Frances Hodgson Burnett


Der kleine Lord

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-30-8


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Kapitel 1 - Eine große Überraschung


Cedrik selbst wußte kein Sterbenswörtchen davon, nie war etwas Derartiges in seiner Gegenwart auch nur erwähnt worden. Daß sein Papa ein Engländer gewesen, wußte er, weil seine Mama ihm das gesagt hatte, aber dann war dieser Papa gestorben, als er noch ein ganz kleiner Junge gewesen, und ihm war von demselben nicht viel mehr in Erinnerung geblieben, als daß er eine hohe Gestalt und blaue Augen und einen langen, schönen Schnurrbart gehabt und daß es herrlich gewesen, auf seinen Schultern in der Stube herumzureiten. Nach des Vaters Tode hatte Cedrik dann die Entdeckung gemacht, daß es am allerbesten sei, mit der Mama gar nicht von ihm zu sprechen. Als der Papa erkrankte, war Cedrik fortgebracht worden, und als er wieder nach Hause kam, war alles vorüber gewesen, und sein Mütterchen, das auch eine schwere Krankheit durchgemacht, fing eben wieder an, in ihrem Lehnstuhle am Fenster zu sitzen; allein sie war bleich und mager und all die lustigen Grübchen waren aus ihrem hübschen Gesichte verschwunden; die Augen sahen so groß aus und so traurig, und ihr Kleid war ganz schwarz.

"Herzlieb," sagte Cedrik -so hatte sein Papa sie immer genannt, und der kleine Junge machte es ihm nach -"Herzlieb, geht's Papa besser?"

Er fühlte, wie ihr Arm zitterte, wandte plötzlich sein lockiges Köpfchen und sah ihr ins Gesicht, und als er sie so ansah, war's ihm, als ob er selbst bald zu weinen anfangen müsse.

"Herzlieb," fragte er noch einmal, "ist Papa wohl?"

Dann gab ihm sein kleines zärtliches Herz plötzlich ein, beide Ärmchen um den Hals der Mutter zu schlingen und sie wieder und wieder zu küssen und seine weiche, warme Wange fest an die ihrige zu schmiegen, und sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter und hielt ihn umschlungen, als ob sie ihn nie mehr von sich lassen wollte, und weinte bitterlich.

"Ja, ihm ist wohl," schluchzte sie; "ihm ist ganz, ganz wohl, aber wir -wir haben nichts mehr auf der Welt als einander. Keine Menschenseele sonst."

So klein er war, hatte er doch begriffen, daß sein großer, schöner, junger Papa nicht mehr wiederkommen werde, daß er tot sei, wie er es von andern Leuten auch schon hatte sagen hören, obwohl er nicht recht wußte, was das für ein seltsames Ding war, das so viel Herzeleid in seinem Gefolge hatte, und weil sein Mütterchen immer weinte, wenn er von dem Papa sprach, kam er ganz in aller Stille auf den Gedanken, daß es besser sei, nicht von ihm zu sprechen, und allmählich fand er auch, daß es besser sei, sie nicht ganz ruhig dasitzen und zum Fenster hinaus oder ins Feuer starren zu lassen. Bekannte hatten er und seine Mama nicht viele, und man konnte ihr Leben sehr einsam nennen, obgleich Cedrik davon keine Ahnung hatte, bis er älter wurde und man ihm dann sagte, weshalb sie keine Besuche erhielten.

Er erfuhr dann, daß seine Mama eine Waise war und ganz allein in der Welt gestanden hatte, ehe sie Papas Frau geworden. Sie war sehr hübsch und hatte als Gesellschafterin bei einer reichen alten Frau gelebt, die nicht gütig gegen sie gewesen war. Eines Tages hatte Kapitän Cedrik Errol, der Besuch bei der Dame machte, sie die Treppe hinaufeilen sehen mit schweren dicken Tränentropfen an den langen Wimpern, und dabei hatte sie so unschuldig und traurig und wunderlieblich ausgesehen, daß der Kapitän es nicht mehr hatte vergessen können. Dann waren mancherlei merkwürdige Dinge geschehen, sie hatten einander kennen gelernt und hatten sich sehr lieb und wurden schließlich Mann und Frau, obwohl diese Heirat ihnen die Mißbilligung verschiedener Personen zuzog. Am meisten erzürnt darüber war der Vater des Kapitäns, der in England lebte und ein sehr reicher und vornehmer Herr von leidenschaftlicher Gemütsart und einer heftigen Voreingenommenheit gegen Amerika und die Amerikaner war. Kapitän Cedrik war der dritte Sohn und hatte also für sein Teil wenig Aussichten auf die äußerst bedeutenden Güter und Titel seines Hauses.

Die Natur verteilt ihre Güter jedoch nicht nach dem Erstgeburtsrecht, und es kommt vor, daß dritte Söhne Dinge besitzen, die den beiden älteren versagt sind. Cedrik Errol hatte ein hübsches Gesicht, eine kräftige, schlanke, elastische Gestalt, ein helles Lachen und eine weiche, fröhliche Stimme; er war tapfer, freimütig und hatte das beste Herz von der Welt, und es war, als ob ihm ein Zauber verliehen sei, der alle Menschen zu ihm zog und an ihn fesselte. Bei seinen älteren Brüdern war dem nicht so; der eine wie der andre war weder hübsch noch begabt, noch gutherzig. Als Knaben in der Schule zu Eton machten sie sich sehr unbeliebt; auf der Universität betrieben sie keinerlei Studien, vergeudeten Zeit und Geld und gewannen wenig Freunde.

Was der Vater an ihnen erlebte, waren Enttäuschungen und Demütigungen; der Erbe seines edlen Namens machte demselben keine Ehre und versprach, nichts zu werden, als ein selbstischer, verschwenderischer unbedeutender Mensch ohne jegliche ritterliche Tugend. Es war sehr bitter für den alten Herrn, daß der Sohn, welcher die unbedeutende Stellung des Jüngsten einnahm und nur ein sehr mäßiges Vermögen erhalten konnte, alles besaß, was an Talent, Liebenswürdigkeit, Kraft und äußerer Erscheinung in seiner Familie zu entdecken war.

Zuweilen haßte er den frischen jungen Gesellen beinahe, der sich unterfing, all' die guten Dinge zu besitzen, die doch mit Fug und Recht zu dem großen Titel und dem herrlichen Besitztum gehört hätten, und doch hing sein stolzes, eigenwilliges altes Herz insgeheim unendlich an seinem Jüngsten. In einem derartigen Anfall von Gereiztheit war's, daß er ihn auf eine Reise nach Amerika geschickt hatte; Cedrik sollte ihm eine Zeitlang aus den Augen kommen, damit er nicht durch den immerwährenden Vergleich sich über das Treiben der beiden Ältesten, die ihm gerade damals wieder viel zu schaffen machten, noch mehr aufzuregen brauchte.

Aber kaum war der Sohn ein halbes Jahr fort, als der alte Herr Sehnsucht nach ihm empfand und ihm den Befehl zur Heimkehr sandte. Dieser Brief kreuzte sich mit einem des jungen Mannes, in dem dieser dem Vater von seiner Liebe zu der hübschen Amerikanerin und seiner Absicht, dieselbe zu heiraten, sprach, was den Grafen in fürchterliche Wut versetzte. Wie entsetzlich seine Zornesausbrüche auch sein lebenlang, gewesen waren, so schrankenlos hatte er noch nie getobt, wie nach dem Empfang von Kapitän Cedriks Brief, und sein Kammerdiener, der eben im Zimmer war, machte sich auf einen Schlaganfall gefaßt.

Eine Stunde lang raste er wie ein wildes Tier, dann setzte er sich hin und schrieb an seinen Sohn. Er verbot ihm, je wieder den Fuß in die Nähe seiner alten Heimat zu setzen oder an Vater und Brüder ein Wort zu schreiben; er könne leben, wie es ihm behage, und sterben, wo es ihm gefällig sei, von seiner Familie sei er für alle Zeiten geschieden und Hilfe oder Unterstützung habe er von seiten seines Vaters nie und nimmer zu gewärtigen.

Der Kapitän war tief betrübt über diesen Brief. Er hing an England und er liebte das schöne Heim, in dem er geboren war; er hatte sogar den übellaunischen, despotischen Vater lieb und hatte dessen Kümmernisse im stillen immer mitempfunden, aber er war sich vollkommen klar, daß er von nun an nichts mehr von ihm zu erwarten hatte. Erst wußte er kaum, was anfangen, denn er war ja nicht zur Arbeit erzogen und hatte keine Ahnung von Geschäften, dafür aber Mut und Entschlossenheit; er gab seine Stellung in der englischen Armee auf, fand, nach mancher Mühsal, Beschäftigung in New York und heiratete.

Der Unterschied zwischen seinem einstigen und jetzigen Leben war groß, allein er war jung und glücklich und hoffte, bei harter Arbeit eine Zukunft zu haben. Er bewohnte ein kleines Häuschen in einer ruhigen abgelegenen Straße, und dort kam sein Junge zur Welt und alles war einfach und bescheiden, aber fröhlich und freundlich, so daß er es nie einen Moment bereute, die hübsche Gesellschafterin der reichen alten Dame geheiratet zu haben, einzig, weil sie ein süßes Geschöpf war und ihn lieb hatte und er sie. Sie war aber auch wirklich und wahrhaftig ein süßes Geschöpf, und ihr kleiner Junge glich Mutter und Vater, und wenn er auch in einem armseligen, weltentlegenen Häuschen geboren war, schien es doch nie ein glücklicheres Kind auf der Welt gegeben zu haben. In erster Linie war er allezeit gesund und munter, machte also keinerlei Sorge und Mühe, dann hatte er so ein liebes, reines Gemüt und war so ein herziger kleiner Mensch, daß jedermann Freude an ihm haben mußte, und zu dem allen war er so schön, daß man ihn immerfort anstaunen mußte wie ein wunderbares Bild.

Statt als ein kahlköpfiges Baby auf der Bildfläche zu erscheinen, hielt er seinen Einzug als Weltbürger mit einer Fülle weichen, seidigen, golden schimmernden Haares, das sich nach sechs Monaten in leichten Locken um sein Köpfchen krauste; er hatte große braune Augen, lange Wimpern und ein herziges kleines Gesicht, ferner so kräftige Glieder, daß er mit neun Monaten plötzlich auf seinen kerzengeraden strammen Beinchen zu wandeln anfing, und dabei war er ein so gesittetes Baby, daß es eine Lust war, seine Bekanntschaft zu machen. Er schien davon auszugehen, daß jeder Mensch sein Freund sei, und sprach jemand mit ihm, wenn er in seinem Kinderwagen auf der Straße war, so pflegte er den Unbekannten erst ganz ernsthaft aus seinen braunen Augen anzuschauen, worauf dann sofort ein sonniges Lächeln folgte. Daher kam es denn auch, daß in der ganzen Nachbarschaft keine Menschenseele war -nicht einmal der Spezereihändler an der Ecke, und der war anerkannt der gröbste Mensch unter Gottes Sonne -die nicht eine Freude daran gehabt hätte, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen, und mit jedem Monat, den er älter wurde, ward er hübscher und lebendiger.

Als er groß genug war, mit seiner Kinderfrau auszugehen in einem kurzen, weißen Röckchen, mit einem großen, weißen Hut auf dem lockigen Haar, erregte er allgemeines Aufsehen, und die Wärterin hatte der Mama die längsten Geschichten zu erzählen von Damen, die ihre Wagen hatten anhalten lassen und ausgestiegen waren, um mit ihm zu sprechen, und die ganz entzückt gewesen waren, als er in seiner harmlosen, unbefangenen Art mit ihnen geplaudert hatte, als ob er sie von jeher gekannt. Diese seltsam unbefangene Art und Weise, mit jedermann Freundschaft zu schließen, gab ihm einen ganz eigenartigen Reiz. Er war eine offne, rückhaltslos vertrauende Natur, und sein warmes kleines Herz wollte, daß es allen so wohl zu Mute sein solle, wie ihm selbst, das war's, was ihn die Empfindungen derer, die um ihn waren, so merkwürdig schnell verstehen ließ.

Vielleicht hatte sich dieser Zug auch mehr entwickelt, weil er immer mit Vater und Mutter lebte, die liebevoll, gütig und voll echter Herzensbildung waren; nie hörte er zu Hause ein unhöfliches oder raues Wort: von jeher wurde er mit Liebe und Zärtlichkeit behandelt und umgeben, und so strömte sein Kinderherz auch von Liebe und Wärme für andre über. Immer hatte er sein Mütterchen mit süßen Schmeichelnamen nennen hören, und deshalb sprach auch er nie anders mit ihr und von ihr; immer hatte er gesehen, daß sein Papa sie ängstlich behütete und für sie sorgte, und so lernte auch er ganz von selbst für sie sorgen. Und als er nun wußte, daß sein Papa nicht wiederkommen werde, und sah, wie traurig sie war, da entstand unbewußt in seinem kleinen Herzen das Gefühl, daß er nun alles tun müsse, um sie glücklich zu machen. Er war ja noch ein kleines Kind, aber dies Gefühl lebte in ihm, wenn er auf ihre Kniee kletterte und sie küßte und sein lockiges Köpfchen an ihre Wange drückte, oder wenn er ihr sein Spielzeug und seine Bilderbücher zum Ansehen brachte oder sich schweigend und regungslos neben sie kauerte, wenn sie auf dem Sofa lag.

Er war noch nicht alt genug, um andre Trostesmittel zu finden, aber er tat sein Bestes, und er selbst hatte keine Vorstellung davon, wie wohl sein stilles Thun dem armen, vereinsamten Herzen tat.

"O Mary!" hörte er seine Mama einmal zu der alten Dienerin sagen, "ich bin überzeugt, er will mir auf seine Weise helfen und mich trösten. Zuweilen sieht er mich an mit großen, verwunderten Augen voll tiefster Liebe, als ob ich ihm im Innersten leid täte, und dann kommt er und streichelt mich oder zeigt mir etwas. Er ist so merkwürdig reif; ich bin überzeugt, er denkt so weit."

Als er heranwuchs, hatte er eine Menge wunderlicher Einfälle, die höchst ergötzlich waren, und wußte seine Mama so gut zu unterhalten, daß sie gar nicht nach andrer Gesellschaft verlangte; sie gingen miteinander spazieren und schwatzten und spielten zusammen. Er war noch ein ganz kleiner Bursche, als er lesen lernte, und hernach lag er abends auf dem Teppich vor dem Kamin und las vor -Kindergeschichten, zuweilen auch große Bücher, wie erwachsene Leute sie lesen, und hier und da sogar die Zeitung, und dabei hörte Mary in ihrer Küche Mrs. Errol manchmal hell auflachen über seine wunderlichen Bemerkungen: "Und, meiner Seel'," sagte Mary zu dem Spezereihändler, "so verstockt könnte keiner sein, daß er nicht lachen müßte über unsern Jungen, wenn er so altklug schwatzt.

In der Nacht, wo der neue Präsident ernannt worden ist, kommt der Jung' zu mir in die Küch', stellt sich vors Feuer, die Händchen in den kleinen Taschen, wie ein Bild, sag' ich Ihnen, und mit so einer feierlichen Min' wie ein Richter im Talar. Und dann sagt er zu mir: 'Mary,' sagt er, 'die Wahl 'tressiert miß sehr,' sagt er. 'Iß bin 'Publikaner und Herzlieb auch. Bist du auch 'Publikaner, Mary?' 'Tut mir leid,' sag' ich, 'aber ich bin just ein wenig von der andern Partei.' Da sieht er mich an, daß es einem ganz durch Mark und Bein geht, und sagt: 'Mary,' sagt er, 'die rißten ja das Land zu Grund.' Und seither ist kein Tag vergangen, wo er mir nicht zugeredet hat, zur andern Partei zu gehen."

Mary war sehr entzückt von "unserm Jungen" und sehr stolz auf ihn; sie war schon im Hause gewesen, als er zur Welt kam, und seit seines Vaters Tode war sie Köchin, Hausmädchen und Kinderfrau in einer Person. Sie war stolz auf den kräftigen, beweglichen, kleinen Kerl und sein nettes Benehmen, ganz besonders aber auf sein schimmerndes Haar, das in die Stirn hereingeschnitten war und in leichten Pagenlocken auf seine Schulter fiel. Um seine kleinen Anzüge machen zu helfen, war ihr früh und spät keine Mühe zu viel.

"'Ristokratisch, hm?" pflegte sie zu sagen. "Du lieber Gott, den Jungen auf der Fifth Avenue möcht' ich sehen, der so dreinschaut, seine Beine so setzt! Jeder Mensch, Mann und Weib und Kind, alles schaut ihm nach, wenn er den schwarzen Samtanzug anhat, den wir ihm aus meiner Frau ihrem alten Kleide zurecht gemacht haben, wenn er den Kopf so aufwirft und sein Lockenhaar fliegt! Accurat wie ein junger Lord sieht er aus."

Cedrik hatte keine Ahnung davon, daß er wie ein junger Lord aussah, er wußte auch durchaus nicht, was ein Lord war. Der vornehmste unter seinen Freunden war der Spezereihändler an der Ecke -der grobe Mann, der gegen ihn nie grob war. Er nannte sich Mr. Hobbs und war in Cedriks Augen sehr reich und eine höchst bedeutende Persönlichkeit, die er über die Maßen bewunderte; er hatte ja so viele Dinge in seinem Laden -Pflaumen und Feigen und Apfelsinen und Biskuits -und er hatte ein Pferd und einen Wagen. Cedrik mochte auch den Milchmann, den Bäcker und die Apfelfrau wohl leiden, aber Mr. Hobbs war doch obenan in seinem Herzen, und er stand auf so vertrautem Fuße mit ihm, daß er ihn jeden Tag besuchte und oft lange bei ihm saß, um die Tagesereignisse zu besprechen. Es war ganz merkwürdig, wieviel die beiden immer zu schwatzen hatten, über alles Mögliche.

Der 4. Juli namentlich war ein Thema, über welches ihnen das Gespräch nie ausging. Mr. Hobbs hatte eine sehr geringe Meinung von den Engländern und er erzählte ihm die ganze Geschichte der Losreißung, wobei die Schändlichkeit des Feindes und die Tapferkeit der Aufständischen durch schlagende Beispiele beleuchtet wurden, schließlich trug er ihm noch einzelne Teile der Unabhängigkeitserklärung wörtlich vor. Cedrik war dann so aufgeregt, daß seine Augen leuchteten, seine Wangen glühten und all seine Locken eine wirre Masse waren; zu Hause konnte er die Mahlzeit kaum erwarten, um seiner Mama alles Gehörte wiederzugeben, und so war es entschieden Mr. Hobbs, dem er sein erstes Interesse für Politik zu danken hatte. Mr. Hobbs war auch ein eifriger Zeitungsleser, und daher erfuhr Cedrik so ziemlich alles, was in Washington vor sich ging, und wußte immer, ob der Präsident seine Schuldigkeit tat oder nicht. Und bei der letzten Präsidentenwahl waren beide sehr erregt gewesen und ohne Mr. Hobbs und Cedrik wäre das Land womöglich aus den Fugen gegangen. Cedrik wurde dann auch zu einem Fackelzug mitgenommen, und mancher Fackelträger erinnerte sich nachher noch des untersetzten Mannes an dem Laternenpfahl mit dem blonden Knaben auf der Schulter, der so energisch sein Mützchen geschwungen und sein Hurra gerufen hatte.

Nicht lange nach dieser Wahl war es -Cedrik war nun zwischen sieben und acht Jahren alt -daß das seltsame Ereignis eintrat, welches sein Leben so ganz und gar umgestaltete. Merkwürdig war, daß er gerade an dem Tage mit seinem Freunde über England und die Königin gesprochen hatte, wobei Mr. Hobbs sich sehr hart über die Aristokratie geäußert und namentlich mit den britischen Grafen und Marquis streng ins Gericht gegangen war. Es war ein sehr heiterer Morgen, und Cedrik war, nachdem er mit ein paar Kameraden Soldaten gespielt hatte, zu Mr. Hobbs gegangen, um sich auszuruhen, und hatte denselben in entrüsteter Betrachtung der "London Illustrated News" gefunden, die eine Hofceremonie wiedergab.

"Ha," sagte er, "auf die Art treiben sie's nun, aber sie werden's schon eingetränkt kriegen eines schönen Tages, wenn die sich aufrichten, die sie jetzt mit Füßen treten, und das ganze Gelichter übern Haufen werfen -Herzöge und Grafen und all den Plunder! Das bleibt nicht aus; sie sollen sich nur vorsehen."

Cedrik saß wie gewöhnlich rittlings auf dem Comptoirstuhle, den Hut aus der Stirn gerückt, die Händchen in den Taschen, ganz Ohr.

"Haben Sie viele Marquis gekannt, Mr. Hobbs?" fragte er ernsthaft. "Oder viele Grafen?"

"Nein," erwiderte Mr. Hobbs mit Entrüstung, "ganz und gar nicht. Aber ich möchte wohl mal so einen hier in meiner Bude klein kriegen, dem wollte ich's klar machen, daß ich keine Räuber und Tyrannen auf meinen Biskuitkasten sitzen und bei mir herumlungern lassen will."

Dies Bewußtsein erhabenen Bürgerstolzes erfüllte ihn mit großer Befriedigung, und er wischte sich die Stirn mit einem siegreichen Herrscherblick auf seine Kisten.

"Vielleicht sind sie nur Grafen, weil sie es eben nicht besser wissen," bemerkte Cedrik, in dessen kleinem Herzen ein gewisses Mitgefühl für die Unglücklichen aufstieg.

"Weil sie's nicht besser wissen!" sagte Mr. Hobbs. "Da bist du ganz auf dem Holzwege, sie bilden sich ja noch Wunder was darauf ein, die Kuckucksbrut!"

Mitten in dieser Unterhaltung erschien Mary. Cedrik nahm erst an, sie werde irgend einen kleinen Bedarf für den Haushalt holen, dem war aber nicht so; sie sah sehr aufgeregt aus und war so bleich, wie man es bei ihrem Teint kaum für möglich gehalten hätte.

"Komm heim, Liebling," sagte sie, "die Mama will's haben."

Cedrik glitt von seinem erhabenen Sitze herunter.

"Soll ich mit der Mama ausgehen, Mary?" fragte er. "Guten Tag, Mr. Hobbs. Ich komme ein andermal."

"Was ist denn geschehen, Mary?" forschte er unterwegs. "Ist's die Hitze?"

"Nein, nein," sagte Mary, "Gott, was bei uns für Geschichten passieren!"

"Hat denn Herzlieb Kopfweh von der Sonne?" fragte der kleine Mann, nach und nach ängstlich werdend.

Das war's aber auch nicht. Als sie das Haus erreicht hatten, stand ein Wagen davor und im Wohnzimmer war jemand bei Mama; Mary zog ihn eilends die Treppe hinauf, steckte ihn in sein bestes Gewand, den weißen Flanellanzug mit der roten Schärpe, und bürstete seine Haare glatt.

"Ein Lord!" sprach sie dabei vor sich hin. "Lord war's ja doch! Ach, und die Verwandtschaft. Hol sie der Kuckuck! Lord und Graf, jawohl, um so schlimmer!"

Das war wirklich alles sehr seltsam, allein er wußte ja ganz gewiß, daß seine Mama ihm alles erklären würde, und so ließ er Mary ungestört ihren Gedanken nachhängen. Als er umgekleidet war, lief er die Treppe hinunter und geradeswegs ins Wohnzimmer. Ein großer, magerer alter Herr mit einem scharfgeschnittenen Gesichte saß im Lehnstuhl, seine Mama stand daneben, sie war sehr blaß, und er bemerkte auf den ersten Blick, daß sie Tränen in den Augen hatte.

"O Ceddie!" rief sie, ihrem kleinen Jungen entgegeneilend und ihn scheu und erregt ans Herz drückend. "Ceddie, mein Herzenskind!"

Der große alte Herr stand auf und sah den Knaben scharf an, wobei er sein spitzes Kinn mit der fleischlosen Hand rieb. Der Eindruck schien ihn übrigens zu befriedigen.

"So so," sprach er langsam, "das ist also der kleine Lord Fauntleroy."

Kapitel 3 - Abschied von der Heimat


Während der folgenden Woche erfuhr Cedriks günstige Meinung über Grafen im allgemeinen und besonderen noch eine wesentliche Steigerung. Es wurde ihm anfangs schwer, zu begreifen, daß es kaum mehr etwas gab, was er nicht erlangen konnte, und völlig wurde er sich über diese Tatsache überhaupt nicht klar. Das aber hatte er nach einigen Gesprächen mit Mr. Havisham erkannt, daß die Wünsche, die er auf dem Herzen hatte, in Erfüllung gehen sollten, und er machte sich dies mit einem Entzücken und einer Selbstlosigkeit zu nutze, die den würdigen Herrn sehr ergötzten. In der Woche, ehe sie sich nach England einschifften, geschahen merkwürdige Dinge, und dem Advokaten blieb es unvergeßlich, wie sie morgens einen gemeinsamen Besuch bei Dick machten, und wie sie nachmittags die Apfelfrau "aus altem Geschlecht" in großes Erstaunen versetzten durch die Mitteilung, daß ein Zelt und ein Ofen und ein Shawl ihr zu teil werden solle, und überdies noch eine Summe Geldes, die ihr ganz abenteuerlich vorkam.

"Denn ich muß nach England gehen und ein Lord werden," erklärte Ceddie mit herzgewinnender Freundlichkeit. "Und ich möchte nicht, so oft es regnet, an Ihre armen Knochen denken müssen. Meine Knochen schmerzen mich nie, deshalb kann ich mir nicht recht vorstellen, wie das ist, aber Sie haben mir immer sehr leid getan und ich hoffe, daß jetzt alles besser wird."

"Sie ist eine sehr gute Frau," sagte er zu Mr. Havisham im Weggehen. "Einmal bin ich hingefallen und hatte ein Loch im Knie, da hat sie mir einen Apfel geschenkt, das hab' ich ihr nie vergessen. Sie wissen ja, das vergißt man nie, wenn jemand uns etwas Gutes getan hat."

Die Besprechung mit Dick war sehr aufregend. Dick hatte eben großen Verdruß mit Jack gehabt und war in sehr gedrückter Stimmung, als sie ihn begrüßten. Seine Verblüffung, als Cedrik ihm ganz ruhig mitteilte, daß er aller Not ein Ende machen wolle, war derart, daß er ganz sprachlos war. Lord Fauntleroys Art und Weise, den Zweck seines Besuches darzulegen, war von größter Einfachheit und Formlosigkeit, und auf den daneben stehenden Mr. Havisham machte die Geradheit, mit der er auf sein Ziel lossteuerte, großen Eindruck. Die Mitteilung, daß sein alter Freund ein Lord geworden und in Gefahr stehe, ein Graf zu werden, wenn er am Leben bleibe, veranlaßte Dick, Mund und Nase aufzusperren und so erstaunt ins Blaue zu starren, daß ihm die Mütze vom Kopfe fiel. Nachdem er dieselbe aufgehoben, stieß er eine Bemerkung aus, die Mr. Havisham etwas befremdete, Seiner Herrlichkeit aber nichts Neues zu sein schien.

"Was gibst du mir, wenn ich das Zeug glaube?"

Verletzt fühlte sich der kleine Lord keineswegs von dieser Bemerkung, wohl aber versetzte ihn dieselbe in einige Verlegenheit, aus der er sich aber tapfer herausarbeitete.

"Es denkt jeder, es sei nicht wahr," sagte er. "Mr. Hobbs meinte, ich hatte einen Sonnenstich. Anfangs war es mir selbst auch gar nicht angenehm, aber nun habe ich mich schon daran gewöhnt. Der, welcher jetzt Graf ist, der ist mein Großpapa und der will, daß ich alles tun soll, was mir Freude macht. Er ist sehr gütig, wenn er auch ein Graf ist, und er hat mir durch Mr. Havisham eine Menge Geld geschickt, und davon sollst du welches haben, um Jack auszubezahlen."

Das Ende vom Liede war, daß Dick dies wirklich tat, und daß er mit neuen Bürsten, einem sehr in die Augen fallenden Schilde und einer prächtigen Ausrüstung Alleinherrscher in seinem Geschäfte wurde. Er konnte erst ebensowenig an sein Glück glauben wie die Apfelfrau "aus altem Geschlechte"; er starrte seinen Wohltäter ratlos an und erwartete jeden Augenblick, daß der Traum ein Ende haben werde. Erst als Cedrik ihm die Hand zum Abschied reichte, ward er sich der Tatsächlichkeit des ganzen Vorganges bewußt.

"Und nun leb wohl," sagte Ceddie mit einem ernstlichen Versuche, ihn das Zittern seiner Stimme nicht merken zu lassen, und mit einem etwas krampfhaften Zwinkern der großen braunen Augen. "Ich hoffe, daß dein Geschäft jetzt gut geht. Mir tut's leid, daß ich fort muß, vielleicht komme ich wieder, wenn ich ein Graf bin, und hoffentlich schreibst du mir auch, denn wir sind ja immer gute Freunde gewesen. Hier hab' ich dir's aufgeschrieben, wie du die Adresse an mich machen mußt, ich heiße nicht mehr Cedrik Errol, sondern Lord Fauntleroy und - jetzt lebe wohl, Dick!"

Dick zwinkerte auch angestrengt mit den Augen, und doch waren seine Wimpern verräterisch feucht. Er war kein sehr gebildeter Schuhputzer, und es wäre ihm schwer geworden, seine Empfindungen in Worte zu fassen, deshalb machte er auch gar keinen Versuch dazu, sondern begnügte sich, zu blinzeln und etwas zu verschlucken, was ihm immer wieder im Halse aufstieg.

"Wollte, du bliebest hier," sagte er mit heiserer Stimme. Dann lüftete er seine Mütze und wandte sich an Mr. Havisham: "Danke auch, Sir, daß Sie ihn hergebracht, und für alles. Er - er ist ein kurioser kleiner Kerl," setzte er hinzu, "ich hab' immer große Stücke auf ihn gehalten. Und Grütz' im Kopfe hat er und ist so ein ganz aparter Jung'."

Und nachdem die beiden von ihm weggegangen, stand Dick noch lange da und sah ihnen nach, und solange er die kleine biegsame Gestalt so elastisch neben ihrem großen, ernsten Begleiter dahinwandeln sah, wollte der Nebel vor seinen Augen nicht weichen.

Bis zum Tage der Abreise brachte Seine Herrlichkeit so viel Zeit als möglich in Mr. Hobbs' Laden zu. Mr. Hobbs selbst war in sehr gedrückter Stimmung, aus der er sich kaum mehr aufzuraffen wußte, und als sein kleiner Freund ihm triumphierend sein Abschiedsgeschenk, eine goldne Uhr mit Kette überreichte, war er kaum im stande, die Gabe gehörig zu würdigen. Er legte das Etui auf sein Knie und schneuzte sich mehrmals mit großem Geräusche.

"Es steht was drin," sagte Cedrik, "innen drin. Ich hab's dem Manne selbst gesagt, was er hineinschreiben müsse: 'Mr. Hobbs von seinem ältesten Freunde, Lord Fauntleroy. Die Uhr, sie spricht: Vergiß-mich-nicht!' Ich will nicht, daß Sie mich vergessen."

Mr. Hobbs machte abermals energischen Gebrauch von seinem Taschentuche.

"Ich werde dich auch nicht vergessen," sagte er und seine Stimme klang ebenso merkwürdig heiser wie die von Dick, "vergiß nur du mich nicht, wenn du unter die englischen Aristokraten kommst."

"Sie werde ich nicht vergessen, unter was für Menschen ich auch komme," versicherte der kleine Lord. "Bei Ihnen bin ich immer am glücklichsten gewesen, fast am glücklichsten, und ich hoffe, Sie besuchen mich einmal. Mein Großpapa würde sich ganz gewiß furchtbar freuen; vielleicht schreibt er Ihnen selbst und ladet Sie ein, wenn ich ihm alles erzähle. Und - und nicht wahr, Sie würden dann nicht daran denken, daß er ein Graf ist? Ich meine, Sie würden deshalb doch kommen, wenn er Ihnen schreibt?"

"Ich würde dir zuliebe kommen," erklärte Mr. Hobbs huldvoll, und damit war zugestanden, daß er im Falle einer dringenden Einladung von seiten des Grafen seine republikanischen Vorurteile überwinden, sein Bündel schnüren und ein paar Monate auf Schloß Dorincourt zubringen würde.

Endlich waren alle Vorbereitungen abgetan. Der Tag erschien, an dem die Koffer an Bord geschafft wurden, und die Stunde, da der Wagen vor der Haustür hielt. Ein seltsames Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit überkam dann den kleinen Jungen. Die Mutter hatte sich ein paar Stunden in ihrem Zimmer eingeschlossen gehabt, und als sie nachher die Treppe herabkam, waren ihre Augen naß und ihr lieblicher Mund bebte seltsam. Cedrik eilte ihr entgegen, sie beugte sich zu ihm nieder, und er schlang seine Ärmchen um ihren Hals und küßte sie. Was es war, wußte er nicht recht, aber er fühlte, daß sie beide traurig waren, und unwillkürlich kam's ihm auf die Lippen: "Gelt, Herzlieb, wir haben unser kleines Haus lieb gehabt? Und wir werden's immer lieb behalten?"

"Ja, ja," versetzte sie mit leiser Stimme. "Ja, mein Herzenskind."

Und dann stiegen sie in den Wagen und Ceddie setzte sich ganz nahe zu seiner Mama, sah sie unverwandt an, hielt ihre Hand fest und streichelte sie ganz leise, indes sie nach dem verödeten Hause zurückblickte.

Unglaublich kurze Zeit darauf befanden sie sich auf dem Dampfer, mitten im wildesten Lärm und Getriebe. Wagen fuhren an und setzten Passagiere ab, Reisende gerieten in Verzweiflung über ihr Gepäck, das noch nicht da war und möglicherweise zu spät kam, Reisekoffer und Kisten wurden hin und her gezerrt und geschleppt, Matrosen rollten Taue auf und eilten ab und zu, Befehle wurden erteilt, Damen und Herren, Kinder und Kinderfrauen kamen an Bord, die einen lachend und fröhlich, die andern still und gedrückt, einzelne mit Tränen in den Augen. Überall entdeckte Cedrik etwas Interessantes; die Berge von Tauen, die aufgerollten Segel, die in den blauen Himmel hineinragenden Masten, alles fesselte seine Aufmerksamkeit, und er nahm sich fest vor, mit den Matrosen Freundschaft zu schließen und womöglich Näheres über Seeräuber zu erfahren.

Gerade im allerletzten Augenblicke - Cedrik stand am Geländer des oberen Deckes, beobachtete die Zeichen zur Abfahrt und erfreute sich an den Zurufen der Matrosen und der Leute auf dem Damme - bemerkte er in einer wenige Schritte von ihm entfernten Gruppe einen kleinen Kampf. Jemand drängte sich mit Gewalt durch und zwar in seiner Richtung, es war ein Junge, der etwas Rotes in der Hand hielt - Dick! Ganz atemlos gelangte er endlich in Cedriks Nähe.