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Meinrad Inglin: Der schwarze Tanner

Die Episode aus dem Zweiten Weltkrieg schildert, wie ein Schweizer Bergbauer sich gegen die Massnahmen des Staates auflehnt und mit den Gesetzen immer tiefer in Konflikt gerät. Im Gefängnis wird er durch einen weisen, gütigen Seelsorger zur Einsicht gebracht und kehrt als anderer auf sein Heimwesen zurück. Die Erzählung zeigt, dass persönliche Freiheit ebenso Verantwortung einem grösseren Ganzen gegenüber bedeutet.

Umschlag und Illustrationen

Holzschnitte von Bruno Gentinetta

Reihe: Literarisches

Mittelstufe

Abdruck des Inhalts, auch auszugsweise und fotomechanisch, nur mit Einverständnis des Verlags.

Aus: Die Lawine. Meinrad Inglins schönste Erzählungen. Textgrundlage: Meinrad Inglin, Gesammelte Werke in zehn Bänden.

Herausgegeben von Georg Schoek.

©1998, 1990 by Ammann Verlag & Co., Zürich.

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

E-ISBN 978-3-7269-0728-0

© 2006 SJW Schweizerisches Jugendschriftenwerk

Der schwarze Tanner

von Meinrad Inglin

Umschlag und Illustrationen

Holzschnitte von Bruno Gentinetta

Im Mai 1941 trat der Ackerbauleiter der Gemeinde Unterschwand eines Abends auf dem Heimwesen Gschwend durch die offene Stalltüre und ging suchend den mächtigen braunen Hinterteilen der Kühe und Rinder entlang, bis er den Bauern entdeckte, der in der Dämmerung zwischen zwei Tieren auf dem einbeinigen Stühlchen hockte und molk. Er wünschte guten Abend, stellte leichthin die übliche unbestimmte Frage nach dem Ertrag, auf die er eine ebenso unbestimmte Antwort bekam, und sah zu, wie die Milch in den Kessel zischte, dann erklärte er gelassen, er komme von der Ackerbaustelle Unterschwand. «Ihr habt immer noch nicht angebaut, Tanner», fuhr er fort. «Jetzt hab’ ich doch einmal fragen wollen, ob Ihr die Verordnung eigentlich nicht gelesen habt. Zugeschickt hab’ ich sie Euch, das weiss ich.»

Die Milch überschäumte im Kessel, der Bauer stand auf und antwortete, während er den Kessel zur Tause hinübertrug, er habe einmal so etwas Ähnliches zugeschickt bekommen. Nachdem er die Milch in die Tause geleert hatte, blieb er vor dem Besucher stehen und fragte: «Seid Ihr der Steiner?» Da es ihm bestätigt wurde, mass er ihn abwägend mit einem kurzen, forschenden Blick aus tiefliegenden, kräftig leuchtenden Augen und sah einen etwa dreissigjährigen, untersetzten, festen Dorfbewohner vor sich, dem der Pflichteifer des Beamten den angeborenen Ausdruck von Gutmütigkeit im runden Gesichte schon fast verdrängt hatte. Ruhig und schweigend ging er darauf wieder zwischen zwei Kühe hinein, setzte sich und molk weiter.

«Ihr werdet doch wissen, dass in der ganzen Eidgenossenschaft jeder Bauer ein Stück Land ackern und anpflanzen muss», erklärte Steiner. «Diese Verordnung kommt von Bern, hättet sie halt lesen sollen.»

«Haben die Oberschwander schon angepflanzt?» fragte der Bauer, ohne das Gesicht vom Euter wegzuwenden.

«Noch nicht alle, nein», antwortete Steiner bereitwillig, obwohl er aus der Frage heraushörte, dass Tanner das so genau wusste wie er. «Aber in Unterschwand ist jetzt überall angepflanzt. Die Oberschwander werden auch nicht darum herumkommen. Einige haben immerhin angefangen.»

«Es ist kein Ackerland da oben», wandte der Bauer nach einer Weile gelassen ein.

«Die Bodenprobe hier hat aber ergeben», erwiderte Steiner, «dass das Land für den Anbau günstig ist.»

Da der Bauer schwieg, holte Steiner, der sich nicht zum erstenmal in dieser Lage befand, etwas weiter aus: «Müsst doch auch bedenken, dass der Bundesrat das nicht ohne Grund anordnet! Die Schweiz ist heute auf allen Seiten von kriegführenden Staaten umgeben, die Zufuhr vom Ausland ist stark zurückgegangen und wird uns vielleicht ganz abgeschnitten, dann sind wir auf uns angewiesen. Wir produzieren selber aber zuwenig, um daraus leben zu können, darum müssen wir mehr anbauen. Die Landesversorgung ist ein dringendes Gebot, und da muss eben jeder mithelfen, das solltet Ihr begreifen! »

Der Bauer stand wieder auf und ergriff den schäumend vollen Kessel, um ihn zu leeren, doch über dem Mistgraben hielt er an, blickte auf den Ackerbauleiter hinab, der eine Handbreite tiefer stand, aber auch sonst ihm kaum über die Schulter blicken konnte, und gab Antwort: «Ich habe, soviel ich weiss, mein Leben lang an der Landesversorgung mitgeholfen, ich tue auch jetzt nichts anderes und werde künftig nichts anderes tun. jeden Morgen und jeden Abend trage ich meine Tause voll Milch in die Sennhütte hinab. Als noch keine Sennhütte da war, hab’ ich auch Käse und Anken gemacht und kann wieder damit anfangen, wenn es notwendig ist. Ich habe Schweine gemästet, ich habe Schlachtvieh und Eier ins Tal hinab geliefert, ich habe Kälber aufgezogen und verkauft. Wenn jeder andere Schweizer für die Landesversorgung auch nur einen geringen Teil von dem aufbringt, was jährlich an Milch, Anken, Käse, Fleisch und Eiern von diesem Heimwesen ausgegangen ist und noch ausgehen wird, dann braucht in unserem Land niemand zu hungern.»

Der Ackerbauleiter, dem diese Rechtfertigung nichts Neues war, hatte mit dem halb ungeduldigen, halb ergebenen Lächeln des Besserwissenden zugehört, im Blick von ungefähr den entblössten Unterarm des Bauern, einen behaarten, tiefbraunen Arm, an dem wie an einem einzigen zähen Sehnenstrang der hoch gefüllte Milchkessel hing. «Das ist eben ein falscher Standpunkt!» rief er jetzt, die Schultern hebend, mit einem ablehnenden Kopfschütteln. «Niemand bestreitet die Notwendigkeit der Milchwirtschaft und Viehhaltung, aber wir brauchen eben noch anderes …» Er musste beiseite treten, um den Bauern vorbeizulassen, der keine weitere Belehrung anzunehmen gewillt schien, doch fuhr er fort: « …wir brauchen Weizen, Roggen, Hafer, Kartoffeln, Gemüse, Futtermittel und so weiter. Wenn wir zum Beispiel kein Getreide mehr einführen können, haben wir zu wenig Brot …»

Inzwischen war Tanners Frau in das helle Rechteck der offenen Stalltüre getreten und dort stehengeblieben, eine mittelgrosse derbe Bäuerin, die rasch erriet, was hier verhandelt wurde, und den fremden Besucher drohend zu mustern begann.

Der Bauer molk, nachdem er die Milch wieder geleert hatte, noch einen halben Kessel voll und antwortete auf Steiners Belehrung am Ende nur, Brotgetreide habe man seit Menschengedenken nicht hier in den Bergen, sondern im flacheren Lande angebaut, wo auch für den Mehrbedarf noch ungenützter Boden zu finden sei. Darauf übergab er den halbvollen Kessel der Frau, trug die Tause vor den Stall und stellte sie auf eine Bank.