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Dr. Norden Bestseller
– 62 –

Was hat man dir nur angetan?

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-164-5

»Die Himbeeren sind abscheulich«, sagte Fee Norden betrübt zu Lenni, ihrer treuen Haushälterin, »und gerade Himbeergelee mag Daniel so gern.«

»Die besten Himbeeren bekommt man in Gröbendorf«, meinte Lenni dazu, »aber es ist halt ein bisserl weit.«

»Wie weit?« fragte Fee interessiert.

»Na, so an die vierzig Kilometer, aber bei der Lechnerin wird man nicht ausgeschmiert.«

»Dann fahre ich hin, Lenni. Sie müssen es mir nur genau beschreiben.«

»Ich werde der Lechnerin lieber vorher eine Karte schreiben, wenn Sie sich die Umstände aufladen wollen, Frau Doktor. Aber für den Herrn Doktor tun Sie ja alles.«

»Er mag halt das gekaufte Zeug nicht, Lenni«, sagte Fee. »Und er braucht es ja vorher nicht zu wissen. Wir werden ihn überraschen.«

Lenni nickte und setzte sich gleich hin und schrieb an Frau Annemirl Lechner eine Postkarte.

Die Antwort darauf traf schon drei Tage später ein, doch Fee ahnte nicht, welche Überraschung ihr der Besuch in Gröbendorf bereiten sollte.

»Du siehst so unternehmungslustig aus«, stellte Dr. Daniel Norden an jenem Morgen fest, bevor er in seine Praxis fuhr.

Fee fühlte sich schon durchschaut und errötete, wie immer in solchem Fall.

»Ich will nur ein paar Besorgungen machen«, redete sie sich heraus.

Dr. Norden hatte es eilig, in die Praxis zu kommen und stellte keine Fragen mehr. Und Fee war froh darüber, denn sie wußte, daß ihr Mann immer in Sorge war, wenn sie aufs Land fuhr, was sie ja manchmal tat, um frische Eier und Gemüse zu holen, das nicht durch viele Hände gegangen war. Aber so weit fuhr sie da nie, wie an diesem Morgen, und sie nahm Danny und Felix mit, da die beiden Buben sich immer närrisch freuten, wenn sie Kühe, Pferde oder auch Schafe auf den Weiden sehen konnten.

Lenni betreute indessen die kleine Anneka, die ja noch nicht viel Unsinn machen konnte, da sie die meiste Zeit ihres noch so jungen Lebens im Bettchen verbrachte.

Danny und Felix saßen angeschnallt auf ihren Kindersitzen, aber die kleinen Plappermäulchen standen nicht still, und manchmal mußte Fee sich schon sehr konzentrieren, um sich von der Unterhaltung ihrer lebhaften Söhne nicht ablenken zu lassen.

In Gröbendorf waren sie schneller als gedacht. Lenni konnte die Entfernungen nicht mehr so gut schätzen, da die Straßen, als sie ihr heimatliches Dorf verlassen hatte, bedeutend besser ausgebaut waren. Als ländliches Dorf konnte man Gröbendorf eigentlich auch nicht mehr bezeichnen. Man spürte auch hier, daß es viele Städter aufs Land zog.

Zuerst entdeckte Fee ein Geschäft, in dem es hübsche Gegenstände aus Holz gab, und gerade solche Teller, wie sie schon lange haben wollte. Ein kleines Stück war sie daran vorbeigefahren, dann bremste sie.

»Sind wir schon da, Mami?« fragte Danny.

»Nein, noch nicht, aber da gibt es Holzteller, die möchte ich kaufen.«

»Warum?« fragte Felix.

»Die gehen wenigstens nicht kaputt«, erklärte Danny.

»Du hast es erfaßt, mein Sohn«, sagte Fee mit einem leisen Seufzer, denn gerade Danny sorgte dafür, daß das Geschirr schleunigst reduziert wurde.

»Bin auch dein Sohn«, sagte Felix beleidigt.

»Freilich bist du auch mein Sohn«, meinte Fee.

»Aber die Himbeeren holen wir doch auch«, sagte Danny.

»Gleich danach«, erwiderte Fee.

Aber so schnell sollten sie nicht zur Lechnerin kommen, denn als sie das hübsche Geschäft betraten, weiteten sich Fees Augen. Eine junge Frau mit honigblondem Haar stand hinter dem Ladentisch. Sie sprach gerade mit einer älteren Dame, die anscheinend einen Großeinkauf getätigt hatte.

Dann blickte sie auf, und auch ihre Augen wurden weit.

»Fee«, flüsterte sie, »Fee Cornelius.«

»Marina«, rief Fee freudig aus. »Marina Haller.«

»Jetzt Marina Lechner«, erwiderte die andere.

»Etwa verwandt mit Annemirl Lechner?« fragte Fee staunend.

»Woher kennst du meine Schwiegermutter?« erwiderte Marina ebenso erstaunt.

»Ich kenne sie noch gar nicht.«

»Wir sind auch noch da, Mami«, meldete sich Danny vorwurfsvoll.

Fee lächelte. »Meine Söhne Daniel und Felix, Marina. Und ich heiße jetzt Norden.«

Bevor Marina noch etwas sagen konnte, fragte Felix: »Wer ist die Dame, Mami?«

»Eine Schulfreundin von mir«, erwiderte Fee. »Wir haben uns lange nicht gesehen. Wie lange eigentlich nicht, Marina?«

»Seit dem Abi. Liebe Güte, und wir haben uns gleich wiedererkannt.«

»Ist doch ein gutes Zeichen«, sagte Fee mit leisem Lachen. »So sehr können wir uns also gar nicht verändert haben.«

»Und anscheinend sind wir beide recht glücklich geworden«, meinte Marina.

»Sehr glücklich!« Unwillkürlich blickte Fee auf ihre beiden Buben.

»Hat die Dame Marina auch Kinder?« fragte Danny, während Felix noch immer verwundert war.

Nun lachte auch Marina. »Ja, ich habe auch zwei Kinder. Sie sind schon ein bißchen größer als ihr. Sie werden von der Omi gehütet.«

»Wir haben auch eine Omi«, erklärte nun Felix voller Stolz.

»Wir hätten uns bestimmt viel zu erzählen, Fee«, meinte Marina, »aber das Geschäft…«, sie seufzte, dann aber fuhr sie schnell fort: »Ach was, soll doch Uschi mal allein fertig werden. – Uschi –«, rief sie dann laut.

Ein sehr molliges Mädchen erschien. Eigentlich war sie nicht häßlich, was das Gesicht anbetraf, aber sie besaß schon die Figur einer fülligen Matrone.

»Meine Schwägerin Uschi«, stellte Marina vor. »Das ist Fee Cornelius, nein, Fee Norden, eine Schulfreundin von mir.«

Uschi machte einen völlig gehemmten Eindruck, aber war das verwunderlich? Bei solcher Figur mußte man ja Komplexe bekommen. Fee ahnte, daß sie sich diese Fülle nicht angegessen hatte.

Marina sprach schnell. »Fee will zu Mama, und ich werde sie begleiten. Du wirst doch mal allein fertig werden, Uschi?«

Sie sprach ziemlich energisch. Uschi blickte zu Boden. »Und wenn ich etwas falsch mache?« fragte sie.

»Dann ist es auch nicht so schlimm. Wenn etwas Wichtiges vorliegt, sagst du, daß ich mittags wieder hier bin.«

Als sie in Fees Wagen saß, fragte Marina: »Wolltest du nicht Medizin studieren, Fee?«

»Ich habe Medizin studiert und sogar meinen Doktor fertiggebracht, und dann habe ich einen Arzt geheiratet. Was fehlt deiner Schwägerin?«

Marina zuckte die Schultern. »Es wäre schön, wenn das jemand herausfinden würde. Du, halt mal an, bitte.«

Aber auch Fee hatte schon den kleinen Hund bemerkt, der über die Straße lief. Sie konnte noch bremsen, und dann war sie momentan schreckensstarr, denn ein etwa zehnjähriges Mädchen fiel ihr buchstäblich vor den Wagen, und sie hätte es überrollt, wenn sie nicht wegen des Hundes gehalten hätte, der jedoch schon weitergelaufen war.

Schnell stiegen Fee und Marina aus dem Wagen. Fee beugte sich zu dem Mädchen herab, das sich verstört aufrichtete. »Hilfe, bitte«, flüsterte das Kind. Doch da nahte eine Frau mittleren Alters, grau gekleidet, selbst grau wie eine Maus wirkend, mit stechenden Augen, die Fee zu durchbohren schienen.

»Steh auf«, herrschte sie das Mädchen an und griff nach ihrem Arm.

»Sie ist gefallen«, sagte Fee. »Ich bin Ärztin.«

»Wir brauchen keine Ärzte«, stieß die Frau hervor. »Nach Hause, Teresa.«

»Mein Hundchen, mein Mollyhundchen«, flüsterte das Kind, und dicke Tränen rollten über ihre Wangen.

»Ich möchte das Kind untersuchen«, erklärte Fee hartnäckig.

»Scheren Sie sich zum Teufel«, wurde sie von der Frau angeherrscht, und dann zog diese das Kind empor und zerrte es mit sich. Ein jammervolles Schluchzen war zu vernehmen. Fee wollte der Frau folgen, aber Marina hielt sie zurück.

»Da kann man nichts machen«, sagte sie eindringlich. »Diese Stielers sind seltsame Leute.«

»Aber so geht das doch nicht«, sagte Fee bestürzt. »Das Kind kann sich verletzt haben. Es war auch voller Angst.«

»Wolltest du da etwas ausrichten, müßtest du schon mit starken Geschützen kommen. Die lassen keinen ins Haus, nicht mal aufs Grundstück. Das Kind muß über den Zaun geklettert sein. Ich wußte bis heute nicht, daß es Teresa heißt. Aber geistesgestört sah sie eigentlich nicht aus.«

»Sagt man das?«

»Man tuschelt es«, erwiderte Marina.

Plötzlich kam der kleine Hund wieder angelaufen. Er blieb vor Fee sitzen und sah sie erwartungsvoll an, als wüßte er, daß er es ihr zu verdanken hatte, daß er noch lebte.

»Ein niedliches Hundchen«, sagte Danny. »Warum war die Frau böse mit dem Mädchen, Mami?«

»Das weiß ich nicht, Danny, aber ich möchte herausfinden, was da vor sich geht.«

»Fee, ich warne dich«, sagte Marina. »Du handelst dir nur Ärger ein.«

»Ich werde den Hund zurückbringen«, sagte Fee eigensinnig.

Marina seufzte abgrundtief. »So hartnäckig warst du schon immer.«

Fee nahm den Hund auf den Arm und ging auf die Gartentür zu. Sie sah das Haus nur versteckt. Es machte einen ungepflegten Eindruck, und der Zaun war fest und sehr hoch.

Eine Glocke war nirgendwo zu sehen. Fee rüttelte an der Tür, aber es rührte sich niemand. Der Hund in ihrem Arm, er mußte noch sehr jung sein, jaulte leise.

Fee rief »Hallo«, aber niemand reagierte. Es herrschte Totenstille. Sie überlegte und ging dann zu Marina und den Kindern zurück, die verschüchtert im Wagen saßen.

»Sehr merkwürdig«, sagte sie nachdenklich. »Ich werde sehen, was sich da machen läßt. Was weißt du über diese Leute?«

»Nur, daß sie schon lange hier wohnen, aber zu niemandem Kontakt pflegen. Ja, du staunst! So was kann sogar in unserem Dorf möglich sein.«

»Niemand unternimmt etwas, da das Kind doch offensichtlich schlecht behandelt wird?« fragte Fee entsetzt.

»Ich glaube nicht, daß man darüber etwas weiß. Ich habe dieses Kind heute erstmals gesehen. Ausgerechnet heute, wo ich mich so über unser Wiedersehen freue. Was machen wir jetzt mit dem Hund?«

»Ich nehme ihn erst mal mit. Es wird mir schon was einfallen.«

»Was wolltest du eigentlich bei Mama?« fragte Marina ablenkend.

»Himbeeren holen. Unsere Lenni hat geschrieben und wir haben Antwort bekommen.«

»Ja, Mama hat was gesagt, daß jemand aus München kommt, um Himbeeren zu holen, aber nie und nimmer wäre ich auf den Gedanken gekommen, du könntest das sein.«

»Wie solltest du auch«, sagte Fee geistesabwesend. »Daß ich dich hier wiedertreffe, konnte ich auch nicht ahnen. Was hat dich hierher verschlagen?«

»Meine Heirat. Ich habe Tobias Lechner bei einer Bergtour kennengelernt vor zehn Jahren, und wir haben bald geheiratet. Sozusagen frisch von der Schulbank weg. Ich habe nur noch einen Haushaltungskursus gemacht. Tobias ist Landwirt, aber damit wir ein bißchen schneller vorankommen, habe ich dann das Geschäft übernommen. Es geht gut. Wir müssen ja für Uschi sorgen. Die Landwirtschaft wirft nicht soviel ab, aber wir sind doch recht zufrieden. Wenn nur Uschi wieder so werden würde wie früher.«

Nun waren sie bei dem Thema, das sie gerade angeschnitten hatten, bevor der Zwischenfall geschah.

»Wie war sie früher?« fragte Fee.

»Ich erzähle dir alles. Wir sind jetzt da.«

Ein schmuckes Haus stand vor ihnen, umrankt von wildem Wein. Eine ziemlich große, hagere Frau kam aus der Tür. Aus einem vom Schicksal geprägten Gesicht, blickte ein helles Augenpaar Marina staunend, Fee dann forschend an.

»Das ist Frau Dr. Norden, Mama«, sagte Marina. »Und du wirst es nicht für möglich halten, aber wir haben zusammen die Schulbank gedrückt.«

»Das ist allerdings eine freudige Überraschung«, sagte Annemirl Lechner mit tiefer, warmer Stimme. »Herzlich willkommen, Frau Dr. Norden.«

Den Buben schenkte sie ein freundliches Lächeln. Sie kletterten aus dem Wagen, waren noch ein bißchen schüchtern, tauten dann aber auf, als nun ein kleiner Junge aus dem Haus kam, der etwa fünf sein mochte.

»Mutti ist auch da«, sagte er staunend.

»Mein Sohn Andy«, stellte Marina vor. »Vroni ist noch in der Schule.«

Da ging es erst einmal eine Weile hin und her, und dann wurde auch das Hundchen begutachtet, das sich im Auto verkrochen hatte. Marina erklärte ihrer Schwiegermutter kurz, wie sie dazu gekommen waren.

Frau Lechners Gesicht verdüsterte sich. Da sollte wohl doch mal jemand etwas unternehmen«, murmelte sie. »Aber bitte, treten Sie doch näher, Frau Dr. Norden.«

»Dürfen die Buben mit mir spielen?« fragte Anddy.

»Wenn ihr nicht auf die Straße geht«, sagte Marina, die genau wie Fee noch unter dem Eindruck des Zwischenfalls stand. »Und wenn Fee es erlaubt.«

»Wir gehn nicht auf die Straße«, versicherte Danny. »Dürfen wir daheim auch nicht.«

Eine große Diele mit herrlichen alten Bauernmöbeln augestattet, erwies sich in Fees Augen als Visitenkarte dieser Häuslichkeit, in der man sich wohlfühlen mußte.

Eine großer Korb voll herrlicher Himbeeren stand schon bereit, aber im Augenblick war er nicht von größtem Interesse für Fee, obgleich sie ja deshalb hergekommen war.

»Hast du den Laden zugemacht, Marina?« fragte Frau Lechner.

»Nein, Uschi wird schon zurechtkommen.«

»Liebe Güte, na ja«, brummte Frau Lechner.

»Wie wäre es mit einer Brotzeit, Frau Dr. Norden?«

»Gegen frische Milch und ein Butterbrot hätte ich nichts einzuwenden«, erwiderte Fee.

»Und Schinken«, warf Marina ein.

Es stand dann noch mehr auf dem Tisch, alles hausgemacht und so verlockend, daß Fee das Wasser im Munde zusammenlief. Wie schade war es nur, daß dieses Wiedersehen und Kennenlernen durch diesen Zwischenfall und auch durch die Gedanken um Uschi Lechner überschattet wurde.

Annemirl Lechner brachte den Kindern Milch und Wurstbrote auf die Veranda und Fee konnte nur staunen, wie auch ihre Buben sich darüber hermachten.

»Schön ist es hier«, sagte sie.

»Mir hat es auch gleich gefallen, als mich Tobias herbrachte, und da ich Gnade vor Mamas Augen fand, bin ich auch gleich geblieben.«

»Hast es hoffentlich nicht bereut, Dirndl«, sagte Frau Lechner.

»Das weißt du doch, Mama. Schade, daß Tobias über Land ist und Fee ihn nicht kennenlernen kann. Ich habe den besten Mann der Welt, Fee!«

»Das sage ich von meinem Daniel auch«, erwiderte Fee. »Aber ich denke doch, daß wir uns alle mal zusammensetzen können.«

»Das wär’ a Freud«, sagte Frau Lechner. »Gefreut hab’ ich mich auch, daß ich mal wieder was von der Gerda gehört habe. Hat ja viel durchgemacht, das arme Ding.«

»Bei uns heißt sie Lenni«, erklärte Fee.

»Wie das?« fragte Marina.

»Wir hatten unser treues Lenchen verloren, als wir dann Lenni fanden, Gerda wollte ich sagen. Aber Danny hatte gerade sprechen gelernt und sie dann gleich Lenni getauft. Dabei ist es geblieben. Sie ist ein lieber Mensch. Wir möchten sie nicht mehr missen.« Dann wurde das Thema gewechselt.

Uschi kam an die Reihe. Marina holte eine Fotografie aus einem Schrank.

»So sah Uschi vor fünf Jahren aus«, sagte sie leise. »Da war sie achtzehn.«

Fee sah das Bild eines hübschen, gertenschlanken Mädchens. Sie schüttelte den Kopf. »Und dann?« fragte sie verhalten.