ich gehe noch zum Pfarrhaus der Kirche St. Trinitatis. Hier wird mir ohne Ausweispräsentation mitgeteilt, dass Edlef Köppen am 20. Juli 1893 getauft worden sei. Der Pfarrer erzählt mir, dass Verwandte Köppens noch am Leben seien. Sein Amtsbruder Klaus-Peter Köppen, Pfarrer von St. Nicolai in Magdeburg, müsse Edlef Köppen noch persönlich gekannt haben.
16. September 1989, Telefongespräch
Ich rufe Pfarrer Köppen an. Es wird ein langes, intensives Gespräch, ich werde zu einem Besuch eingeladen. Einstweilen erfahre ich:
Edlef Köppen war der Onkel Pfarrer Köppens. Das Geburtshaus (diese Information hatte ich in der Urkundenstelle nicht bekommen) steht an der Ecke der Genthiner Wilhelm-Külz-Straße. Pfarrer Köppen verweist auf die rororo-Ausgabe des „Heeresberichts“, die in hoher Auflage erschienen sei. In der Autobiografie Stefan Heyms „Nachruf“ werde Edlef Köppen ebenfalls erwähnt, denn er habe als Leiter der Berliner „Funk-Stunde“ Gedichte des damals jungen Autors gebracht.
26. September 1989, Pfarrhaus
Im Rahmen der „Woche der Magdeburger Schriftsteller“ halte ich eine Lesung in der „Galerie Süd“ in Magdeburg. Sie ist überaus schlecht besucht. Ich lese lustlos ein paar Seiten, beantworte ebenso lustlos die Fragen, die bei solchen Anlässen immer gestellt werden. Abends bin ich zu Gast beim Ehepaar Köppen. Wir reden über die explosive Lage im Land, und ich bekomme eine Resolution des Neuen Forums zu lesen, eine Flasche Weißwein wird geleert. Ich übernachte zum ersten Male in meinem Leben in einem Pfarrhaus.
27. September 1989, Fragmente
Gespräch mit Pfarrer Dr. Klaus Peter Köppen über seinen Onkel Edlef Köppen, das auf Kassette aufgezeichnet wird und dokumentiert, wie schwierig die Arbeit des Erinnerns sein kann:
Klaus Peter Köppen war zehn Jahre alt, als Edlef Köppen starb. Der Schriftsteller hatte eine Tochter, Gabriele, die bereits verstorben ist. Sie war Lehrerin in der Nähe von Wilhelmshorst (bei Potsdam). Ihr Mann soll in der Nähe von Stuttgart leben.
Bruchstücke einer Erinnerung:
Besuch Edlef Köppens in Genthin, im Elternhaus Klaus-Peter Köppens: In der Garage war ein Brett an der Wand, darauf die Umrisse eines Hammers (mit Bleistift umfahren). Edlef Köppen sagte: „Wenn der Hammer mal nicht da ist, dann ist dies hier eine Art nackter Hammer.“
Eine Erinnerung an Wilhelmshorst: Haus am Rande des Ortes, großer Garten. Ein Speer. Onkel Edlef ist fuchtig wegen der ständigen Quengelei der Kinder.
Die Verwandten hielten ihn für einen „Edelkommunisten“. Er stand im Ruch des Exotischen, Extravaganten, er war der einzige Künstler in einem bürgerlichen Umfeld, wo nur fest umrissene Tätigkeiten „normal“ waren. Auch der Verdacht der Bedeutungslosigkeit kam immer hoch.
Klaus-Peter Köppen hielt seinen Onkel als Junge für „wohlhabend“, weil dieser einen „Kamelhaarmantel“ trug.
Der Tod in Gießen, vielleicht beim Arzt.
Beerdigt wurde er in Wilhelmshorst.
Der Pastor sagte auf der Beerdigung etwas „Dummes“ (was es genau war, lässt sich nicht mehr herausfinden). Hete Köppen (Ehefrau Edlef Köppens) musste den Pastor in Schutz nehmen.
Hete war „unkirchlich“.
Das Paar war nicht kirchlich getraut worden.
Hete war künstlerisch veranlagt. Sie malte. War später beim RIAS, hatte mit Hörspielen zu tun. Sie wurde sehr alt.
Genthin spielte immer eine positive Rolle im Denken Köppens.
Februar 1990
Das Grab Köppens kann ich nicht finden. Im Dorf erkundige ich mich nach dem Haus. Eine eisige Ablehnung schlägt mir entgegen, die sich erst mildert, als ich auf den „Trabant“ deute, mit dem ich gekommen bin. Jeden Tag, so sagt man mir, seien hier Grundstücksjäger unterwegs. Darum werde keinem Fremden ein Haus gezeigt, man kenne ja dessen Absichten nicht. Ich erkenne dann das Köppen’sche Haus, er hat dessen Bau in einem 1934 erschienenen Roman beschrieben: „Vier Mauern und ein Dach. Heiteres um einen Hausbau“, dessen Harmlosigkeit so gewollt klingt und durchgeführt wird, dass die Lektüre nur schwer zu ertragen ist. Im Garten des Hauses ist eine Familie mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Man lässt mich nicht aufs Grundstück, antwortet auf keine Frage, pfeift dem Hund und droht mir eine „Verkloppung“ an.
1. Oktober 1993
Veranstaltung in der Genthiner Bibliothek, gemeinsam mit Dr. Klaus-Peter Köppen und Manfred Helmecke. Wir sprechen über Edlef Köppen, lesen aus seinem „Heeresbericht“. Jahrelang verliere ich die Köppens, verliere ich Edlef Köppen aus den Augen, nur manchmal, wenn ich im Unterricht über die „Weltkriegsliteratur“ spreche, erinnere ich mich an den fernen Wunsch, über ihn zu schreiben.
Frühsommer 2011
Ein in Tangermünde wohnender Kollege bestellt mir Grüße von einem alten Bekannten. Wie sich herausstellt, ist Pfarrer Köppen, inzwischen pensioniert, nach Tangermünde gezogen, zu Tochter und Schwiegersohn ins Pfarrhaus. Ein Wiedersehen, wie es wohl sein soll, damit etwas entstehe.
Wir sitzen unter den alten Bäumen des Pfarrgartens, mehr als zwanzig Jahre älter geworden, und doch gelingt es, das Gespräch über Edlef Köppen fortzuführen. Dann kracht ein Sommergewitter herunter, wir müssen in ein Gartenhäuschen fliehen, die Elbe unter uns versinkt in den grauen Regenschleiern und die Idee zu diesem Buch wird geboren, als Pfarrer Köppen plötzlich sagt: „Jetzt wird es aber allerhöchste Eisenbahn, dass etwas über Edlef Köppen gemacht wird …“ Ja, es ist Zeit, das können wir uns gegenseitig versichern. Aber nicht nur deswegen, sondern auch weil 2014 nahe ist. Und damit die hundertste Wiederkehr des Tages, da Edlef Köppen freiwillig in den Krieg zog …
29. Juli 2011, Erinnerungen an meinen Onkel Edlef – eine Kaffeeplauderei mit Klaus-Peter Köppen
Meine Haupterinnerung an Onkel Edlef in Wilhelmshorst, wo ich mehrfach gewesen bin, ist folgende: Dass ich da einen Speer gesehen habe. Noch nie hatte ich als Zehnjähriger einen Speer in greifbarer Nähe gesehen. Und ich wollte nun gern mit diesem Speer mal werfen und hatte die naive Vorstellung – wahrscheinlich aus dem Kino, Fernsehen gab es noch nicht –, dass der Speer so einen wunderschönen Bogen beschreibt und dann in der Erde stecken bleibt. Ob wir nicht einmal rausgehen könnten, fragte ich also den Onkel und die Tante Hete, um den Speer zu werfen. Und diese Aufforderung wurde eben so oft von mir wiederholt, dass der Onkel irgendwann sagte: „Nu hab ich es aber dicke, diese Quengelei ist ja furchtbar …“ Aber man ging dann los, irgendwohin in den Wald … Wald war in der Umgebung reichlich vorhanden, und beim ersten Versuch, den Speer zu werfen, dachte dieser gar nicht daran, so einen schönen Kreisbogen zu beschreiben, sondern flog in die Gegend. Und in dem Moment war mein Interesse am Speerwerfen auch erloschen … Dieses Grundstück in Wilhelmshorst hatte aber immer etwas Besonderes, Exotisches, zum Beispiel, weil da Schildkröten waren, Wasserbecken sowieso gehörten zu dem Garten. Und was mir nicht angenehm war, besonders in späteren Jahren, nach dem Tode von Onkel Edlef, war, dass die Tante da eine Hundezucht betrieb – Airedale Terrier, do you understand, Airedale Terrier? – und wenn die Junge hatten, dann waren die auch unfreundlich gegen jeden Fremden. Und damit kam ich nicht zurecht. Andere Erinnerungen an Onkel Edlef sind zum Beispiel folgende: Das Haus in Genthin, Bahnhofstraße 10, ist kurz vor dem Kriege neu gebaut worden. Es war wohl gerade neu bezogen, als Onkel Edlef ankam, natürlich in Begleitung seiner Frau, und unten in der Garage war ein Brett mit zwei Nägeln, um einen Hammer aufzuhängen, und irgendjemand hatte um den Hammer herum einen Strich gezogen, aber der Hammer hing nicht an seinem Platz. Da sagte er etwas von einem „nackten Hammer“ oder etwas in der Art. Unbedeutend … Vielleicht bedeutender ist die Erinnerung an einen Brand in Genthin, ich kann das auch beschreiben: In der Umgebung der ehemaligen Molkerei brannte ein Haus ab. Und dahin ging man – und dort war, das weiß ich genau – Onkel Edlef dabei, weil er gerade zu Besuch war. Und man schaute zu, wie die Feuerwehr den Brand löschte.
Mein Bruder Hans, der Hals-Nasen-Ohren-Arzt, hat gefunden, dass diese Charakterisierung1 Onkel Edlefs zu kritisch ist. Aber ich kann eigentlich nicht finden, dass hier irgendetwas steht, was nicht meiner Erinnerung entsprechen würde. „Er stand im Ruch des Exotischen, Extravaganten, war der einzige Künstler in einem bürgerlichen Umfeld …“2 Ja, der Verdacht der Bedeutungslosigkeit, da denkt man sofort an Erich Maria Remarque, „Im Westen nichts Neues“, ja? Was jetzt kommt, weiß ich noch gar nicht so lange, nämlich dass dieses Buch irgendwie zusammengeklittert ist, ich glaube, aus Augenzeugenberichten … während das Buch von Edlef Köppen ein Augenzeugenbericht ist …
Doch gesprochen über das Buch wurde in der Familie Köppen kaum, weil es eben im Ruch der Bedeutungslosigkeit stand. Remarque, auch durch den Film, war zu dem Thema viel präsenter als Edlef Köppen. Auch über die Gedichte nicht, von denen wusste ich gar nichts. Edlef Köppen als Lyriker ist für mich eine relativ neue Erfahrung.
Der Tod Onkel Edlefs in Gießen kann nur in Zusammenhang stehen mit der als Folge der Kriegsverletzung entstandenen Lungenkrankheit, Genaueres weiß ich davon aber auch nicht. Jetzt kommt noch folgende Erinnerung: Meine Oma, also die Mutter meiner Mutter, die erzählte, dass sie ihm einmal einen Klaps gegeben habe, einen Klaps, wie unter Verwandten üblich, um Kontakt herzustellen.
Darauf habe er sehr empfindlich reagiert, wegen seiner Krankheit, Lungenkrankheit, Lungenquetschung. Der Versuch, Kontakt herzustellen, ging, aus medizinischen Gründen, nach hinten los …
Es gab zwar Pausen in der Beschäftigung mit Edlef Köppen, aber immer wieder wurde man auf ihn gestoßen. So etwa bei der Neuausgabe des „Heeresberichts“, 1984, in der DDR. Ich weiß noch, dass es Verhandlungen gab mit Tante Hete und dass sie nachher ein bisschen Geld verteilt hat.
Sein Gedicht „Mein armer Bruder – warum tat man das?“ hat mich nicht so tief beeindruckt. Wie kommt das? Ich weiß es nicht …
Zum Thema Film: Onkel Edlef war doch beim Film, bei der TOBIS. Im gegenwärtigen Kirchengesangbuch finden sich auch Texte von Jochen Klepper. In einer Biografie Kleppers kommt Edlef Köppen vor. Es ging, warte mal, um die Verfilmung des Romans „Der Vater“ von Klepper. In dem Zusammenhang haben sich die Herren getroffen. Ich habe sogar einen Textauszug aus der Biografie Kleppers hergestellt und an Verwandte und interessierte Personen geschickt.
Jetzt fällt mir noch Folgendes ein … ich bin gestoßen auf ein Buch, welches sich mit der frühen Rundfunkgeschichte beschäftigt. Da kommt Köppen auch groß raus. Man staunt immer wieder über seine Vielseitigkeit. Und zu vielen berühmten Leuten hatten die Köppens Kontakt. Auch zu Oskar Loerke, glaube ich. Und wenn es der nicht ist, dann ist es jemand, der in den zwanziger Jahren in Berlin aktuell war. Ich hätte gar nicht gedacht, dass mir noch so viel einfällt …
Ein Bahnhof, im Zuge: Hohe Eisenkonstruktionen, erfüllt vom Dampfzischen, dehnten sich in eine scheinbare Unendlichkeit, wurden zum Versprechen auf Weite, Leben, Zukunft. Aber gerade das machte die Menschen klein, zu Tanzenden, Wimmelnden. Moloch, Ameisenhaufen. Wörter durchströmten ihn immerzu. Sie schienen sich mit seinem Blut zu vermischen, wurden in die gequetschte Lunge gepresst. Quetschlunge ist besser als Bauchschuss. Da träten einem die Wortkaldaunen aus dem Wanst. Ein Menschenhaufen zog ihn mit sich fort, eine Treppe hinauf, ins Bahnhofsrestaurant. Lauwarmes Bier an der Theke, Gequassel ringsum, wogender Zigarrenrauch. Einsamkeit, Hunger, Schweinebraten, Rotkohl, Salzkartoffeln. Das aber ist Leben. Ist sogar Freiheit. Alles, was nicht Barras ist, bedeutet Freiheit. Aber ein Zitherspieler vertrieb ihn mit seinem Vortrag aus der Restauration. Er gab ihm nichts beim Hinausgehen. Jedichte bringen ooch nüscht. So sagense doch in Genthin. Und son Jeklimper erst … Der Musikant starrte blöde ins Nirgendwo. Köppen begriff, dass er es mit einem Blinden zu tun hatte, vielleicht einem Kriegskrüppel. Grauen schüttelte ihn, und er eilte, so gut er mit seinem kurzen Atem eilen konnte, auf seinen Perron, seinem Zuge, seiner Kur zu. Er fuhr durch eine ratternde Nacht mit Schnarchern im Coupé. Dicke Furzluft. Er riss am Fensterriemen,. Grässlicher Geschmack im Munde, Kopfschmerzen. Im Morgengrauen Umsteigen auf einem Provinzialbahnhof. Vormittags war er in Bad Suderode. Suderode, hier retten sie ein’ vorm Tode.
Bad Suderode, 7.10.2012: Ein kühler Tag, Regenschauer, plötzlich hervorbrechende, grelle Sonnenstrahlen, schnell ziehende Wolken.
Herbstlich bunt der Kurpark und die Wälder. Still, wie verlassen der Ort. Wege, die er vielleicht gegangen ist. Häuser, die er wahrscheinlich gesehen hat. Ein Bäumchen noch die heute groß gewachsene „Friedenseiche“. Und immer noch gibt es das Schild auf dem Stein darunter: „Friedenseiche, 1813–1913, gesetzt 1913 zur Erinnerung an den Befreiungskrieg und zur Mahnung an alle, den Frieden zu wahren.“ Las der Kriegsverwundete (Lungenquetschung) 1916 diese Aufschrift? Am Donnerstag, dem 21.9.1916 etwa, während eines Spazierganges, bevor im Hospital die Untersuchungen und Verordnungen begannen? Bevor das Liegen begann?
Im Gebirge: Er war nun an seinem Orte. Er ließ sich in einem kleinen Frisiersalon rasieren, verschlang in einer Konditorei Eclairs, die als Liebesknochen gehandelt wurden, trank Tee, betrachtete behaglich die wenigen Kurgäste, die wie nutzlos herumstanden, bemüht, ihr Gepäck nicht aus den Augen zu lassen. Es ist doch noch Frieden, ich muss geträumt haben, dass ich durch Schützengräben haste. Jetzt erst bin aufgewacht. Gasangriff geträumt. Hier ist alles noch so, wie es war. Heile Erde, heile Menschen. Ein vorübertrottender Leichenzug holte ihn in das Jetzt zurück. Er grüßte militärisch, aber niemand achtete seiner. Die Sonne schien, herbstlich gedämpft, in den Talkessel hinein. Die Berge auf der anderen Seite des Tales, woher ein leichter Wind wehte, strahlten in einem noch fast sommerlichen Blaugrün. Die Kirchenglocke begann zu läuten, dumpf, schwer, aber er nahm sich vor, das Leben zu genießen. Das Sauleben. Er zählte seine Barschaft und konnte feststellen, dass ein Bier und eine Wurst möglich wären. Also trat er an den Straßenausschank: „’ne Bockwurscht, heiß, und ’ne Pulle Bier, kalt.“
Im Spital: Zäh die Tage, zäh die Behandlungen, zäh das Ergebnis: Da kann man nicht viel machen, Verehrtester. Gas ist Gas, gequetschte Lunge ist gequetschte Lunge. Na, man keine Sorge, dienstfähig wer’n Se schon wieder. Er lag und saß, wenn er lag, ließ er die Gedanken kreisen, saß er, kritzelte er etwas hin, das hinaus wollte aus ihm und ihm wie ein Gedicht vorkam. Spaziergänge wurden ihm erlaubt, häufige Rasten vorgeschrieben, Bänke seien genug vorhanden. Immer tief einatmen die gute Luft!
Eine Erinnerung beim Rasten: Der Herr Garnisonskaplan, ein freundlicher Herr, Zigarrenfreund, mit dem man sogar fürs Seelenheil rauchen konnte. Man durfte nur seiner Lieblingsvorstellung nicht widersprechen: In jedem Menschen, so dozierte der, sei bereits der Plan zur Erlösung angelegt, man möge das wahrhaben wollen oder nicht. Wie ein Schnittmuster sei das vorzustellen, das nur noch ausgerädelt werden müsse. So einfach und doch so kompliziert sei es mit der göttlichen Planung. Ich habe dich geliebt, Gott, flüsterte er, kritzelte er. Mit pfeifendem Atem dann zurück ins Spital, zu Bett, unters Kommando der Schwesternschaft. Das soll Erlösung sein?
Der Tagtraum vom Thale-Ausflug: Man kommt an auf dem Bahnhof, der ein Sack-Bahnhof ist. Hinter der Lokomotiven-Drehscheibe das Bergmassiv. Daneben rumpelt und prustet die Eisenhütte. In der Nummer des grauen Waggons, in dem man gesessen, das eigene Geburtsjahr entdecken: 1893. Vorbei an der Bahnsteigsperre, in eiserner Bude ein dicker Beamter, der Billets locht. Man stellt fest, dass die Welt vollkommen in Ordnung ist, sie funktioniert wie eh und je. Zur Besorgnis besteht kein Anlass. Bahnhof und kleinstädtische Betriebsamkeit versinken wie Theaterkulissen hinter ihm. Er geht über eine Brücke und gelangt in ein schattiges Tal. Neben ihm braust die Bode über Felsbrocken. Krüpplige Bäume, tröpfelnde Nässe. „Karfreitagsstimmung“, sagt er in eine muffige Luft ausgähnende Höhlenöffnung hinein. Seine hohl orgelnde, etwas pfeifende Stimme ist ihm widerlich. Du musst dein Leben ändern, wenn es dir nicht auf ewig entgleiten soll. Wähle zwischen Spital und Front. Er überschreitet eine Teufelsbrücke, die Felsen rücken immer näher heran. Unter ihm tobt in einem steinernen Kessel der Fluss, wirbelt Schaum auf, er beugt sich über das feuchte Eisengeländer, spürt, dass jemand von hinten an ihn herantritt. Ein Förster ist’s. Der weist ihn auf die Absturzgefahr hin, zeigt auf ein Holzkreuz, das an die abgestürzten Übermütigen erinnern soll. Er erwidert, dass er noch ganz anderen Tötungsarten ins Gesicht sehen müsse und wendet sich zum Gehen. Waldschrat, denkt er, und wirklich ist die Gestalt hinter einem Wasserschleier sogleich verschwunden. Kühler Wind fährt durch die Schlucht, diese Luft lässt sich besser atmen, beschwingt beinahe schreitet er aus. Dann steht er vor dem Haus WOTAN: gehörnte Holzfratze, von Raben flankiert, die Haustür von Runen übersät. Im Flur ein Tischchen mit Zeitungen, Hirschgeweihe als Leuchter, dunkles Mobiliar. Eine Empfangsdame begrüßt ihn. Man warte schon seit Stunden auf ihn, habe einen Kremser, da sonst nichts verfügbar sei, zum Bahnhof geschickt, der Försterei Bescheid gegeben. Die gnädige Frau – er registriert den schiefen Blick, sei schon in heller Aufregung ob seiner Verspätung, alles sei bereit, Badewasser warm, um sechs Uhr werde gegessen, man rieche ja schon den Bratenduft … Aufschreckend, erwachend, saß er auf einem Schemel vor der Badewanne, aber die flimmernde Fühllosigkeit, die er erhofft hatte, blieb aus. „Köppen, inhalieren!“, rief die Schwester. „Beeilung, bitte! Badetag!“
Samstagabendausgang, im Gasthaus: Über der Theke ein Holztäfelchen mit dem eingebrannten Spruch:
Es grüne die Tanne,
es wachse das Erz,
GOTT schenke uns allen,
ein fröhliches Herz.
Daher vielleicht trat an seinen Tisch ein Herr, straffe, glatte Erscheinung in tadellosem Anzug. „Scharfschmidt“, stellte er sich vor, „Gutsinspektor meines Zeichens, Spezialist für Dampflokomobile, jenseits des waffenfähigen Alters, leicht verkrümmt außerdem, jetzt aber Sommerfrischler und lebenslustig, interessiert an gutem Essen. Leider reinste Hungerleider-Gegend hier oben im Harze.“
Dann sank er auf seinen Stuhl, griff nach der Speisekarte.
Wein sei aus, bekam Köppen von der Bedienung zu hören, Scharfschmidt lachte wie besessen und empfahl, Schnaps mit dem Suderoder Mineralwasser zu verdünnen, eine Mischung, die jeden liebestollen Kater strecke. Besetztes Gebiet, hier ist besetztes Gebiet. Die Daheimgebliebenen sind die Okkupanten. Doch Scharfschmidt war schon bei den Vorteilen der Dampfflugtechnik, der Steinkohlenknappheit, dem Mangel an Fachkräften, da alles an der Front. Aber der Insel-Verlag druckt Elogen auf Hindenburg!, musste Köppen plötzlich ausrufen. Herr Scharfschmidt kannte keinen Insel-Verlag, nur Bier-Verläge (oder heiße es Verlage?) und behandelte bereits die Unterschiede der gewittrigen Entladungen im Fachlande und im Gebirge. „Kein Dampfpflugwetter! In der Börde eben noch Sonnenschein, dann ein Grummeln und dann Feurio! Beim Rübenhacken wird man vom Blitz getroffen, jawohl! Aber im Harze! Im Talkessel. Artillerie muss geholt werden, um die hartnäckigen Gewitter zu vertreiben. Immer mittenmang rin in de Wolken!“ Köppen nuschelte: „Kriejen se Schiss, de Wolken. Unse Attlerie. So lange Rohre.“
Er erhob sich, trank sein Glas in einem Zuge leer und torkelte hinaus, stolperte durch das stille, dunkle Nacht-Suderode.
„Sie sollen sich erholen, gesund werden, nicht auf Sauftour gehen“, maulte die Nachtschwester, die er um Kopfschmerztabletten anbettelte. Er konnte sein eigenes Gehuste nicht mehr ertragen. „Wenn Sie nicht schlafen können, setzen Sie sich zu mir und erzählen mir etwas.“ „Das eben kann ich nicht“, sagte er mit metallisch rasselnder Stimme. „Man irrt ab beim Erzählen, verliert sich, kurz, es ist alles unsagbar. Wenn ich doch auch so prägnant formulieren könnte wie diese Zeitung: ‚Ein Verräter ist, wer Gold und Schmuck zurückhält, weil er dem Lande vorenthält, was es zu seiner Verteidigung braucht! Besinne Dich zur rechten Zeit und tue, was Deine Pflicht ist! Willst Du zurückbleiben, wenn das Vaterland ruft und Dein Gold verlangt? Denke daran, daß Hunderttausende täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, während von Dir nur ein kleines Opfer gefordert wird?‘“
„Ein kleines Opfer“, murmelte er, „ein kleines Opfer nur“, lachte dann auf und zerknüllte die Zeitung. Wie unter Zwang glättete er sie wieder. Die Schwester starrte ihn an. Er ging in sein Zimmer.
Ein Nacht-Monolog mit Luftknappheit: Ja, ich habe Gedichte veröffentlicht. Kaum hatte sich das in meiner Heimatstadt herumgesprochen, da wurde ich schon um Verse fürs Gästebuch gebeten. Nein, ich weiß auch nicht, warum man so fröhlich ausmarschiert, wo es doch ans Sterben gehen soll. Und dann träumt man von seiner eigenen Beerdigung, vom Bejräbnis, wie man bei uns in der Gegend sagt.
Noch kein Ende: Die Worte drehten sich, sie waren nicht zu fixieren, nicht sprechbar. Schlafen konnte er nicht. Er schlich wieder hinaus. Die Nachtschwester würde ihn nicht verpfeifen, um 5.45 Uhr, rechtzeitig zum Wecken, läge er in seinem Bett, als wäre nichts geschehen. Über die Hintertreppe verließ er das dunkle Haus, in dem es keuchte, schnarchte, wimmerte. Er mied die gepflasterte Auffahrt, bog in den schweigenden, feuchten Wald ab. Es tropfte von den Bäumen, er zuckte zusammen, als ihn ein schrilles Auflachen erreichte. Auf einer Terrasse meinte er eine Gestalt in wallendem Umhang und gehörntem Helm, in der Hand einen Wurfhammer, stehen zu sehen. Er bemühte sich, nicht hinzusehen. Dann war „Haus DONAR“ passiert, vor ihm lag so etwas wie Freiheit. Er ging dahin, tief einatmend. Nach einer Weile erreichte er ein baumloses Plateau, wo eine Bank stand. Er wischte sie mit seinem Taschentuch notdürftig trocken. In den Bergen vereinzelt Lichter. Dahinter rumorte die Eisenhütte Thale. Die Maschinerie lief weiter, auch wenn er hier in einem kriegsfreien Raum hockte. Er überlegte, für welche Waffengattung dort unten gearbeitet wurde. Vielleicht entsteht jetzt eben das Rohr, aus dem die für mich bestimmte Granate fliegt. Wie oft wird zu kurz gefeuert. Er saß da, im beginnenden Tageslicht dachte er daran, dass er erst 23 Jahre alt sei und doch schon an seinem Ende gearbeitet wurde. In dieser Gewissheit setzte er dann sein Leben fort.
Einmal, sagt man, spürt man
die Drohung wieder bei uns. Schwärend
der reaktionäre Rauch der Verächter
über den entsetzt schweigenden Feldern.
Leere Herzen reden pulsierende Blitze
in leere Augen hinüber – das Grölen
veralteter Tage fällt kalt und schneidend
rhetorisch auf uns zurück. Vor den
Baracken wird das Licht erneuert, drehn
sich die Galgen noch hohl. Man fegt die
Rampen, schraubt schon die Gedenkschilder
ab. Schnell sind die Alpträume
in den Gedanken fest arretiert. Nichts
wird so sein wie vor Tagen.
Wo der falbe Korallenwald blüht, und jetzt auch du:
Eingegangen ins Logbuch der herzkalten Völker,
Die Fossile der Schmerzen wandern, von den Planken
Federnder Hochsucht, barbarischer Ängste bedroht;
Klein die Gemeinschaft, die dem Fell der Rede noch
Traut, dem Aufbruchgedöns der brüllenden Horden:
Ein quecksilberner Teufel holt schon den Mast ein, wo
Die lederne Fahne der Schlächter lange noch weht; –
Eingedenk: soviel zuviel ist der Welt zu vergeben, daß
Es zur Menschenentlastung längst nicht mehr reicht;
Und in den Gräbern die Murmeln der Kinder: ein
Schweigendes Klacken, solange das Fleisch in den
Öfen noch wispert und rauscht; – und die Amsel … im
Schwarzfrack behutsam ihr ausgestrichenes C singt.
Es schlachtet dich, es reißt verrotzt der Terror
Das Land und dich mit sich hindurch;
Es blakt dein Herz, die goldne Sperrung,
Der All-Verschluß, der Lebenswurf.
Du wehrst dich nicht, du bist schon eingeschüchtert,
Die graue Wut faucht auf dich hin –
Den Weltumlauf nimmst du: verschlechtert,
Und bittest nur um: Weg, um: Sinn.
Du läßt dein Hab, du läßt dein Nahes, Gutes,
Und läßt dich, ratlos, einbeziehn –
Und stehst dann dort, bezwungnen Mutes
Und wähnst dich in der Trauer kühn.
Die Schlägerbanden halten sich noch gütlich
An dir, wenn du in Bändern stehst;
Der Oberschlächter schabt, gemütlich,
Die Stiefel blank und summt verwest.
Die Landschaft steht, erloschen, redlich,
Das Gras wächst an den Steinen feist;
Du bist, so sagt man, wägbar schädlich
Und wirst von Ängsten wirr umkreist.
Das trägst du: Mondstern, Kreuz und Kappe,
Du bist, der schweigt, im Brüllverein;
Du gehst hindurch, es fällt die weiße Klappe:
Das ist dein Haus. Dort sollst du sein. –
Lange auf der Flucht vor dem Verstreichen der Wahrheit.
Aber nun soll ich, sagen die Häscher, krummen Handel
Treiben mit den Müttern der Feinde. Ja, ich gebe zu, ich treibe,
Wenn das Brot eine Waffe und ein Wiedersehen der Krieg
Ist, den ihr nicht wünscht, diese Umwege ganz gern.
Unterschrift im Morgengrauen. Mit gebrochenen Fingern.
Ich: ein Satan im Zeichen eines jedweden Zeichens –
Schwarzer Turban schwarzes Kreuz schwarze Hand schwarzer Schuh
Beständig und brav! Dann gehen die Schwarzlichter an und
Der vollziehende Richter schließt seine Akte.
Einen Tag lang in Stille untergehen …
(Edlef Köppen, „Heeresbericht“)
Unteroffizier Albert Walther zeichnete die Schafgarbe aus der Familie der Korbblütler. Er nutzte die Ruhepause für seine Studien der Pflanzenkunde. Beim Betrachten der Blüten erinnerte er sich an den Arzt und Botaniker Carolus Clusius, der genaue Aufzeichnungen hinterlassen hatte. Überdies wurde der Gelehrte 1526 in der Stadt Arras geboren, die damals noch zu Flandern gehörte.
Nie im Leben hätte Albert Walther geglaubt, dass es ihn hierher verschlagen würde. Nun lag er mit dem Anhaltischen 93. Infanterieregiment in einem Dorf südöstlich vor Arras. Als Naturwissenschaftler hätte ihn dieser Landstrich interessieren können, wäre da nicht der Krieg, den er insgeheim verachtete. Dennoch hatte er sich zum Kummer seiner Eltern freiwillig gemeldet, weil viele seiner Kommilitonen an der Front kämpften. Schon bald wurde ihm bewusst, was dieser Stellungskrieg bedeutete.
In den letzten Wochen hatten seine Männer den Ausbau der Gräben vorangetrieben. Pfähle, Balken, Bretter und zuweilen Stalltüren wanderten aus den Bauernhöfen der Umgebung in die Schützengräben. Das war nicht zu ändern; der nächste Vorstoß kam bestimmt, der nordfranzösische Winter lag vor ihnen und die Unterstände mussten gesichert werden.
Albert saß in einem der Klassenräume der Schule, das Fenster stand an diesem Septembernachmittag offen. Er hatte seine schmutzige, ausgeblichene Uniform durch eine saubere ersetzt. Sorgfältig schob er das Papierblatt in die Zeichenmappe und legte die Pflanze zum Pressen in das Verpflegungsbuch, das er mit einem Stein beschwerte. Später würde er Blüten, Blätter, Spross und Wurzel genauer bestimmen.
Nachdem sie tagelang bei Dauerregen die Stellungen ausgebaut hatten, war er froh, sich auszuruhen. Nur mit Mühe hatte er seine Männer dazu bewegen können, immer wieder die Baumstämme, die als Dach dienten, einzurammen und mit Erde zu bedecken.
Nun hatte das Wetter Einsehen und ihnen einen sonnigen Altweibersommer beschert. Zudem war das Dorf zum Mannschaftsquartier hergerichtet worden, die Bewohner hatte man ausgewiesen.
Unteroffizier Walther wollte die Zeit zum Zeichnen nutzen. Er hatte einen Kameraden mit der gleichen Leidenschaft kennengelernt: Im Frühsommer wurde er vorübergehend einer anderen Batterie zugewiesen, die in einem der Vororte von Lens stationiert war. Aufricht, ein Geologiestudent, kopierte Aquarelle und verkaufte für Zigaretten nackte Mädchen auf Briefpapier in gewissen Stellungen. Ständig hatte Aufricht ihn aufgefordert, es ihm gleichzutun. Walther hatte den Kopf geschüttelt und erklärt, er wolle sich auf die Botanik konzentrieren.
Ihm kam die Idee, auf dem Kirchhof nach seltenen Gewächsen zu suchen. Er verließ die Schule und bog in die Rue d’Arras ein. Einige Giebel, Dächer und Hauswände waren durch Granattreffer beschädigt und der Kirchturm getroffen worden. Auf der Straße patrouillierten Posten. Nach einigen Minuten hatte er sein Ziel erreicht. Steine des eingestürzten Turms lagen auf dem Trottoir und blockierten das Tor. Albert kletterte darüber und stemmte sich gegen das Gitter.
Nach Wochen ohne Pflege waren die Gräber verwaist. Wie Bajonette streckten sich weiße Kreuze zum Himmel.
Albert hoffte Blumen, Gräser und Kräuter für sein Herbarium zu finden. Neben der Kapelle hatte er ein Jakobs-Greiskraut entdeckt. Albert vergaß für einen Moment, dass er monatelang im Dreck gelegen, geschossen, befehligt und Tote geborgen oder die Verwundeten ins Feldlazarett nach Croisilles gebracht hatte.
Um die Pflanze genauer zu betrachten, setzte er sich auf den Marmorsockel eines Grabsteines, zog Stift und Papierblock aus der Uniformjacke und begann die verschiedenen Ansichten des Korbblütlers zu zeichnen. So hatte er es von seinem Lehrer Richard Staritz an der Volksschule in Ziebigk gelernt und später auf dem Philanthropinum in Dessau vervollkommnet. Erst nachdem er das Greiskraut gezeichnet hatte, würde er es pflücken, analysieren und pressen. Zu Anfang hatte er die getrockneten Pflanzen in einer Pappkiste im Unterstand aufbewahrt. Doch Granateinschläge hatten die meisten vernichtet, was übrig blieb, verfaulte. Nach und nach schickte er Einzelstücke mit der Feldpost nach Hause.
Die Vegetation in diesem Frontabschnitt war nach den Kämpfen kläglich. Da und dort ein Busch, ein Grasflecken, ein Baumgespenst, dazwischen englische Blindgänger. In der Öde Schlamm, Granattrichter und immer wieder Gräben, die sich wie Adern durch die aufgewühlte Erde zogen. Albert konnte sich noch immer nicht an das Trommelfeuer der Briten gewöhnen. In der letzten Augustwoche waren er und seine Kameraden aus dem ohrenbetäubenden Lärm nicht herausgekommen. Die eigenen Verluste summierten sich, die verbleibenden Männer waren erschöpft. Oft fehlte Munition. Wenn er daran dachte, erlebte er das Beben unter seinen Füßen nochmals.
Albert war so in seine Arbeit vertieft, dass er nicht bemerkte, wie ihn jemand beobachtete. Erst als ein Schmetterling auf seinem Knie landete und dort mit zitternden Flügeln verharrte, hob er den Kopf. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen und in Deckung gehen. Im Reflex griff er zur Pistole, die er immer in der Pistolentasche am Koppel bei sich trug. Ein junges Mädchen saß auf einem der Steine, sah zu ihm und wieder auf das Skizzenbuch auf ihrem Schoß. Sie schien keine Angst zu haben. „Oh là, là, un soldat qui pense aux beaux arts et pas à là tuer?“, sprach sie ihn an und bemerkte seine Verlegenheit nicht. Auch sie zeichnete und ließ sich durch die Anwesenheit eines deutschen Soldaten nicht stören. Ihr Anblick war in dieser kriegerischen Festung so ungewöhnlich, dass Albert einen Augenblick glaubte, sie wäre eine Halluzination. Albert stotterte seinen Namen und betrachtete sie.
„Salut, je suis Florence“, antwortete sie ohne Zögern und wandte sich ihrer Arbeit zu. Sie benahm sich so, als ob sie hierher gehöre und von Krieg keine Rede wäre. Unbefangen musterte sie ihn und als er ihr unwillkürlich zunickte, erwiderte sie seinem Blick mit einem Ausdruck von eigenwilliger Empfindsamkeit. Ein blaues Band hielt ihr dunkles Haar und das dazu passende Sommerkleid hatte die gleiche Farbe wie ihre Augen.
Nur einen Atemzug lang verfolgte sein Blick den davonfliegenden Schmetterling und als er sie suchte, war sie fort. Albert vergaß alle Vorsicht, sprang auf und lief zu dem Platz, wo sie gesessen hatte. Er lauschte – nichts.
Durch die Bäume blitzte die Sonne und veränderte das Licht. Albert Walther schlug das Herz bis zum Hals. Unter seinen Schritten hörte er das Knirschen der Kiesel. Er drehte sich um und ging zurück. Wenn jetzt ein Schuss gekracht hätte oder eine Leuchtkugel in seiner Nähe zischend in die Luft gestiegen wäre; es hätte ihn nicht verwundert. Noch einmal suchten seine Augen nach ihr. Sie blieb verschwunden.
Als er am nächsten Tag kam, saß sie wie eine Statue auf dem Stein von gestern und lächelte. Sie hatte auf ihn gewartet. Die Szene war grotesk: Um sie herum schien der Krieg innezuhalten, bis sie sich nähergekommen waren. Keine Granaten schlugen ein, kein Trommelfeuer zerstörte. Selbst das immerwährende Grummeln der Geschütze war nicht zu vernehmen.
Voller Unruhe erwartete er am folgenden Nachmittag Florence. Lange würde es nicht mehr dauern und der Angriffsbefehl würde sie trennen. Eben erst hatten sie sich kennengelernt und schon lief ihnen die Zeit davon.