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Dr. Norden Bestseller
– 73–

Eine Patientin gibt Rätsel auf

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-220-8

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»Ein Baby? Ich bekomme wirklich ein Baby?« fragte Dorle Martini. »Deshalb ist mir manchmal so schwindelig?«

»Ja, das ist der Grund«, bestätigte Dr. Daniel Norden, »und demzufolge sollten sie sich jetzt ein bißchen schonen. Den ganzen Tag auf den Beinen sein und diese verschiedenen Gerüche einatmen, ist nicht gerade das Richtige.«

»Aber wir brauchen doch das Geld, Herr Doktor«, sagte sie leise. »Jetzt erst recht. Unsere Wohnung ist schon für uns zu eng. Eigentlich wollten wir mit dem Kind ja auch noch warten, bis wir aus dem Schneider sind. Nicht, daß wir es nicht haben wollen, das dürfen Sie nicht denken, aber es kommt doch ein bißchen überraschend.«

Dr. Norden kannte Dorle Martini. Sie war Friseuse, eine sehr gute, wie ihm seine Frau Fee mit ihren flotten Frisuren bestätigte. Und Dorle war eine hübsche, sympathische junge Frau. Seit sechs Monaten war sie verheiratet. Ihren Mann kannte sie schon vier Jahre, aber an eine frühere Heirat war nicht zu denken gewesen.

Nach der Schulzeit mußte Michael zur Bundeswehr, und erst danach konnte er im Berufsleben Fuß fassen. Nun hatte er, nach zweijähriger Ausbildungszeit, eine Stelle als Industriekaufmann gefunden, die allerdings nicht gerade üppig honoriert wurde. Es war Dorle gewesen, die gemeint hatte, daß sie gemeinsam schneller vorankommen würden. Zielstrebig wie sie war, hatte sie sich eine kleine Eigentumswohnung gekauft. Eigentlich konnte man diese als winzig bezeichnen, aber Dorle meinte, wenn sie heiraten würden, könnten sie die Miete für Michaels möbliertes Zimmer sparen.

Für Michael gab es keinen Zweifel, daß Dorle die richtige Frau für ihn sei. Er hatte sich nie nach einer anderen umgeschaut. Nun sparten sie auch fleißig, um sich eine größere Wohnung zu schaffen, hofften auch, das Appartement einigermaßen günstig verkaufen zu können.

Dr. Norden, der dies alles wußte, verstand auch, daß Dorles Freude gedämpft war, denn schneller als geplant, mußten sie nun an einen Wohnungswechsel denken. Für ihn aber war es wichtiger, daß dieses zarte Persönchen nicht überfordert wurde.

»Ein paar Monate muß ich noch durchhalten, Herr Doktor«, sagte Dorle, »und ich werde auch durchhalten. Ein Weilchen kann ich es doch noch für mich behalten, daß ein Baby unterwegs ist. Wenn ich es Michael gleich sage, fängt er sofort wieder zu rechnen an, da er bestimmt nicht damit einverstanden ist, wenn ich weiterhin berufstätig bleibe. Aber gerade jetzt verdiene ich doch so gut, weil Frau Rapp operiert worden ist und mir die Geschäftsführung anvertraut hat. Es gibt doch sicher Mittel, damit ich über diese komischen Zustände hinwegkomme.«

Freilich gab es Mittel und vor allem Vitaminpräparate, um vorübergehende Schwächezustände zu dämpfen, aber Dr. Norden wußte auch sehr gut, daß Dorle tagsüber kaum zur Ruhe kam. Fee Norden hatte schon manches Mal darüber gesprochen, wie sie in Atem gehalten wurde.

»Andere Frauen arbeiten bis zuletzt«,sagte Dorle mit fester Stimme. »Es ist doch keine Krankheit, wenn man ein Kind bekommt. Und jetzt, wo ich es weiß, ist mir auch nicht mehr so bange, wenn mir mal schwarz vor Augen wird. In zwei Monaten bekommt Michael eine Gehaltserhöhung, dann ist er auch den Druck los, daß ich jetzt noch mehr verdiene als er. Er macht schon seinen Weg. Er gehört nicht zu denen, die gleich nach den Sternen greifen und dann auf die Nase fallen. Bei ihm muß alles Hand und Fuß haben.«

Dr. Norden nickte. Das war ein junges Ehepaar so recht nach seinem Herzen.

»Ich werde Sie an Dr. Leitner überweisen, Frau Martini«, sagte er. »Sie müssen mir versprechen, regelmäßig zur Kontrolluntersuchung zu gehen. Riskieren wollen wir doch nichts.«

»Nein, auf keinen Fall. Ich freue mich ja auch auf das Baby, nur kann ich halt keine Luftsprünge machen.«

»Das sollen Sie auch nicht. Es nicht mit der Arbeit übertreiben und zwischendurch immer mal eine Ruhepause einlegen.«

Ihre Wangen hatten Farbe bekommen. »Jetzt geht es mir schon besser. Die Ungewißheit ist vorbei. Ich weiß, worum es geht.«

*

Unbeschwert konnte sich Dorle wahrhaftig nicht freuen, erst recht nicht, als sie sich in dem winzigen Appartement umschaute, das inklusive Küche, besser gesagt, Kochnische, und Bad gerade fünfunddreißig Quadratmeter maß. Nicht einmal für ein kleines Kinderbettchen würde da Platz sein.

Das Wohnungsproblem beschäftigte sie an diesem Montag, an dem das Geschäft geschlossen war, am meisten.

Sie mußte unbedingt die Wohnungsangebote studieren, aber da es ein schöner, sonniger Tag war, beschloß sie doch, vorerst einmal frische Luft zu tanken, wie Dr. Norden es ihr noch empfohlen hatte.

Sie schlug den Weg zum Wald ein, wanderte durch die stillen Villenstraßen und betrachtete die komfortablen Häuser. Ein irrsinniges Geld mochten die kosten, ging es ihr durch den Sinn, aber ob die Menschen, die darin wohnten, glücklicher waren als sie?

Neid kannte Dorle nicht. Sie hatte viele Kundinnen, die die kostbarsten Pelze und den teuersten Schmuck besaßen und doch immer unzufrieden waren und auch zuerst meckerten, wenn die Preise wieder etwas in die Höhe gegangen waren. Sie hatten nie Zeit zu warten und klagten andererseits doch darüber, wie öde und langweilig ihr Leben sei.

Fee Norden gehörte nicht zu diesen. Sie war immer freundlich und nörgelte nie. Sie sagte auch nie, daß die Kinder sie zu sehr strapazierten und sie nervös machten.

Dorle nahm sich vor, einmal solch eine Mutter zu werden, wie Fee Norden eine war. Und auf ihrem Spazierweg träumte sie auch davon, einmal ein Häuschen zu besitzen, natürlich nur ein bescheidenes, aber einen kleinen Garten dazu, eine Welt für sich, in der ihre Kinder nicht von kinderfeindlichen Nachbarn eingeschüchtert werden konnten.

Ja, das war halt auch so ein Problem, wenn man in einem großen Mietshaus leben mußte.

Ein Baby wuchs heran. Es wollte spielen, beschäftigt werden. Es gab eine Menge zu bedenken. Beneidenswert waren die Kinder schon, die nur in den Garten hinauszulaufen brauchten, die sogar einen Wald in der Nähe hatten, wie es hier in diesem Viertel war.

Ein paar hübsche Doppelhäuser standen da, mit viel Holz, das so anheimelnd wirkte. Plötzlich entdeckte sie am Gartenzaun das Schild: Zu verkaufen. Darunter die Adresse eines Immobilienmaklers.

Dorle blieb stehen und betrachtete es. Ganz sehnsüchtig wurde ihr Blick. Ja, das würde ihr gefallen, aber es war ein Wunschtraum, dem keine Erfüllung beschieden sein konnte.

Vielleicht sollten wir doch mal Lotto spielen, dachte sie dann. Es haben doch manche Menschen Glück. So zwanzigtausend Mark würden ihnen ja schon reichen, wenn sie dann das Appartement verkaufen konnten, als Anzahlung für ein Reihenhaus.

Sie überlegte. Nein, reichen würde das doch nicht, wenn sie nicht mehr mitarbeiten konnte. Dann war die Belastung zu hoch. Dorle verlor den Sinn nicht für so nüchterne Überlegungen, obgleich sie ins Träumen verfallen war.

Immer hübsch mit den Füßen auf dem Boden bleiben, das hatte sie sich, ebenso wie Michael, zur Devise gemacht.

Und als sie an Michael dachte, fiel ihr siedendheiß ein, daß sie nun endlich wieder nach Hause gehen mußte, um ihm das Essen zu kochen.

Sie ging eine andere Straße zurück, in der noch größere, noch luxuriösere Häuser standen. Und vor einem parkte Dr. Nordens Wagen. Sie kannte den Wagen in grünmetallic. Manchmal benutzte ihn auch Fee Norden, wenn ihr Cabrio mal wieder in der Werkstatt war.

Geld schützt auch nicht vor Krankheit, dachte sie und ging schnell weiter.

*

Krank jedoch war die Patientin nicht, die um Dr. Nordens Besuch gebeten hatte. Er hatte tief geseufzt, als seine Hilfe Loni ihm gesagt hatte, daß Frau van Cron dringend um seinen Besuch gebeten hatte.

Maja van Cron war eine exzentrische Frau, die nur ein paar Illustrierte zu lesen brauchte, um alle möglichen Krankheitssymptome an sich zu entdecken. Sie führte ein inhaltsloses Leben, wußte nichts mit ihrer Zeit anzufangen, wenn sie nicht gerade bei einem Einkaufsbummel Unsummen für Kleidung ausgab, durch die sie auch nicht attraktiver wurde. Sie war groß und dürr. Letzteres war auf eine Schlankheitskur zurückzuführen, der sie sich vor sechs Wochen unterzogen hatte.

Sie war vierzig und wollte wie zwanzig wirken, doch durch ein Lifting wirkte ihr Gesicht noch ausdrucksloser als vorher.

Vor einem knappen Jahr, nachdem ihr Mann, Marius van Cron, Generaldirektor eines großen Industrieunternehmens geworden war, hatten sie dieses Haus bezogen.

Fast ebenso lange hielt sie Dr. Norden mit ihren vielen Wehwehchen in Atem.

Ihre neunzehnjährige Tochter Isabel hatte Dr. Norden an diesem Nachmittag die Tür geöffnet. Sie war ein reizendes Mädchen, nicht gerade hübsch zu nennen, aber doch mit einem besonderen Charme ausgestattet, der Dr. Norden überlegen ließ, wie Maja van Cron zu solch einer Tochter kam.

Ein Schulterzucken und ein bedeutungsvoller Augenaufschlag verrieten ihm, daß es ihr leid tat, ihm seine Zeit, die kostbar genug war, zu stehlen.

Daß auch sie es nicht leicht hatte mit ihrer Mutter, verriet Majas herrische Bemerkung.

»Du kannst ruhig gehen, Isabel. Du hast ja doch kein Verständnis für deine Mutter.«

Schrill war Majas Stimme. Und als Isabel sich zurückgezogen hatte, beklagte sie sich erst einmal, daß ihre Familie nicht das geringste Mitgefühl mit ihr hätte.

»Mein Mann schützt immer nur Arbeit vor und ist kaum einen Abend daheim, Isabel tingelt von einer Party zur anderen, und Fabian verbringt das Wochenende lieber mit seinen Freunden, obwohl man doch meinen möchte, daß man gern einmal dem Internat entflieht.«

»Sie hätten ihn doch auch hier zur Schule schicken können, gnädige Frau«, sagte Dr. Norden, dem diese Klagen so langsam über waren, da er sie immer wieder hören mußte.

Gesagt hatte er es aber noch nie, und Maja sah ihn mit einem starren, vorwurfsvollen Blick an.

»Schließlich möchte man die Kinder doch in einem angemessenen Niveau heranwachsen sehen«, erwiderte sie herablassend.

»Dann sollte man sich auch nicht beklagen, wenn sie in diesem Niveau Freunde finden«, erklärte Dr. Norden, der Frau van Cron lieber als Patientin verlieren wollte, als sich weiterhin diese Klagen anhören zu müssen.

»Sie haben doch auch Kinder«, sagte sie. »Möchten Sie, daß sie unter diesen Proletariern aufwachsen? Heutzutage kann doch jeder ein Gymnasium besuchen.«

»Was ich auch für richtig halte, wenn die geistigen Voraussetzungen gegeben sind«, erwiderte er.

Ihre Augen verengten sich. »Sind Sie etwa Kommunist?« fragte sie scharf.

»Keineswegs, aber ich bin für die Chancengleichheit, und viele sehr kluge Männer kommen aus dem sogenannten Proletariat. Aber Sie haben mich rufen lassen, weil Sie sich krank fühlen.«

»Ich bin seelisch am Ende. Ich fühle mich im Stich gelassen. Ich kann nicht mehr schlafen und bin appetitlos. Mein Mann ist launisch, wenn er mal daheim ist. Ich sitze in einem Käfig, während meine Familie tut, was sie will.«

Er betrachtete sie forschend. Zum ersten Mal machte sie einen wirklich kränklichen Eindruck auf ihn. Sie war tatsächlich ein Nervenbündel, aber bei dieser schnellen Gewichtsabnahme war das nicht verwunderlich.

Das pinkfarbene Hauskleid ließ ihre Gesichtsfarbe wächsern erscheinen. Ihre dünnen, knochigen Finger mit den langen rotlackierten Fingernägeln wirkten wie Krallen.

Man kann sich auch selbst ruinieren, ging es ihm durch den Sinn. Aber wie war dieser Frau beizukommen?

»Ich würde vorschlagen, daß Sie doch mal zu mir in die Praxis kommen, damit wir Sie mal richtig untersuchen«, schlug er vor. »Vorerst könnte ich Ihnen ein appetitanregendes Mittel verschreiben.«

»Um Gottes willen, dann war ja die ganze Kur umsonst«, protestierte sie.

Dr. Norden runzelte leicht die Stirn. »Ich brauche keine Waage, um festzustellen, daß Sie jetzt Untergewicht haben, gnädige Frau«, sagte er.

»Das soll doch nur gut sein«, erwiderte sie rasch.

»Vom ärztlichen Standpunkt aus nicht«, sagte er ruhig.

»Man möchte ja schließlich auch mit der Mode gehen und nicht als Matrone angesehen werden«, erklärte sie.

Sie ist nicht nur eitel, sie ist auch dumm, dachte Dr. Norden. Aber so etwas durfte er natürlich nicht laut sagen. Doch aus Erfahrung wußte er auch, daß Hungerkuren schwere organische Schäden nach sich ziehen konnten, und diesmal schien es sich bei ihr wirklich nicht nur um ein Wehwehchen zu handeln, denn plötzlich wurde sie von Krämpfen geschüttelt.

Sie stöhnte und schrie vor Schmerzen. Er gab ihr eine krampflösende, schmerzstillende Injektion und wartete die Wirkung ab. Lange brauchte er allerdings nicht zu warten, denn erschöpft schlief sie ein. Bleich wie eine Wachspuppe lag sie in den spitzenbesetzten Kissen.

Als Dr. Norden sich umblickte, sah er Isabel, die am Türrahmen lehnte.

»Ma ist ja wirklich krank«, sagte sie verwundert.

Dr. Norden ging auf sie zu und schob sie sanft nach draußen.

»Ja, sie ist krank«, sagte er. »Wir können später darüber sprechen. Ich möchte sie noch ein paar Minuten beobachten.«

»Pa ist auch schon gekommen«, sagte Isabel, »aber er will es nicht glauben, daß ihr wirklich etwas fehlt.«

Marius van Cron ließ sich vorerst auch gar nicht blicken.

Als Dr. Norden dann nach fünf Minuten aus dem Schlafraum der Hausherrin kam, saß Isabel in dem Boudoir. Ihre Mutter legte Wert darauf, es so zu bezeichnen.

Man lebte zwar unter einem Dach, aber jeder hatte seine Räumlichkeiten. Es war so, wie Daniel Norden sich für sich ein Familienleben nicht vorstellen konnte.

»Ich habe Pa gesagt, daß Ma diesmal nicht simuliert«, sagte Isabel. »Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel, wenn er skeptisch ist, Herr Doktor. Bellende Hunde beißen nicht, sagt man, und wenn sie dann doch mal zubeißen, wundert man sich. Das war wohl ein schlechter Vergleich«, fügte sie dann verlegen hinzu.

»Ich verstehe schon, was Sie meinen, Isabel«, erwiderte er lächelnd.

Sie hatte ihn schon bei seinem zweiten Besuch in diesem Hause gebeten, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Da war sie noch zur Schule gegangen. Inzwischen hatte sie die Reifeprüfung abgelegt, und das sehr gut, wie er erfahren hatte.

»Gehen wir zu Pa«, schlug sie vor. »Er ist ein geplagter Mann.«

Das mochte stimmen, dennoch war Marius van Cron bedeutend sympathischer als seine Frau. Er war kleiner als sie und untersetzt. Er hatte ein breites, doch markantes Gesicht, wachsame Augen und unter einem schmallippigen Mund ein energisches Kinn.

Daß er ein kluger Mann war, konnte man nicht bezweifeln. Die Position, die er sich errungen hatte, sprach dafür.

»Geh ruhig, Isabel«, sagte er freundlich zu seiner Tochter. »Ich bin heute zu Hause.«

Isabel warf Dr. Norden einen fragenden Blick zu. »Ihre Mutter wird schlafen«, sagte er, denn er fühlte, daß Marius van Cron sich mit ihm allein unterhalten wollte.