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Inhalt

Widmung

 

 

 

Für Regina

Ein Rätsel

»Ich zog da aus, / wo Lumpen einkehrten, / zog in ein Haus, / bewohnt von Gelehrten.« Elsa stutzt und wiederholt den Vierzeiler so langsam, als könne sie dadurch die Wörter aus der Reserve locken. Ihr Vater schaut ihr über die Schulter und liest nun selbst halblaut das Rätsel, er dreht das Radio leiser.

»Gehört das zur Hausaufgabe?«

»Kann, hat Kapuste gesagt, kann.«

»Kann was?«

»Man kann es lösen – wenn man’s kann. Er redet immer ein wenig um die Ecke.«

Ihr Vater lacht.

»Und – kannst du’s?«

»Nein, und du?«

»Du kannst – uns einen Gefallen tun und noch Suppengrün einkaufen, ja?«

Sie ist schon auf der Straße, als er ihr nachruft: »Und frischen Majoran, wenn vorhanden, und – «

»Ja?«

»Ach, nichts …«

»Zuban?«

»Geben sie dir nicht! Hol ich mir selbst!«

Morgen so gut wie gestern und heute – Zuban! Ein Satz wie ein Möbiusband. Dieser Spruch hatte Elsa einige Tage lang verwirrt, als sie ihn auf einem schmalen roten Emailleschild am Zaun eines Biergartens entdeckt hatte. Solche ›Slogans‹, wie ihr Vater das nannte, kannte sie aus Dresden nicht. Warum ›morgen‹ wie ›gestern‹ und ›gestern‹ wie ›heute‹? War nicht jeder Tag anders? »Nur die Nacht ist immer gleich«, hatte die Großmutter gesagt, als wär’s ein Zauberspruch. Zuban?! Eine Speise? Ein Schmerzmittel? Dann sah sie die Rauchschlange zwischen den Wörtern aufsteigen.

 

Am Morgen war Föhn gewesen: gläsern flimmernde, unwirklich klare Luft, die ferneren Berge fast zum Greifen nah, die dunklen Fichtenhänge wie eine erstarrte Lawine über Marstein, gemildert nur von dem leuchtenden Ahornlaub näher im Tal.

Jetzt, in der lauen Nachmittagsluft, zittert über dem Kamm des Hochjochs ein milchheller Streifen. Darüber das graue Aquarell einer Wolke, die sich wie ein Bühnenvorhang herabsenkt. Aus den Schornsteinen der Burg steigt weiß gefädelter Rauch.

 

In den sieben Monaten, die Elsa mit ihrem Vater hier in Marstein lebt, hat sie sich an den Anblick der Berge nicht gewöhnen können. Manchmal will sie den Blick gar nicht heben, zu erdrückend ist die Maßlosigkeit der dunklen Felsen und Klüfte. Das Auge rutscht ab an den glatten, baumlosen Kanten, den Brocken und Schründen. Fremd und kalt ragen die Berge auf, unerreichbar und undurchdringlich. Und diese Kreuze, überall diese Kreuze! Auch die aufregenden Farbenspiele – das Grauviolett des Himmels, die zentaurischen Wolken mit ihren jagenden Schatten, die blaugrünen Nadelwaldhänge, die helle Tonsur der hoch oben in den Wald eingekerbten Herzwiese – können die monumentale Fremdartigkeit nicht vertreiben. Elsa findet hier keinen Halt. Alles stürzt.

 

Ihr Hüftleiden macht den Weg von der Neubausiedlung in die kleine Stadt etwas beschwerlich. Obst und Gemüse sind in einem überdachten Stand vor dem Geschäft ausgebreitet. Aus dem Stockwerk darüber ist ein Cello zu hören, das mit Geläufigkeitsübungen gequält wird. Von einer Lampe eigens beleuchtet – Boskop, Lederäpfel und Butterbirnen lagern im Schatten – sind vor dem Laden die Kisten mit den frisch eingetroffenen Orangen und Mandarinen zu einem mehrstufigen Altar gestapelt. Elsa starrt auf die diagonalen Reihen der bunt eingewickelten Früchte. Sie kann sich nicht erinnern, in Dresden so etwas gesehen zu haben. Herrisch zerteilen sie die Obstkisten in dunkelgoldene Dreiecke. Dutzendfach kugelt ein papiernes Fragezeichen quer durch eine Kiste. Eine Phalanx von rotgestiefelten Katern paradiert vor Elsas Augen, die weiße Maske auf der Schnauze ist rot gefleckt, das Maul blutverschmiert. Ein schwarzer Kater, der Blutorangen frisst! Elsa schlängelt sich an einem Herrn im Lodenmantel vorbei, nah an die Kisten heran, ihr Einkaufsnetz verhakt sich in seinem Mantelknopf – »Verzeihung.« Ein Dackel knurrt. »Die Elsa!«, hört sie die Stimme der Obstfrau neben sich, die für den Herrn vorsichtig Mandarinen und Orangen aus den Kisten klaubt – und leiser: »Komm nachher wieder.«

Der Herr im Lodenmantel nestelt an dem Knopf, schließlich löst seine Hand mit dem Siegelring das verhedderte Netz. Kalter Tabakgeruch weht Elsa an, sie fährt zurück. Unwirsch, von Elsas Eindringen und mehr noch vom zutraulichen Ton der Obsthändlerin gestört, deutet der Herr auf Zitronen, Orangen, getrocknete Feigen, eine Kokosnuss. »Tüten Sie mir das alles schön ein, Frau Gaukler, ich lass es später abholen, habedieehre.« Sein Gamsbart zittert.

Der Fluss

Elsa zieht es zum nahen Fluss. ESPORTAZIONE AGRUMI hat auf der Banderole der Kiste gestanden. Agrumi? Ob sie Kapuste fragen soll?

Auf der Bogenbrücke bleibt sie stehen und blickt in das türkisgrüne Wasser der Ache. Sie genießt den Taumel, mitgerissen zu werden, wenn sie in das donnernde Band des Flusses starrt. In Dresden hatte sie manchmal mit ihrer Mutter auf der Albertbrücke gestanden, hoch über der Elbe, und sie hatten in den behäbig dahinfließenden Strom und über das weite Tal geblickt, in dem der Fluss wie in einer Schale glänzte. Zum Fürchten das große Denkmal des nackten Bogenschützen am linken Elbufer: Als habe er es auf die Passanten abgesehen, war sein Bogen zum Zerreißen gespannt. Der Athlet, überlebensgroß, in seiner unbeirrbaren Haltung: Jeden Augenblick konnte er seinen tödlichen Pfeil über das weite Tal herüberschicken. Aber hier ist kein Haus, keine Kirche zerstört, keine Ruine weit und breit. War der Krieg nicht bis hierhergekommen? Unsere Toten – unvergessen, 1939-1945 stand auf einer polierten Marmorstele mit zwanzig Namen vor der Aussegnungshalle auf dem Friedhof von Marstein. Aus Langeweile war sie an einem heißen Julitag während der Ferien auf dem Weg zu Fräulein Knehr, ihrer Klavierlehrerin, zum ersten Mal über den Friedhof gegangen.

Die Ache schießt nach Norden. Elsa presst die Augen zusammen und verfolgt die leuchtenden Blitze hinter ihren Lidern, sie hält die Luft an, taucht ein in das Rauschen des Flusses.

Eine Dreiklangglocke schlägt an ihr Ohr. Sie erschrickt. Der Asampauli bremst scharf und hält mit einem Damenfahrrad neben ihr.

»Da schaust du!«

 

Elsa freut sich. Pauli war der Einzige gewesen, der über ihren Dialekt nicht gewitzelt hatte, als sie neu in die Klasse kam. Er lehnt das Rad an das Geländer, hievt sich mit einem Satz an der Brüstung hoch, beugt sich weit hinaus und wippt hin und her. Ein Spiel. »HOCH! – HOCH! – HOCHSPANNUNG! – LEBEN! – LEBEN! – LEBENSGEFAHR! Das steht da, unter der Brücke! Elsa, ich fliege!« Er breitet seine Arme aus und hält zitternd, nur mit dem Bauch auf der Brüstung liegend, die Beine waagrecht ausgestreckt, seinen Körper in der Schwebe. »Flieg’ ich, fall’ ich! Fall’ ich, flieg’ ich!«, lacht er keuchend.

»Du spinnst, Pauli!«

Pauli wird rot und rutscht herunter.

 

Vor ein paar Wochen, nach den großen Ferien, hatte er ihr eine große Muschel geschenkt: »Aus Amrum. Hör mal, wie’s rauscht?«, und hielt ihr die Muschel ans Ohr.

 

Ihre Blicke ruhen auf der Stromschnelle, die wie eine kräftige Ader aus der glatten Muskulatur des Flusses hervortritt.

Tara?

»Hast du das Rätsel lösen können?«

»So ein Schmarrn – wo Lumpen, wo Lumpen einkehrten! – hat mein Bruder gesagt, der Xaver. Wo sollen denn Lumpen einkehren, wo denn?! Xaver glaubt, dass wir zu Hause ein Rätselbuch haben. Da könnt’ es drinstehen. Mit der Lösung.«

»Und wenn’s nicht drinsteht?«

»Dann haben wir Pech gehabt.«

»Sehr witzig!«

Zwei Glockenschläge wehen von der Kirche herüber, sie gehen in dem Tosen der Ache fast unter. »Ich muss jetzt heim, Holz schlichten, Servus!«, Pauli klingelt und radelt in den Pedalen stehend los.

»Ich finde Kapuste toll!«, ruft Elsa. Pauli ist schon auf und davon.

 

Ein dicker Ast schießt unter der Brücke hervor, wird von der Strömung eingekeilt und wie von einer unsichtbaren Riesenhand langsam hin und her gedreht. Elsa geht zum Laden zurück.

Mit der hereinbrechenden Dämmerung flammen vereinzelt Lichter in Schaufenstern und Wohnungen auf, durchsetzt mit den Laternenkegeln mustern sie die Straße zum Obstladen mit hellgelb und bläulich verzerrten Rauten. Frau Gaukler winkt Elsa herein. Drinnen ist es kühl, Äpfel und Küchenkräuter würzen die Luft. Unterm Ladentisch holt sie eine prall gefüllte Obsttüte hervor. »Hier«, sagt sie, »für dich.«

Die grüne Tüte ist federleicht und offen wie ein Fischmaul. Im Halbdunkel sieht Elsa darin einen gefalteten Packen hauchdünner Papiere. Wie Blätterteig! Sie bedankt sich und legt das knisternde Päckchen in ihr Netz zum Suppengrün. Langsam macht sie sich auf den Heimweg. »Majoran, verdammt!«, entfährt es ihr, empört dreht sich eine Nonne nach ihr um, aber Elsa hat schon kehrtgemacht.