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Ein Zufall kann zum
Schicksal werden

Roman von Patricia Vandenberg

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Inhalt

Inhalt

»Guten Tag, Frau Nilson. Was führt Sie zu mir?« fragte Dr. Daniel Norden erstaunt, denn einen kranken Eindruck machte die sonnengebräunte Dame mittleren Alters gewiß nicht. Ein wenig besorgt war er aber dennoch, denn die Nilsons hatten eine Weltreise gemacht, und dabei konnte man sich schon einen Virus einfangen, der nicht gleich erkennbar war.

»Ich wollte mich eigentlich nur zurückmelden«, erwiderte Mary Nilson. »Wir haben alles bestens überstanden, und es war sehr interessant, aber nun sind wir doch froh, wieder zu hause zu sein. Besonders Annettes wegen.« Ihre Stimme hatte einen besorgten Klang.

»Was ist mit Annette?« fragte Dr. Norden überrascht.

»Sie ist so verändert. Ich mache mir doch Vorwürfe, daß wir so lange weg waren.«

»Aber Annette ist doch kein Kind mehr«, stellte der Arzt fest. »Mit zwanzig Jahren sind die jungen Menschen recht selbständig, und außerdem war sie doch nicht allein, Frau Nilson.«

Dr. Norden war über die Familienverhältnisse der Nilsons bestens informiert. Sie wohnten in nächster Nachbarschaft und lebten in besten Verhältnissen. Sie stammten aus Schweden, hatten aber München schon lange zur Wahlheimat gemacht.

Schon von Haus aus vermögend, war Arne Nilson zudem noch ein sehr geschäftstüchtiger Mann, der an manchen Unternehmen beteiligt war. An wie vielen wußte niemand, da er darüber nicht sprach und auch keinen Wert darauf legte, in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen.

Er war ein sympathischer Mann, hatte noch etwas von einem Wikinger an sich und liebte hin und wieder auch ein abenteuerliches Leben. Ebenso gern war er dann wieder daheim in seinem schönen Haus, das mit Kostbarkeiten aus aller Welt gefüllt war, führte mit Mary eine glückliche Ehe, war stolz auf seinen Sohn Dirk und liebte seine Tochter Annette abgöttisch.

Annette war ein sehr sportliches Mädchen, das ebenso gut reiten wie fechten konnte und als Tennisspielerin schon internationales Format erreicht hatte. Wenn Dr. Norden ihretwegen konsultiert wurde, dann nur, wenn sie mal eine kleine Verletzung hatte. Sie war kerngesund und springlebendig, und Dr. Norden konnte sich nicht vorstellen, daß man sich ihretwegen Sorgen machen mußte.

Aber Mary Nilson war nicht die Frau, die sich grundlose Sorgen machte, und deshalb war es dem Arzt ganz interessant, was sie nun vermutete.

»Ich könnte mir nur erklären, daß sie durch diese etwas seltsame Freundschaft mit Florian Funk deprimiert wird«, erklärte Mary. »Kennen Sie ihn zufällig?«

Dr. Norden kannte viele Leute, aber diesmal mußte er bedauern.

»Wieso seltsame Freundschaft?« fragte er.

»Weil sie überhaupt nicht zueinander passen«, erklärte Mary. »Ich will nichts gegen Florian sagen. Er ist ein höflicher junger Mann, beste Familie, sieht auch sehr gut aus. Aber er ist ein Stubenhocker. Treibt keinerlei Sport. Ich kann mir nicht erklären, wie es überhaupt zu dieser Freundschaft gekommen ist, aber er ist von einer Anhänglichkeit, die mir auf die Nerven gehen würde. Sie sehen sich fast jeden Tag, und dann schreibt er ihr noch dauernd Briefe. Kaum haben sie sich getrennt, ruft er schon wieder an. Das ist doch nicht normal.«

Mary war eine so absolut normale Frau, und sie hatte auch einen sehr normalen Mann, der nicht zu Sentimentalitäten neigte.

»Es könnte ja Liebe sein«, bemerkte Dr. Norden mit einem flüchtigen Lächeln.

»Dann aber eine einseitige«, widersprach sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Annette davon begeistert ist. Ich glaube eher, daß sie Mitleid mit ihm hat, ihn aber nicht verletzen will.«

Dr. Norden konnte dazu schlecht etwas sagen, aber er spürte, daß sich Mary Nilson in echter Sorge um ihre Tochter befand.

»Jetzt hätte Annette an einem Tennisturnier in den Staaten teilnehmen können, aber sie hat es abgelehnt«, fuhr Mary fort, »und das kommt mir schon mehr als merkwürdig vor.«

»Wie wäre es, wenn sie mal mit ihr sprechen würden, Frau Nilson?« fragte Dr. Norden.

»Das sieht wieder so nach Einmischung aus. Davon halten wir auch nichts. Ich kann diese Ellen Funk nämlich nicht leiden. Es ist die Stiefmutter von Florian, ein exzentrisches Weib. Will überall die erste Geige spielen. Natürlich wäre es ihr recht, wenn Florian Annette heiraten würde und aus dem Haus käme. Aber das kommt überhaupt nicht in Frage, dazu sind sie beide zu jung.«

»Wie jung ist er?« fragte Dr. Norden.

»Zweiundzwanzig.«

Dr. Norden wollte nicht erwähnen, daß viele junge Menschen so früh heirateten. Er wußte, daß Mary nicht zu Übertreibungen neigte und nicht nur die Jugend der beiden als Gegenargument gegen eine Heirat einwandte.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, Frau Nilson«, sagte er.

»Sie waren schon lange nicht mehr im Tennisclub«, erklärte sie mit ihrer umwerfenden Offenheit. »Am Sonntag ist ein Hausturnier. Könnten Sie da nicht mal kommen und mit Annette ein Gespräch beginnen? Ihre Frau sieht man ja auch so selten.«

Daniel Norden hatte nicht die geringste Lust, nach einer arbeitsreichen Woche den Sonntagnachmittag auf dem Tennisplatz zu verbringen, anstatt mit seinen Kindern, aber er wollte keine ablehnende Antwort geben.

»Mal sehen, was sich machen läßt«, erwiderte er.

»Wir würden Sie ja auch gern mal bei uns zu Gast haben«, sagte Mary Nilson. »Man wohnt so nahe beieinander und sieht sich so selten.«

»Sie wissen ja, wie es bei mir zugeht.«

»Ja, ich weiß«, sie seufzte, »und ich halte Sie auch noch auf. Bitte, nicht böse sein, aber ich fühle mich so hilflos.«

Das sagte eine Frau wie Mary Nilson, und das gab Dr. Norden zu denken.

»Vielleicht klappt es am Sonntag«, sagte er.

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Doch es sollte ganz anders kommen, so, wie es bestimmt nicht vorauszusehen gewesen war.

Es war Freitag geworden, und Daniel hatte völlig vergessen, seine Frau Fee zu fragen, ob sie Lust hätte, ein Tennisturnier zu besuchen. Es war ein so wechselhaftes Wetter, daß sich die Krankheitsfälle häuften und er bis spät in die Nacht hinein Krankenbesuche machen mußte. Er hatte kaum Zeit, eine Mahlzeit mal in Ruhe einzunehmen, was Fee ebenso mißfiel wie der guten Haushälterin Lenni, und auch die drei Kinder maulten, weil sie den Papi kaum noch zu sehen bekamen.

Auch an diesem Freitagabend war Daniel wieder unterwegs, als Fee ein dringender Anruf in seiner Privatwohnung erreichte.

Frau Buchmann, eine Fotografin, die Fee sehr gut kannte, da sie schon ganz entzückende Porträtfotos von ihren Kindern gemacht hatte, war am Telefon, und sie war sehr aufgeregt.

»Dr. Norden muß schnell kommen«, tönte es an Fees Ohr. »In meinem Garten liegt ein bewußtloser Mann. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll.«

Fee wußte momentan auch keinen Rat, da sie nicht wußte, wo sie Daniel erreichen konnte. Aber da sie selbst Ärztin war und es noch nicht vergessen hatte, konnte sie einen solchen Hilferuf nicht ungehört verhallen lassen, um so mehr, weil Frau Buchmanns Haus nur etwa zweihundert Meter entfernt lag.

»Ich komme«, sagte sie.

Sie hatte zwar nur einen kleinen Arztkoffer, aber erste Hilfe würde sie doch leisten können. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen Betrunkenen, der sich nicht mehr zurechtgefunden hatte. Das war auch schon passiert, aber Fee konnte sich auch recht gut vorstellen, wie es einer alleinstehenden Frau zumute war, wenn sie so erschreckt wurde.

Sie benutzte ihr Mofa, das sie sich für kurze Wege angeschafft hatte, da man mit dem keine Parkschwierigkeiten hatte. Daniel war das nicht ganz recht gewesen, aber Fee hatte ihn überzeugt und hatte auch ihren Spaß damit.

Ein Spaß sollte es diesmal allerdings nicht sein, denn um einen Betrunkenen handelte es sich nicht, und Fee konnte auch keine sichtbaren Verletzungen feststellen. Ihr sah es fast mehr nach einem Herzinfarkt aus, obgleich es sich um einen noch jungen Mann handelte.

»Rufen Sie schnell einen Krankenwagen, Frau Buchmann. Er muß in die Klinik. Ich wage nicht, hier etwas zu machen.«

Sie nannte auch die Nummer, und die schrecklich aufgeregte, nicht mehr junge Frau führte diesen Auftrag dann aus.

Der Krankenwagen kam. Ein junger Arzt, der Fee unbekannt war, starrte Fee betroffen an, als sie sich als Kollegin vorstellte. Der Name Norden schien ihn noch mehr zu irritieren.

»Am besten gleich zur Behnisch-Klinik«, sagte sie energisch. »Ich wage nicht, eine Diagnose zu stellen. Man sollte Sauerstoff geben.«

Vielleicht fühlte er sich bevormundet, vielleicht wußte er sich auch selbst keinen Rat.

»Gut, zur Behnisch-Klinik«, sagte er mit einem unwilligen Unterton. »Wie lange liegt der Mann schon hier?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Fee. Frau Buchmann wußte es auch nicht. Sie hatte ihn kurz zuvor erst gefunden. »Ich glaube, Eile tut not«, sagte Fee mahnend.

Der Krankenwagen fuhr ab. »Darf ich mal Ihr Telefon benutzen, Frau Buchmann?« fragte Fee. »Ich will Dr. Behnisch verständigen.«

Frau Buchmann war froh, nicht mehr allein zu sein. Fee erreichte Jenny Behnisch und erklärte ihr, was vorgefallen war. Daniel sei unterwegs, fügte sie noch hinzu.

»Ich wußte mir keinen anderen Rat«, sagte Frau Buchmann immer noch zitternd vor Erregung. »Mit den Nachbarn kann man ja nicht reden. Die sind nicht hilfsbereit.«

»Sie haben nichts gehört?« fragte Fee nachdenklich.

»Überhaupt nichts. Ich war in der Dunkelkammer und wollte noch ein bißchen frische Luft schöpfen, da sah ich ihn liegen. Meine Gartentür schließt nicht richtig, aber das wissen Sie ja, Frau Doktor. Vielen Dank, daß Sie gekommen sind. Es tut mir leid«, fügte sie unmotiviert hinzu.

»Mein Mann muß so viel Krankenbesuche machen«, erklärte Fee. »Manchmal kommt er nicht dazu, mir Bescheid zu sagen, wo er zu erreichen ist. Nun beruhigen Sie sich bitte. Möchten Sie Tropfen haben?«

Frau Buchmann nickte. »So ein junger Mensch«, sagte sie leise. »Man kriegt es richtig mit der Angst, wenn man so allein im Haus ist. Wenn mir so was passiert, wird mich keiner vermissen.«

Das gab Fee einen Stich. »Nehmen Sie sich doch jemanden ins Haus, Frau Buchmann«, sagte sie aufmunternd. »Es ist doch groß genug.«

»Aber man weiß doch nicht, wen man bekommt, man wird so mißtrauisch, wenn man täglich hört, was in der Welt vor sich geht. Ansehen tut man es den meisten ja nicht, was sie im Schilde führen. Meine Dolly ist doch auch vergiftet worden.«

Tränen traten ihr in die Augen dabei, und Fee war tief bestürzt.

»Das wußte ich noch nicht«, sagte sie. Aber sie wußte, wie sehr Frau Buchmann an ihrem kleinen Pudel gehangen hatte. »Wer hat das getan?«

Frau Buchmann zuckte die Schultern. »Verdächtigen darf man ja niemanden. Die Menschen sind so boshaft, Frau Doktor. Wenn sie Krach machen, ist alles in Ordnung, aber wenn so ein Tierchen mal bellt, regen sie sich auf.« Nun schluchzte sie, und Fee spürte, daß auch sie Hilfe brauchte, nicht nur eine Medizin.

»Wenn wir Ihnen nun behilflich wären, einen netten Menschen zu finden, Frau Buchmann, damit Sie nicht gar so allein sind. Einen Menschen, von dem wir genau wissen, daß er anständig ist?«

»Schön wäre es.«

»Wir werden uns darum kümmern«, versprach Fee. »Und nun legen Sie sich nieder, aber schließen Sie die Tür ab, und gut wäre es auch, wenn die Gartentür gerichtet würde.«

»Man findet ja niemanden, und in diesem Fall, mein Gott, dann hätte der junge Bursch auf der Straße gelegen und niemand hätte sich um ihn gekümmert.«

Mitleidig war sie trotz allen Mißtrauens.

»Dennoch«, sagte Fee, »ich werde Ihnen Herrn Wegner schicken, der richtet Ihnen die Gartenpforte.«

»Sie haben halt ein Herz. Schauen S’, Frau Doktor, um mich herum werden die Prunkvillen gebaut. Die alten Häuser werden alle abgerissen. Mein Häusle ist denen längst ein Dorn im Auge, und auf mein Grundstück ist schon mancher scharf. Aber ich geb’s nicht auf.«

»Recht haben Sie, Frau Buchmann«, sagte Fee.

Es war ein schmuckes Haus, nicht etwas vernachlässigt oder gar ein Schandfleck. Aber es war halt keine Prunkvilla. Dafür war das Grundstück herrlich, die Pflanzen liebevoll gepflegt.

Fee machte sich auf den Heimweg. Als silberne Sichel stand der Mond am Himmel und die Sterne blinkten. Friedlich sah hier die Welt aus, und dennoch wohnte hinter mancher Fassade Leid.

Als Fee ihr Haus betrat, sagte Lenni, daß der Herr Doktor angerufen hätte. Sie möchte bitte bei Frau Sandmann anrufen, wenn es noch etwas Dringendes gäbe.

Fee überlegte erst, aber dann entschloß sie sich doch dazu und bat Daniel, in der Behnisch-Klinik nachzufragen, was mit dem Patienten sei.

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Nicht weit von der Behnisch-Klinik befand sich das Haus, in dem der Generaldirektor Fritz Funk und seine Frau Ellen vor dem Fernsehapparat saßen.

Ein amerikanisches Lustspiel wurde ausgestrahlt, aber dennoch war die Stimmung niedergeschlagen.

»Florian war heute schon wieder nicht in der Uni«, sagte Ellen Funk gereizt, »und nun treibt er sich wieder herum.«

»Er ist zweiundzwanzig, Ellen, und jetzt ist es noch nicht mal zehn Uhr. Und schließlich ist er so intelligent, daß er nicht unbedingt jede Vorlesung besuchen muß.«

»Er ist labil und ein Simulant«, stieß Ellen erbost hervor. »Anstatt sich sportlich zu betätigen, kommt er Annette nur auf die wehleidige Tour. Sie wird ihm eines Tages den Laufpaß geben, dabei wäre die Verbindung doch so günstig.«

»Du liebe Güte, ich halte nichts von Kinderehen«, knurrte Fritz Funk, den man nur FF nannte, weil er alles, was er tat, aus dem ff machte.

Die Zweitehe mit Ellen hatte allerings nicht überall Anklang gefunden. Sie war Mitte dreißig, zwanzig Jahre jünger als er, eine geborene von Clemm, und das wollte sie auch anerkannt wissen. Sie bestand darauf, Funk von Clemm genannt zu werden. Das Geld hatte allerdings FF gehabt.

Immerhin war sie recht ansehnlich, und da sie sich nur in teuerste Modelle kleidete, als seine Frau konnte sie das ja, hätte sie auch eine gute Figur gemacht, wenn sie nur nicht so maßlos arrogant gewesen wäre.

An Florian hatte sie immer etwas auszusetzen, nachdem sie die ersten Monate ihrer Ehe mit scheinheiliger Freundlichkeit überstanden hatte. Florian ging ihr aus dem Weg, wo immer es nur möglich war.

Fritz Funk bemühte sich, nicht auf ihr Lamento zu hören, und er war froh, als schließlich das Telefon läutete, wer immer das noch zu so später Stunde sein mochte.

»Eine Unverschämtheit«, bemerkte Ellen, aber auch darauf hörte er nicht, und als er dann vernahm, was ihm durch den Draht gesagt wurde, erblaßte er.

»Florian ist in die Behnisch-Klinik gebracht worden«, sagte er mit rauher Stimme. »Er ist irgendwo bewußtlos gefunden worden. Ich gehe hin.«

Ellen war nun doch sprachlos. Und bevor sie sich gefangen hatte, war Fritz Funk schon aus dem Haus.

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Dr. Behnisch hatte sich sofort um den Bewußtlosen bemüht. Er war in einem lebensbedrohlichen Zustand. Er hatte am Bein des jungen Mannes eine kleine Wunde entdeckt, die an sich nicht gefährlich aussah, aber es bestand eine Blutvergiftung, und außerdem hatte der junge Mann kein widerstandsfähiges Herz.

Jenny hatte in der Jackentasche Ausweispapiere gefunden, und so hatten sie festgestellt, daß es sich um Florian Funk handelte.

Er war sofort mit der erforderlichen Antibiotika behandelt worden, jedoch blieb sein Zustand bedenklich wegen der Herzschädigung, die erst noch genau diagnostiziert werden mußte.

Fritz Funk war nur noch besorgter Vater, als er in die Klinik kam. Dr. Jenny Behnisch gab auch ihm ein Beruhigungsmittel.

Die näheren Umstände konnte sie ihm nur soweit erklären, als sie diese von Fee Norden wußte. Wo Florian sich die Verletzung zugezogen hatte, wußte sie freilich auch nicht. Und sie mußte Fritz Funk auch sagen, daß der Zustand seines Sohnes bedenklich sei.

Zur gleichen Stunde sagte Mary Nilson zu ihrem Mann: »Heute abend hat Florian doch tatsächlich mal nicht angerufen. Wie findet man denn das?«

»Froh zu sein scheint Annette darüber aber auch nicht«, brummte er. »Sie war sehr schweigsam.«

Annette hatte sich früh zurückgezogen. Sie hatte es auch abgelehnt, mit ihrem Bruder Dirk zu einer Filmvorführung zu gehen.

»Vielleicht hat sie sich in einen anderen verliebt«, sagte Mary. »Aber sie kann es eben nicht so leicht abschütteln. Doch sie muß Abstand gewinnen.«

»Wir wollen uns da nicht einmischen, Mary«, sagte Arne Nilson ruhig. »Annette ist alt genug, um ihre eigene Entscheidung zu treffen. Wir haben uns auch nicht dreinreden lassen.«

»Du warst aber auch von anderem Schlag. Bei dir wußte man, woran man ist.«

»Die Geschmäcker der Publikümer sind verschieden«, erklärte er mit seinem unverwüstlichen Humor. »Dirk hat es jetzt mit so einem Mannequin, darüber regst du dich doch auch nicht auf.«

»Das legt sich wieder«, sagte Mary. »Dirk liebt seine Freiheit. Glücklicherweise, möchte ich sagen.«

Aber wenn sie ihren Sohn jetzt gesehen hätte, wären ihr da wohl auch andere Gedanken gekommen. Er war zwar nicht mit dem besagten Mannequin zu der Filmvorführung gegangen, aber ihn faszinierte ein anderes weibliches Wesen, obgleich das auf den ersten Blick gar nicht so faszinierend erschien. Es war ein zierliches Persönchen, das schräg vor ihm saß. Er sah nur das Profil, aber dies war von einer Anmut, daß er seinen Blick nicht mehr auf die Filmleinwand richtete. Er wußte gar nicht, was dort gezeigt wurde. Er sah eine glatte Stirn, wunderschön geschwungene Augenbrauen, eine feine, gerade Nase und einen Mund, der eine bisher ungekannte Sehnsucht in ihm weckte.

Noch während der Film lief und eine heisere Stimme Erklärungen dazu gab, stand das Mädchen auf. Es trug einen schlichten Pullover und verwaschene Jeans. Über der Schulter hing ein Fotoapparat.

Sie strebte dem Ausgang zu, und auch Dirk sprang auf und folgte ihr.

Er erreichte sie am Ausgang und griff nach ihrem Arm.

»Auch gelangweilt?« fragte er, weil ihm nichts anderes einfiel.

»Durchaus nicht«, erwiderte sie abweisend.

»Können wir uns nicht irgendwo noch unterhalten?«

Nachtdunkle Augen blitzten ihn an. »Was bilden Sie sich denn ein? Ich bin verabredet.«