Cover

Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «The Rising» bei Oxford University Press.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Rising» Copyright © 2014 by Tom Moorhouse

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Sophie Härtling

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt, nach dem Entwurf von Oxford University Press

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-21224-6 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-53571-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-53571-8

Wir sind Flusssänger, ein Wasservolk, die Kinder von Sinethis. Wir leben, wie er es uns vorgibt. Er nimmt unsere Alten und schenkt uns Junge. Er stillt unseren Hunger und ernährt uns mit Gräsern. Er schützt uns in seinen Wassern und Bauen. Er zieht uns zu sich und stößt uns wieder von sich, wenn es ihm gefällt. Er singt mit uns ein Lied, so weich wie die Disteln, so hart wie die Wurzeln, so tief wie die Schatten und so alt wie die Steine. Wir singen mit ihm ein Lied, so schnell wie Gedanken, so süß wie Äpfel, so kurz wie der Tag. Wir sind Flusssänger, und wir gehören ihm.

Prolog

Der Regen peitschte über das Marschland. Er neigte die Schilfgräser und drückte das Süßgras zu Boden. Er strömte in die Gräben, bis das Wasser darin schäumte. Der Angriff des Wassers war gnadenlos: Es gab kein anderes Geräusch als Regen, keine andere Farbe als Grau und keinen anderen Geruch als Feuchtigkeit. Die Welt wusch sich von allem rein.

Es begann mit einem kalten Schauer, der von einem auffrischenden Wind herbeigetragen wurde. Die Jungen spielten zwischen den ersten Tropfen, bevor sie nach Hause liefen. Dann wurde der Regen stärker. Die erwachsenen Tiere suchten hektisch nach Schutz, hasteten zwischen dichten Pflanzenbüscheln umher. Sie schüttelten sich das Wasser aus dem Fell und zogen sich in ihre Baue zurück. Sie warfen schiefe Blicke zum Himmel und warteten darauf, dass der Regen abzog. Aber er zog nicht ab.

Nach wenigen Tagen war der Boden durchweicht. Überall tropfte Wasser herab. Es floss von den Blättern, tropfte durch Risse im Boden und breitete sich über die Wände der Baue aus. Die Böden verwandelten sich in Matsch. Die Nester wurden feucht und kalt. Das sommerliche Geplänkel verstummte, und Streit zog über den Sumpf. Die Stimmung im Marschland wurde schlecht.

Dann kamen die Feinde. Sie kamen in Mengen aus ihren Höhlen, um an den Rändern der Gräben zu jagen. Im Lärm des Regens waren sie nicht zu hören. Noch mit Gräsern in den Pfoten wurden die Schermäuse überrascht oder direkt aus ihren Bauen gezerrt.

Die Jungen in den Nestern wurden immer ängstlicher. Macht euch keine Sorgen, beruhigten ihre Mütter, das ist sicher bald vorbei. Sinethis trinkt den Himmel leer, und dann kommt die Sonne zurück. So ist es immer.

Doch wenn die Jungen schliefen, verlegten die Mütter die Nester in die höheren, trockenen Kammern und verbarrikadierten die Eingänge. Sie mussten mit ansehen, wie die niedrigeren Kammern überflutet wurden, und hofften, dass das Hochwasser nicht weiter stieg.

Gerüchte verbreiteten sich über das Marschland. Sinethis kommt, der Große Fluss, hieß es. Das Volk muss den Preis für seinen Durst zahlen. Die alten Geschichten, die den Kindern Respekt vor dem Großen Fluss lehren sollten, wanderten von Ohr zu Ohr. Geschichten vom Hochwasser, als Sinethis ins Marschland eingedrungen war und die Feinde vor sich hergetrieben hatte. Als er sich in die Baue gedrängt und Böschungen in seinen Fluten ertränkt hatte. Als er ein schreckliches Lied von Überflutung und Ertrinken gesungen hatte.

Und beim Anblick der gefüllten Gräben wussten die River Singers, dass die Geschichten wahr waren. Bei jedem Mahl hinterließen sie ihre Opfergaben, wie sie es gelernt hatten, und murmelten ihre Gebete: Ich biete mich selbst als Opfer dar. Mögen deine Wasser gnädig sein.

Sie warteten.

Das Wasser stieg.

Und es regnete immer weiter.

~ Teil 1 ~ Das Marschland

«Das ist doch einfach typisch», sagte Streif laut, während sie ihrer Schwester durch den Gang folgte. «Ausgerechnet jetzt, wo wir alt genug sind, um allein nach draußen zu gehen, sagt Mutter, wir dürfen nur noch morgens und abends raus. Findest du nicht, dass das typisch ist? Also, ich schon.»

Ivy ignorierte sie. Kale, der als Letzter lief, schwieg ebenfalls. Aber das war in seinem Fall nichts Ungewöhnliches.

«Ich weiß», fuhr Streif fort, «Mutter will nicht, dass wir bei all dem Regen mitten am Tag rausgehen, aber wir sind doch schließlich keine Jungen mehr, oder? Ich bin ziemlich sicher, dass ich mit so ein bisschen Getröpfel schon umgehen könnte.»

Überwältigt von all diesen Ungerechtigkeiten, marschierte Streif direkt in Ivy hinein, die vor Onkel Fodurs Kammern stehengeblieben war.

«Oh, Entschuldigung.» Streif wich zurück und trat ihrer Schwester dabei auf den Schwanz.

«Autsch.» Ivy presste den Schwanz an ihre Brust und betrachtete ihn argwöhnisch. Dann drehte sie sich wütend zu ihrer Schwester um. «Wirklich, Streif, wieso kannst du nicht zur Abwechslung mal aufhören zu reden und stattdessen gucken, wohin du gehst?»

Ivy wandte sich ab. Streif zog hinter ihrem Rücken eine Grimasse.

«Und zieh hinter meinem Rücken keine Grimasse», sagte Ivy, ohne sich umzudrehen.

Streif streckte ihre Zunge heraus. Wenn ihre Schwester unbedingt nerven wollte, dann konnte sie es gern so haben.

«Onkel Fodur!», rief Ivy. «Bist du da?»

«Natürlich ist er da», sagte Streif. «Wo sollte er denn sonst sein? Du weißt doch, dass er nicht gern rausgeht.»

«Ich bin bloß höflich», gab Ivy zurück. «Etwas, was dir offenbar nicht besonders liegt.»

Manchmal war der Drang, ihre Schwester zu beißen – nur ein einziges Mal –, beinahe überwältigend. Besonders jetzt. Niemand hatte mehr gute Laune. Alles im Bau war feucht, auch ihre Nestkammer. Selbst wenn sie hätten rausgehen dürfen, was nicht der Fall war, dann würden sie nur noch nasser werden. Doch zumindest, dachte Streif, wären sie frei. Oh, sie kannte die Gründe. Es war für junge Schermäuse tagsüber nicht sicher, und die Feinde waren überall. Ihre Mutter fand, sie hätte genug damit zu tun, die Markierungen ihres Territoriums frisch zu halten, ohne sich Sorgen darüber zu machen, ob ihre Kinder lebend zurückkehrten. Darum saß Streif mit Ivy und Kale hier drinnen fest. Sie seufzte und unterdrückte den Drang, ihre Schwester zu beißen. Stattdessen wartete sie auf Onkel Fodur. So dicht vor seinen Kammern war der Geruch nach Ratte stark. Nicht schlimm, aber fremd, selbst für Streif, die Fodur schon ihr Leben lang kannte. Der Geruch ähnelte dem eines Sängers, hatte aber diese scharfe Note, die irgendwie nicht passte.

«Wer ist, der mich stört?», ertönte eine knurrige Stimme. «Ich ist viel beschäftigte Ratte. Hat viele Dinge zu tun. Keine Zeit für kleine Mäuschen. Am besten, ihr geht. Ihr ist hier nicht erwünscht.»

Streif grinste. Das war Fodurs Lieblingsspiel.

«Ach, hör schon auf», rief sie. «Du wusstest genau, dass wir kommen. Mutter hat uns erlaubt, dich zu besuchen. Aber diesmal sollen wir nicht so lange bleiben.»

«Hat sie das, hm? Ist sicher, dass sie nicht sagt, ihr sollt alten Fodur meiden? Ihr weißt, dass Fodur frisst kleine Sänger, oder? Dass er nagt ihre Knochen?»

Streif kicherte. «Du würdest niemals einen Sänger fressen. Du bist die netteste Ratte der Welt.»

«Ist ich wirklich? Ist vielleicht, weil ihr mich nur sieht, wenn ich nicht hungrig. Und heute ich ist eine sehr hungrige Ratte. Also, wagt ihr, den Bau der großen, bösen …»

«Ja, das tun wir», unterbrach ihn Streif. «Und das hast du alles gestern schon gesagt.»

«Wirklich?» Sie hörten Fodur leise kichern. «Ach, nun gut. Ich versucht es. Ihr kommt rein, besser.»

Die jungen Schermäuse drängten in die Kammer. Streif ging natürlich als Erste, sie quetschte sich an Ivy vorbei und warf sich an Fodurs Brust, der sich sanft aus ihrer Umarmung löste und die jungen Schermäuse anstrahlte.

«So, ihr kommt für Geschichten?»

«Ja, Onkel Fodur»», sagte Ivy.

«Erinnert Fodur: Wo ist wir in der Geschichte?»

«Ooh, das kann ich dir ganz genau sagen», meinte Streif. «Du warst gerade dabei zu ertrinken, und Mutter und Onkel Sylvan sind gekommen, um dich zu retten, aber du konntest nicht schwimmen, und die Ratten hatten dich gebissen, und da bist du untergegangen und …»

«Ah. Ähm. Ich erinnert mich jetzt. Dankt dir, Streif. Mochtsein, jetzt, dass Ratte spricht, ja?»

«Genau, Streif», meldete sich Ivy zu Wort. «Lass Onkel Fodur erzählen.»

Streif schenkte ihrer Schwester ihren giftigsten Blick.

«Es tut mir leid», sagte sie dann, betont an Fodur gerichtet.

«Schon gut. Also setzt euch, und wir seht, was kommt.»

Streif ließ sich neben Kale nieder und lehnte sich an die abgenagte Wurzel einer Schwerlilie. Sie beäugte die Wurzel hungrig. Im Bau eines Sängers hätte sie keinen Tag überstanden. Aber Fodur mochte Wurzeln nicht besonders, und er konnte es nicht leiden, wenn andere die Wände seiner Kammer benagten, also zwang Streif sich, die Wurzel zu ignorieren. Ivy ließ sich auf der andere Seite von Kale nieder und versuchte einen trockenen Fleck an der weichen Torfwand zu finden. Als sie bereit waren, nickte Fodur ihnen wohlwollend zu.

«Gut. Lässt uns sehen, wo wir ist. Ah … Also, die Wasser schlägt über Fodurs Kopf. Euer Sinethis, glaubt ich, hat ein Auge auf Fodurs Leben.»

Onkel Fodur hatte eine besondere Art, seine Geschichten zu erzählen. Sie waren ganz anders als die alten Sängergeschichten, die hauptsächlich von den schrecklichen Dingen handelten, die passieren, wenn der Große Fluss wütend wird oder man zu nah an ein fremdes Territorium kommt. Onkel Fodur hatte seine Geschichten wirklich erlebt: Mutter, Onkel Sylvan und er waren wirklich vom Großen Fluss hierher ins Marschland gekommen und hatten gegen Nerze gekämpft und gewonnen und hier ein Zuhause gefunden. Mutter sprach nicht viel davon, aber Onkel Fodur sagte immer, echte Geschichten seien ganz nach Art der Ratten, und eine Ratte, die ihre eigene Geschichte nicht kenne, sei keine echte Ratte. Und Streif liebte diese Geschichten. Trotz ihres Hungers merkte sie kaum, wie der Nachmittag sich in den grauen Abend verwandelte. Sie hörte ihre Mutter erst, als sie bereits vor Fodurs Kammer stand.

«Also, ich bin sicher, dass ich hier irgendwo ein paar Kinder hatte», sagte ihre Mutter. «Aber wenn das stimmt, dann werde ich doch sicher zumindest eines von ihnen in meinem Bau finden, wenn ich nach Hause komme.»

Fodur blinzelte den Jungen zu. «Mochtsein, ist Zeit, zu gehen.»

Er scheuchte sie auf die Füße, als ihre Mutter hereintapste. Sie lächelte Fodur an und ließ ihren belustigten Blick über ihre Kinder schweifen.

«Oh, da sind sie. Wie dumm von mir. Das hätte ich mir denken können. Weil sie eigentlich immer hier sind, wenn sie irgendwo anders sein sollen. Zum Beispiel draußen beim Fressen.» Sie legte den Kopf schief. «Es ist schon Abend, wisst ihr?»

«Onkel Fodur hat uns gerade von Onkel Sylvan und dem Fuchs erzählt, und wie Tante Fern …»

«Ja. Gut, Streif», unterbrach ihre Mutter sie schnell. «Nun solltet ihr euch aber verabschieden. Ich hoffe, ihr habt Fodurs Zeit nicht zu lange in Anspruch genommen.»

«Kinder ist immer willkommen, Aven», sagte Fodur.

Ihre Mutter lächelte. «Ja, natürlich. Aber jetzt ist es Zeit zu essen, bevor wir schlafen gehen.»

Streif sprang auf und lief zum Eingang der Kammer. Ihre Mutter trat ihr in den Weg. «Erst die Regeln.»

«Aber Mutter, ich …», begann Streif.

Ihre Mutter räusperte sich. «Du willst doch nicht mit mir streiten, oder?», sagte sie mit sanft-drohender Stimme.

Streif senkte den Kopf. «Nein, Mutter.»

«Eine weise Entscheidung. Also, wie lauten die Regeln?»

«Friss schnell, sei wachsam, halt dich dicht am Wasser», sagte Streif.

«Und?»

«Bleib in der Nähe des Baus», seufzte Streif resigniert.

«Richtig. Und besteht die Möglichkeit, dass du diese Regeln auch befolgst?»

Ivy schnaubte.

«Das tue ich wohl», gab Streif zurück. «Ich gehe nur nach draußen. Wie Mutter sagt.»

Aven warf ihrer Tochter einen skeptischen Blick zu. «Gut. Aber nur zur Sicherheit: Kale, wenn du siehst, dass Streif woanders hinläuft, könntest du sie bitte daran hindern, von einem Reiher oder etwas Ähnlichem gefressen zu werden?»

Kale nickte kurz. «Okay.»

«Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst», murrte Streif.

«Ich mache mir eher Sorgen um den Reiher», sagte ihre Mutter lächelnd. «Also denkt daran, dass da draußen Feinde sind. Seid vorsichtig.»

«Ja, Mutter.»

Aven betrachtete ihre Jungen liebevoll. «Was für brave Schermäuse ihr seid. Dann also ab mit euch.»

Und Streif schob alle Gedanken an die Geschichte beiseite und hastete fröhlich zum Ausgang des Baus. Das Letzte, was ihre Mutter ihr nachrief, hörte sie in ihrer Aufregung schon nicht mehr.

«Seid vorsichtig!»

~~

Als sich die Dämmerung senkte, wurde aus dem Regen ein leichtes Nieseln. Eine Weile rissen die Wolken auf und gaben eine scheue Sonne frei. Das Licht strahlte grün-golden durch ein Blatt und brachte einen kurzen Augenblick Wärme mit sich. Doch dann verblasste es, und zurück blieb nur der Regen. Sylvan lächelte bedauernd. Nun gut. Es war schön gewesen, wenn auch kurz. Er drängte sich durch einen überhängenden Saum aus Glanzgras und stieß dabei gegen die nassen Blätter. Das Wasser ergoss sich über seinen Kopf, und er schüttelte es verärgert ab. Wirklich, ein bisschen trockenes Wetter wäre langsam schön. Dann konzentrierte er sich wieder auf seinen Weg. Er musste vorsichtig sein: Er befand sich mitten in einem unbekannten Territorium und wollte seine Besitzerin nicht aufschrecken. Er folgte einem Trampelpfad durch die Pflanzen am Grabenrand und hielt Ausschau nach dem Weibchen, das hier wohnte.

Trotz Sylvans Vorsicht sah das Weibchen ihn, bevor er es bemerkte. Halb verborgen stand es hinter einem Büschel. Er sah es erst, als das Weibchen ihm in den Weg sprang und einen Angriffsschrei ausstieß. Erschrocken stellte sich Sylvan auf die Hinterbeine und hob die Pfoten. Die zwei Schermäuse beäugten sich misstrauisch.

«Was willst du?», fragte das Weibchen.

Der Ton war nicht vollkommen feindlich. Sylvan nahm an, dass er dafür dankbar sein sollte. Weibchen verteidigten ihre Gebiete mit scharfen Worten und noch schärferen Zähnen. Auf seinen Reisen hatte er zahllose Sänger getroffen. Die Männchen waren normalerweise in Ordnung. Man konnte sie meiden oder ihnen klarmachen, dass man gern allein sein wollte. Mit den Weibchen war es allerdings anders, besonders wenn sie Junge hatten, die sie beschützen wollten. Er hoffte inständig, dass dieses Weibchen keine hatte. Weibchen mit Jungen waren vollkommen unberechenbar.

«Mein Name ist Sylvan», sagte er. «Ich möchte keine Schwierigkeiten machen. Ich ziehe hier nur durch. Sie haben ein sehr schönes Territorium.»

«Ich bin Meisterin Mallow. Und ich weiß, dass es schön ist. Es gehört nämlich mir.»

«Mit Ihrer Erlaubnis gehe ich einfach schnell durch, Meisterin.»

Sylvan riskierte es, sich auf alle viere niederzulassen. Meisterin Mallow tat es ihm nach. Ein gutes Zeichen. Sie trippelte ein wenig voran und sah ihn von oben bis unten an. Dann verzog sie das Gesicht. Sie schien nicht besonders beeindruckt, und Sylvan konnte es ihr nicht verdenken. Er war schon eine ganze Weile auf Reisen und sah vermutlich ziemlich zerrupft aus. Trotzdem ärgerte er sich. Schließlich wollte er gar nicht hier sein. Er hatte einen sehr gemütlichen Bau aufgegeben, und hätte er die Wahl gehabt, dann wäre er nicht gegangen. Aber er hatte keine Wahl gehabt. Er hatte ihm keine gegeben.

Sinethis, der Große Fluss, war gemeinsam mit dem Regen zu ihm zurückgekommen. Als die ersten Tropfen in den Graben vor seinem Bau gefallen waren, war das einst so vertraute Lied wieder in Sylvan erklungen. Es war ein besorgtes, zerstückeltes und unzusammenhängendes Lied, aber ohne Zweifel sein Lied. Sinethis hatte Sylvan aus seinem Bau gelockt und ihn über das Marschland getrieben. Und seitdem war er unterwegs. Er hatte Erlenwälder und Schilffelder durchquert; Orte, an denen der Boden nur noch eine Matte aus verwobenen Wurzeln war, die über dem schwarzen Wasser trieb, und andere, wo der Torf fest und mit hohen Grasbüscheln bewachsen war. Er hatte den trockenen Rand des Marschlandes gesehen, wo die Gräben endeten und das Gras sich zu einem fernen Hügel erhob. Das Marschland war weit und vielseitig, und nur die Gräben waren überall; sie zogen sich durch das Herz des Marschlandes, verbanden sich einer mit dem anderen und dieser wieder mit dem nächsten, und trugen ihre trägen Wasser zum Großen Fluss. Und an den Böschungen der Gräben lebten die Sänger. Diese langen, dünnen Uferstreifen waren ihr Zuhause und ihr Zufluchtsort bei Gefahr.

Für Sylvan schien das Gleichgewicht zu stimmen. Die Wälder und Felder waren voller Feinde: Wiesel, Hermeline, Reiher. Die Ufer der Gräben waren voller Sänger, von denen sich keiner besonders freute, ihn zu sehen. Und so hatte sich Sylvan seinen Weg zwischen ihnen hindurch gesucht, war schnell vorbeigelaufen, hatte im nackten Gras geschlafen, sich aus allem Ärger rausgehalten. Aber heute Abend würde es anders sein. Heute würde er ein warmes Nest in einem anständigen Bau haben. Heute, so Sinethis es wollte, würde er seine Schwester wiedersehen. Doch zwischen ihm und dem erhofften Bau befand sich dieses Weibchen. Und das war immer noch unentschlossen, ob es ihn angreifen sollte oder nicht.

Sylvan versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln. Vermutlich sah er zu zerlumpt aus, um wirklich glaubwürdig zu wirken, aber zumindest konnte er versuchen, das Weibchen von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Das Weibchen legte den Kopf schräg, und ein kleines Lächeln spielte über seine Lippen.

«So. Du möchtest also hier durch.» Ihre Stimme klang jetzt weniger schrill, dafür leicht amüsiert. «Aber ich möchte doch gerne wissen, warum du hier durch möchtest. Wo willst du hin?»

«Ins nächste Territorium, Meisterin», sagte Sylvan und wählte seine Worte sorgsam. «Ich kenne das Weibchen dort.»

«Ach ja? Wie heißt es denn?»

Sylvan musste sich beherrschen, um nicht zu sagen, dass sie sich gefälligst um ihre eigenen Dinge kümmern sollte. Sei immer höflich zu den Besitzern der Territorien. Denk an ihre Zähne.

«Meisterin Aven, wenn sie noch dort wohnt.»

«Ah.» Sie sah ihn wissend an. «Sie willst du also besuchen? Na, dann viel Glück.»

Sylvan blinzelte verwirrt. «Entschuldigung, aber was meinen Sie damit?»

Jetzt war sie wirklich amüsiert. «Ach, nichts, wirklich. Ich nehme an, du hast ihre Kinder schon kennengelernt?»

Aven hatte Kinder? Er war wirklich lange fort gewesen.

«Nein, das habe ich nicht», sagte er. «Aber ich freue mich schon darauf.»

«Du freust dich also darauf, ja?» Meisterin Mallow kicherte. «Und du bist ein Männchen.»

«Äh, ja. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war ich es noch. Warum?»

«Nicht wichtig. Ich bin sicher, alles wird gut», sagte Meisterin Mallow, die immer noch in sich hineinlächelte. «Es sind ja nur Kinder.»

Sylvan wurde immer verwirrter. «Nur zum Verständnis: Sie reden von jungen Schermäusen?»

Meisterin Mallow nickte.

«Und Sie glauben, sie könnten mir Schwierigkeiten machen?»

«Oh, ja.» Sie lächelte. «Um diese Zeit fressen sie normalerweise, also wirst du ihnen sicher bald begegnen.»

Sylvan schüttelte den Kopf. Er würde Weibchen nie verstehen. Wie viel Ärger konnten Avens Junge schon machen? Er sah hinauf zu den Wolken. Sie hatten sich wieder zu einer dunkelgrauen Masse zusammengezogen.

«Nun, es hat mich wirklich gefreut, Sie kennenzulernen», sagte Sylvan, «und ich möchte nicht unhöflich wirken, aber ich glaube, ich sollte lieber weiter. Es wird gleich dunkel.»

Meisterin Mallow nickte. «Natürlich. Ich zeige dir den Weg.»

Sie trippelte die Böschung entlang, und er folgte ihr gehorsam. Auf keinen Fall würde sie ihn allein gehen lassen. Sie führte ihn auf sauberen Pfaden, die sich durch die Uferpflanzen schlängelten, durch ihr Territorium. Büschel von Schilf- und Glanzgras sowie dicke Stände Kräuter ragten über ihnen aus der hohen Böschung. Er nickte bewundernd. Das hier war ein schöner Ort, und es war angenehm, sich zwischen ordentlicher Deckung zu bewegen. So verborgen unter Pflanzen und in der Nähe des Wassers konnte ein Sänger verschwinden, bevor ein Feind auch nur eine Chance hatte.

Schließlich blieb Meisterin Mallow vor einer großen Markierung stehen. Der Stapel mit Essensresten und Köteln war dreimal größer als die üblichen Markierungen und ragte über den Wasserstand. Er war offensichtlich gut gepflegt, und selbst Sylvans Nase konnte ausmachen, dass er stark mit Avens Duftstoff beladen war. Sylvan unterdrückte ein Lächeln.

«Nun, hier ist es», sagte Meisterin Mallow. «Dies ist die Grenze meines Territoriums.»

«Das ist nicht zu übersehen.»

«Nein», sagte sie säuerlich. «Das ist wohl der Zweck der Sache.»

Sylvan sah über die Fläche von Gras und Lilien vor ihm. Der Graben war hier breiter und tief. Auf der anderen Seite wuchsen Schilf und große Riedgräser, und die Bäume standen weiter vom Graben entfernt. Ein Paradies für Sänger. Aven ging es offenbar gut.

«Scheint, als ob sie expandieren will.»

«Sie versucht es.»

«Oh, das tut mir leid», sagte Sylvan, dem einfiel, mit wem er da gerade sprach. «Auf jeden Fall danke, dass Sie mir den Weg gezeigt haben.»

«War mir ein Vergnügen», sagte Meisterin Mallow. «Es ist immer schön, herzukommen und zu sehen, wie viel Territorium ich wieder verloren habe.»

Sylvan grinste. «Ich bin sicher, Sie können Ihres sehr gut verteidigen.»

Meisterin Mallow schien sich über diese Bemerkung zu freuen. Sylvan bedankte sich noch mal bei ihr und trat über die Markierung. Dann drängte er sich durch die tropfenden Pflanzen in Avens Territorium hinein.

«Viel Glück mit den Kindern!», rief sie ihm nach.

~~

Streif und Kale fraßen still und zufrieden nebeneinander an Streifs Lieblingsstelle. Sie hatte sie bei einem ihrer ersten Ausflüge entdeckt und mochte sie, weil hier sowohl roter als auch gelber Weiderich wuchs. Außerdem lag die Stelle aufregend nah an den Bäumen, der Grenze zu Meisterin Mallows Territorium und der Welt dahinter. Streif war noch nicht alt genug, aber schon bald würde sie losziehen und sich ihr eigenes Zuhause suchen. Sie würde ein Territorium für sich allein haben, in dem so viel Weiderich wie möglich wuchs. Kale schien weder zum Weiderich noch zu diesem Fressplatz eine Meinung zu haben, aber er sprach sowieso selten genügend Worte hintereinander, um zu irgendetwas eine Meinung zu äußern. Doch Streif wusste, er wäre auch ohne die Aufforderung ihrer Mutter mit ihr hergekommen. Das war irgend so ein komisches Bruderding. Und die Tatsache, dass er auf diese Weise von Ivy wegkam, half vermutlich auch. Wenn man sie dazu gezwungen hätte, hätte Streif möglicherweise zugegeben, dass Ivy grundsätzlich okay war. Aber Ivy hatte die nervige Angewohnheit, immer alles zu tun, was Mutter sagte. Und Streif hielt Ivys grundsätzliche Weigerung, weiter als bis direkt vor den Eingang des Baus zu gehen, für absolut langweilig. Sie fragte sich manchmal, ob sie eigentlich aus demselben Wurf stammten oder ob Ivy vielleicht von einer Feldmaus vergessen worden war.

Der Regen fiel sanft auf die Blätter um sie herum. Es klang wie ein Flüstern. Trotz der Feuchtigkeit war es schön, draußen zu sein. Streif ließ die Überreste des Schwertlilien-Schößlings, den sie gerade gegessen hatte, auf ihren Haufen fallen. Sie kratzte sich genüsslich, dann griff sie nach einem Wegerichstängel und zerbiss ihn. Sie mussten zurück sein, bevor es dunkel war – selbst sie wollte Mutters Grenzen nicht zu weit ausreizen –, aber noch hatten sie Zeit.

«Du bist so still», sagte Kale auf einmal und ließ einen weiteren Grashalm auf seinen Stapel fallen.

«Das sagt ja der Richtige», gab Streif mit vollem Mund zurück. Sie schluckte.

Kale zuckte die Schultern und biss in ein neues Stück Stängel.

«Aber zu deiner Information: Ich muss gar nicht die ganze Zeit reden», sagte Streif. «Ich bin absolut in der Lage zu schweigen, wenn ich will. Ich lasse nur gern jeden an meiner Meinung teilhaben, wenn mir etwas Wichtiges einfällt.»

Streif biss ein großes Stück von der Lilie ab. Von irgendwo in Meisterin Mallows Territorium stieß ein Sänger einen Schrei aus. Streif konnte es über dem Geräusch des Regens kaum hören, aber es klang wie die Stimme eines Männchens. Sie unterbrach ihr Kauen. Der Sänger schrie wieder, immer noch weit entfernt, aber diesmal lauter. Es klang wie ein Warnschrei. Neben ihr hob Kale den Kopf. Sie legte vorsichtig ihre Lilie auf den Boden und lauschte angestrengt. Nichts. Kein Anzeichen, dass irgendetwas nicht stimmte. Trotzdem begann ihr Herz zu klopfen.

«Was ist das?», flüsterte sie.

Kale schüttelte den Kopf und starrte hinaus durch die Pflanzen. Die Vögel sangen über ihren Köpfen. Also kein Angriff von oben, dachte Streif. Kale stellte sich auf seine Hinterbeine, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und schnüffelte in der Luft. Er runzelte die Stirn und schnüffelte wieder. Dann erstarrte er. Noch nicht einmal seine Barthaare zuckten. Ganz langsam ließ er sich auf alle viere sinken.

«Streif», sagte Kale leise und eindringlich, «beweg dich nicht.»

«Warum?», zischte sie. «Was ist los?»

Dann roch sie es. Der Wind drehte sich, und eine kleine Brise wirbelte zum Fressplatz. Sie trug eine Fährte mit sich, einen faulen, schweren, scharfen, ekelhaften Geruch. Hermelin. Oh, bitte kein Hermelin. Kräftige Kiefer, dünn wie Schilfgras und voller Muskeln: ein schneller Tod für die Unachtsamen. Sie hatten es nicht gehört. Und es war schon so nah, dass sie es riechen konnten.

«Mach dich bereit», sagte Kale.

Mach dich bereit. Sie spähte über den Rand des Grabens. Sie hatte gedacht, sie hätten direkt neben dem Wasser gefressen. Das hatte Mutter ihnen aufgetragen. Aber sie waren tief in das Gelände hineingegangen. Das Wasser war nicht mehr mit einem Sprung zu erreichen; es lag zwar nur einen Sprint entfernt, aber nun schien selbst das schrecklich weit weg zu sein. Streifs Beine begannen zu zittern. Sie versuchte sie still zu halten, aber sie gehorchten nicht. Oh, warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Schluss. Dazu war jetzt keine Zeit. Konzentrieren. Sie hatten bloß eine Chance. So war es mit Hermelinen. Wenn man zu schnell oder zu langsam lief oder in die falsche Richtung, dann war es zu spät. Warte auf das Rascheln, warte, bis die Fährte deine Nasenlöcher füllt. Wähle die Richtung. Renn. Spring ins Wasser. Dann überlebst du vielleicht. Streif spannte die Muskeln an.

Hermelin.