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Any Cherubim

Mea Suna - Seelenfeuer

Band 2





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Mea Suna

 

 

 

Seelenfeuer

 

 

Band 2

 

 

 

 

 

 

 

von Any Cherubim

 

 

 

 

So lange ich stehen kann, kämpfe ich für dich,

solange ich atme, verteidige ich dich,

solange ich lebe, liebe ich dich.

 

Autor unbekannt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Farbskala

 

Grün: gemischte Gefühle, durcheinander

Gelb: emotional, besorgt, unausgelassen

Orange: nervös, aufgeregt, beunruhigt

Rosa: verliebt, Freude, fröhlich, guter Dinge

Gold: romantische Stimmung, leidenschaftlich

Rot: wütend, aggressiv, verärgert,wütend, beunruhigt

Lila: absolut glücklich

Schwarz: ängstlich, verzweifelt, traurig,

Grau: gelangweilt, frustriert, beleidigt

Blau: entspannt, gelassen, ruhig, ausgeglichen

Weiß: geheimnisvoll, verschwiegen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Irgendwo in New York:

 

»Schalt den Fernseher ein, sie bringen bestimmt etwas darüber«, sagte er und setzte sich in den Sessel. Natürlich würden die Medien darüber berichten. Es war das Ereignis in Bayville.

Eine Nachrichtensprecherin berichtete über die Tragödie, die der Familie Lewis zugestoßen war. Von dem luxuriösen Anwesen war nicht viel übrig geblieben, eigentlich nur Schutt und Asche. Überall waren Rettungskräfte im Einsatz und Rauchschwaden stiegen in die Luft. Schaulustige standen schon seit Stunden hinter einer Absperrung, um dabei zu sein, wenn die Ära Finley Lewis unterging.

»Wir berichten live von dem Anwesen Lewis in Bayville. Mein Kollege Jonathan Falls ist an der Unglücksstelle«, richtete die hübsche Nachrichtensprecherin ihre Worte in die Kamera.

»Jonathan, weiß man schon mehr? Wie kam es zu dem Unglück und gibt es Überlebende?«

»Nein, wie genau es zu den Detonationen kam, ist noch völlig unklar. Augenzeugen berichteten von mehreren Explosionen und einem riesigen Feuer, das die Menschen hier in Bayville letzte Nacht in Atem hielt. Das Gelände rund um die Villa wurde weiträumig abgesperrt. Leider sind noch keine Einzelheiten bekannt. Ob jemand aus der Familie Lewis die Explosion überlebt hat, ist völlig unbekannt.

Die Einsatzkräfte sind seit Stunden vor Ort, der Brand ist in der Zwischenzeit unter Kontrolle.

Die Polizei hält sich in diesem Fall noch sehr bedeckt. Im Laufe des Tages sollen erste Informationen von dem Pressesprecher bekannt gegeben werden. Die Ermittlungen von CIA und FBI laufen in alle Richtungen. Dabei steht die Vergangenheit von Ex-Senator Finley im Mittelpunkt. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob der frühere Senator Finley Lewis wirklich etwas mit den kriminellen Machenschaften zu tun hatte, die man ihm seit Jahren nachsagt. Unklar ist leider auch der Verbleib seiner beiden Nichten Jade und Amy Lewis. Ob sie sich zum Zeitpunkt der Detonation im Haus aufgehalten hatten, ist unbekannt.«

»Gibt es weitere Überlebende?«

»Das lässt sich nicht sagen. Bisher wurden nur Tote geborgen. Mehrere Leichenwagen fuhren vor ein paar Minuten vom Gelände. Man sucht unter den Trümmern nach weiteren Überlebenden. Allerdings wird mit jeder Stunde die Hoffnung geringer. Nähere Details erwarten wir in Kürze. Jonathan Falls aus Bayville«.

»Danke Jonathan. Sobald es neue Einzelheiten zu diesem Fall gibt, schalten wir noch einmal live zu dir.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Wirre Stimmen nahm ich wahr. Vor mir lag Onkel Finley. Meine Hand lag auf seinem sterbenden Körper. Mit geschlossenen Augen versuchte ich all meine Konzentration aufzubringen - suchte den heilenden Nebel. In seinem Blick lag so viel Enttäuschung.

»Ich kann es nicht, Onkel«, hörte ich von Weitem meine eigene Stimme und senkte beschämt den Kopf.

»Hol Amy«, forderte er mit letzter Kraft.

»Sie ist nicht hier«, erwiderte ich leise.

Verwirrung und Panik glühten in seinen Augen auf. Jetzt sah ich die Verachtung und Kälte, die mir entgegen kam.

 

»Deine einzige Aufgabe bestand darin, auf deine Schwester aufzupassen und nicht mal das schaffst du?«

 

Wieder und wieder hallten seine Worte nach, die sich tief in meinem Herzen eingruben. Sie wurden lauter, fast unerträglich, bis die Hitze in mir entflammte. Sie breitete sich in meinem Körper aus, wandelte meine Enttäuschung und meine seelischen Verletzungen in Wut und Zorn. Neue, unbekannte Flammenzungen loderten auf und ließen meine Aura rot-gold leuchten. Glut brodelte in meinem ganzen Körper und Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, bis ich die angestaute Wut nicht länger zurückhalten konnte. Der Zwang, die Worte auszusprechen, die mir Erleichterung verschaffen würden, war so viel stärker, als dass ich sie zurückhalten konnte.

»Sie ist tot.«

Kaum hatte ich diese Lüge ausgesprochen, wichen die Feuerzungen zurück, wurden kleiner und erloschen schließlich. Nichts war mehr da von der Glut, die wie ein Seelenfeuer meinen Körper, meine Gedanken und meine Sprache eingenommen hatte. Erschrocken über mich selbst, sah ich zu, wie Tränen aus Onkel Finleys Augen traten und nur Sekunden später wurde sein Blick starr und sein Herzschlag, den ich durch meine Hände gespürt hatte, schwächer. Schließlich verstummte das Pochen in seiner Brust für immer.

Erleichterung und eine gewisse Befriedigung hallte in mir nach, bis ich die wirren Stimmen wieder hörte:

 

»Du hast ihn umgebracht. Du hast deinen Onkel getötet.«

 

Ich sah mich um - niemand war bei mir. Dennoch hörte ich diese Stimmen laut und deutlich. Sie wiederholten sich und wurden drängender, warfen mir etwas Grausames vor. Mein Herz raste, es zersprang fast in meiner Brust. Der Schweiß rann meinen Rücken hinunter und plötzlich starrte Onkel Finley mich mit seinen toten Augen an.

Ich kniff meine Augen zusammen, legte meine Hände auf meine Ohren – nichts sehen, nichts hören. Wollte meine Schuld nicht eingestehen, obwohl selbst meine Seele ganz laut die gleichen Worte schrie. Nein! Ich wollte das nicht tun, das war ich nicht – nicht wirklich!

 

»Jade! Jade, wach auf!« Jemand rüttelte mich. Erschrocken riss ich meine Augen auf. Lucas warmer Blick ruhte auf mir.

»Du hast geträumt, Mea Suna. Du bist in Sicherheit«, sagte er und strich mir eine Haarsträhne aus meinem verschwitzten Gesicht.

Ja, ich hatte geträumt. Die schrecklichen Bilder, die ich eben noch vor mir hatte, verschwammen, doch das Gefühl versagt und etwas Schreckliches getan zu haben, blieb.

Eindeutig fehlte mir Schlaf, aber genau da lag das Problem, die Angst vor dem Einschlafen hielt mich schon zu lange wach. Wo genau wir uns befanden, wusste ich schon lange nicht mehr. Ich stellte keine Fragen, sondern wartete geduldig ab, bis wir endlich ans Ziel gelangen würden. Ich ließ die Meilen einfach an mir vorüberziehen. Bevor wir das Flugzeug verließen, gab man mir eine dunkle Sonnenbrille und ein Tuch, welches ich um meinen Kopf binden sollte, schließlich musste ich unerkannt bleiben. Brav gehorchte ich und tat, was man von mir verlangte. Mr. Chang öffnete die Luke und ließ die kleine Treppe des Flugzeugs hinab. Unsicher blieb ich am Treppenabsatz stehen und sah mich um. Der Flugplatz war groß. Der Pilot hatte unseren Flieger etwas abseits der anderen großen Maschinen gelandet, sodass wir allein auf dem Rollfeld waren.

Luca nahm meine Hand und sofort fühlte ich mich sicherer. Die Luft roch salzig und ein milder Wind blies. Es war sehr warm und keine Wolken zierten den Himmel. Die Häuser strahlten weiß in der Sonne und Palmen bewegten sich im Wind hin und her. Ein dunkler Wagen mit getönten Scheiben wartete schon auf uns, unmittelbar in der Nähe des Flugzeuges. Gepäck hatte ich keines, dafür blieb bei der Flucht keine Zeit.

»Die Fahrt wird nicht lange dauern. Ruh dich einfach aus, Mea Suna«, sagte Luca lächelnd und hielt mir die Wagentür auf. Ich stieg ein. Mr. Chang nahm auf dem Beifahrersitz Platz und Luca setzte sich neben mich. Den Fahrer kannte ich nicht, jedoch schüttelte Mr. Chang ihm freundschaftlich die Hand. Während der Fahrt sprachen wir kaum und ich versuchte, nicht an die schrecklichen letzten Stunden zu denken und konzentrierte mich auf die an mir vorbeiziehenden Strandabschnitte. Das gleichbleibende Motorengeräusch und das leichte Schunkeln des Wagens ließen mich ermüden.

Luca zog mich in seine Arme. Sofort entspannte ich mich, schlafen konnte ich jedoch nicht.

 

Als der Motor verstummte, löste ich mich aus seinen Armen und sah mich um. Wir parkten an einer kleinen Bootsanlegestelle. Eine wunderschöne Bucht erstreckte sich vor uns. Türkisblaues Wasser und weißer Sandstrand. Wo war ich nur?

Der Fahrer stieg aus und öffnete mir die Tür.

»Wir haben es bald geschafft. In einer halben Stunde sind wir da. Zieh bitte die Sonnenbrille und das Tuch wieder an«, forderte mich Luca auf und reichte mir beides. Wer würde mich hier schon erkennen? Onkel Finley hatte früher immer sehr darauf geachtet, dass unsere Gesichter nie abgelichtet wurden. Trotzdem tat ich es. Es tat gut, sich die Beine zu vertreten. Mr. Chang folgend, liefen wir die Stufen zum Pier hinunter. Am Ende des Holzstegs wartete ein kleines Motorboot auf uns. Luca reichte mir seine Hand, half mir beim Einsteigen. Mr. Chang telefonierte, bevor er selbst das Boot aus der menschenleeren Bucht steuerte. Wir fuhren aufs offene Meer hinaus. Ich war froh, dass ich dieses Kopftuch trug, der Fahrtwind hätte mein langes Haar zerzaust.

Es dauerte nicht lange, als ich von Weitem eine kleine Insel entdecken konnte. Wir steuerten direkt auf das Land zu, das mit seinem weißen Sandstrand, den Palmen und großen Bäumen wie das Paradies aussah. Er verringerte das Tempo, der Motor wurde leiser und erstarb schließlich. Luca machte das Motorboot mit einem Seil fest. Erst jetzt bemerkte ich einen kleineren, rundlichen Mann. Er trug einen Sonnenhut, ein schmutziges Hemd und eine ebenso verschmutzte Hose. Seine Haut war von der Sonne dunkel gebräunt. Herzlich begrüßte er Mr. Chang, sie umarmten sich, während Luca mir aus dem Boot half.

»Jade, darf ich dir meinen alten Freund Quinn vorstellen? Quinn, das ist Jade Lewis«, sagte Mr. Chang. Er nahm seinen Hut vom Kopf, wischte seine verschwitzte Hand an seiner Hose ab und reichte mir diese.

»Willkommen auf Grace Island. … Du hast mir gar nicht gesagt, dass sie so hübsch ist«, beschwerte er sich und boxte Mr. Chang leicht in die Rippen. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen. Meine Frau, Johanna, kann es kaum erwarten«, säuselte er. Fasziniert sah er mich an. Ich sollte wohl auch etwas sagen, doch ich brachte keinen Ton heraus. Gerade so schaffte ich es, ein Lächeln über meine Lippen huschen zu lassen.

»Sie ist müde, Quinn«, rettete mich Mr. Chang.

»Natürlich! Folgt mir!«, lenkte er ein und setzte seinen Hut wieder auf. Schweigend liefen wir den Steg entlang, der aus der Bucht führte.

»Wo sind wir eigentlich?«, wollte ich endlich wissen, als wir am Ende der Anlegestelle eine Steintreppe hinauf stiegen.

»Wir sind auf einer der Bermudainseln, auf Grace Island«, antwortete Mr. Chang. »Hier bist du in Sicherheit.«

Zwischen einer größeren Palmengruppe tauchte vor uns eine weiße, luxuriöse Villa auf, die große Glasfenster hatte. Ein Pool glitzerte im Licht der Sonne und Blumen und Büsche waren gekonnt angelegt. Das Grundstück war wunderschön umsäumt von einer saftigen, grünen Wiese. Die Insel verlieh das Gefühl von Urlaub - ein kleines Paradies.

Ein Schotterweg führte durch die Parkanlage, die den Blick über die Insel freigab. Es erinnerte mich ein wenig an Zuhause. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken.

Quinn und Mr. Chang liefen voraus, an der schönen Villa vorbei. Wir folgten ihnen, bis wir schließlich durch dichte Bäume ein kleineres Haus sehen konnten, welches sich fast auf der anderen Seite der Insel befand. Nach einem kleinen Fußmarsch erreichten wir den Vorhof. Überall lag Spielzeug, das bunt in der Sonne leuchtete. Die Eingangstür wurde knarrend aufgestoßen und drei Kinder traten neugierig auf die Veranda. Sechs aufgeweckte Augen sahen uns an.

»Naoki, Naoki!«, rief ein Junge und sprang sogleich Mr. Chang entgegen. Dieser fing ihn auf und begrüßte ihn herzlich. Die anderen Kinder blieben schüchtern zurück und beobachteten ihren Bruder.

»Das sind meine Kinder«, sagte Quinn eifrig und rief sie von der Veranda zu sich, um sie uns vorzustellen. »Das sind Samuel, Sebi und Erin. Unsere Jüngste, Rose, hält bestimmt ein Schläfchen«, verkündete er stolz.

»Das sind Jade und Luca. Sagt brav guten Tag, Kinder.«

Fast wie im Chor gehorchten sie und grüßten uns. »So, jetzt geht spielen«, rief er und wir sahen ihnen nach, wie sie hinter dem Haus verschwanden. Ein weiteres Mal knarrte die Verandatür und eine Frau mit langen schwarzen Haaren erschien. Freundlich lächelte sie uns entgegen. Als sie Mr. Chang erblickte, lief sie die Stufen zu uns hinunter. »Ihr habt Glück, das Essen ist gleich fertig«, sagte sie und begrüßte uns fröhlich. »Es freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin Johanna. Ihr seid bestimmt müde von der Reise.« Nickend stimmte ich ihr zu.

»Quinn, willst du unsere Gäste nicht ins Haus führen?«, tadelte sie ihn.

»Oh, natürlich!«, sagte er schnell und wies uns an, sein Haus zu betreten. Ich staunte, als wir den großen Wohnbereich betraten. Das Haus wirkte von innen größer als von außen. Das Wohnzimmer und die Küche waren ein riesiger Raum. Zwei gemütliche Sofas umsäumten den großen Kamin. Liebevoll waren sie mit vielen bunten Kissen drapiert. Es roch nach Braten und hätte ich Hunger, wäre mir das Wasser im Mund zusammengelaufen.

»Setzt euch, Johanna wird euch gleich etwas zu trinken bringen«, sagte Quinn und bat uns am großen Küchentisch Platz zu nehmen. Luca schob mir den Stuhl zurecht, während Mr. Chang mir zuzwinkerte. Er hatte meine Schüchternheit bemerkt und wollte mich damit ein wenig auflockern. Neugierig sah ich mich um. Bilder ihrer Kinder und anderer Familienmitglieder zierten die Wände. Die Möbel waren alt, jedoch gut gepflegt. Alles war einfach und zweckmäßig eingerichtet. Man konnte es nicht mit unserem Haus vergleichen. Dafür hatte Onkel Finley zu sehr Design und teure Gegenstände geliebt. Ich empfand es als gemütlich und konnte mir vorstellen, hier ein paar Tage zu verbringen. Jedoch fiel mir auf, dass es in dem Wohnzimmer keinen Fernseher gab. Auch ein Telefon konnte ich nicht entdecken. Wie gern hätte ich ein paar Informationen aus meiner Heimat erfahren, oder die Stimme von Agnes gehört.

Johanna brachte uns Getränke. Sie war die Herrin hier im Haus, das spürte man sofort. Ich schätzte sie auf Ende dreißig. Ihre schwarzen, langen Haare trug sie zusammengebunden. Ihre Haut war schön, auch wenn sich die eine oder andere Falte um ihre Augen gebildet hatte. Sie trug keinen Schmuck, was ihre Schönheit nicht schmälerte. Braune, glänzende Augen und ihre schlanke Figur ließen sie attraktiv erscheinen. Sie schenkte uns frischen Eistee ein, während eine bedrückende Stille eintrat.

»Wie lange wollt ihr bleiben, Naoki?«, fragte Quinn und trank einen großen Schluck aus seinem Glas.

»Tja, ich denke, wir sollten eine weitere Reise nicht überstürzen. Ich habe dir ja schon mitgeteilt, wie brisant die Situation ist.«

Quinn nickte wissend und sah Luca an. Eine Mischung aus Neugier und Misstrauen konnte ich darin lesen.

Auch Mr. Chang verstand den Blick. »Keine Sorge, ich übernehme für ihn die Verantwortung. Er steht unter meinem persönlichen Schutz, genau wie Jade«, sagte er.

»In Ordnung. Wenn Naoki dir traut, will ich es auch tun.« Er schien bereit zu sein, Luca als Ex-Taluri hier auf der Insel akzeptieren zu können. »Es ist sehr wichtig, dass ihr ein paar Dinge über Grace Island wisst«, meinte er und sein Blick wanderte zu mir. »Ich darf doch Jade sagen, oder?«

»Natürlich.«

»Ich bin der Verwalter. Vico Tramonti ist der Besitzer der Insel.«

Wow! Ich war sehr beeindruckt. Bisher kannte ich nur Johnny Depp und George Clooney, die so reich waren, dass sie sich gleich eine ganze Insel leisten konnten.

»Mr. Tramonti besitzt auf der ganzen Welt Immobilien. Sie dienen den Illustris und den Padres als Zufluchtsort. Denkt daran, erzählt niemandem davon. Es ist wichtig, dass sie geschützt bleiben«, sagte Quinn zu Luca und mir. »Du kannst, wann immer du möchtest, hierher kommen. Diese, wie auch alle anderen Zufluchtsorte, werden auf eine ganz besondere und streng geheime Weise überwacht.«

Es waren mir keine Kameras, Zäune oder andere Sicherheitsmaßnahmen aufgefallen. Eigentlich konnte jeder mit einem Boot zur Insel fahren und sie betreten.

»Hast du schon einmal etwas von Drohnen gehört?«

Drohnen? Ich dachte kurz nach. Nein, dieser Begriff war mir völlig unbekannt. »Was ist das?«

Stolz hob Quinn den Kopf, bevor er mit seinen Erklärungen fortfuhr. »Drohnen sind unbemannte Fluggeräte, die ununterbrochen auf der ganzen Insel im Einsatz sind. Sie werden über Funksignale gesteuert. Sie geben ein Alarmsignal, falls sich jemand der Insel unerlaubt nähert, egal, ob über das Wasser oder aus der Luft.«

»Ihr benutzt Bienen?«, fragte Luca amüsiert. Es war das erste Mal, dass er überhaupt etwas sagte.

»Du weißt davon?«, fragte Mr. Chang erstaunt.

»Nicht, dass ihr damit arbeitet, aber ich kenne die Technik. Wie groß sind sie und wie viele davon habt ihr im Einsatz?«

Unsicher bedachte Quinn Mr. Chang mit einem skeptischen Blick, was dieser jedoch mit einer Handbewegung abtat. »Mehr als zehn. Sie sind ungefähr so groß wie meine Hand und sehen aus wie übergroße lebendige Bienen. Sie sind scharf, wenn du verstehst, was ich meine«, erklärte Mr. Chang.

»Ich weiß nicht, Naoki. Ob es richtig ist, ihm jetzt schon zu vertrauen?«

»Ich trage keinen Spy mehr, also, was könnte ich schon anrichten? Ich habe ihn mir freiwillig entnommen«, versuchte Luca, Quinns Bedenken zu zerstreuen. Er lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme. Quinn überlegte. Als Mr. Chang zuversichtlich nickte, schien er sein Misstrauen fallen zu lassen.

»In Ordnung. Dann weißt du sicherlich auch, dass du hier rund um die Uhr bewacht wirst. Sobald du eine Waffe an dich nimmst, wird der Alarm ausgelöst und die Drohnen werden dich töten. Das soll keine Drohung sein, verstehst du? Sie sind zu eurem Schutz«, erklärte er in ernstem Ton.

»Jetzt hör schon auf, Quinn. Du erschreckst ja die jungen Leute. Das arme Ding! Siehst du nicht, wie erschöpft sie ist? Ich glaube, es reicht für heute«, schimpfte Johanna mit ihrem Mann, als sie zu uns an den Tisch gelaufen kam. »Soll ich dir dein Zimmer zeigen?« Eindringlich sah sie mich an, bis ich schüchtern nickte.

»Na komm! Nimm dein Glas mit«, meinte sie und ging voran. Mr. Chang, Luca und Quinn sahen uns schweigend nach, als Johanna mich die Stufen hinauf führte. Ich wusste, dass sie jetzt über mich sprechen würden, doch das war mir egal. Ich konnte es kaum erwarten, allein zu sein.

Oben erstreckte sich ein schmaler Flur, von dem viele Zimmertüren abgingen. Johanna öffnete die letzte Tür im Flur und trat ein. Sofort ging sie zum Fenster hinüber und schloss es. Das Zimmer war ebenso einfach eingerichtet wie das Wohnzimmer. Aber ich freute mich über saubere Laken und eigene vier Wände, in die ich mich zurückziehen konnte. Links stand ein großes Bett, gegenüber ein dunkler, massiver Schrank. Daneben befand sich ein kleiner Schreibtisch. Das große Fenster durchflutete den Raum mit Licht und die Holzdielen waren die gleichen wie im unteren Stock.

»Hier kannst du dich ausruhen, das Badezimmer musst du mit jemandem teilen, aber ich glaube, das wird kein Problem sein«, sagte sie freundlich.

»Danke, das ist sehr nett von Ihnen«, sagte ich leise.

»Oh, sag einfach Johanna zu mir. Das blöde "Sie" brauchen wir nicht.« Ihr Lächeln erinnerte mich an Agnes, obwohl sie ihr überhaupt nicht ähnlich sah.

»Frische Handtücher findest du hier im Schrank.« Johanna öffnete die Seitentür, ein Stapel bunter Handtücher lag darin, zwei davon legte sie auf das Bett. Ebenfalls gab sie mir Unterwäsche, eine saubere Short und ein T-Shirt. »Die müssten dir passen. Falls nicht, kannst du selbst nach etwas anderem schauen.« Sie lächelte mich freundlich an. »Falls du noch etwas brauchst, sag es einfach«, meinte sie, drehte sich noch einmal zu mir um und hielt kurz inne.

»Ein schlauer Mensch sagte einmal: „Zurück ins Leben findet man erst im Durchleben der Trauer“. Wenn du reden willst, ich bin jederzeit für dich da.« Sie strich mir über meinen Arm, schloss leise die Tür.

 

Ihre Worte linderten meinen Schmerz nicht. Verzweifelt hatte ich in den letzten Stunden versucht, nicht daran zu denken, welches Unglück uns widerfahren war. Onkel Finley, Tom und Alegra waren tot und meine Schwester Amy hatte ich verloren. Sie wurde uns entrissen. Ob sie noch lebte? Mein Zuhause hatten wir selbst dem Erdboden gleichgemacht, als wir flüchteten. In den letzten 48 Stunden hatte ich so ziemlich alles verloren. Meine Familie, meine Freunde, mein Leben. Die Einzigen, die mir geblieben waren, waren Luca und Mr. Chang.

Ich setzte mich aufs Bett und starrte aus dem Fenster. Die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Es war ein schöner Tag. An solchen Tagen hatte ich mich gerne in unserem Park aufgehalten. Bilder von unserem See durchfluteten meine Gedanken. Eine meiner letzten schönen Erinnerung an mein Zuhause war, als Tom mir seine Kette geschenkt hatte, die ich jetzt um meinen Hals trug.

Tränen liefen in kleinen Rinnsalen meine Wangen hinunter. Mein Gott! Ich war nun ganz allein. Was sollte nur aus mir werden? Musste ich mich für den Rest meines Lebens vor den Taluris verstecken? Und was war mit Amy passiert? Was hatte Matteo mit ihr gemacht, nachdem er sie Mr. Chang aus den Armen gerissen hatte? Innerlich verbot ich mir, auch nur eine Sekunde lang zu glauben, dass Amy nicht mehr am Leben war. Erschöpft ließ ich mich in die Kissen fallen. Meine Glieder entspannten sich, mein Körper wurde schwer und ich schlief ein.