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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2014

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Umschlaggestaltung Frank Ortmann, Umschlagabbildungen © GlobalP, © Rouzes, © alxpin, © LockieCurrie, © chrisboy2004, © Remus Eserblom, © sumnersgraphicsinc, © AnatolyM, © EduardoLuzzatti, © illcha, © nickpo, © guenterguni, © Kanmu, © 4x6, alle: www.istockphoto.com

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63053-8 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-11621-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-11621-4

Für Hans, der ein reicher Mann war, weil er das Leben liebte

«Über Geschmack kann man streiten, aber nicht über einen Lamborghini.»

(Roland Paxino, Millionär, bei einer Pâté de Foie gras)

Wunderland

EIN PROLOG

Das größte Kunstwerk der Erde steht nicht in Paris, nicht in Rom und nicht in New York. Es ist hundertmal erschaffen worden und genauso oft wieder verschwunden. Jedes Jahr, wenn es Winter wird, ziehen fünfzehn Männer aus Südtirol mit Schaufeln in die frostkühlen Alpen und erwecken einen Mythos zum Leben. Meter für Meter. Kurve für Kurve. Mitten im Nichts. Sie brauchen drei Wochen, zehntausend Tonnen Schnee, fünf Millionen Liter Wasser, und jedes Jahr, wenn es Frühling wird, schmilzt ihre Skulptur einfach dahin. Es gibt viele Bobbahnen auf unserem Planeten. Nur eine wird immer neu geboren. Nur eine ist aus purem Eis.

St. Moritz. Champagnerbrise. Gentleman-Sports. Start vor dem legendären Dracula-Club. Das erste Highlight des internationalen Jetset-Kalenders. Gerade hat sich ein Fahrer die Schulter gebrochen, und jetzt nennt der Arenasprecher meinen Namen. Die Ampel springt von Rot auf Grün. Neben mir steht Rolf Sachs, der älteste Sohn von Gunter Sachs. Er lächelt mich an, klatscht in die Hände, ruft: «Go! Go! Go!», und der Bob gleitet in die Rinne. Abwärts. Kein Zurück. Keine Zeit für Zweifel.

Vor acht Minuten hat Sachs angerufen. Vor fünf Minuten sprang ich in seinen Wagen. Vor einer Minute hat er mir einen Helm in die Hand gedrückt. Jetzt verschwindet sein zitronengelber Schal im Augenwinkel, und ich schieße in einer Rakete mit zwei Olympiasiegern und einem Züricher Partyprinzen davon. Kein Auto, kein Motorrad, keine Droge kann es mit diesem Trip aufnehmen. Wall Corner. Snake Corner. Sunny Corner. Mein Herz überschlägt sich. Nash-Dixon Corner. Horseshoe Corner. Telephone Corner. Blut mischt sich mit Adrenalin. Shamrock. Devil’s Dyke Corner. Tree Corner. Wir liegen waagerecht in den Kurven, und hundertvierzig Stundenkilometer setzen das Hirn auf null. Reset. Mein Kopf schlägt hin und her, auf meine Seele legt sich Schnee, und plötzlich wird es still.

Wenn eine Bahn nur aus Kristall besteht, dann fliegt der Schlitten fast lautlos über das Eis. Alles, was du noch hörst, ist die Kälte und dein Atem. Rolf Sachs, der die Strecke angeblich schon im Smoking und auf einem Silbertablett hinuntergesaust ist, hat mir geraten, Luft zu holen, wenn ich eine Kurve erahne. «Atmen Sie!», meinte er. Doch jetzt, bei vierzehn Kurven in fünfundsiebzig Sekunden, hyperventiliere ich, und die Zeit gefriert. Bridge Corner. Leap. Gunter Sachs Corner. Ich lasse mich fallen.

FREEZE

Irgendwo da draußen, irgendwo ganz weit entfernt muss ein Wunderland liegen. Darin tanzen Fürsten und Könige, Baronessen und Prinzessinnen, Oligarchen und Mannequins, Moguln und Maharadschas, Scheichs und Scharlatane. Ihr Leben ist aus Zucker, ihre Nächte sind magisch und ihre Sorgen schneeweiß, so stelle ich es mir vor.

Ein Prozent der Menschheit besitzt vierzig Prozent des Vermögens. Gold und Geld liegen in den Händen einer kleinen Schar von Millionären und Milliardären. Das ist Fakt. Während sich andere durchs Leben hartzen, blasen diese Seligen zur Großwildjagd in Namibia, kaufen Karibikinseln und koksen in Saint-Tropez. Das ist Klischee. Sie saugen uns aus wie Vampire, kriechen durch jedes Steuerschlupfloch und schlafen mit der Moral. Spart Wasser, trinkt Champagner! Das ist Polemik.

Ich frage mich, wie die Reichen wirklich sind. Die Erben und die Selfmades, die Adligen und die Jetsetter, die Parvenus und die Playboys. Welchen Preis zahlen sie für ihren Wohlstand? Was macht Geld mit dem Kopf und mit dem Herzen? Wie viel Einfluss und welche Drogen nehmen sie? Welchen Wunsch hat man, wenn man sich jeden erfüllen kann? Was ist Luxus, wenn man alles besitzt? Welche Rolle spielt Geld, wenn Geld keine Rolle spielt? Und vor allem: Wo finde ich den Schlüssel zur geschlossenen Gesellschaft?

Nur der Himmel weiß, wie viele Komplimente ich der Hautevolee in den vergangenen Wochen gemacht habe. Meine Worte glichen Liebeserklärungen, ich dekorierte sie mit Sahne und Kirschen und schickte sie um den Globus. In der Hoffnung, dass ein Rockefeller anbeißt, verschanzte ich mich in meiner Wohnung. Ich wollte nicht mal einkaufen gehen, aus Angst, an der Kasse den Anruf meines Lebens zu verpassen. Meistens schwieg das Telefon. Wenn es klingelte, überbrachte es schlechte Nachrichten.

Die ehrlichste Absage bekam ich ausgerechnet von der Deutschen Bank. Anshu Jain gebe nur Fachinterviews, und deren Inhalte würde ich, mit Verlaub, niemals verstehen. Boris Becker? Keine Antwort. Steffi Graf? Keine Zeit. Dirk Nowitzki? Keine Chance. Niki Lauda? Absage ohne Gründe. Bernie Ecclestone? Sagt erst zu, landet dann wegen Bestechung vor Gericht und ist beschäftigt. Uli Hoeneß? Redet nicht mehr so gern über Finanzen. Flavio Briatore, Silvio Berlusconi, Mario Balotelli? Schweigen. Weltallspringer Felix Baumgartner? Vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt. Die SAP-Gründer Dietmar Hopp und Hasso Plattner? Stehen nicht zur Verfügung. Dietrich Mateschitz, der rote Bulle? Möchte im Hintergrund bleiben. Thomas Gottschalk? Terminliche Gründe. Günther Jauch? Nicht zu sprechen. Die Geissens? Auch ich habe meinen Stolz. Karl Lagerfeld? Ausgeschlossen. Carsten Maschmeyer? Hat Bedenken. Christian Völckers, der Immobilienengel? Er sei häufig im Ausland, heißt es. Ob ich ihn dort treffen könne? Keine Antwort. Friede Springer? Meint, sie passe nicht in meine Story. Ute Ohoven? Orientiert sich gerade neu. Gabriele Inaara Begum Aga Khan, die Charity-Prinzessin? Das ganze Jahr ausgebucht. Der Emir von Dubai? Schweigt. Der Sultan von Brunei? Stellt sich tot. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis? Still ruht der See. Ihr Sohn Albert, einer der jüngsten Milliardäre der Erde? Möchte nicht in der Öffentlichkeit stehen und in Ruhe Rennen fahren. Mark Zuckerberg? Der Facebook-Guru spricht nicht über Geld. Yahoo-Chefin Marissa Meyer? Will sich nicht beteiligen. Oracle-Boss Larry Ellison? Bedankt sich, muss aber «respektvoll» absagen. Die Witwe von Steve Jobs? Wünscht mir viel Glück. Kim «Dotcom» Schmitz? Gibt sich interessiert und meldet sich nie wieder. Der australische Milliardär, der gerade die Titanic nachbauen lässt? Vertröstet mich, verrät mir aber immerhin sein Erfolgsgeheimnis: dreimal am Tag gut essen. Bono? Extrem voller Terminkalender. Madonna, Lady Gaga, Beyoncé, P. Diddy, 50 Cent? Keine Antwort. Paul McCartney? Sein Assistent «Stu» ist very sorry. Mick Jagger? Begrüßt mein Interesse, muss jedoch absagen. Johnny Depp? Hat keine Lust. Paris Hilton? Freut sich, dass ich an sie gedacht habe, und gibt mir einen Korb. Fidel Castro? Meldet sich nicht. Wladimir Putin? Keine Reaktion aus dem Kreml. Präsident Obama? Klares Jein: Momentan sieht das Weiße Haus keine Chance, aber es behält mich im Auge.

Drei vermeintlich Reiche sagten dagegen sofort zu.

Nummer eins war der Wiener Opernkönig Richard Lugner. Allerdings machte mir seine Pressesprecherin ein Angebot, das ich nur ablehnen konnte: Ich dürfe Zeuge sein, wie Mörtel seine neue Party-CD «I bin der Lugner (olé olé)» verteilt. In einem Einkaufszentrum.

Bei Nummer zwei handelte es sich um einen ehemaligen Luxusautohändler, dessen Unternehmen zwangsversteigert wurde. Er war schwer krank und einsam. Jeden Sonntagnachmittag rief er mich an, um mir aus seinem Leben zu erzählen. Wie sehr er Kennedy bewunderte und wie gern er doch nach Übersee gegangen wäre. Wie er durch Südostasien gereist ist und eine Freiwilligenarmee gegen Pol Pot aufstellen wollte. Wie er einmal an einen Betrüger geriet und drei Millionen Mark verlor. Wie er sich einen Rolls-Royce kaufte, bevor er irgendwann die Gehälter seiner Mitarbeiter nicht mehr zahlen konnte. Wie er ausgerechnet am Geburtstag seines Vaters, des Firmengründers, einen Schlaganfall erlitt. Er war ein guter Erzähler und tat mir leid, doch seine Anrufe nahmen bedenklich zu. Ich solle ihn endlich besuchen, bekniete er mich, Montag, Dienstag, Mittwoch, ganz egal, Hauptsache, ich käme. Warum er es so eilig hatte? Ich schätze, der Mann brauchte Geld. Er wollte in mein Buchprojekt einsteigen.

Der Dritte, ein Baron mit erstaunlich vielen Vor-, Zu- und Nachnamen, wurde mein Brieffreund. Jede seiner Nachrichten begann mit «Verehrter Herr Gastmann» und endete mit einem übergroßen Familienwappen. Bald lud er mich in sein Herrenhaus ein, doch die Hüftoperation der Gemahlin verhinderte meine Lustreise. Seine Frau hatte miserable Blutwerte, die er mir wortreich schilderte. In der Verzweiflung nannte er mir die exakte Anzahl der Thrombozyten und Leukozyten, die Namen und Titel der behandelnden Ärzte, die Medikamente und ihre Dosen, die Privatklinik, die Station und sogar die Nummer des Patientenzimmers. Obwohl ich den Baron kaum kannte, schockte mich diese Nachricht. Genauso entsetzt war ich darüber, wie schnell er mir vertraute. So lernte ich meine erste Lektion: Auch Reiche brauchen Liebe. Auch Reiche sind Menschen. Zumindest einige von ihnen.

FREEZE

Martineau Corner. Ich spüre nichts mehr. Portago Corner. Kein Kummer, keine Sorgen, keine Angst. Auslauf. Wie sagte Gunter Sachs noch gleich? Du bereust nichts, was du getan hast. Nur das, was du nicht getan hast.

Der Sohn

VIER ENGEL FÜR ROLF SACHS

Meine Geschichte beginnt in London. Seit Monaten versuche ich, Kontakt zur Familie Sachs aufzubauen. Doch das ist schwer. Nach dem Selbstmord des Patriarchen haben seine Witwe Mirja und seine Söhne Rolf, Christian Gunnar und Claus Alexander beschlossen, dass alles gesagt ist und alles geschrieben wurde. Das Leben des großen Playboys, Künstlers und Sammlers sei erzählt, es gebe nichts hinzuzufügen. Wahrscheinlich haben sie recht. Aber wie fühlt man sich als Sohn von Gunter Sachs? Wie lebt es sich, wenn man im Schatten einer Ikone aufgewachsen ist? Wenn Brigitte Bardot die eigene Stiefmutter war? Wenn man Villen, Warhols und viele Millionen geerbt hat? Wenn jeder denkt, ihm sei doch alles nur in den Schoß gefallen – wie denkt er dann über sich selbst?

Rolf Sachs hat eine charmante Art, die Yellow Press auf Distanz zu halten. Er leistet sich vier Türsteher. Sie heißen Amy, Sophie, Georgia und Sameera, und wenn ich mit ihnen telefoniere, stelle ich sie mir immer in Catsuits und High Heels vor, mit einer Knarre am Gürtel und einem Messer in den Lackstiefeln. Ich glaube, Amy ist die Sexbombe, Georgia das Mauerblümchen, Sophie der Good Cop und Sameera der böse Wolf. Zusammen sind sie supersüß, supersexy und supertödlich – eine falsche Bewegung, und sie machen mit deiner Interviewanfrage kurzen Prozess. Die vier arbeiten in der britischen PR-Agentur Luchford APM, wo es vermutlich nach Mandelhonig und Pfirsich duftet. Sie vermarkten alles, was edel und elitär ist: Spitzenhotels, Yachtdesigner, Kapitalinvestmentfirmen, Luxusimmobilienmakler und internationale Künstler wie Rolf Sachs. Das Prinzip: Champagner-Journalisten rein, Schmierfinken raus.

Ich kannte mal so eine PR-Lady, sie war Großmeisterin im Presse-Kung-Fu und lehrte mich die Kunst der fünf trickreichen Anti-Journaille-Tiger-Techniken. Erstens: schnelles Überwältigen mit einer fadenscheinigen Absage. Zweitens: Schweigen. Den Gegner ignorieren und ins Leere laufen lassen. Drittens: die klebende Hand – vertrösten, vertrösten, vertrösten. Viertens: der Konterangriff. So lange nach weiteren Details fragen, bis der Reporter die Lust verliert oder seine Deadline abgelaufen ist. Fünftens: der vernichtende Schlag. So freundlich absagen, dass sich der Journalist noch für den Arschtritt bedankt.

Mit meiner Bitte um ein Interview lande ich zunächst bei Amy. Sie ist bezaubernd, meint aber, ich solle mich gedulden. Sachs sei nicht erreichbar. Sie könne seine Termine nicht einsehen, sagt sie, sorry, nein, wirklich nicht, sorry. Irgendwann bekomme ich es mit Sophie zu tun. Auch sie ist bezaubernd. Sophie hakt bei Amy nach, und Amy wiederum überbringt mir den Wunsch von Sameera, ich möge doch bitte Georgia meine Fragen an Sachs schicken. Und meine Bücher. Und meine Deadline. Ich schicke, schicke, schicke. Dennoch macht mir Sameera, die offenbar Kopf der Bande ist, wenig Hoffnung. Amy meldet sich gar nicht mehr. Georgia sowieso nicht. Wahrscheinlich sitzen die Ladys alle in einem Büro und haben großen Spaß mit mir. Das scheint die sechste Tiger-Technik im Presse-Kung-Fu zu sein, die Katze: so lange mit der Maus spielen, bis sie den Verstand verliert oder vor Erschöpfung umfällt.

Sophie allerdings überrascht mich. Vielleicht hat sie Mitleid oder ist einfach zu gutmütig für ihren Job. Auf einmal mailt sie mir eine Liste mit weiteren Klienten von Luchford APM und fragt, ob diese Promis nicht auch etwas für mich wären. Es ist ein Katalog aus attraktiven, vermögenden und sehr erfolgreich aussehenden Personen, die mir leider völlig unbekannt sind. Trotzdem bedanke ich mich und antworte, wie sehr mich all diese Millionäre inspirieren. Ich setze Amy und Sameera und Georgia in Kopie und löse damit etwas aus. Es wirkt, als würden sich Rolfs Engel in ihrer Agentur gegenseitig über den Haufen stöckeln. Sophie, Georgia und Amy schreiben mir eine aufgeregte E-Mail nach der anderen, plötzlich geht es um konkrete Termine. Vielleicht habe ich Hoffnungen geweckt, vielleicht interessiert sich sonst niemand für ihre Yuppies.

Jetzt meldet sich auch Sameera. Sie sagt, Sachs sei zu einem Interview bereit. Allerdings nur, wenn es ausschließlich um seine Arbeit als Künstler gehe und nicht um seinen Vater. Am Ende bekomme ich von den Interviewverhinderinnen drei Interviews. Eins mit Sachs. Eins mit einer Maklerin, die gerne Pelz trägt, und eins mit einem Immobilientycoon, der mal mit Kate Moss im Bett war. Er heißt John Hitchcox, und der Gesprächstermin ist ein Test.

 

John sieht aus wie der jüngere Bruder von Mick Jagger. Und der echte Mick ist schon in Johns Wohnzimmer aufgetreten. Damals klopften die Nachbarn wütend an seine Tür, John öffnete und hielt ihnen entgegen: «Well, would you tell Mr. Jagger to stop playing?» Micks Tochter Jade arbeitet als Inneneinrichterin in Johns Immobilienfirma Yoo. John hat das Unternehmen zusammen mit dem weltbekannten Designer Philippe Starck gegründet. Außerdem war John mit dem Supermodel Elle MacPherson zusammen, ist mit dem Sänger James Blunt befreundet und hat seiner aktuellen Flamme einen Heiratsantrag auf Necker Island gemacht, der Privatinsel des Milliardärs Richard Branson. John findet, dass er nicht schlecht aussieht. Er bezeichnet sich selbst als «quite aesthetic».

Warum er mir das alles erzählt? Ich schätze, er möchte mir imponieren, aber ich finde ihn nicht sonderlich beeindruckend. John Hitchcox, dessen Poster möglicherweise in jedem britischen Teenie-Schlafzimmer hängt, hat etwas Rohes, Aggressives. Als zwischendurch der Postbote mit einem Sackkarren über die Treppen seiner Eingangstür rumpelt, brüllt er: «Fuck! I hate this! These fucking guys! They walk in and smash the doors. Holy shit!» Mir fehlt die Ehrfurcht vor diesem Tycoon, der Designhotels, Luxuslofts und Edelresorts in über zwei Dutzend Ländern baut und wohl dazu beiträgt, dass die Mieten in Metropolen wie London unbezahlbar werden.

So frage ich einfach drauflos, plaudere mit ihm über alles Mögliche, nur nicht über seine Projekte, und der Multimillionär antwortet erstaunlich ehrlich. Er philosophiert über Gier. Geld infiziere die Menschen wie ein Virus, sagt er. Es fange in der Kindheit an, mit fünf, sechs, sieben Jahren, wenn die Kleinen merken, dass man mit Geld die bunten Jelly Beans im Supermarkt bekommt, mit viel Geld viele Jelly Beans und mit ganz viel Geld alle Jelly Beans, das gesamte Schokoregal, die komplette Eistruhe, den Supermarkt und, wenn man Lust hat, auch die Kassiererin Misses Smith. Manche würden am Geld wie an einer Nadel hängen, meint John, und nichts anderes könne diese Junkies mehr glücklich machen. Geld sei ein Zwang, eine Obsession, die gefährlichste Droge unserer Zeit, weil man mit ihr nicht nur Yachten, Bentleys und Liebe, sondern auch Macht kaufen könne.

Die Kurve, die unser Gespräch nimmt, ist bemerkenswert. Georgia, die uns in einem Kostümchen gegenübersitzt und eifrig mitschreibt, findet das auch. Allerdings aus einem anderen Grund. Wäre sie Amy oder Sameera, hätte sie das Interview längst abgebrochen. Stattdessen versucht Georgia, das Mauerblümchen, meine Aufmerksamkeit umzulenken. Wenn John in einem Nebensatz sein soziales Engagement erwähnt, zieht Georgia die Augenbrauen hoch, dreht ihren hübschen Kopf zu mir und flüstert ein spitzes «Aha!». Wenn John erzählt, dass seine Firma seit neuestem CO2-neutral arbeitet, was immer das heißen mag, applaudiert sie und ruft leise: «Yeahiiie!» Das Dumme ist nur: Ich finde ganz andere Dinge «Yeahiiie!», und so frage ich mich um Kopf und Kragen, ohne es zu merken.

 

Ich stehe in der überfüllten Londoner Tube und lese meine E-Mails, so wie es alle tun. Sophie hat sich gemeldet. Sie sei «so sorry», aber leider müsse ihre Klientin, die Maklerin mit dem Pelzmantel, absagen. Die Dame habe ein «Emergency Meeting». Als ich am Fulham Broadway aussteige und zum Atelier von Rolf Sachs wandere, erscheint Sameeras Nummer auf dem Display. Sie fragt, wie es mir geht. «Gut», sage ich und mache eine Pause. Wo ich denn sei, will sie wissen, und jetzt lüge ich und behaupte, ich hätte eben bei Sachs geklingelt. «Wieso?» Der böse Wolf holt Luft. «Okay, hören Sie zu: Die Fragen, die Sie John Hitchcox gestellt haben, können Sie Sachs nicht stellen. Er wird sich auf keinen Fall zum Thema Geld äußern. Es geht ausschließlich um seine Kunst. Und noch mal: Er wird nicht über seinen Vater reden. Haben wir uns verstanden?»

Klick. Das haben wir wohl.

Es regnet. Ich laufe über die King’s Road zwischen Chelsea und Fulham. Manche Einkaufsstraßen in London sind thematisch geordnet. Auf wenigen Metern entdecke ich fünf Lampenläden und zwei Shops, die Kronleuchter verkaufen. Ein anderer hat sich auf Ledersessel spezialisiert. Das «House of Mirrors», ein Spiegelgeschäft, steht neben «Picture This …», einer Boutique, die Bilderrahmen ins Schaufenster gehängt hat. Nichts als leere Rahmen, die darauf warten, dass man ihnen Inhalt und Sinn verleiht.

Vor zwei Jahren haben die Erben einen Teil der Gunter Sachs Collection bei Sotheby’s versteigern lassen. Etwa einen Tisch des britischen Pop-Artisten Allen Jones, dessen gläserne Platte auf dem Rücken einer barbusigen Plastiklady balanciert, die mit Fick-mich-Stiefeln und offenem Bustier im Doggystyle auf einem Lammfell kniet. Es waren nicht die begehrtesten Stücke, aber man hatte sie optimistisch auf zwanzig Millionen Euro geschätzt. Schon am ersten Abend erzielten sie mehr als das Doppelte, und die Zeitungen schrieben, Hype und Nostalgie hätten über die Vernunft triumphiert.

Vielleicht schwebte Gunter Sachs als Geist durch den Raum und verführte die Menschen, so wie er es immer getan hat. Er besaß etwas Magisches. Sein Leben war ein Kunstwerk, es gehört in die Hall of Fame der aufregendsten Biographien unserer Zeit. Die Frage ist nur, wie man es interpretiert und mit welchem Rahmen man es versieht. Ist es ein Ölgemälde mit kitschigem Goldrand oder nur ein Fetzen Papier im Passepartout der Ewigkeit?

Die Antwort gibt sich jeder selbst. Würde man drei Weise bitten, über das Leben von Gunter Sachs zu schreiben, sie würden drei verschiedene Geschichten erzählen.

Der Bewunderer berichtet vom freiesten Menschen, den der Planet je gesehen hat. Ein reicher Industriellensohn aus Schweinfurt wird zum Alter Ego der Nachkriegsdeutschen. Er zeigt ihnen die Welt. Unabhängig, mutig, gutaussehend, sprachgewandt, enorm talentiert, sportlich, humorvoll und hoffnungslos romantisch. Er hat Affären mit Mannequins und Schauspielerinnen, erobert das Herz der Ex-Kaiserin Soraya und lässt aus einem Helikopter tausend rote Rosen auf das Grundstück von Brigitte Bardot regnen. Die Bardot und der Lebemann lieben sich auf dem Heck seines Motorboots, bei voller Fahrt, das Steuer festgebunden, bereit, jeden Augenblick an einem Kliff zu zerschellen. Sachs tanzt auf der Grenze zwischen Himmel und Hölle, zwischen Genie und Wahnsinn. Alles, was er tut, geschieht mit Hingabe. Er ist ein begnadeter Fotograf. Er wird Europameister im Zweierbob, gründet ein internationales Modehaus, dreht Dokumentarfilme und schreibt im Alter ein Buch über Astrologie. Ohne ihn wäre St. Moritz ein Bergdorf, Saint-Tropez ein Fischernest und Sylt nur eine Insel.

Der Neidische wird von einem oberflächlichen und selbstgefälligen Nichtsnutz erzählen, der das unverschämte Glück hat, in zwei Industriedynastien gleichzeitig hineingeboren zu werden. Sein Urgroßvater ist Adam Opel, sein Vater SS-Obersturmbannführer und Gründer des Unternehmens Fichtel & Sachs, das damals Kugellager und Motorräder produziert. Für wen? Natürlich für die Nazis. Gunter kommt 1932 mit einem goldenen Löffel im Mund auf Schloss Mainberg zur Welt. Seine Familie finanziert das Elite-Internat in St. Gallen und das Studium in Lausanne. Sachs, der Chauvinist, vergnügt sich mit der Jeunesse dorée aus Königshäusern und Clans am Genfer See, muss nie hart arbeiten, reist von Strand zu Strand, führt ein Leben auf Wasserskiern und verzehrt schöne Frauen wie Bonbons – er lutscht sie aus und wirft das Papier weg.

Der Psychologe macht aus der Story ein Drama. Es beginnt mit der Ehe der Eltern, die arrangiert und schwierig ist. Gunters Mutter Elinor von Opel will nichts mit den dunklen Verbindungen ihres Ehemanns zu tun haben, der gerne mit Göring und Himmler auf die Pirsch geht. Sie lässt sich scheiden, es folgt ein Streit um das Sorgerecht, und Elinor flieht mit Gunter und seinem älteren Bruder in die Schweiz. Die Kinder werden ihren Vater jahrelang nicht sehen. Mit Anfang zwanzig lernt Sachs seine große Liebe Anne-Marie Faure kennen, wenig später heiraten die beiden. Kurz nach der Geburt ihres Sohnes Rolf geschieht ein Fiasko, die Ur-Katastrophe im Leben des Gunter Sachs. Seine Ehefrau wird operiert, ein harmloser Eingriff, doch man verwechselt die Schläuche für Sauerstoff und Narkosegas. Anne-Marie wacht nie wieder auf, und Gunter zerbricht vor Schmerz. Kein halbes Jahr später erschießt sich sein Erzeuger, der seit dem Krieg an Depressionen leidet. Gunter ist vaterlos, Witwer und mit seinem kleinen Sohn Rolf auf sich allein gestellt. Plötzlich trägt er die Verantwortung für Fichtel & Sachs – zusammen mit seinem Bruder, der in den Siebzigern bei einem Autounfall stirbt. Ein Leben lang wird Gunter Sachs nach Trost, Liebe und Anerkennung suchen. Als er im Alter von achtundsiebzig Jahren die Diagnose Alzheimer bekommt, erschießt er sich in seinem Haus in Gstaad.

Sachs hinterlässt seiner Frau, dem schwedischen Ex-Model Mirja, und seinen drei Kindern geschätzte fünfhundert Millionen Euro. Auf einer Gedenkfeier in St. Moritz schließt sein ältester Sohn Rolf mit den Worten: «Er verließ diese Welt, seine Familie und seine Freunde unendlich bereichert durch sein Leben. Dear father, Chapeau!»

 

Dieser Rolf Sachs sitzt mir gegenüber und sagt keinen Ton. Vielleicht hat Sameera ihn vor mir gewarnt. Nach ihrem Drohanruf habe ich zugesehen, so schnell wie möglich in sein Atelier zu kommen, bevor Madame die Kavallerie ruft. Es liegt in einem Backsteinbau auf dem Gelände einer alten Gasfabrik. Ich bin viel zu früh, und das ist wahrscheinlich «typisch deutsch». Genau so heißt die Ausstellung, die Sachs gerade für ein Museum in Köln vorbereitet. Er experimentiert gerne mit Materialien und Stoffen: von Holz zu Dampf, von Glas zu Neon, von Tinte zu Filz. Seine Kunst ist alles, nur nicht abstrakt. Er hat einen Gartenzwerg aus Kohle gepresst und einen Tannenzweig aus Bronze gießen lassen. Er hat einen Schützenverein gebeten, auf Gasthofstühle zu feuern. Sachs sammelt Stühle. An der Decke seines Ateliers hängt einer, der wie Wachs zu zerfließen scheint. Ein anderer wirkt, als wolle er davonlaufen. Manche nennen ihn den «zwinkernden Designer». Er hat einen Wanderstock aus Kastanienholz gefertigt, der einen Anfang, aber kein Ende hat: ein Griff oben, ein Griff unten. Die Souvenirplaketten auf dem Schaft tragen nicht die Ortsnamen Winterberg, Fulda oder Garmisch, sondern Mallorca oder Phuket. Er hat zwei Schlitten zusammengeschraubt. Voilà, sie sind jetzt ein Tisch.

Sachs bittet mich in sein Büro, schließt die Tür, und nun sitzen wir im Dämmerlicht einer Lampe, die über einem Zeichentisch baumelt. Er hat mir einen Kaffee bringen lassen. Er hat mir ein Glas Wasser eingeschenkt. Er hat mir einen Stapel Papier und einen Filzstift hingelegt, sogar die Kappe abgezogen und auf das hintere Ende gesteckt. Er hat eine wunderbare Atmosphäre mit zwei Schönheitsfehlern geschaffen. Erstens: In meinem Kaffee schwimmt eine Fruchtfliege (das finde ich weniger schlimm). Zweitens: Sachs sitzt einfach nur da, hört zu, sieht mich an und schweigt (das könnte ein Problem werden).

Er trägt ein blaues Hemd, in das ganz winzig seine Initialen eingestickt sind. Sein zitronengelber Schal könnte derselbe sein, mit dem sein Vater manchmal abgelichtet wurde. «GS» legte ihn wie eine Stola über das Sakko und ließ beide Enden locker nach unten hängen. «RS» hat ihn wie eine Würgeschlange mehrmals um den Hals gewickelt. Das sieht lustig aus. Kopf und Körper sind getrennt, als hätte man sein rundliches Gesicht mit Photoshop auf den Rumpf montiert. Bis eben trug Sachs noch eine seltsame Ozzy-Osbourne-Brille. Ihre Gläser waren violett und dicker als das graue Gestell. So viel zu den Extravaganzen. Ansonsten sieht er im besten Sinne völlig normal aus. Sein Vater war ein Beau, er selbst wirkt bodenständig. Der größte äußerliche Unterschied zwischen beiden ist wohl, dass Rolf Sachs mit seinen knapp sechzig Jahren fast keine Haare mehr auf dem Kopf hat.

Ich meine, mich rechtfertigen zu müssen, und versuche zu erklären, warum ich als primitives Gottesgeschöpf unbedingt in die vermeintlich sagenhafte Welt der Reichen reisen möchte, um etwas über die Magie oder den Fluch des Geldes zu erfahren, oder was auch immer, keine Ahnung, wohin das führt, vielleicht ist mein Vorhaben auch naiv und zum Scheitern verurteilt, auf jeden Fall dreht sich mein Schwall aus Worten, den ich Sachs entgegenschleudere, im Kreis, er verheddert, verklebt und verwickelt sich zu einem Knäuel, ja zu einem echten Wortmonster, und ich gerate in einen langen, viel zu langen Monolog, der noch weit epischer, unverständlicher und missglückter ist als dieser Satz.

Erst als ich – warum auch immer – von meiner Familie erzähle, taut Sachs auf. Meine Mutter hat Design studiert, doch als sie mit mir schwanger wurde, konnte sie sich die Kunst nicht mehr leisten. Sie übernahm den Fahrradladen meiner Großeltern und verbannte ihre Malereien und Zeichnungen auf den Dachboden, wo sie noch heute liegen.

Sachs versteht, was ich ihm sagen möchte, und antwortet mit einem Märchen. Es ist das Märchen vom goldenen Topf. Normalerweise bringt eine Dynastie in hundert Jahren maximal ein Genie hervor, aber in seiner Familie gab es gleich mehrere. Mit ihren Erfindungen schöpften sie ein Riesenvermögen und füllten den Topf bis zum Rand. Und jetzt? Jetzt sitzt er auf seinem Schatz wie der Zwerg am Ende des Regenbogens. Hirnforscher behaupten, dass Geldsorgen unser Denkvermögen blockieren. Sachs denkt völlig frei. Der Goldtopf verleiht ihm Zauberkräfte. «Sonst müsste ich ja sagen: Hey, das ist eine tolle Idee, aber leider lässt sie sich nicht verkaufen.» Das viele Geld ist sein Glück, aber auch seine Bürde. Eigentlich, meint Sachs, sei er nur dazu da, den Schatz zu hüten und eines Tages weiterzureichen. Deshalb hat er Investmentbanking gelernt. «Familienpflicht» nennt er das. Ein typisch deutscher Begriff. Meine Pflicht lautete: lieber tot als Fahrräder verkaufen.

Money Talks. Seine Augen leuchten nicht, wenn es um Geld geht. Anders ist es, wenn Sachs über Kunst spricht. Dann nimmt er eine halbvolle Wasserflasche in die Hand und meint, er fände es jetzt unheimlich spannend, darin einen Pingpongball schwimmen zu lassen. Warum? Einfach so. Er will seine Arbeit nicht erklären, sondern Gefühle erzeugen. Die Leute sollen staunen, schmunzeln, lachen, an Freundschaft, Sex, whatever denken, und die Journalisten mögen schreiben, was sie wollen. Allmählich scheint er sich in ein kleines Kind zu verwandeln, das zum ersten Mal im Theater war und mir von Peterchens Mondfahrt erzählt. Einmal, flüstert Sachs, habe er ein Bühnenbild gestaltet. Es bestand aus einer Kerze. Nur aus einer einzigen Kerze, die sich in Zeitlupe vom Himmel auf den Boden senkte und jedes Tuscheln, jedes Räuspern und jedes Husten in sich aufsaugte. Der Saal war plötzlich mucksmäuschenstill, und eine winzige Flamme füllte einen riesigen Raum.

«Ziehen Sie Glück daraus?», frage ich.

«Das ist eine sehr schöne Frage», lächelt er, und nun hören wir gemeinsam einem Jet zu, der über das alte Gaswerk hinwegzieht. Fulham liegt in der Einflugschneise von Heathrow. Der Moment dauert eine Ewigkeit, Jahre vergehen, wir schweigen zusammen, und das ist okay. Rolf Sachs hat dieselbe Aura, die auch Gunter Sachs nachgesagt wird. Er weiß, wie man Gäste verzaubert, trotz Fruchtfliege in der Kaffeetasse.

«Sameera …», beginne ich, und mir ist klar, dass der Einsatz hoch ist. Entweder zerstöre ich jetzt das Interview, oder ich kann es auf eine noch tiefere Ebene führen. Ich bin mir nicht sicher und setze noch einmal an. «Ihre Agentur hat mir sehr deutlich gemacht, dass ich Sie nicht nach Ihrem Vater fragen soll. Das akzeptiere ich. Verraten Sie mir nur, warum.»

Sachs blickt verlegen auf den Tisch und streicht mit einer Hand über das Holz. «Ach ja, ich bin nun mal sehr blauäugig.» Manchmal öffne er sich zu schnell. Er brauche ständig Leute um sich herum, so sei er es seit dem Internat gewohnt, und einige Menschen würden das ausnutzen. Seit dem Tod des Vaters seien ein Haufen Reporter zu ihm gekommen, die angeblich über seine Kunst reden wollten. «Aber sobald sie bei mir waren, ging es nur um den Vater.»

Sachs sagt immer «der Vater». Der Vater habe ein tolles Leben gehabt. Der Vater sei unglaublich frei gewesen. Und in jedem «der Vater» schwingen Glück, Melancholie und Sehnsucht nach Anerkennung. Er hat das Leben des Vaters einmal als «bunt» bezeichnet. Welche Farbe hat seins? Sachs antwortet, es sei wohl ein Mix aus Holz, Filz, Rot und Edelmetall. Danach lädt er mich Hals über Kopf zum Bobfahren nach St. Moritz ein, und ich frage mich, ob ich besser bin als die Yellow Press.

 

Wochen vergehen. Immer wieder versuche ich, Rolf Sachs zu erreichen. Ich schreibe ihm, ich schreibe seinem Studio, doch erhalte keine Antwort. Vielleicht ist der böse Wolf schuld. Vielleicht ärgert sich Sachs, dass er sich wieder so schnell geöffnet hat. Vielleicht hat er auch zu viel zu tun.

Irgendwann reise ich nach Köln, um mir die Ausstellung «typisch deutsch?» anzusehen. Sachs ist drei Jahre mit diesem Thema schwanger gegangen. Der Grund mag in seiner Kindheit liegen. Nach dem frühen Tod der Mutter wuchs er bei seiner Großmutter im Taunus auf. Sie war sehr deutsch, eine richtige Opel, bei ihr herrschten Zucht und Ordnung. Manchmal musste er stundenlang still bei Tisch sitzen, bis er endlich aufgegessen hatte. Sie klemmte dem Jungen Schulbücher unter die Achseln, damit er lernte, anständig mit Messer und Gabel umzugehen.

Vor dem Eingang des Museums stehen sieben bunte Mülltonnen in einer Reihe. Sachs hat jede einzelne mit einem Label versehen: Bürokratie, Spießigkeit, Pingeligkeit, Schadenfreude, Sturheit, Intoleranz und Neid. Seinen Kohle-Gartenzwerg hat er «Fleiß» getauft, den Bronze-Tannenzweig nennt er «Bodenständig», die zerschossenen Stühle heißen «Brauchtum». Über einer Balustrade hängt ein riesiges Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel. Er hat eine Waage aufgestellt, die Herz und Hirn balanciert.

Amy, Sophie, Georgia und Sameera sind weit. Als ich das Museum betrete, laufe ich Sachs direkt in die Arme. Er kann mich zunächst nicht einordnen. «Woher kenne ich Sie noch mal?» Dann freut er sich umso herzlicher, zumindest tut er so. Momentan begegnet er einem Haufen Journalisten, alle Zeitungen schreiben über seine Werke. Vielleicht, Daumen drücken, werden sogar die Tagesthemen über ihn berichten. Endlich, endlich geht es mal nicht um den Vater, sondern um ihn, den Sohn.

Am Abend tritt Sachs bestens gelaunt in einer deutschen Talkshow auf. Er trägt ausnahmsweise einen bunten Schal, und man hat ihn eingeladen, um über seine Kunst zu sprechen. Frage eins: Als was würden Sie Ihren Vater Gunter Sachs bezeichnen? Frage zwei: Was haben Sie außer seinem Vermögen von ihm geerbt? Frage drei: Was war Gunter Sachs für ein Vater? Frage vier: Wenn ich aus so reichem Haus komme, muss ich mir dann noch Gedanken machen, was ich später beruflich tue? Als die Moderatorin zu Frage fünf anhebt, verzieht Sachs das Gesicht, als würde der Leibhaftige mit nackten Füßen über seine Eingeweide laufen, und irgendwo in London fletscht der böse Wolf die Zähne.

 

In St. Moritz scheint an dreihundertzweiundzwanzig Tagen im Jahr die Sonne. Heute aber schneit es. Es hat schon die ganze Nacht geschneit. Die Dächer des Dorfs sind meterhoch bedeckt. Seit sieben Uhr morgens quälen sich die Räumfahrzeuge durch die engen Gassen. Eine Legion aus Fräsen, Baggern, Raupen, Unimogs und Tiefladern mit Schneeketten, die das Weiß abtransportieren. Das ist der wahre Sound von St. Moritz. Nicht die High Heels, nicht die klingenden Schampusgläser, nicht das Russisch an jeder Ecke, sondern die kratzenden Schaufeln auf dem Pflaster, die heulenden Motoren und das Fiepen, wenn die Maschinen zwischen den Luxushotels und Edelboutiquen zurücksetzen. Die Pelze in den Schaufenstern tragen keine Preisschilder, und doch macht dieser Ort aus seinem Reichtum kein Geheimnis. Allein der Schriftzug «St. Moritz», eine eingetragene Marke, spült jedes Jahr eine halbe Milliarde Euro in die Kassen der Gemeinde. Er prangt auf Silberbesteck und Hundehalsbändern.

Rolf Sachs ist Präsident des Saint Moritz Bobsleigh Clubs – wie der Vater. Rolf Sachs führt den Dracula’s Ghost Riders Club – wie der Vater. Rolf Sachs stürzt sich gerne kopfüber auf einem Schlitten den Cresta Run hinab. Eine selbstmörderische Rodelbahn nur für Gentlemen, die der Vater einmal in einem zugenagelten Sarg bezwingen wollte. Er kam bis zur Shuttlecock. Wer zu schnell in diese berüchtigte Kurve brettert, fliegt aus dem Eiskanal. Wer sie überlebt, wird automatisch Mitglied im Shuttlecock Club, der jedes Jahr ein Diner veranstaltet. Schon Gianni Agnelli hat ihn geführt. Genauso Gunter Sachs. Natürlich auch sein Sohn.

Rolf Sachs ist seit zwei Wochen on «Top of the World», so nennt sich St. Moritz selbst. «Rufen Sie an, wenn Sie da sind», hat er mir gesagt. Aber er findet wenig Zeit und Ruhe. Sachs ist der Patron dieser Stadt. Ständig klingelt sein Handy, gerade schon wieder. Es gibt Streit mit einem Fernsehsender, der an einem neuen Film über den Vater arbeitet. «Ein echter Hustle», stöhnt Sachs. So wie ich den Anruf verstehe, haben es die Autoren versäumt, das Buch «Die Akte Astrologie» zu erwähnen. Gunter Sachs hat darin versucht, den Einfluss der Sterne auf unser Denken, Fühlen und Handeln wissenschaftlich zu belegen. Rolf Sachs ist das wichtig. Vielleicht sind Mars oder Jupiter schuld an meiner Misere. Ich bin seit vier Tagen in St. Moritz und kriege ihn kaum zu fassen. Ist er da, ist er schon wieder weg. Bis die Sterne oder der Zufall helfen.

Auf der Jagd nach einer bezahlbaren Mahlzeit entdecke ich sein Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Man kann es kaum verwechseln: ein graublauer Fiat mit Rallyestreifen und einem großen geflochtenen Korb auf dem Dach. Vor dem Fahrzeug steht ein Verkehrspolizist, der sich das Nummernschild notiert. Ich schreibe Sachs eine Nachricht, die Amy, Sophie, Georgia und Sameera wahrscheinlich «Emergency-SMS» nennen würden, und er eilt aus einem Hauseingang. Leider zu spät. Der Beamte entschuldigt sich, aber Vorschrift sei Vorschrift, auch für jemanden mit einem so großen Namen. Bürokratie und Ordnung sind eben nicht nur typisch deutsch.

Sachs ist not amused. «Wollen Sie mitfahren?», ruft er mir zu. «Klar!», antworte ich und frage nicht, wohin es geht. Heute trägt der Maestro sein Dracula-Outfit: schwarze Hose und schwarzes Sakko mit blutroten Knöpfen. An der Frontscheibe seiner Rennschüssel klebt eine kleine Vampirfledermaus. Sachs rast den Berg hinauf wie ein Besessener. Er lässt seinen ganzen Frust an der Straße aus, sie kann einem leidtun. Hinter dem Carlton Hotel biegen wir scharf rechts in eine Schneise durch den tiefen Schnee und schlittern vor das ehemalige Olympiastadion von St. Moritz. Ein breites, ultraflaches Haus mit einem Turm, an dem zwei Balkone und eine große Uhr hängen. Auf seinem Dach war früher die Tribüne. Jahrzehntelang ist das Gebäude verrottet, Sachs hat es restauriert und daraus sein Hauptquartier gemacht. Er parkt den Fiat und drückt den Strafzettel einem Hausangestellten in die Hand. «Da! Nun schau, was du verbrochen hast», scherzt er. «O nein, ich Idiot, habe ich denn schon wieder im Parkverbot gehalten?», lacht der Mann. «Wo steht mir der Kopf?»

Sachs hängt seine gelbe Würgeschlange an eine Garderobe mit Dutzenden Schals. Das Haus ist so hell, dass man darin schneeblind werden könnte. Die Fenster sind riesig, ringsherum ist alles weiß. Wir gehen in die Küche und blicken in ein tannenbewachsenes Tal. Irgendwo dort unten müssen die gewöhnlichen Menschen leben. Der Hüter des goldenen Topfes wohnt auf dem Dach der Welt. Er hat alles in den Farben seines Lebens dekoriert: Die Wände sind rot, der Boden braun, die Geräte aus Edelmetall, die Türen und der Esstisch aus hellem Holz. Überall stehen Stühle, und keiner ist wie der andere. Auf einem von ihnen hockt ein hagerer grauer Mann mit Jeans und nackten Füßen, frühstückt und tippt Zahlen in seinen Laptop. Er ist offenbar ein Freund der Familie und wohnt im Turmzimmer. «Oben schlafe ich, unten kacke ich», sagt er. Neben ihm liegt eine Visitenkarte von Sotheby’s. Er jongliert mit hohen fünfstelligen Beträgen und zeigt sie mir ganz offen. Achtzigtausend plus, fünfundsechzigtausend minus. Worum es geht, verrät er nicht.

Jetzt schneit die Gattin eines Schweizer Kunsthändlers durch die Tür. Sie möchte Rolf Sachs für eine Menschenrechtskampagne gewinnen. «Du hast das schönste Haus von St. Moritz», schwärmt sie. «Bullshit. Du hast das schönste Haus der Erde!», ruft der frühstückende Online-Banker. Künstler und Kunsthändlergattin verschwinden nach nebenan, und der Freund erklärt mir die Welt: Alle Japanerinnen sind hübsch, alle Chinesinnen sind hässlich, alle Deutschen sind irre. Letztens habe er bei Meininger am Prenzlauer Berg übernachtet und den Hipster an der Rezeption gefragt: «Seid ihr eine Jugendherberge oder ein Hotel?» – «Beides!», habe der geantwortet und ihm eine Broschüre mit Ausflugstipps in die Hand gedrückt: Third-Reich-Tour, Sachsenhausen-Tour, Clubbing-Tour. «Ich sag dir was: Nach dem Dritten Reich, dem KZ und dem Clubbing rutscht dann der Sechzehnjährige auf der Plastikmatratze über die Vierzehnjährige, und drei andere gucken zu, machen Fotos und laden sie bei Facebook hoch.»

Smalltalk. Man könnte es auch Bullshit-Talk nennen. Wer wir sind und was wir beruflich machen, spielt keine Rolle. Wir sind Friends von Rolf. So ähnlich muss es bei Gunter Sachs gewesen sein: Du hast ihn kennengelernt, er fand dich nett, er nahm dich mit, stellte dich ein paar Leuten vor, man scherzte, man plauderte, vielleicht schlief man miteinander, und dann trennte man sich.

Die Tür zum Nebenzimmer öffnet sich wieder. Sachs möchte uns zum Essen einladen und fragt, was wir wollen. Er selbst hat Lust auf Käsefondue, damit er am Nachmittag gut ruhen kann. Er wirkt müde und genervt. Zu viele Worte. Darunter muss mal wieder die Straße leiden, auch die Hausangestellten kommen nicht ungeschoren davon. Beim Anfahren touchiert er einen von ihnen liebevoll mit dem Kotflügel. Wieder pflügt Sachs durch den Schnee, als wäre das Leben nur eine Bobfahrt. Wir landen in einer Schweizer Stube mit Kaminfeuer, und kaum betreten wir das Lokal, springen zwei Pärchen von ihrem Tisch auf.

«Das gibt’s doch nicht! Rolf! Also, wenn man vom Teufel spricht!» Es sind alte Freunde, die Sachs ewig nicht gesehen hat. Vielleicht sind es auch nur Bekannte. Wir schieben zwei Tische zusammen, Sachs bestellt Weißwein und Fondue für alle, und schon wieder rollt eine Lawine aus Worten auf ihn zu. Freizeitstress. Eine der Frauen erzählt von ihren Häusern in Salzburg und anderen wichtigen Besitztümern. «Wie war’s beim Russen?», fragt die zweite, und Sachs setzt zu einer Story über einen Oligarchen an, der in einer unvorstellbar großen ober- und unterirdischen Villa in der Schweiz hausen soll. Allein der Keller messe viertausend Quadratmeter, und im Eingang stünden zwölf ausgestopfte Eisbären in allen Posen mit Weihnachtsmützen auf dem Kopf. Ein Profipianist untermalte das gemeinsame Diner, dessen Hauptgang angeblich aus einer einzigen Ravioli bestand. Sie baumelte an einer Wäscheleine über dem Teller.

Sachs ist unterhaltsam, großzügig, geistreich, charmant und witzig. Er schenkt jedem nach, und weil ich viel zu weit weg vom Fonduetopf sitze, spießt er mit meiner Gabel Brotstücke auf, tunkt sie in den Käse und reicht sie mir mit einem Lausbubenlächeln. Nach dem Essen legt er den Kopf in beide Hände und massiert seine hohe Stirn. Er brauche mal eine Auszeit, seufzt er, und jemand aus der Runde meint, er könne doch ins Kloster gehen und vierzehn Tage Bibelverse rezitieren. «Kloster ist nicht mein Fall», antwortet er, «erblich bedingt.»

 

Würde man drei Weise bitten, über das Leben von Rolf Sachs zu schreiben, sie würden drei verschiedene Geschichten erzählen.

Der Bewunderer berichtet von einem der freiesten Menschen, die der Planet je gesehen hat. Er ist ein Weltmann. Reich, unabhängig, sprachgewandt, humorvoll und beliebt. Er hat sich als Designer einen Namen gemacht und einen eigenen Stil geprägt. Ohne ihn wären zwei Schlitten nur zwei Schlitten.

Der Neidische erzählt von einem Nichtsnutz, der das Glück hat, in eine wohlhabende Familie hineingeboren zu werden. Er muss nie hart arbeiten und hat deshalb nur dummes Zeug im Kopf, genau wie sein Vater. Wäre sein Name nicht Sachs, es würde sich niemand für einen Gartenzwerg interessieren, der aus Kohle gepresst wurde.

Der Psychologe macht aus seiner Story ein Drama. Die Mutter stirbt, als Sachs zwei Jahre alt ist. Sein Vater ist überfordert und lädt ihn bei der autoritären Großmutter ab. Der Großvater erschießt sich, und auch der Vater jagt sich eine Kugel in den Kopf. «RS» will das Erbe von «GS» erhalten, doch er ist anders. Gunter Sachs war ein Playboy, Rolf Sachs ist seit drei Jahrzehnten verheiratet. Gunter Sachs war Maximalist, Rolf Sachs ist Minimalist. Aber was er auch tut, er wird immer der Sohn des Vaters sein. Er ist der Tannenzweig, den man in Bronze gegossen hat.

Und so ist es mit allen Millionären, die ich auf meiner Reise treffen werde. Man kann sie auf mindestens drei Arten lesen. Jede enthält etwas Wahrheit.

Nummer sieben

DER LETZE WUNSCH DES SCHRAUBENKÖNIGS

Jemand hatte mich gewarnt. «Ich hoffe für Sie, dass er einen guten Tag hat», orakelte der Jemand, und ich wollte wissen, was er damit meint. «Na ja», antwortete er, «der Kerl ist launisch. Manchmal hat er keine Lust. Dann sitzt er einfach nur da und schweigt. Sie hätten es leichter, wenn Sie eine Frau unter dreißig wären.»

Jetzt ist es so weit. Der launische Kerl hockt neben mir an einem runden Intarsientisch, und die Abendsonne, die sich in den Panoramafenstern des Büros spiegelt, taucht den Himmel in die Farben von Fünfhundertern. Hinter ihm stehen Modelle seiner fünf Privatjets. Die Originale parken auf seinem eigenen Airport. Er fliegt sie selbst und ist gerade von einem Businesstrip durch Asien zurück: von Schwäbisch Hall nach Shenyang, von Shenyang nach Tianjin, von Tianjin nach Shanghai, von Shanghai nach Colombo, von Colombo nach Chennai und von dort aus wieder in die Heimat. Das alles in dreizehn Tagen. Er residiert auf einem Schloss aus dem fünfzehnten Jahrhundert und lässt sich manchmal wie ein Feudalherr porträtieren. Er hat sechzehntausend Kunstwerke gesammelt und vierzehn Museen auf der ganzen Welt gegründet. Er besitzt die «Vibrant Curiosity», eine fünfundachtzig Meter lange Hundert-Millionen-Dollar-Yacht mit einem gläsernen Atrium, einem eigenen Beach-Club und vierzehn Gästezimmern. Er hat mehrere Ehrendoktorwürden und könnte mit seinen Bundesverdienstkreuzen einen Tannenbaum schmücken. Er beschäftigt fünfundsechzigtausend Mitarbeiter. Sein Unternehmen macht zehn Milliarden Euro Umsatz. Es liegt an einer Straße, die seinen Namen trägt. So also fühlt es sich an, mit einem der zehn reichsten Deutschen Kaffee zu trinken.

Die Top Ten haben drei Dinge gemeinsam: Sie sind Milliardäre, sie kommen aus Familienunternehmen, und sie verstecken sich irgendwo hinter hohen Mauern und gepanzertem Glas. Deshalb ranken sich so viele Legenden um sie. Nummer eins ist ein Phantom. Es gibt nicht mal ein aktuelles Foto von ihm. Trotzdem habe ich mir den Spaß erlaubt und bei Aldi Süd ein Interview mit Karl Albrecht angefragt. Minuten später kam die Absage. Der Vierundneunzigjährige stehe grundsätzlich nicht zur Verfügung, hieß es. Bei Nummer zwei, der Erbengemeinschaft seines Bruders Theo Albrecht, Aldi Nord, ist es ähnlich. Nummer drei ist ein gewisser Dieter Schwarz. Ihm gehören Lidl und Kaufland, und soweit ich weiß, sind nur zwei Aufnahmen von ihm bekannt: ein uralter Schnappschuss mit Tropfenbrille und gepunkteter Krawatte und ein Paparazzibild vor einem Buchsbaum in einem Hauseingang. Auf Rang vier ist ein schweigsamer Parfum- und Putzmittelclan. Die Reimanns stecken hinter Calgon, Cilit Bang und Clearasil, gelten als begeisterte Skifahrer und leidenschaftliche Steuertrickser. Susanne Klatten ist Nummer fünf. Die BMW-Erbin geriet ins Licht der Öffentlichkeit, als ein Liebhaber sie mit unfeinen Fotos und Videos erpresste. Der Sprecher von Nummer sechs rief mich persönlich zurück, um sich über mich zu amüsieren. «Ihnen ist doch wohl klar», sagte die Stimme am Telefon, «dass Michael Otto ganz selten Interviews gibt. Warum sollte er ausgerechnet mit Ihnen reden?» Auf diese Frage fand ich keine Antwort und schwieg. «Ach, ich weiß auch nicht», schob er nach, «aber irgendwie fände ich es super. Ich frag ihn mal, ob er’s macht.» Leider machte es der Katalogkönig nicht. Und Nummer sieben? Ließ mich zappeln. Wochenlang. Dann sagte er zu, aber nur unter einer Bedingung: Ich müsse ein halbes Jahr auf den Termin warten.

Jetzt sitzt er also neben mir und tut etwas, das er eigentlich hasst. Er schwätzt. Ich muss einen guten Tag erwischt haben. Einen sehr guten. «Net schwätze, schaffe!», diktiert er seinen Angestellten gewöhnlich, aber heute ist er selbst kaum zu bremsen. «Ich glaube, er mag Sie», flüstert die Pressesprecherin, und es klingt, als würden wir über einen Berggorilla, einen Schneetiger oder eine andere seltene Art sprechen. Die Assoziation ist gar nicht so abwegig. Noch nie bin ich einer solchen Kreatur, der Spezies Milliardär, persönlich begegnet. Weltweit gibt es nur etwa fünfzehnhundert Exemplare, doch ihre Gattung ist alles andere als bedroht. Gerade in Krisenzeiten vermehrt sie sich ganz prächtig.

Ich versuche zu erkennen, ob man dem Geschöpf Geld und Macht in den Augen ansehen kann, finde darin aber etwas anderes: Charme. Der Superyacht-Kapitän, dessen Büste im Eingangsbereich der Unternehmenszentrale steht, ist ein kleiner Mann mit Lachfalten und schütterem Grau, den ich in die Wange knuffen möchte, wenn er mir erzählt, dass er am liebsten seine Linsen mit Spätzle und Saitenwurscht mag. «Aber nicht diesen Drei-Sterne-Pipifax und diese Firlefanz-Kocherei, wo alles in sieben Farben auf dem Teller brilliert, und schmecken tut’s dann grausam.» Wenn ich jedoch zu einer Frage über Gerechtigkeit ansetze, seufzt er nur und antwortet mit Darwin. Dann spricht er in knappen Sätzen von Auslese, Reinigungsprozessen und Survival of the Fittest. Das ist seine kalte Seite. Nummer sieben ist ein Wechselblüter.