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Dr. Norden Bestseller
– 65 –

Die Wahrheit über Tanja Schäfer

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-167-6

Dr. Daniel Norden begleitete den letzten Patienten an diesem düsteren Novembertag hinaus.

»Jetzt bitte nicht leichtsinnig sein, Herr Kahr«, sagte er freundlich. »Lassen Sie mal lieber Ihre Radtouren bei der feuchten Witterung. Der Husten kann hartnäckig werden.«

Herr Kahn war nahe der Achtzig, aber sein Stahlroß war sein ein und alles. Die gute Sprechstundenhilfe Loni gab der Befürchtung Ausdruck, daß selbst Dr. Nordens Ermahnungen ihn nicht davon abhalten konnten, bei Wind und Wetter durch die Gegend zu fahren.

»Er meint halt, daß er sein Leben gelebt hat und alles so kommt, wie es der Herrgott will«, sagte sie. »Wie er es nur immer wieder schafft?«

»Das frage ich mich auch«, erwiderte Dr. Norden. »Was liegt noch vor, Loni?«

»Frau Rückert hat angerufen. Katrin hat Fieber. Sie ist von der Schule heimgeschickt worden. Sie möchten doch bitte bald kommen.«

Die Rückerts zählten schon lange zu Dr. Nordens Patienten. Vor acht Jahren hatte er Beate Rückert kennengelernt, als er ihr die Nachricht bringen mußte, daß ihr Mann tödlich verunglückt sei. Als Notarzt war er an die Unglücksstelle gerufen worden. Das Tragische war, daß Winfried Rückert den Unfall selbst verschuldet hatte.

Beate Rückert war damals achtundzwanzig Jahre gewesen, Tobias, der Sohn, sieben und Katrin fünf. Sie standen ziemlich mittellos da. Die Versicherung deckte zwar den Schaden, den Winfried Rückert angerichtet hatte, aber von seiner kleinen Lebensversicherung konnte sich Beate mit ihren Kindern gerade so über Wasser halten.

Sie war eine tatkräftige Frau. Sie hatte das Leben angepackt, um für ihre Kinder zu sorgen, und ein bißchen Glück war auch dabeigewesen.

Beate Rückert hatte eine gute Stellung in einem Kosmetikgroßhandel gefunden, und dann hatte sie ein Onkel mit einer ganz hübschen Erbschaft bedacht. Als die Besitzerin des Großhandels an einer unheilbaren Krankheit starb, wurde es Beate dadurch möglich, die Firma zu übernehmen, und innerhalb von fünf Jahren hatte sie mit ihrem gesunden Geschäftssinn und viel Energie ein gut florierendes Unternehmen aufgebaut.

Um die Zukunft ihrer Kinder und ihre eigene brauchte sie sich nicht mehr zu sorgen, aber wehe, wenn einem ihrer Kinder mal etwas fehlte, dann geriet sie in Panik. Tobias und Katrin waren ihr kostbarster Besitz…

Auch an diesem Tag hatte sie einen ihrer besten Kunden einfach sitzenlassen, als ihre Haushaltshilfe Dörthe anrief und ihr sagte, daß Katrin mit hohem Fieber von der Schule heimgeschickt worden sei.

Freilich saß ihr mittlerweile die Existenzangst nicht mehr im Nacken, aber für ihre Kinder hätte sie auch schon früher alles liegen- und stehenlassen. Es wurde ihr gedankt. Es herrschte ein wundervolles Einvernehmen zwischen Beate und den Kindern, und Dr. Norden war darauf bedacht, dieser tapferen jungen Frau so schnell wie möglich zu Hilfe zu eilen, wenn sie gebraucht wurde.

Allerdings wurde er an diesem Tag auch dringendst gebraucht, denn die kleine, zierliche Katrin, die man höchstens auf zehn Jahre schätzte, glühte förmlich. Sie warf sich hin und her und war kaum noch ansprechbar.

»Wo tut es weh, Katrin?« fragte Dr. Norden, der sie nicht unnötig quälen wollte, denn er wußte, daß sie immer einen Brechreiz bekam, wenn er in ihren Hals schauen wollte und mit dem Spachtel die Zunge herabdrücken mußte.

Er tastete den kleinen Körper ab, nachdem er Herz und Lunge abgehorcht hatte.

»Bauch«, flüsterte Katrin, und als er dann auf eine bestimmte Stelle an der rechten Bauchseite drückte, schrie sie leise auf.

»Der Blinddarm. Schnellstens in die Klinik!« sagte er.

»Aber sie hat doch nie geklagt«, murmelte Beate Rückert, während sie schon zum Telefon ging.

»Das geht manchmal verflixt schnell«, sagte Dr. Norden. »Wir wollen jetzt nicht rätseln.« Er nahm Beate den Hörer aus der Hand und rief die Behnisch-Klinik an. »Sofort den OP bereitmachen und ebenso dringend den Krankenwagen!«

Er war sehr besorgt, aber er wollte Beate nicht in Angst und Schrecken versetzen. Die Furcht stand ihr jedoch schon in den Augen.

»Ich fahre mit«, sagte sie.

»Okay«, sagte Dr. Norden. »Nur nicht zu sehr aufregen. In der Klinik ist man vorbereitet. Sie kennen doch Dr. Behnisch.«

Aber dieses hohe Fieber, dachte er besorgt. Dadurch konnte eine Operation lebensgefährlich werden. Doch daran wollte er im Moment nicht denken.

Beate Rückert, die sonst immer so beherrscht war, zitterte am ganzen Körper.

»Sag Toby Bescheid, Dörthe«, sagte sie mit vibrierender Stimme zu dem netten Mädchen. »Ich bleibe in der Klinik.«

»Unser Katrinchen«, murmelte Dörthe mit Tränen in den Augen. Aber dann kam schon der Krankenwagen.

*

Es war gut, daß Dr. Norden und Dr. Behnisch Freunde waren und Hand in Hand arbeiteten. So konnte Daniel Norden in diesem so dringenden Fall seinem Freund und Kollegen hinreichend Auskunft geben über die kleine Patientin, über ihre Reaktionen auf bestimmte Medikamente, ihre Gesamtkonstitution.

Dr. Norden war froh, daß es noch nie nötig gewesen war, Katrin Penicillin zu verabreichen, denn nun mußte das in hoher Dosierung geschehen.

Und es hatte Erfolg. Wieder einmal gedachten die beiden Ärzte in Dankbarkeit Alexander Flemings, der dieses Antibiotikum entdeckt hatte, durch das schon so manches Menschenleben gerettet werden konnte.

Dr. Norden wußte, wie sehr Beate Rückert um ihr Töchterchen bangte, obgleich sie sich zu beherrschen verstand. Sie war eine Frau von Format, groß, schlank, eher interessant als hübsch zu nennen. Herrliches kastanienbraunes Haar umrahmte das schmale Gesicht, auffallend schön waren die topasfarbenen Augen, die ziemlich weit auseinanderstanden und das Gesicht beherrschten, das Intelligenz, gleichwohl aber auch Gefühl verriet.

Eine Karrierefrau? Nein, so konnte man Beate nicht nennen, wenn sie auch eine erfolgreiche Frau war, aber das war sie geworden, weil sie allein für ihre Kinder sorgen mußte, sorgen wollte. So jung sie auch noch gewesen war, als sie ihren Mann verlor, sie dachte nicht daran, wieder nach einem anderen Umschau zu halten, und nicht etwa deshalb, weil sie ihren Mann sehr geliebt hätte.

Winfried Rückert hatte seine Frau in so manchen Dingen enttäuscht, aber sie hatte sich gesagt, daß niemand ohne Fehler sei. Doch als durch seinen Leichtsinn zwei andere Menschen sterben mußten, hatte sie über seinen Tod nicht mal tiefe Trauer empfinden können.

Wie oft hatte sie ihn gewarnt, nicht so schnell zu fahren, es hatte nichts genützt. Es war so weit gekommen, daß sie nicht mehr erlaubte, daß die Kinder mit ihm fuhren, daß es zum Streit führte, wenn sie ihm Vorhaltungen machte. Es war auch nicht der erste Unfall gewesen, den er verursachte. Zweimal zuvor war er mit einem blauen Auge davongekommen.

Aber Winfried Rückert war tot, und Beate hatte ihre Kinder für sich. Sie dachte nicht daran, einem Mann Beachtung zu schenken, da sie sich nicht vorstellen konnte, daß er den Kindern das Verständnis entgegenbringen würde, das sie brauchten.

Der einzige Mann, der Gnade vor ihren Augen fand, war ihr Anwalt Dr. Richard Münster.

Sie hatte ihn durch die Erbschaftsangelegenheit kennengelernt, späterhin dann als Berater in Rechtsfragen in Anspruch genommen. Mit der Zeit war so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen entstanden, doch Beate wollte diese Bezeichnung nicht gebrauchen. Sie hatte ihre eigenen Ansichten, und sie dachte immer zuerst an ihre Kinder.

Sie dachte auch daran, daß Rick, wie Dr. Münster genannt wurde, doch mal heiraten würde, natürlich eine Frau, die seinen Vorstellungen von Häuslichkeit entsprach, und daß es dann ohnehin mit einer Freundschaft aus sein würde. In bezug auf Toleranz hatte Beate nämlich keine hohe Meinung von ihren Geschlechtsgenossinnen, denn in ihrem Betrieb erlebte sie so manches, was sie zu äußerster Vorsicht mahnte.

Im Moment jedenfalls war Beate nicht die selbstsichere Unternehmerin, sondern nur noch eine ängstliche Mutter, die um das Leben ihres Kindes zitterte.

*

Währenddessen lief daheim auch Tobias Rückert mit hängendem Kopf umher. Mit der Haushaltshilfe Dörthe, die seit drei Jahren mit zur Familie gehörte, war nicht zu reden. Hunger hatten sie beide nicht.

»Mami bleibt furchtbar lange«, sagte er am Nachmittag. »Ob ich nicht doch mal zur Klinik gehe, Dörthe?« fragte er leise.

»Kannst es ja mal«, erwiderte sie. »Wie so was bloß so schnell kommen kann.«

»Das ist eben das Gemeine am Blinddarm«, sagte der hochaufgeschossene Gymnasiast, der in der Menschenkunde sehr gut Bescheid wußte. Er war überhaupt ein guter Schüler, und wenn es mal irgendwo haperte, setzte er sich auf den Hosenboden, um vor seiner so tüchtigen Mami bestehen zu können.

»Na, dann gehe ich mal«, sagte er beklommen.

Als er die Straße überquert hatte, hielt ein Auto neben ihm. Ein kurzer Hupton schreckte Tobias auf. Er drehte sich um und erkannte Dr. Münster.

»Hallo, Toby«, sagte er. »Wohin willst du? Kann ich dich ein Stück mitnehmen?«

»Zur Klinik«, sagte Tobias, »zur Behnisch-Klinik.«

Der Anwalt erblaßte. »Ist etwas mit der Mami?« fragte er erschrocken.

»Katrin muß am Blinddarm operiert werden«, murmelte der Junge stockend. »Mami bleibt lange weg. Ich mache mir Sorgen.«

»Komm, ich fahre dich hin«, erklärte Dr. Münster.

»Haben Sie denn Zeit?«

»Die nehme ich mir.«

Sie waren bald bei der Klinik angekommen. Und als sie durch die Tür gingen, sahen sie auch schon Beate, die zusammengekauert in einem Sessel hockte, den Kopf in ihre Hände gestützt.

Aus brennenden, umschatteten Augen blickte sie ihren Sohn an, als der leise und flehend »Mami« sagte. Dann gewahrte er auch Dr. Münster und war verwirrt.

»Ich habe Toby getroffen und ihn hergefahren«, sagte der Mann, seine goldgeränderte Brille verlegen zurechtrückend. Er war augenblicklich auch von großer Sorge bewegt, als er in Beates verstörtes Gesicht blickte.

»Sie konnten erst jetzt operieren, weil das Fieber gesenkt werden mußte«, flüsterte sie. »Ich muß warten.«

»Dr. Behnisch ist ein sehr guter Chirurg«, sagte der Anwalt. »Er hat mir auch den Blinddarm herausgenommen.«

Als ob das tröstlich sein konnte, aber doch hellte sich Beates Gesicht etwas auf.

»Wann denn?« fragte Tobias.

»Vor vier Jahren.«

»Hatten sie auch Fieber, Rick?« fragte Beate.

»Ja, ziemlich. Ich habe mich schon eine ganze Zeit damit herumgeschleppt. Dachte, es wäre mein nervöser Magen.«

»Sie sind doch nie nervös«, sagte Beate geistesabwesend.

»Jetzt nicht mehr. Früher war das anders. Als der Blinddarm raus war, ging es viel besser.«

»Vielleicht hat es bei Katrin auch schon länger dringesteckt«, sagte Tobias. »Sie war immer so blaß.«

»Und wenn sie sich mal die Seite hielt, habe ich immer gedacht, daß sie wieder wächst. Ich habe als Mutter versagt«, flüsterte Beate.

»Das dürfen Sie nun gewiß nicht sagen«, stelle Dr. Münster fest. »Ich kenne keine bessere, fürsorglichere Mutter als Sie.«

Tobias sah ihn erstaunt an. Wie warm seine Stimme klang, in der Bewunderung und Lob klangen.

»Es wird schon alles gut, Beate«, sagte er beruhigend. »Ich fahre mal schnell in die Kanzlei und komme dann wieder her. Du bleibst doch, Toby?«

Der Junge nickte. Er setzte sich neben seine Mutter und ergriff ihre Hand. »Es wird schon alles gutgehen, Mami«, sagte er leise. Dann schwiegen sie lange Zeit, und es tat sich nichts.

»Dr. Münster ist wirklich ein sehr netter Mann«, begann Tobias dann wieder zu sprechen. »Wir kennen ihn eigentlich schon lange. Warum hast du ihn nicht mal eingeladen?«

»Er hat genausowenig Zeit wie ich, und meine Freizeit möchte ich mit euch verbringen.«

»Aber es würde doch nicht stören«, sagte Tobias. »Man kann sich gut mit ihm unterhalten.«

Beate war so überrascht, daß sie einen Augenblick ihre Sorgen vergaß.

»Ja, man kann sich gut mit ihm unterhalten«, sagte sie gedankenvoll. »Er ist ein feiner Mensch.«

»Dann laden wir ihn doch mal ein, wenn Katrin wieder gesund ist. Sie mag ihn nämlich auch sehr gern«, sagte Tobias.

Wenn sie nur erst wieder gesund wäre, dachte Beate, und schon waren ihre Gedanken wieder bei dem Kind.

Daß Dr. Behnisch und seine Frau Jenny, ebenfalls Chirurgin und seine liebste Assistentin, wenn es um ein Kind ging, diese Operation mit Hangen und Bangen hinter sich brachten, wußte Beate zum Glück nicht. Unter solchen Bedingungen operierte er wahrhaftig nicht gern. Aber es war die einzige Lösung gewesen, um das Kind zu retten. Ein großes Risiko war er eingegangen, doch die Operation war geglückt. Jede Gefahr war allerdings noch nicht gebannt, denn Katrin war ein zartes Kind.

Dr. Münster war indessen wieder zurückgekehrt.

Man hatte sich in der Kanzlei gewundert, daß er nur in höchster Eile die Post unterschrieben hatte und dann gleich wieder verschwunden war, er, der doch hier meist bis in die späten Abendstunden hinein saß. Er war ein vielbeschäftigter Anwalt, der nur Fälle annahm, die Aussicht auf Erfolg hatten. Er riet immer von einem Prozeß ab, der solche Aussicht keinesfalls hatte, um seinen Klienten die Kosten zu ersparen, aber bei sehr schwierigen Auseinandersetzungen erreichte er doch immer das Bestmögliche, und jeder, der zu ihm kam, wurde vorher eingehend beraten.

Auch Beate hatte er immer bestens beraten. Manches Mal wäre sie schon hübsch auf die Nase gefallen, wenn sie nicht vorher seinen Rat eingeholt hätte. Vor allem da, als sie ein Haus kaufen wollte, das ihr ungemein günstig im Preis erschien. Es hatte sich dann herausgestellt, welche Nachteile es hatte, und Dr. Münster hatte ihr das Haus vermittelt, in dem sie nun mit ihren Kindern und Dörthe wohnte.

Dr. Münster war gerade wieder in der Klinik angekommen, als auch Dr. Behnisch kam, um Beate zu sagen, daß die Operation beendet sei.

Er sah jedoch erst einmal Dr. Münster überrascht an. »Wir kennen uns doch«, sagte er.

»Ich war auch mal ein Blinddarmfall«, erwiderte Dr. Münster. »Wie geht es Katrin?«

»Den Umständen entsprechend, aber wir sind ganz zufrieden«, erwiderte der Chirurg ausweichend.

»Ich möchte sie sehen«, sagte Beate.

Es war verständlich, allerdings hegte Dr. Behnisch Befürchtungen, daß sie sehr erschrecken würde, wenn sie ihr Kind sah, das am Tropf und an verschiedenen Schläuchen hing.

»Sie wird jetzt schlafen«, erklärte er.

»Ich möchte bei ihr bleiben«, sagte Beate.

»Es wird immer eine Schwester bei ihr sein«, erklärte Dr. Behnisch. »Sie können sich darauf verlassen, daß Katrin bestens versorgt wird, Frau Rückert, Sie ruhen sich besser aus, damit Sie morgen frisch sind, wenn Katrin wieder munter ist.«

Nur mühsam behielt Beate die Fassung, als sie ihr krankes Kind betrachtete. Hilflos sah sie Dr. Behnisch an. »Es war sehr schlimm«, flüsterte sie.

»Ja, es war ziemlich schlimm, weil sie anscheinend eine Nierenprellung erlitten hat. Wir müssen das noch genau feststellen.«

»Eine Nierenprellung? Sie hatte heute Turnstunde, aber wenn da was passiert ist, hätte man Katrin doch nicht allein heimschicken dürfen.« Beates Stimme zitterte und sie selbst auch.