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Fahimeh Farsaie

Vergiftete Zeit

Aus dem Farsi von

Kaweh Parand

Roman

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ISBN 978-3-943941-44-9

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2013
Umschlag unter Verwendung eines Bildes von Bella Rosa C.N.

… aber gewiss für die liebe S., da sie nicht wollte,
dass dieses Buch rechtzeitig fertig wurde, was dann
auch geschah

Alle Personen dieses Romans sind wirklich, wenn
auch ihre Handlungen, ihre Gedanken sowie ihre
Empfindungen das Werk der Autorin sind.

Inhalt

Inhalt

ERLÄUTERUNGEN

Fahimeh Farsaie

Im Grunde wussten alle, dass Dr. Danesch getötet würde. Die einzige, die von der bevorstehenden Katastrophe nichts ahnte, war seine Tochter Maral. Und dies nicht, weil sie sich nicht sonderlich für ihren Vater und sein Schicksal interessierte, sondern weil die anderen sich viel zu viele Gedanken um sie und ihre Zukunft machten. Sie hielten sie deshalb mit allerlei Lügen in absoluter Ahnungslosigkeit und ließen sie sich den Kopf mit den Längs- und Quermaßen des Dick- und Dünndarms, der Form des Hammerknochens im Mittelohr oder der Anzahl der Membranzonen einer Nervenfaser vollstopfen und sich auf ihr Physikum vorbereiten. Maral war so sehr in »Magengeschwülste« vertieft, dass sie das Flüstern in ihrer Umgebung, das sich bei ihrem Auftauchen sofort in flüchtiges und vorgetäuschtes Lächeln verwandelte, nicht wahrnahm. Selbst das bange Gefühl und die Sorge, die sich wie ein vergrößertes Bild in den schwarzen Augen ihrer Tante Jasmin spiegelten, sah sie nicht. Vielleicht auch deswegen, weil Jasmin neuerdings ihre Frisur verändert hatte. Sie kämmte ihre schwarzen, glatten Haare nicht mehr mit Hilfe von Widdern, Haargel oder Sprays hoch, sondern ließ sie sanft und frei in ihr Gesicht fallen. So konnte sie die Trauer und den Kummer, die ihrem Gesicht einen verwirrten Ausdruck verliehen, besser verheimlichen. Als Maral eines Tages über das verzweigte Netz des Nervensystems der Haarwurzel nachdachte, fiel ihr plötzlich der weinrote Glanz auf, der über die dichten, weichen Haare ihrer Tante fiel. Jasmin hatte sich unter dem gelben Licht des Flurs gebückt, um die Schnürsenkel ihres Sohnes zu binden. Der Sohn hielt keine Sekunde still und suchte beständig nach einer Gelegenheit, seiner Mutter zu entwischen. Maral hatte sich an den Türrahmen gelehnt und in einem arglosen Ton gefragt: »Liebe Tante, färbst du deine Haare?«

Während Jasmin an den Schnürsenkeln hantierte und murmelnd auf ihren Sohn schimpfte, sagte sie mit dumpfer Stimme: »Nein Liebes, ich habe Henna darauf getan …«

Als sie ihren Kopf hob, kam sie Maral in ihrem schwarzen, an den Schultern mit Schaumstoff gepolsterten Mantel noch kleiner vor. Maral sah sogar den Glanz einer Träne, die ihre schwarzen Augen trübte, fragte sie aber nicht nach dem Grund, um zu verhindern, dass ihre Tante völlig die Fassung verlor. Als sie später erfuhr, dass Jasmin sich an jenem Tag nach einem zweiwöchigen inneren Kampf darauf vorbereitet hatte, sie über den bevorstehenden Mord an ihrem Vater in Kenntnis zu setzen, verfluchte sie sich tausendmal, dass sie in jenem Augenblick nicht vom kristallklaren Glanz der Träne im Gesicht ihrer Tante, sondern vom weinroten Schimmer ihrer hennagefärbten Haare verzaubert worden war. Jasmin flehte zu Gott, Maral möge ihr die Verwirrung und den Gram nicht anmerken, denn sie hatte mit einem Schlag ihren ganzen Mut verloren, Maral die Wahrheit zu erzählen.

Ihre Abschiedszeremonie dauerte an jenem Tag im Gegensatz zu sonst nicht sehr lange. Denn sobald Jasmin fühlte, dass Maral sie nun nach dem Iran und der Situation dort fragen würde, hob sie ihre Hand und schlug ihren Sohn, der nun ausnahmsweise still stand und mit seinen Jackenknöpfen spielte, hart ins Gesicht und schrie: »Halt doch still, Kind! Musst du mich immer ärgern?« Dann nahm sie ihn unter den Arm und verschwand in der Dunkelheit des Flurs. Danach wollte sie kein Wort mehr davon hören, dass sie verpflichtet sei, Maral von diesem unheilvollen Ereignis in Kenntnis zu setzen. Verzweifelt starrte sie auf die rosafarbenen Ohrläppchen ihres Sohnes, die von Flaum bedeckt waren, und sagte sich: »Nein! … Das kann ich nicht mehr über mich bringen.«

Die anderen meinten, es sei sehr ungerecht, dass alle über die Hinrichtung von Dr. Danesch Bescheid wussten außer seiner Tochter. Selbst der dreizehnjährige Sohn Jasmins, Siamak, war dieser Meinung, obwohl niemand ihn danach fragte. Auch wenn er nur an sein Aussehen dachte und jeden Tag drei Hemden verschiedener Größen und Modelle so anzog, dass jedes etwa zehn Zentimeter unter dem anderen hervor sah, lief er eines Tages direkt nach dem Aufstehen in die Küche, wo seine Mutter über den kochenden Milchtopf gebeugt stand. Er erzählte ihr, dass er gerade von Maral geträumt hatte, wie sie in einer endlosen roten Sandwüste hinter einem überproportional großen braunen, hässlichen Holztor, das niemand aufzumachen wagte, stand und mit ganzer Kraft unaufhörlich an es klopfte …

Außer an den weitentfernten Lärm und das beständige Klopfen, die roten Sandkörner jener endlosen Wüste und jenes hässliche braune Tor, das ohne Kabinen und Riegel mitten in jener roten Einöde stand, konnte er sich an nichts anderes erinnern.

Obwohl Siamak im Traum gar nicht anwesend war, hatte er geschrien: »Maral! Maral! Klopf doch nicht dauernd an das Tor! Komm einen Schritt weiter rüber, und schon gibt es kein Tor mehr!«

Obwohl Siamak sicher war, dass er im Schlaf keinen einzigen Ton herausgebracht hatte, hatte er sich mehr als Maral vor dem schrecklichen Widerhall seines Schreies erschreckt, war plötzlich aufgewacht und hatte festgestellt, dass sein Hemd ganz von Schweiß durchnässt war.

Um das Zittern ihrer Hände zu verheimlichen, fing Jasmin an, ohne Grund die Milch zu rühren. Während sie allmählich im eintönigen und kreisenden Geräusch des Rührens im Milchtopf sowie im dünnen Dunst und Geruch der Milch versank, fuhr sie ihren Sohn an, der noch wartete: »Geh schon! Geh schon! Wahrscheinlich hast du gestern Abend wieder zu viel gegessen. Zieh dich an, sonst kommst du zu spät in die Schule! Außerdem brauchst du den Unsinn nicht Maral zu erzählen.«

Als Jasmin eine halbe Stunde später die abgekühlten Milchgläser auf den Tisch stellte, war sie von Gewissensbissen völlig niedergedrückt. Obwohl es an jenem Tag kalt war und regnete, glaubte sie vor lauter Hitze zugrundezugehen. Sie schwitzte so sehr und der Atem stockte ihr so oft, als ob ein Ofen in ihrer Brust glühte. Als Maral sie später fragte, warum die Tante sie nicht früher vom Tod ihres Vaters informiert habe, antwortete sie: »Die ganze Zeit habe ich in jener dürren, glühenden Wüste nach einem guten Omen gesucht!«

Nach jenem Morgen rief sie aber trotzdem mehrmals am Tag zu unterschiedlichen Uhrzeiten Maral an, zerrte sie aus tiefem Schlaf oder holte sie aus ihrem Schwanken zwischen »Lethargie« und »Hyperaktivität« heraus, fragte sie nach ihrem Wohlbefinden und ihren Prüfungen und flehte sie an, weniger Kaffee zu trinken und ab und zu spazieren oder ins Kino zu gehen. Wenn sie nichts mehr zu erzählen oder zu fragen hatte, musste sie ungewollt husten, räusperte sich oder stöhnte laut auf. Vor dem Abschied lastete immer eine schwere Stille auf ihren sinnlosen, sich wiederholenden Gesprächen, die keine der beiden so leicht zu durchbrechen vermochte. Es war einmal mitten in solch einer quälenden Stille, als die Vorahnung einer Katastrophe Marals Herz wie Funken durchzuckte. Anfangs wurde sie von solch ungeheuren Vorstellungen überwältigt, dass sie ihre Fassung völlig verlor. Der Schrecken verschlug ihr die Sprache. Obwohl ihr Kopf von einer Flut von Fragen erfüllt war, blieb sie weiter stumm. Als Jasmin nach ihrem letzten Husten sagte: »Also dann bis später, tschüs«, versuchte sie noch zu antworten. Die unverständlichen Laute, die aus ihrem Rachen herausquollen, versetzten sie selbst in tiefe Verzweiflung. Im gleichen Moment entschloss sie sich, umfassende Studien über die Auswirkung seelischer Eindrücke auf die physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers anzustellen. Sie fand aber keine Gelegenheit, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen. Als Jasmin wieder anrief, fragte sie in anklagendem Ton, bevor ihr Gespräch wieder im Teufelskreis der ewigen, langweiligen Fragen und Antworten endete: »Liebe Tante, warum verheimlicht ihr mir etwas? Ich fühle, dass irgendetwas passiert sein muss …«

In jenen Tagen litt Mehri, die Ehefrau Dr. Daneschs, in der unerbittlichen Glut der Sommersonne Teherans unter einer anderen Art von Ungewissheit: sie wusste nicht, wo sich ihr Mann befand. Sie war vor kurzem von Deutschland nach Iran zurückgekehrt und hatte vom ersten Augenblick ihrer Ankunft an bei jedem, der die geringste Nachricht von ihrem Mann haben konnte, nach ihm gefragt. Das war kein leichtes Unterfangen. Stundenlang wartete sie in den kahlen, ausgetrockneten Straßen Teherans auf ein Verkehrsmittel, das sie an ihr Ziel bringen konnte. Wenn sie dann erschöpft, verzweifelt und verschwitzt den Flur eines Hauses betrat und Dr. Daneschs Namen erwähnte, stieß sie auf eine so undurchdringliche Front von Kälte und Gleichgültigkeit, dass sie sofort kehrtmachte und neben Kopfschmerzen und einem gebrochenen Herzen eine große Last an Leid und Schmerz mit sich zurückschleppte. Einige, die etwas freundlicher waren, ließen Mehri bis zum Gästezimmer vortreten und wimmelten sie dort gesenkten Kopfes mit einem im Teppichmuster herumirrenden Blick ab. Die Abschiedsszenen an der Tür waren dann völlig anders. Sie verabschiedeten sich so laut und in einem so groben Ton von ihr, dass jeder, der ihren Eintritt bemerkt hatte, nun auch ihre Abweisung sehen konnte. Bevor sie die Tür hinter ihr zuknallten, hielten einige kurz inne und flüsterten ihr ins Ohr: »Entschuldigen Sie, Frau Doktor. Aber wir müssen auch irgendwie leben.« Aber auch dort, wo sie mit Freudentränen und Lächeln empfangen wurde, bekam sie nichts als einige Erfahrungen und vertröstende Worte zu hören. Sie saßen zusammen und trauerten den freudigen Erinnerungen und dem kurzlebigen Glück nach, das sie nicht zu schätzen gewusst hatten. Der zitternde, gelbe Kerzenschein ließ diese Szene noch trauriger erscheinen. Wenn sie dann nichts mehr zu erzählen hatten, blickten sie mit ausgetrocknetem Mund stumm und unruhig in Erwartung der baldigen Wiedereinschaltung des elektrischen Stromes, der täglich sechs bis neun Stunden abgestellt wurde, auf den monotonen, traurigen Tanz der Kerzenflamme und wischten unentwegt die dicken Schweißperlen von Mund, Hals und Gesicht. Sie lächelten sich zu, um in ihren Herzen das Licht der Ausdauer und Geduld aufleuchten zu lassen. Während der ganzen Zeit hatten sie weder etwas gegessen noch getrunken. Obwohl Mehri vor Hunger manchmal ein Schwächeanfall überkam und vor Durst ihre Speiseröhre zusammenklebte, rührte sie weder das verwelkte Obst an, das in einem schiefen Korb auf dem Tisch lag, noch nahm sie das Angebot der Gastgeberin zu einer Tasse Tee oder einem Glas Sirup an. Sie sagte: »Nein, danke! Ich kann weder etwas essen noch trinken.« Die Gastgeberin wusste, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Mehris Stimme klang ihr mehr nach Höflichkeit als nach Ehrlichkeit. Sie beharrte aber nicht weiter darauf. Man vollzog jene schlichte und bescheidene Zeremonie so aufrichtig, dass weder der Gast noch die Gastgeberin auch nur für eine Sekunde daran dachten, dass sie gegen die tausendjährigen Bräuche der Gastfreundschaft ihres Volkes handelten.

Die meisten Menschen, die Mehri aufsuchte, wussten, dass man Dr. Danesch töten wollte. Einige wussten sogar über die geplante Art des Mordes Bescheid. Als Mehri nach fast drei Monaten nach Deutschland zurückkehrte, ohne irgendetwas über ihren Mann herausgefunden zu haben, hörte sie von der Ermordung Dr. Samis und fiel plötzlich in einen Abgrund von Verzweiflung. Die Freundschaft der beiden Ärzte ließ in Mehri die Angst entstehen, dass ihr Mann auch das schreckliche Schicksal seines Freundes teilen könnte. Während sie diese Möglichkeit mit Zweifel und Skepsis zu betrachten suchte, um nicht gänzlich in Verzweiflung zu versinken, versuchte sie, etwas über den mysteriösen und rätselhaften Fall der Ermordung Dr. Samis herauszufinden. Das einzige, was sie nach einer Woche herausbekam, war die Tatsache, dass der Mörder sein Opfer mit einer solchen Bestialität abgeschlachtet hatte, wie sie nur von einem Berufskiller zu erwarten war. Die offizielle Presse stellte den Täter als einen einfachen, aber unbequemen Angestellten der Telefonvermittlung des Gesundheitsministeriums in Dobai vor, der in der kurzen Zeit der Übernahme des Ministerpostens durch Dr. Sami in der provisorischen Regierung des Ministerpräsidenten Basargan entlassen worden war. Obwohl alle Massenmedien versuchten, als Motiv des Täters persönliche Rache in den Vordergrund zu stellen, schenkte niemand dieser Version Glauben. Deshalb vermischten sich Wahrheit und Phantasie. Jeder schuf sich eine zuverlässige Quelle, aufgrund derer er die Einzelheiten der Katastrophe »haargenau, so wie sie sich ereignet hatte«, wiedererzählen konnte. Einige Leute konnten sogar ruhigen Gewissens behaupten, dass sie mit, »eigenen Ohren« von anderen, die mit »eigenen Augen« den Vorfall gesehen hatten, davon gehört hatten. Das war nicht möglich, aber sie nahmen es als eine unbestreitbare Tatsache hin. Die einzige, die den Mörder gesehen und mit ihm nach diesem blutigen Mord gesprochen hatte, war die Frau des Doktors, die sich ihm gegenüber als Dr. Samis Sekretärin vorgestellt hatte. Auch einige Patienten, die an jenem unheilvollen Tag einen Termin hatten, konnten den Mörder im Wartezimmer gesehen und eventuell ein paar Worte mit ihm gewechselt haben, aber zweifellos vor diesem brutalen Mord.

Nach Aussagen von Dr. Samis Frau, die ein paar Tage in der Woche als Sprechstundenhilfe in der Praxis ihres Mannes arbeitete, hatte der Mann schon vor acht Uhr vor der Tür gewartet. Obwohl seit jenem erschütternden Verbrechen nicht so viel Zeit vergangen war, konnte sie sich nicht daran erinnern, ob es an jenem Tag geschneit oder geregnet hatte. Sie wusste nur, dass es kalt und der Himmel bedeckt war, denn als sie an jenem Morgen ihr Auto starten wollte, sprang es nicht an. Und weil sie es so eilig hatte, gab sie so viel Gas, dass der Motor völlig absoff. Sie stieg zornig aus dem Wagen und trat so fest gegen die Tür, dass ihr Zeh Stunden später noch schmerzte. Als sie dann mit einem Taxi zur Praxis fuhr, brannten noch die Straßenlaternen, denn der Himmel war dunkel und verhangen.

Abgesehen von einer flüchtigen Begrüßung beim Aufschließen der Praxis wechselte sie erst gegen neun Uhr die ersten Worte mit dem Mörder. Ohne ihn anzuschauen, fragte sie ihn nach seinem Vor- und Familiennamen und danach, ob er schon einmal dagewesen war.

Der Mann antwortete ruhig und normal: »Nein, es ist das erste Mal.« Dann hatte sie ihren Kopf gehoben, um ihn sich zum ersten Mal anzusehen. Es war nichts Auffälliges in seinem Gesicht zu erkennen. Als sie einige Stunden später den Revolutionswächtern sein Aussehen schildern wollte, erklärte sie: »Es war eines dieser normalen Gesichter, die man hundertmal am Tag auf der Straße sieht.«

Kurze schwarze Haare, niedrige Stirn, dunkle glanzlose Augen, platte, fleischige Nase, dichter schwarzer Schnäuzer und ein Dreitagebart, der hier und da weiß schimmerte … Sie konnte sich an keine Details mehr erinnern. Sie betonte sein unauffälliges Aussehen so sehr, dass die Revolutionswächter die meisten Leute in ihrer Umgebung verdächtigten. Einige wurden sogar ohne jeglichen Beweis nur aufgrund ihrer Unauffälligkeit festgenommen und monatelang, das heißt bis zur sogenannten Identifizierung des eigentlichen Mörders, eingesperrt. Als Frau Sami diese Geschichte vertrauenswürdigen Freunden erzählte, fügte sie leise hinzu: »Als ich ihm eine Akte anlegte, tat mir der Typ irgendwie leid. Ich dachte mir, wieder so ein armer Schlucker, der vor der Last des Lebens Schutz bei Tabletten gesucht hat …«

Gegen zehn Uhr hatte sie wieder einen flüchtigen Blick auf den Mann geworfen und in trockenem, offiziellem Ton gesagt: »Ins Zimmer eins bitte! Sie sind dran.«

Der Mann hatte sich aber nicht von der Stelle gerührt. Während er sich umschaute, sagte er in einem um Entschuldigung bittenden Ton: »Wenn Sie erlauben, möchte ich als Letzter zum Doktor. Ich habe auch ein privates Anliegen und möchte nicht die Zeit der anderen Damen und Herren in Anspruch nehmen …«

Alle Patienten sagten ohne Ausnahme bei der Vernehmung zu den Revolutionswächtern: »Nach diesen Worten habe ich ihn mir genauer angesehen. Er sah redlich, scheu und etwas verrückt aus … Jedenfalls dachte ich, dass er für unsere Gesellschaft nicht geeignet sei.«

Als die Untersuchungsrichter nach dem Grund dieser Einschätzung fragten, argumentierten alle: »Wer verzichtet heutzutage schon auf sein Recht zugunsten anderer?«

Als sich gegen zwölf Uhr kein Patient mehr im Wartezimmer befand und sie ihre Teetassen und die ihres Mannes gespült, die Küche und ihren Arbeitstisch aufgeräumt und sich selbst etwas zurechtgemacht hatte, stand sie auf der Schwelle des Untersuchungszimmers, von wo sie sowohl ihren Mann als auch seinen Mörder sehen konnte, und sagte: »Ich gehe die Kinder abholen.«

Im gleichen Augenblick machte der Mann eine merkwürdige Bewegung, die sie nicht genau sehen konnte, da sie ihn nur aus den Augenwinkeln beobachtete. Es kam ihr so vor, als würde er einen langen, festen Gegenstand im Futter seiner Jacke zurechtlegen. In Gedanken daran, dass die privaten Angelegenheiten der Patienten sie nichts angingen, achtete sie jedoch nicht weiter darauf. Der Mann, der anscheinend in Verlegenheit geriet, bückte sich sofort und fing an zu husten. Während sie zum Tisch ging, um ihre Handtasche zu nehmen, fiel ihr sein vorgetäuschter Husten auf. Sie sagte nichts, blickte sich aber um, um nachzusehen, ob irgendetwas in der Praxis fehlte. Der einzige Verdacht, der plötzlich in ihr aufgekommen war, war der, dass der Mann etwas gestohlen haben könnte. Als sie das Briefmesser mit dem Elfenbeingriff; das sie mit Gewissheit unter seiner Jacke wiederzufinden glaubte, sowie andere wertvolle Gegenstände auf ihren Plätzen vorfand, bat sie Gott um Vergebung, dass sie ihn zu Unrecht verdächtigt hatte. Dann schloss sie alle Schubladen und sagte zu dem Mann, dass er im Untersuchungszimmer auf den Doktor warten könne.

Sie sah ihn nicht aufstehen, denn sie ging schon in entgegengesetzter Richtung zur Tür. Sie glaubte zunächst, das Echo ihrer eigenen Schritte auf dem Mosaikboden des Wartezimmers zu hören. Als sie aber stehenblieb, um ihre Haare unter dem Kopftuch zu ordnen, stellte sie fest, dass noch immer das Geräusch hastiger, überstürzter Schritte in ihren Ohren widerhallte.

Als sie später an diese schicksalhaften Augenblicke mit all ihren scheinbar banalen Details dachte, machte sie sich Vorwürfe wegen ihrer schrecklichen Naivität und Unachtsamkeit, die jenes beispiellose Verbrechen ermöglicht hatten. Sie erzählte einer ihrer besten Freundinnen – die zuerst schwören musste, ihr Geheimnis nicht zu verraten – von ihren quälenden Gewissensbissen und Schuldgefühlen. Sie sagte zu ihr: »Ach, wenn mir doch nur aufgefallen wäre, warum einer, der den ganzen Tag sang- und klanglos rumgesessen und sogar auf seinen Platz in der Reihenfolge verzichtet hat, es zum Schluss plötzlich so eilig hat, als würden seine Kinder in klirrender Kälte auf der Straße stehen!«

Wenn sie mit einem Bruchteil jenes Verdachts, der den Mann plötzlich in ihren Augen in einen Dieb verwandelt habe, an diese einfache Möglichkeit oder Annahme gedacht hätte, wäre sie bestimmt zurückgekehrt und hätte in Wirklichkeit den Mann gesehen, der über die Schwelle des Untersuchungszimmer lief und dabei einen langen, scharfen, glänzenden Dolch wie einen Degen aus dem Futter seiner Jacke herauszog.

Sie tat es aber nicht. Sie ging durch den Haupteingang hinaus und zog die Tür sanft hinter sich zu, ohne sich dabei umzudrehen. Dann stieg sie die paar Treppen hinunter, die sie ein Leben lang hinauf- und hinuntergegangen war und die sie aus Gewohnheit immer unbekümmert gezählt hatte. Und sie fing an, sie wieder zu zählen. Das Treppenhaus war kalt und dunkel und wurde nur von dem dämmerigen Lichtschein, der vom bedeckten Himmel herabfiel, etwas aufgehellt. Der duftende, angenehme Geruch von angebratener Pfefferminze stieg die Treppen hoch. Nun konnte sie mit Gewissheit sagen, dass es an jenem Tag nicht geschneit, sondern geregnet hatte. Denn sie erinnerte sich noch recht gut daran, dass am Rande des frischen flachen Fladenbrotes, das noch dampfte und das ein Nachbar in der gegenüberliegenden Bäckerei gekauft hatte, einige Regentropfen zu sehen waren. Der Nachbar war den ganzen Weg gerannt, damit das Brot nicht nass wurde. Nun zog er sich atemlos auf der Treppe zur Seite, um sie durchzulassen. Als er seine Wohnungstür hinter sich schloss, stellte sie fest, dass der Pfefferminzgeruch aus seiner Wohnung kam. Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein. Doch bevor sie sich gewohnheitsgemäß sagte: »Wie wunderbar schmeckt Suppe bei dieser Kälte«, hörte sie die herzzerreißenden Schreie Dr. Samis. Sie wusste nicht mehr, wie viele Treppenstufen sie hinabgestiegen und wie gehetzt sie nach den schmerzerfüllten Schreien wieder hinaufgerannt war.

Den Rest dieses blutigen Geschehens wissen nun schon alle. Obwohl am Tatort des Verbrechens außer dem brutalen Mörder und seinem unschuldigen Opfer, die nun beide – der eine gewaltsam und der andere freiwillig – das Reich der Toten erreicht haben, sonst niemand anwesend war, erklärten die Verantwortlichen des Regimes einen Monat später, nach dem ersten schweren Winterschnee, plötzlich, dass der Mörder identifiziert worden sei, sich aber vor der Verhaftung im Brillant-Bad in Ahwas das Leben genommen habe. Die Lüge war so offensichtlich und grotesk, dass niemand sie glaubte. Deshalb versuchten die offiziellen Blätter in ihren späteren Berichten, die sie angeblich aufgrund umfangreicher Recherchen zuverlässiger Quellen verfasst hatten, den Mörder als einen Psychopathen hinzustellen, der seit Jahren an chronischen Wahnanfällen leide. Dr. Samis Frau wagte es als einzige Person, die den Mörder nach jenem brutalen, schrecklichen Mord gesehen hatte, nicht, dieser Version offiziell zu widersprechen.

Sofort nach den herzzerreißenden Schreien ihres Mannes, die sich allmählich in dumpfes Gestöhn verwandelten, war sie hastig in die Praxis gerannt und dem Mörder begegnet, der mit der Lässigkeit eines Metzgers die Ärmel hochgekrempelt hatte und im Waschbecken seine blutbefleckten Hände und seinen Dolch wusch. Vor Grauen verschlug es ihr die Sprache. Ihr Herz pochte in wahnsinnigem Tempo. Auch mit größter Mühe gelang es ihr nicht, die Luft auszuatmen, die ihr auf halbem Wege im Hals steckengeblieben war. Sie hatte aber das Gefühl, als ob ihre Eingeweide in einer spiralförmigen Bewegung aus ihrem Rachen herausrutschten. Sie hörte das herzzerreißende Gestöhn ihres Mannes, schaute auf das verdünnte Blut, das von der glänzenden Dolchspitze des Mannes heruntertropfte, atmete den Geruch des Schweißes ein, der nach der wilden Anstrengung noch auf der engen Stirn des Mannes klebte, und fühlte sich trotzdem in der gelähmten, tauben, stummen Welt der Toten. Als sie nach größter Überwindung versuchte, in das Untersuchungszimmer zu gehen, herrschte der Mann sie an: »Bleib stehen! Rühr dich nicht vom Fleck! Was suchst du hier überhaupt? Woher kennst du den Doktor?«

Sie antwortete aus Angst, Berechnung oder Gewohnheit, jedenfalls mühselig: »Ich bin seine Sekretärin …«

In jenem Augenblick wusste sie selbst nicht, dass sie mit der Preisgabe der halben Wahrheit und der Verheimlichung ihrer anderen Hälfte ihr Leben gerettet hatte. Ihr fielen nun aber plötzlich der kräftige Körperbau und die in den Muskelpaketen verborgene animalische Kraft des Mörders auf, und sie wunderte sich darüber, dass sie ihn für einen normalen Menschen gehalten hatte. Sie dachte, dass er an die neunzig Kilo wiegen konnte. Als die Regierung später erklärte, dass der flüchtige Mörder sich an einer Aluminiumdusche im Brillant-Bad in Ahwas aufgehängt und Selbstmord begangen habe, wunderte sie sich noch mehr. Ihre Verwunderung galt nicht der Frage, wie solch ein brutaler, hartherziger Mensch, der in der kurzen Zeitspanne, in der sie sieben oder acht Treppen hinuntergestiegen war, dem Schädel Dr. Samis hasserfüllt achtzehn Dolchstiche zufügen konnte, sich das Leben genommen haben sollte. Nein, ihre Verwunderung galt vielmehr dem Umstand, wie eine so leichtgebaute Dusche seinem neunzig Kilo schweren Körper standhalten konnte.

Frau Sami, die vor Angst und Schrecken noch am ganzen Leib zitterte, wollte den Mörder fragen: »Ich beschwöre Sie bei Gott, was haben Sie dem Doktor angetan?« Sie bekam aber keinen einzigen Ton heraus.

Eigentlich verzichtete sie Sekunden später auf diese sinnlose, blöde Frage. Aber der Mörder, der anscheinend solche Szenen in Wirklichkeit oder in der Welt der Phantasie öfter erlebt hatte oder jedenfalls wusste, dass er auf diese erste Frage eine Antwort geben musste, sagte: »Ich habe ihn getötet … Ich habe ihn endlich getötet!«

In seinem Ton schwebte mehr das Gefühl der Erleichterung nach Erledigung einer unangenehmen Aufgabe mit als Böswilligkeit. Dann trocknete er ganz gelassen seine Hände, schlug die Ärmel herunter und knöpfte geduldig und konzentriert zuerst seinen rechten und dann seinen linken Ärmel zu. Im weißen Licht des Waschbeckens schienen seine von dichten schwarzen Haaren bedeckten Hände aufgedunsen und erschöpft. Er sagte noch einmal: »Ich habe ihn getötet …« und hob die Schultern. Anstatt an das Waschbecken zu gehen und das Wasser, das noch weiter über die saubere, glänzende Dolchklinge floss, abzudrehen, lief er zu ihr. In der Aufregung, die in ihrem Inneren entflammte, dachte sie sich, dass sie nun an der Reihe sei. Bevor der Mann sie erreichte, bereitete sie sich schon auf den Tod vor. Sie sprach ihr Todesgebet, segnete den Propheten Mohammed und seine Anhängerschaft und bat Gott um Vergebung ihrer bewussten und unbewussten Sünden. Sie wünschte sich inbrünstig, dem Doktor – und sei es auch nur für ein einziges Mal – in der anderen Welt zu begegnen und sich bei ihm für ihre Schwäche und Hilflosigkeit seinem Mörder gegenüber zu entschuldigen. In diesem Augenblick wusste sie selbst, dass sie schreien und die Nachbarn alarmieren musste. Sie hätte den Mörder angreifen und mit Zähnen und Klauen gegen ihn ankämpfen müssen. Sie hätte mit ihrem Schuhabsatz auf seinen Schädel einschlagen, mit den Fingernägeln sein Gesicht zerkratzen und mit den Zähnen ein Stück von seinem Fleisch abbeißen müssen. Wenn sie ihn in die Hoden treten könnte, hätte sie die Gelegenheit, zu ihrem Arbeitstisch zu laufen, den Stiftebehälter aus Marmor zu nehmen und gegen seinen Kopf zu werfen. Vielleicht würde sie seinen Schädel treffen! Wenn der Mann sich vor Schmerz noch auf dem Boden wälzte, hätte sie das Briefmesser aus der Schublade holen und, bevor der Mann zu sich käme, schnell zu ihm laufen und das Messer immer wieder in seine Halsschlagader stechen und herausziehen können … hineinstechen und herausziehen … hineinstechen und …

Aber in jenem Augenblick tat sie nichts von alledem. Als sie später ihren Freunden jenes ungeheure, blutige Ereignis erzählte, hatte sie schon aufgehört, sich selbst Vorwürfe zu machen. Sie hatte oft von dem Racheakt geträumt, dessen Heldin sie selbst war, und war dann immer mehr von der Sinnlosigkeit dieser rachsüchtigen Anstrengung überzeugt. Sie sagte: »Alles wäre sinnlos gewesen. Der Doktor wäre ja doch nicht wieder lebendig geworden!«

Während sie dumpf, benommen und aufgeschreckt betete, sah sie den Mörder plötzlich auf halbem Weg kehrtmachen und zum Waschbecken laufen. Sie versuchte, ihren Speichel, der wie ein dünnes Rinnsal an ihren Lippen hinunterlief, hinunterzuschlucken. Ihre Augen sahen alles verschwommen, und ihre Lider waren so schwer, dass sie sie nur mit großer Mühe aufschlagen konnte. Sie fühlte die mächtige Brandung eines aufgewühlten Meeres an ihre Schläfen schlagen. Das Gestöhn Dr. Samis hörte sie nicht mehr. Als sie allmählich alles vergaß, sah sie den Mörder, der den Wasserhahn zudrehte und mit der linken Hand die glänzende Klinge des Dolches an seinem Hosenbein abtrocknete. Hierüber erzählte sie später einer Freundin: »Ich habe mich eigentlich gefreut. Ich dachte, dass ich nun zumindest erfahren würde, wie der Doktor ermordet wurde.«

Aber der Mörder hatte gar nicht vor, sie umzubringen. Als er plötzlich blitzschnell zurückkam, weil er irgendetwas vergessen zu haben schien, lief er schnell zu ihr, packte sie an der Hand und zog sie zur Abstellkammer. Er warf seinen Dolch in eine Ecke, denn mit dem Dolch in der Hand konnte er die Tür nicht öffnen. Auch in diesem Moment sagte Frau Sami nichts und leistete keinen Widerstand. Sie wurde nur wie ein schwerer Sack Reis hinter ihm hergezogen. Die Abstellkammer war dunkel, feucht und voller Krimskrams. Der Mörder zerschlug zuerst die Deckenlampe, stieß dann die scharfen Glassplitter vorsichtig zur Seite und sagte zynisch: »Wenn du nicht vor Hunger und Durst sterben willst, bring dich vorher mit diesem Zeug um! Schneid dir die Halsschlagader durch, wenn du auf mich hören willst!« Er fing an zu kichern.

Aber die Kammer erwies sich als ungeeignet, denn ihr Schloss war kaputt. Der Mörder spuckte auf den Boden, trat gegen die Tür und zog die Frau so brutal hinter sich her, dass ihre rechte Wange gegen den Türrahmen prallte. Ein Schmerz, der ihr senkrecht in die Wangenknochen stach, brachte sie plötzlich wieder zu Bewusstsein. Sie fühlte, dass sich noch ein Rest an schwacher Lebenskraft in ihrem Körper regte, der ihre Hände und Füße bewegte und ihr Blut zum Sieden brachte. Dann fing sie zu toben an. Sie schrie, trat um sich und spuckte dem Mann in den Nacken, der einem alten braunen und dicken Baumstamm glich. Während er sie hinter sich herzog, schrie sie ihn an: »Mörder, du bestialischer Mörder, du grausamer, bestialischer Mörder!« Sie schüttete den ganzen Hass und Zorn aus, der sich unter den Wogen der Angst, Verzagtheit und Fassungslosigkeit in ihrem Herzen aufgestaut hatte. Sie hatte ihrer Freundin gesagt: »Wenn ich das nicht getan hätte, wäre mein Herz zerplatzt!«

Aber Frau Sami war zu spät zur Besinnung gekommen. Denn sie hatte erst dann zu schreien begonnen, als der Mörder sie in der Toilette eingesperrt hatte und mit seinem blankgeputzten Dolch geflohen war. Die einzige Spur, die er hinterlassen hatte, war der leblose Körper Dr. Samis, der mit aufgeschlitztem Schädel und zerdrücktem Hirn neben dem Untersuchungstisch auf dem Boden lag, Die dichten Schlingen des grünen Teppichbodens hatten wie ein Schwamm das ganze Blut aufgesogen, das aus den aufgeschnittenen Adern seines Hirnes herausgespritzt war. Die Ärzte stellten in ihrem Obduktionsbericht fest, dass der Mörder ihn mit achtzehn Dolchstichen ermordet hatte. Die rechte Hand des Doktors war wie ein Bratenstück regelrecht in Stücke geschnitzelt worden.

Nach der Rekonstruktion des Falles stellten die Ärzte fest, dass der Doktor nach den ersten Schlägen, die den Schädel zertrümmert und den Zugang zur weichen Hirnhaut erleichtert hatten, seinen rechten Arm gehoben und zu seinem Schutz auf den Schädel gelegt hatte. Der Mörder hatte anscheinend nichts gegen diese Abwehrhaltung unternommen und statt dessen die Wucht seiner Hände noch gesteigert, die aufgrund einer lebenslänglichen Praxis mit der Handhabung von Zangen, Schraubenziehern und -schlüsseln vertraut zu sein schienen. Die nächsten Stiche drangen durch die Bindehaut zwischen dem Zeige- und dem Mittelfinger hindurch, durchbohrten den Schädel und gelangten bis zu zwei Zentimeter tief in die weiche Schicht des Hirns.

In diesem Augenblick muss Dr. Sami jenes herzzerreißende Geschrei mit der Kraft seines ganzen Leibes herausgestoßen haben, das Frau Sami später zwischen der achten und neunten Treppe gehört haben wollte. Denn genau in diesem Augenblick muss die scharfe Spitze des Dolches die erste Nervenfaser, die sich wie eine Spinnwebe über das ganze Gehirn ausbreitet, zerrissen haben und in die senkrechten Kreise des vegetativen Nervensystems eingedrungen sein. Bis zum achten oder neunten Stich muss der Arm in dieser Haltung auf dem Schädel gelegen haben, und dies nicht, weil der Doktor selbst die Hand über den Kopf gehalten hätte, sondern weil sein Oberarm, der zufällig über der Lederlehne seines Arztsessels lag, wie ein Anker seinen Arm und sein Handgelenk abstützte und sie gestreckt hielt. Diese Haltung trieb den zügellosen Mörder, der vom Anblick des Blutes und vom Eindruck der krachenden, brechenden Knochen und der herzzerreißenden Schreie des Doktors noch gereizter und tollwütiger geworden war, bis an die Grenze des Wahns. Er fügte deshalb mit einem noch größeren bestialischen Hass seinem Schädel ununterbrochen noch schnellere, wuchtigere, tiefere Stiche zu. Als der Mörder kurz zum Atemholen innehielt, sah er verwundert, dass der Doktor mit größter Mühe, voller Qual und Schmerz vom Stuhl aufstand, um die Überreste seines Lebens vor seinen blinden, brutalen Attacken und dem Tod zu retten. Der Mörder muss in dieser Situation angesichts des Muts und der Hartnäckigkeit des Doktors den Höhepunkt seines animalischen Zorns erreicht haben. Denn nach Einschätzung der Fachärzte nahmen die Schläge an Tiefe und Wirkung zu, auch wenn sie in Tempo und Intensität nachließen, und dies nicht nur weil der Mörder nach acht oder neun erbarmungslosen Stichen in den Schädel des Doktors ziemlich erschöpft war, sondern auch weil ihm plötzlich einfiel, dass er mit dem Zerstückeln und Herausholen des Hirns seines Opfers sein Ziel eher erreichen konnte. Deshalb stach er danach jedes Mal, wenn er wie ein Wahnsinniger mit der Klinge auf den Schädel des Opfers einschlug, mit der scharfen Spitze des Dolches wiederholt die weiche, milchgraue Substanz des Hirns, die das ganze Wissen und die ganzen Erinnerungen des Doktors beherbergte, in kleinen Kugeln heraus und warf sie wie einen Walnusskern, den man von seiner Schale trennt, auf den Boden.

Als Frau Sami den bewusstlosen, blutigen, zerschmetterten Körper und den eingeschlagenen Kopf ihres Mannes sah, erkannte sie ihn nicht wieder. Nur der offenstehende Mund, in dem die Zahnreihe des Unterkiefers unter einer lilafarbenen Zunge versteckt war, kam ihr bekannt vor, denn der Doktor hatte wegen seinem schiefen Nasenbein die Gewohnheit, mit offenem Mund zu schlafen.

Als Frau Sami mit ihrem Geschrei, ihren herausfordernden und kämpferischen Schimpftiraden aufhörte, merkte sie plötzlich, dass sie inmitten der vier Wände jener weißgekachelten Toilette, die ihrer Stimme einen klaren und hellen Klang verlieh, ganz einsam war und ihr Herz unter der Last eines erdrückenden Grams und Kummers zu schlagen aufhörte. Vor Ohnmacht und Verzweiflung fing sie an zu zittern. Sie starrte auf den quälenden weißen Glanz der Kacheln und versuchte, sich den Doktor in seinem weißen Kittel ganz vertieft in die Untersuchung vorzustellen. Vergeblich. Der Doktor lag vor ihren Füßen auf dem kalten Fußboden, und ein Messer steckte bis zum Knauf in seinem Herzen. Sie wandte sich um, schaute auf den bleifarbenen Heizkörper der Toilette, der seit Monaten wegen Heizölmangel nicht angestellt worden war, und versuchte, sich ihren Mann in seinem grauen Anzug, vornehm und elegant, bei der Eröffnung der politischen Versammlung seiner Organisation – der Organisation der Nationalen Islamischen Bewegung Irans (DJAMA) – in Erinnerung zu rufen. Vergeblich. Sie sah den Doktor mit auf die Schultern gesenktem Kopf, dunkelblau angelaufenem Gesicht und vor Angst weit aufgerissenen Augen schlaff und matt in seinem Vorsitzendensessel versunken, während die Abdrücke zweier dicker Daumen auf seinem Adamsapfel rot schimmerten.

Frau Sami hielt sich die Hände vor den Mund, um nicht vor Angst aufzuschreien. Sie schaute weg, und während sie sich vor Qual und Verzweiflung finsteren und deprimierenden Gedanken überließ, fiel ihr Blick in den Spiegel. Sie wollte darin das nächtliche Gesicht Dr. Samis sehen, wie er müde und erschöpft, mit geröteten Augen und aufgedunsenem Gesicht auf sein Spiegelbild starrte, um seine Koteletten mit der Rasierklinge geradezuschneiden. Sie gab es aber auf, denn sie hatte keine Kraft mehr, dem stummen, turbulenten Kampf zwischen den lebenden und toten Bildern des Doktors in ihren Gedanken zu folgen. Aber die Ungeheuerlichkeit seines Todesbildes ging so weit, dass es sich unabhängig von ihrem Willen und ohne die Präsenz seines lebenden Kontrahenten in der Kampfarena alleine wie eine unbestreitbare Wirklichkeit vor ihr aufbaute: mit aufgeschlitztem Leib, aus dessen heraushängenden Innereien noch warmer Dampf in die Luft stieg, der die Szene matt und verschwommen erscheinen ließ. Aber trotzdem hätte Frau Sami, wenn sie den Mut dazu gehabt hätte, alle durch jenes brutale Gemetzel hervorgerufenen Verletzungen sehen und sie voneinander unterscheiden können. Denn das Bild, das wie ein Alptraum auf ihrer Erinnerung lag, war so überwältigend und stark, dass es die Realität völlig überlagerte. Sofort als ihr Blick auf die zerschnittene Leber, die geschundenen Darmzotten und die mit Blutklumpen gefüllten Löcher und den Doktor gefallen war, der die Innereien mühevoll wieder in seinen Bauch zu stopfen versuchte, hatte sie sich abgewandt und vor Erschütterung und Grauen unbewusst zu weinen angefangen. Vor Entsetzen und Elend hatte sie den Kopf gewiegt und sich gesagt: »Es sind nur Einbildungen … Es sind nur Einbildungen …«

Sie glaubte so fest an die Unabänderlichkeit jenes grausamen Vorfalls, dass es ihr so vorkam, als hätte Gott ihr das sichere Schicksal ihres Mannes eingeben wollen. Verzweiflung ergriff ihr Herz, und im gleichen Moment, während sie in jener weißen, kalten Toilette am ganzen Körper zitterte, kam sie zu dem Schluss, dass ihr ohne den Doktor das Leben nichts wert sei. Sie flehte Gott an, auch ihr das Leben zu nehmen. Sie sehnte dies so inbrünstig herbei, dass sie später ihrer Freundin erzählte: »Wenn es mir nicht plötzlich eingefallen wäre, dass diese Drecksäcke mich des Mordes bezichtigen könnten, hätte ich mir im selben Augenblick das Leben genommen.«

Ihre Vorsicht war nicht abwegig. Die staatlichen Behörden stellten zunächst den Mörder als einen Messerstecher vor, der eine persönliche Rechnung mit Dr. Sami begleichen wollte. Der Mord bekam aber plötzlich eine politische Färbung, und dies nicht, weil die Regierung ihre ursprüngliche Lüge nicht als Wahrheit verkaufen konnte, sondern weil sie ihren Misserfolg durch die Verleumdung anderer Gruppen ausgleichen wollte. Deshalb führten an ein und demselben Tag der Innenminister, der Staatsanwalt des Teheraner Gerichtshofes, der Vorsitzende des Informationsausschusses der Polizei und … und … und … unter verschiedenen Vorwänden Pressekonferenzen durch und gaben bekannt, dass nach den vorliegenden Beweisen politische Ambitionen den Hintergrund dieses Mordes bildeten. Ihre Anschuldigungen zielten auf die politischen Gruppen der »Konterrevolution«. Und wenn die Menschen sich hierbei in den kalten, glanzlosen herbstlichen Nächten unter dem traurigen Schein der Kerze zusammensetzten und leise über den Vorfall unterhielten, kamen sie zu Schlussfolgerungen, die – wenn auch dem Standpunkt der Regierung nicht unähnlich – sich jedoch grundlegend von diesem unterschieden. Deshalb wunderte es auch niemanden, als der Verantwortliche des Roten Halbmondes erklärte, dass der Mörder auch vor der Revolution abscheuliche Taten begangen habe und an die dreiundfünfzig Straftaten in seiner Akte registriert seien. Auch an der politischen Motivation des Mordes zweifelte niemand. Es ging nicht um die unterschiedliche Einschätzung der Persönlichkeit des Mörders oder der Motive für den Mord, sondern um die Umstände des Mordes selbst. Von dem Augenblick an, als Frau Sami in absoluter Verzweiflung die verdreckte Scheibe des kleinen Toilettenfensters in der Praxis zerbrach – nicht um den Empfehlungen des Mörders folgend, ihre Halsschlagader mit den scharfkantigen Scherben durchzuschneiden, sondern um damit ihr Geschrei bis zu den Passanten durchdringen zu lassen –, bis zu dem Zeitpunkt, als man den leblosen Körper Dr. Samis mit dem durchlöcherten Kopf in den Operationssaal schob, reagierte niemand auf die widersprüchlichen Verlautbarungen der Regierung. Obwohl die Experten auf den ersten Blick den Schatten des Todes sahen, der eilig hinter der Tragbahre herlief, fingen sie mit dem Nähen und Verbinden der tiefen und unheilbaren Wunden an, die selbst im Falle einer Genesung dem Doktor kaum Zeit zum Leben gelassen hätten. Während der Operation, die mehr als zehn Stunden dauerte, sagten sich die Chirurgen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln: »Die Sinnlosigkeit und das Scheitern unseres Unternehmens sind von vornherein abzusehen.«

Während der ganzen Zeit hatten sich die Begleiter Dr. Samis und die in immer größerer Zahl herbeiströmenden Menschen dem stillen Bangen eines sinnlosen Wartens hingegeben, die dann in einem Zornausbruch endete. Genau in dem Augenblick, als die Regierung, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und deren Verdacht zu beseitigen, den Gesundheitsminister zum Besuch des im Koma liegenden Doktors schickte, brach dieser Zorn aus. Gerade als der Gesundheitsminister das Krankenhaus betrat, schoss ein kleiner schmächtiger Junge wie ein Pfeil aus der Tür. Plötzlich schrie eine Frau: »Wo läufst du denn hin, Kind? Es regnet doch, du wirst dich erkälten … Nimm doch den Schirm!«

Ohne sich auch nur umzudrehen, schrie der Junge mit schriller Stimme:

»Nein! Der Hadji hat gesagt, dass ich dem ‹Agha› so schnell wie möglich die Botschaft überbringen soll, dass die Regierung den Doktor umgebracht hat.«

Der Junge wusste selbst nicht, dass er mit seinem Geschrei den unheilvollen Zauber jenes schweren Schweigens gebrochen hatte, das jahrelang auf ihrem leid- und kummervollen Leben lastete. Die Menschen, die auf einmal von diesem einfachen Vorfall überrascht wurden, atmeten zunächst tief auf und begriffen dann plötzlich, dass es entgegen allgemeiner Meinung gar nicht so schwer war, das Schweigen zu brechen. Deshalb überwanden sie die Hürden der Angst und Vorsicht, ließen ihrem lange aufgestauten Zorn freien Lauf und schrien hemmungslos: »Tod der Despotie … Freiheit, Freiheit … ist die Botschaft von Samis Blut.«

Niemand bemerkte, wann und wie jene spontane Demonstration endete. Denn der Widerhall jener aufgebrachten Schreie war noch Wochen und Monate danach in den Ohren, in den Herzen, in der leeren Tiefe des Himmels und in den engen dunklen Gassen zu hören. Am Tag der Beisetzung von Dr. Samis Leichnam, der nach sechs aufeinanderfolgenden Operationen drei Tage lang wie ein wundes zerschnittenes Fleischstück auf dem Bett gelegen hatte, verwandelten sich diese kämpferischen Schreie in einen allgemeinen Donner. Obwohl es an jenem Tag kalt, regnerisch und bedeckt war und ab vier Uhr nachmittags die Stromversorgung der Stadt ausfiel, empfanden alle Menschen, die unter dem Vorwand der Teilnahme an der Beisetzungszeremonie die Straßen versperrten, Barrikaden errichteten und mit erschreckenden Stimmen ununterbrochen das herausbrüllten, was sie sieben Jahre lang hinuntergeschluckt hatten – »Freilassung der politischen Gefangenen« –, ihn als einen herrlichen, wunderschönen Tag. Ganz im Gegensatz zu den Revolutionswächtern, die jenen unruhigen Nachmittag mit Schlagen, Verhaften und Abführen der aufgebrachten Menschenmassen verbrachten und, bevor sie die Vernehmung mit Schlägen, Tritten und Schimpfworten begannen, sich auf die Holzbänke warfen und sagten: »Was für ein beschissener Tag …«

Die Regierung war so sehr in ihrem überschäumenden Hass und ihrem Rachegefühl gefangen, dass sie überhaupt nicht an Heil oder Unheil dieses Tages dachte. Sie beschäftigte nur der Gedanke, wie sie jenen aufgewühlten Tag auslöschen konnte. Deshalb beschloss sie, von vorn herein eine mögliche Wiederholung zu verhindern. Als der Regierungschef seine Botschaft an die Angehörigen des den Märtyrertod gestorbenen Dr. Samis – den er »der Getötete« nannte – schickte und bemerkte, dass es besser wäre, die für Freitag geplante Gedächtnisveranstaltung in der Hosseinieh-Erschad-Moschee abzusagen, hielt er seinen Kopf und murrte leise: »Oh Gott! Was für ein großes Unheil ist doch der Tod!«

Frau Sami, die sowohl das Messer des Mörders als auch das zerschnittene Hirn des Doktors gesehen hatte, begriff sogleich die versteckte Botschaft jenes heuchlerischen Wohlwollens. Deshalb sagte sie zu dem ersten Menschen, den sie antraf, bevor sie müde und zerschlagen mit zwei vor lauter Weinen blutunterlaufenen Augen in ihr Zimmer ging, um sich für lange Zeit dort einzusperren: »Sieh zu, was diese tollwütigen Hunde wollen! Tu das, was sie wollen!«

Niemand schenkte dem Inhalt des Briefes Glauben, der am Tag darauf mit der Unterschrift »Familie Sami« in allen Zeitungen erschien. Der Grund lag nicht darin, dass in dieser Anzeige den Bemühungen der »hochrangigen staatlichen Repräsentanten, insbesondere der Stellvertreter der Obersten Führung, der Regierungsmitglieder sowie der verehrten Abgeordneten des Islamischen Parlaments und …« ziemlich überschwänglich gedankt wurde, sondern in erster Linie darin, dass alle die Abfassung und die Veröffentlichung dieses Schreibens als eine Art Unrecht an der Seele des Ermordeten empfanden. Dieses Unrecht konnte nur einem von Hass und Feindseligkeit erfüllten Herzen entspringen und nicht einem schmerz- und leiderfüllten. Als Grund für die Absage der Gedächtnisveranstaltung wurden in dem Schreiben »der unermessliche seelische Kummer der Familie, der unter den jetzigen Umständen die Durchführung jeder anderen Veranstaltung unmöglich macht«, angeführt. Ein Bekannter, der versuchte, sein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, sagte später zu Frau Sami: »Es war das Recht des Doktors, als Märtyrer geehrt zu werden. Wir hätten nicht zulassen dürfen, dass man ihm dies vorenthält!«

Frau Sami, die es nach Monaten noch nicht geschafft hatte, das blutige, hirnlose Bild ihres Mannes an den Tagen, als er um einen einzigen Tropfen Leben mit dem Tod rang, aus ihren Gedanken zu vertreiben, rieb vor Kopfschmerzen ihre Schläfen mit den Fingern und antwortete: »Oh, was soll das schon wieder … Sie haben ihm selbst das Recht zum Leben versagt – geschweige denn alles andere.« Frau Sami hatte recht. Obwohl dieser Bekannte später ihre Worte hier und da so wiedergab, dass alle dies als Verwirrung infolge einer starken, aber verlorenen Gattenliebe auslegten, hatte sie dennoch recht.

Das Herz Dr. Samis schlug noch, wenn auch sehr schwach, in seiner Brust, als die Regierung ihre kaum verdeckte Feindseligkeit gegenüber dem Doktor durch gezielte Verbreitung von Gerüchten vor den Augen der Bevölkerung in eine offen freundschaftliche und einträchtige Beziehung umzuwandeln versuchte. Plötzlich entdeckten Sekretärinnen hochrangiger staatlicher Persönlichkeiten in den Terminkalendern ihrer Vorgesetzten Notizen über die Treffen, die sie mit Dr. Sann gehabt haben wollten. Diese Treffen sollten alle in einer sehr kameradschaftlichen und verständnisvollen Atmosphäre stattgefunden und immer zu sehr fruchtbaren und erfolgreichen Ergebnissen geführt haben. Denn Dr. Sami sollte immer bereit gewesen sein, mit seinen konstruktiven und wohlwollenden Vorschlägen und Empfehlungen der Regierung, der Bevölkerung und seiner Heimat zu dienen. Manche sagten sogar, dass seit der Destabilisierung der Position des Regierungschefs in den nichtreligiösen politischen Kreisen Teherans von Dr. Sami öfters als künftigem Ministerpräsidenten gesprochen worden sei. Als der Innenminister offiziell erklärte, dass Dr. Sami in den letzten Monaten eine »sehr enge, umfangreiche Zusammenarbeit mit der Regierung« gehabt habe, erreichten Frau Samis Kopfschmerzen, die in jenem Augenblick zum ersten Mal in ihrem Leben begonnen hatten, als sie sich schreiend und hastig an den Wänden jener kalten, gekachelten Toilette hochriss, ihren Höhepunkt. Während sie ihren bleischweren Kopf in die Hände nahm und in einem Zimmer auf- und abging, dessen Wände genau wie die Fenster von dicken blauen Vorhängen bedeckt waren, entrüstete sie sich mit wachsender Empörung: »Die Unverschämtheit hat doch wohl auch ihre Grenzen!«