Dante Andrea Franzetti, geboren 1959 in Zürich, ist Autor, Publizist und Dozent. 1985 wurde er durch den Roman Der Grossvater (Lenos Pocket 161) bekannt und veröffentlichte danach weitere Romane und Erzählbände. Er wurde u.a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (1994) und dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank (2013) ausgezeichnet. Franzetti war zeitweilig Reporter und Italienkorrespondent verschiedener Zeitungen und lebt heute in Zürich und Rom. Im Lenos Verlag veröffentlichte er Zurück nach Rom, Roger Rightwing köppelt das feingeistige Tischgespräch und, zusammen mit Pic, Das Bein ohne Mann.

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I.

Regine Odenaal

In Wirklichkeit ist die Welt geordnet.

Ich weiss, dass vieles dagegen zu sprechen scheint, besonders hier, an diesem Ort im Süden, an den Mathilda und ich vor einem Jahr gezogen sind. Wenn ich sie morgens zur Deutschen Schule in der Via Toledo begleite, die Bagutta hinunter zur Via Marsala – wir wohnen ja oben am Berg –, schlagen uns nach wenigen Schritten die feinen schwarzen, in den grauen Rauch gemischten Russpartikel entgegen, und weiter unten, gegen die Hafenstrasse hin, sehen wir die Müllhaufen, in denen es noch flackert und denen dunkle, ölige Schwaden entsteigen, die, je nach Intensität und Richtung, die Meeresbrise einmal stärker, ein andermal schwächer zu uns heraufweht. Mathilda mit ihrem verkümmerten rechten Bein kann nicht so schnell gehen, abwärts ohnehin nicht, und so sind wir diesem stinkenden Schwall aus dem unteren Bezirk immer länger ausgesetzt als alle übrigen Leute, die vom Berg, eher einem Hügel, den sie nicht umsonst Montagnetta nennen, in die Altstadt Richtung Hafen oder in die Via Toledo müssen, die grosse Hauptstrasse, die noch vor dem Hafen den anderen Hügel hinaufführt. Als Mathilda einmal zu husten begann und ich in ihr Taschentuch blickte, erschrak ich zu Tode: Darin war blutroter Schleim. Sie aber lachte: Nein, Mama, ich habe zu Hause noch ein paar Kirschen verdrückt.

Seit einem Jahr also leben wir hier, seit einem Jahr gehen meine Tochter und ich diesen Weg zur Altstadt hinunter und dann die Via Toledo wieder hinauf zum Goethe, wie sie hier die Deutsche Schule nennen – das Goethe –, weil dort auch jährlich den Fremdsprachigen die Prüfungen für die verschiedenen Deutschzertifikate abgenommen werden. Als wir hier ankamen, war Mathilda neun, jetzt ist sie zehn Jahre alt und besucht die fünfte Klasse der Grundschule.

Von der Montagnetta aus, wo all die kleineren und grösseren Einfamilienhäuser und Villen stehen – wir wohnen in einem bescheidenen, zweistöckigen Villino –, sieht die Altstadt, durch den russigen Nebel betrachtet, wie ein ungeordneter Haufen Steinkohle aus, aus dem stossweise die schwarzen Rauchfahnen steigen, die uns auf dem Weg nach unten im Rachen brennen und vor allem Mathilda, manchmal aber auch mich, zu Hustenanfällen reizen. Die Häuser aus grauem Tuff, aus denen dunkle Fenster blicken, verlieren ihre Konturen, den Verlauf der Strasse erkennt man nur anhand der helleren Autos im Verkehrsstau, am Abend natürlich an den Lichtern, einem schmierigen Gelb, das aus dem grauen Brei herausleuchtet. Diese Stadt ist ein Sumpf, sagen die Einheimischen, eine giftige Minestrone, ein stinkiges Jaucheloch – was also soll hier geordnet sein? Ganz zu schweigen von all dem übrigen Zeug, das auf den Strassen und in den Innenhöfen herumliegt: vermodernde Kartonschachteln, rostende Fahrradgestelle, verbeulte Kühlschränke und andere Haushaltsgeräte, Reifen, Büchsen, Flaschen, Matratzen – einmal entdeckten Mathilda und ich auf dem Schulweg an der Ecke Marsala und Toledo sogar ein ausgebranntes Auto.

Das Mädchen sieht seinem Vater ähnlich: die gleichen kantigen Gesichtszüge; eine lange, gerade Nase; ein voller, breiter Mund und dunkelbraune, beinahe schwarze Augen; die schulterlangen gelockten Haare haben dieselbe Farbe. Ich weiss nicht, welchen Anteil an ihrer Sensibilität, ihrer Aufmerksamkeit für Details, ihrer Geduld und Beobachtungsgabe, ihrer Distanz zu den Menschen und Dingen die Missbildung trägt, mit der sie geboren wurde. Ihr Vater, ein Maler, der uns natürlich nach einem Jahr verliess, und ich, wir hatten uns auf die Geburt dieses Kindes gefreut, obwohl wir schon im vierten Monat meiner Schwangerschaft wussten, dass etwas mit ihrem Bein nicht in Ordnung war. Ja, genau: nicht in Ordnung.

Von der Ecke Bagutta und Marsala in die Toledo einzubiegen ist sehr mühsam, vor allem mit einem gehbehinderten Kind. Hier sind die Autos oft in zwei Reihen geparkt, manche stehen auf dem Gehsteig, und man muss sich hindurchschlängeln. Mathildas Bewegungen werden dabei sehr abrupt, sie fürchtet, sich die Knie an den Stossstangen anzuschlagen, sie knickt mit dem schwächeren rechten Bein oft ein. Mich befällt kein Mitleid, wenn ich sie so sehe – beinahe wirkt sie wie eine Spastikerin –, aber eine unbestimmte Trauer, aus der ich nur einen Gedanken herausschälen kann: dass Mathilda ein Vater fehlt und, wenn möglich, ein besserer, aufmerksamerer Vater, als es ihr leiblicher war. Nein, kein Mann für mich, aber ein Vater für dieses Kind, das mir oft viel zu abgeklärt und viel zu vernünftig und viel zu tapfer für seine zehn Jahre erscheint. Ein verspielter, ein wenig verrückter Vater meinetwegen, aber kein Säufer und Original wie der Maler, mit dem ich dieses Kind gezeugt hatte.

Das Goethe ist eine Ganztagsschule, und so haben Mathilda und ich sozusagen denselben Arbeitsweg. Ich übergebe sie zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn Esterina Pepe, der Frau des Hausmeisters, gehe die Toledo zurück bis zur Marsala, biege in die Via del Porto ein und habe nur noch wenige Schritte bis zum Europäischen Institut für Neuropathologie (EINO), in dem ich als ehemals in der Grundlagenforschung tätige Biochemikerin und Neurologin den einmaligen und etwas seltsamen Posten einer Neuroethikerin bekleide. (Wenn es um das Institut geht, drücke ich mich oft bürokratisch-ironisch aus, aber darüber werde ich diesem Schriftsteller und Drehbuchautor, der mir heute Morgen seine Ankunft mitgeteilt hat, de Feo, mit Vornamen Mauro, glaube ich, wesentlich mehr mitteilen müssen – vielleicht denke ich deswegen gerade über meinen Arbeits- und Schulweg mit Mathilda nach; über die Stadt, die zum allgemeinen Erstaunen von der Brüsseler Kommission als Sitz für die Forschungsanstalt ausgewählt wurde; und natürlich über die angebliche Unordnung, das Chaos, die stinkende Brühe, giftige Minestrone, die diese Stadt sein soll und als welche sie seit einem Jahr, seit unserer Ankunft hier, in den internationalen Nachrichtensendungen dargestellt wird.) Manchmal bleibt mir noch etwas Zeit für einen Cappuccino und ein Cornetto in der Bar gegenüber unserem Institut, wenn Mathilda einen guten Anlauf hatte und zügig vorankam, danach setze ich mich Punkt neun Uhr an meinen Schreibtisch in der Bibliothek – ich habe mir den Standort ausbedungen – und werfe den Computer an, wie jetzt gerade, am 12. Februar, dem Tag der heiligen Eulalia, wie ich dem Kalender entnehme, den mir Esterina Pepe zur letzten Weihnacht geschenkt hat.

Eine Wissenschaftlerin wie ich glaubt natürlich nicht an die Heiligen, erst recht nicht an Himmel und Hölle und übrigens ebenso wenig daran, dass diese Stadt die Hölle sein soll. Ich glaube auch nicht an die Ordnung in der Welt, weil das keine Glaubensfrage ist. Wenn wir versucht sind, zu denken, wir seien von Unordnung und Unübersichtlichkeit umgeben, dann deshalb, weil unser Gehirn ein so geordnetes Organ ist, dass es den kleinsten Verstoss gegen die Ordnung unmittelbar und mit Unbehagen wahrnimmt. Aber die vielen kleineren und grösseren Verstösse gegen die Ordnung, die wir idealerweise im Kopf haben, bestätigen diese ja gerade.

Diesem Doktor de Feo, der einen aufwendigen Dokumentarfilm über die, wie er schrieb, »ethischen Implikationen der neueren Hirnforschung« realisieren will, zu welchem Thema er mich »für die wichtigste europäische Instanz« hält, ihm werde ich, wenn er heute um siebzehn Uhr dreissig bei uns zum Tee erscheint, als Erstes nachdrücklich sagen müssen: Die Welt ist in Wirklichkeit geordnet.

II.

Mathilda Odenaal

Mama meint, dass bald der Frühling kommt. Unser zweiter Frühling. Wir sind vor einem Jahr hier angekommen, und, das weiss ich genau, in unserem kleinen Garten trug der Mandelbaum vier weisse Blümchen. Nein, Blüten, so heisst es. Vier weisse Blüten. Die Stadt, unten, ist schwarz, aber oben sind die Blüten weiss wie die Unschuld.

Oben, wo die Herren wohnen. Das hat natürlich nicht Mama gesagt, sondern Walter. Er ist der Junge von der Signora Pepe und ihrem Mann, dem Bidello am Goethe. Mama würde jetzt schimpfen, aber nicht laut: Hausmeister, Mathilda. Vergiss die deutschen Wörter nicht, vielleicht müssen wir einmal nach Hamburg zurück. Also: Wo die Signori wohnen, sind die Blüten weiss wie die Unschuld. Oh, die Signori, jetzt habe ich es schon wieder getan!

Die Pepe wohnen – wie heisst es noch? – im Erduntergeschoss des Goethe. Die Wohnung ist nicht ganz eben zum Schulhof und zum Garten mit den Palmen und stacheligen Kaktussen, die ihre Blätter wie lange Zungen ausfahren. Sie ist aber auch nicht im Keller, also wohnen die Pepe auf halber Höhe zwischen Erdgeschoss und Keller. Lustig ist, dass die Fenster bei ihnen ganz oben, fast bei der Decke sind. Und sie sind vergittert. Dahinter sieht man nicht den Himmel oder einen Mandelbaum oder die Dächer der Altstadt wie bei uns auf der Montagnetta – da ist eine graue Wand, die immer etwas feucht ist und einen halben Meter hoch, und erst auf dieser Höhe ist der Kies vom Schulhof. Wenn jemand vorbeigeht, sieht man nur die Schuhe und den unteren Teil der Hosen oder Strümpfe. Wenn ich bei den Pepe auf Mama warten muss, erkenne ich sie an den hellblauen Turnschuhen und ihren etwas helleren Jeans oder, wenn sie eine wichtige Sitzung hatte, an den glänzenden schwarzen Schuhen und weissen Strümpfen.

Ich hinke stark und kann nicht auf eine Leiter steigen. Aber Walter hat es einmal getan und zu meiner Überraschung einen kleinen Vogel vom Baum geholt, einen Amselvogel, aber ein Junges. Es hatte nur Flaum und noch keine Federn, und ich glaubte, an meinen Handflächen sein Herzchen pochen zu hören, ganz leise, ganz fein: dum, dum, dum. Die Signora Pepe hat Walter ausgeschimpft, weil die Amselmutter dem Kleinen nun vielleicht nichts mehr zu essen gibt. Manchmal denke ich: Alles, was sie anfassen, machen die Menschen kaputt. Vor allem auf dem Schulweg, wenn ich die graue Wolke vor mir sehe und zu husten beginne, frage ich mich: Warum zerstören die Menschen so vieles, wenn sie nur schon anwesend sind?

Wenn ich zum Beispiel frage: Wer hat denn mein Bein kaputtgemacht?, schüttelt Mama den Kopf. Mathilda, dein Bein ist eine Missbildung, niemand hat es kaputtgemacht. Ich versuche, sie ganz ernst anzusehen, aber ich muss lachen, wenn sie sagt: Dein Bein ist schon so zur Welt gekommen, und wir nehmen es so, wie es ist.

Handicappata, das dürfen die Schüler am Goethe natürlich nicht sagen, Frau Krumm, meine Deutschlehrerin und Direktorin, bestraft das streng, und einmal hat einer aus dem Gymnasium, ein Junge von sechzehn, siebzehn Jahren, deswegen unter Aufsicht von Signor Pepe die Toiletten putzen müssen. Weil er gesagt hat, ich sei eine Handicappata. Ein Handicap, hat Mama erklärt, ist ein Nachteil, und eigentlich stimme das sogar, ich habe einen Nachteil mit dem Bein, weil ich zum Beispiel nicht wie Walter auf eine Leiter steigen und ein Vogeljunges herunterholen kann – aber ich hätte so oder so Angst, das Tierchen aus dem Nest zu klauben. Sagt man doch: klauben? Walter ist auch ein Handicappato, aber in seinem Fall dürfen sie ihn am Goethe nicht ritardato nennen: zurückgeblieben, also sein Handicap ist, dass er zum Beispiel keinen Aufsatz schreiben kann wie diesen hier – doch das ist eigentlich die Semesterarbeit, die Kleinen am Goethe schreiben nämlich schon Semesterarbeiten, das ist in diesem Jahr neu! Walter hat bei der Geburt zu wenig Luft bekommen, und deshalb ist er mit seinen zwanzig Jahren ein Kind geblieben, ein kleines Kind. Ich muss lachen, dass dieser Junge, der beinahe doppelt so gross ist wie ich, fast ein Riese – er musste sich nur auf die dritte Stufe der Leiter stellen, um das Vogelbaby zu holen –, mit seinen stacheligen schwarzen Haaren und den Koteletten, vor allem mit seinen grossen, schweren Händen, wie Schaufeln, im Kopf zwei oder drei Jahre jünger ist als ich. Sie sagen ja hinter seinem Rücken nicht nur Ritardato zu ihm, sondern auch: Er ist nicht richtig im Kopf.

Für uns Hirnforscher wäre Walter ein interessanter Fall, sagt Mama. Aber die Pepe wollen ihn nicht testen lassen.

Natürlich sagen die Schüler, wenn Walter und ich im Garten Verstecken spielen, weil ich auf Mama warte und er auf Signora Pepe, die einkaufen ist, dass die beiden Handicappati miteinander herumblödeln. Einmal ist der Junge, der die Toiletten geputzt hat, Stephan, ein Deutscher, dumm herumgehumpelt und hat gefiept und Uh-uh-uh gemacht wie ein Affe. Die Glöcknerin von Notre-Dame, hat er geschrien, und der Orang-Utan. Das ist ein grosser, dicker orangefarbener Affe, und diese Glöcknerin ist, glaube ich, ein Krüppel ohne Zähne und mit einem Buckel, der an den Stricken zieht, in Paris, um die Glocken zu läuten. Stephans Vater hat auf einer Versammlung gesagt, sein Sohn ist nicht böse, er ist nur direkt und ehrlich, wie mir Mama erklärt hat. Wenn man also nicht lügen will, bin ich diese Glöcknerin mit dem Buckel und Walter ein Riesenaffe im Urwald. Doch Mama hat etwas Komisches gesagt: Darüber gibt es keine wissenschaftliche Ansicht, weil die Meertens, Stephan und sein Vater, Arschlöcher sind. Wirklich? Ja, Mathilda, das ist ein schlimmes Wort, aber diese Meertens sind auch schlimme Menschen.

Ich weiss gar nicht, liebe Frau Krumm, ob ich das schreiben darf: Arschlöcher, Arschlöcher, Arschlöcher.

Ich kann Walter kleine Dinge lehren, zum Beispiel habe ich ihm gezeigt, wie der Geschirrspüler geht, wir haben den gleichen zu Hause, und Signora Pepe hat mich gelassen, und Walter ist ganz glücklich, dass er das jetzt kann. Wenn die Maschine voll ist, dreht er den gelben Knopf bis zum Zeichen mit Gläsern und Tellern, den roten bis zu »Spülen« und drückt den kleinen schwarzen für Start. Natürlich weiss er auch, wie man das Pulver hineinfüllt. Ich kann Walter kleine Dinge lehren, und er kann mich vor grossen Schülern schützen, die mich stossen oder mir ein Bein stellen wollen, weil ich dann dumm am Boden liege und lange brauche, um wieder aufzustehen, und dabei oft wieder auf den Kies zurückfalle.

Einmal habe ich Walter ein Küsschen auf die Wange gegeben, er musste sich tief herunterbücken. Und das Vogeljunge ist gewachsen wie seine Brüder und Schwestern auch, und eines Tages ist es fortgeflogen. Walter hat nachgesehen.

III.

Mauro de Feo

Gar nichts ist geordnet, weder die Welt noch das Gehirn. Ich verteile das Material über Regine Odenaal auf dem Hotelbett, bilde kleine Stapel von Blättern, Mäppchen, Heften mit meinen Notizen, lege alles, bis auf einen ihrer Aufsätze, übereinander und verstaue es in meiner Mappe.

Ich bin mit so gut wie nichts von dem, was die hübsche blonde Frau Doktor, die bereits zweimal für den Medizinnobelpreis vorgeschlagen worden sein soll – mit siebenunddreissig Jahren! –, ich bin mit so gut wie nichts einverstanden.

Beginnen wir mit dem Gehirn, beginnen wir mit meinem Gehirn.

Seit einigen Nächten gehen in meinem Zimmer braunhäutige Inder mit Turban umher. Sie kommen durch die verschlossene Tür herein, wuseln vor meinem Bett auf und ab, kriechen unter den Schreibtisch, springen in den Papierkorb. Sie sind etwa siebzig Zentimeter gross, tragen ausser dem Turban lange goldverzierte Hemden, breite, glänzende Hosen und an ihren Füssen schmale, ebenfalls goldene Pantinen. Die Inder geben Laute von sich, die bald einem Zischen, bald einem Kichern ähneln; einige halten ein Messer zwischen den Zähnen, andere eines in der Hand; wieder andere tragen Schellen, Zimbeln und Tamburine mit sich, Flöten, Saiteninstrumente, doch bisher haben sie mir noch nichts vorgespielt. Grinsen, bleckende weisse Zähne und das Zischen, das an Schlangen erinnert.

Ein Traum ist es nicht, vielleicht gibt es sie wirklich, aber ich liege viel zu steif im Bett, um sie anzusprechen, beobachte ihr Treiben starr aus den Augenwinkeln, ängstlich, doch ohne Panik.

Vielleicht liegt es an der Aura des Gebäudes, wer lebt schon im Personalhaus einer psychiatrischen Klinik. Die Männchen erinnern an Palastwachen, vielleicht hüten sie nachts die Irren und Süchtigen in der Klinik und neuerdings im Personalhaus, dessen Bewohner mir zum Teil ebenfalls psychisch geschädigt erscheinen.

Filmproduzenten und Fernsehen haben mich als Drehbuchautor eines Films über Hirnforschung vielleicht ausgewählt, weil ich in engerem Kontakt mit der Schattenwelt stehe, die unser Hirn entwirft, als andere, solidere Schreiber. Erste Szene: Auftritt der Palastwachen mit Turban und Messer, zu spielen von Dreijährigen. Zischen, Kichern, Gewusel. Titel: Wenn die Vernunft Albträume gebiert. Stimme aus dem Off führt Doktor Regine Odenaal ein, sie bringt Ordnung in dieses Tohuwabohu, wie ich eben Ordnung in meine Hefte, Notizen und Fotokopien gebracht habe.

Ethische und juristische Implikationen der jüngeren Hirnforschung über schwere Wiederholungstäter, der Titel sei, hat sie mir geschrieben, eine Vereinfachung, der Artikel, für eine populärwissenschaftliche Zeitschrift geschrieben, »etwas grob«, die Schlussfolgerung drastisch, aber diese, gerade diese »eindeutig richtig«.

Wäre es korrekt, Frau Doktor Odenaal, wenn ich es so wiedergäbe: Sie halten Schwerverbrecher, vor allem solche im sexuellen Bereich, also Vergewaltiger, Frauenmörder und Kinderschänder, für Individuen mit einem stark ungeordneten Gehirn, Träger einer angeblichen Anomalie, die sich neurologisch schon heute recht zuverlässig, in Zukunft aber mit grösster Genauigkeit unter Ausschluss jedes vernünftigen Zweifels diagnostizieren liesse, woraus zwingend folgt, dass solche Individuen, da zerebral geschädigt, gewissermassen schuldunfähig seien, daher nach unseren westlichen Massstäben weder angeklagt noch verurteilt, in keinem Fall jedoch bestraft und ihre Taten damit auch nicht gesühnt werden könnten – nur weggesperrt könnte ein solcher Mensch werden, wobei ein Prozess, eine Abwägung der Schuld und ein Urteil widersinnig, unwissenschaftlich wären und durch eine Diagnose ersetzt werden müssten, zu stellen von Hirnforschern auf der Basis neurologischer Tests und bildgebender Verfahren wie MRT oder PET, so dass es, dächte man Ihren Ansatz weiter, und Sie tun es ja in den letzten beiden Absätzen Ihres Artikels, und verfeinerte man die Methode zur Erkennung von Abweichungen von der angeblichen Ordnung eines normalen Gehirns – dass es theoretisch für jedes Delikt und für jede noch so geartete, auch nur kleinste Verfehlung keinen Schuldigen mehr in unserem juristischen Sinne gäbe, sondern nur noch mehr oder weniger pathologische Fälle, womit eigentlich nur noch ein Tathergang bewiesen und kein Prozess mit Part und Widerpart, Belastungs- und Entlastungszeugen et cetera mehr geführt werden müsste, wobei allerdings unser ganzes heutiges Rechtsgebäude zum Einsturz gebracht und durch ein Diagnosesystem von Wissenschaftlern ersetzt würde, so dass in letzter Konsequenz nicht nur die Vorstellung vom heute längst anrüchigen Bösen, sondern von Schuld und Sühne überhaupt abgeschafft würde und über zweitausend Jahre Rechtsgeschichte mitsamt unserer jüdisch-christlichen Kultur im Eimer landeten?

Zu meiner Verwunderung antwortet mir die Frau Doktor heute Morgen, kaum bin ich um acht Uhr zehn gelandet, mit einer lapidaren SMS: Exakt. Nur ohne angeblich, gewissermassen, theoretisch und andere Einschränkungen. Es gibt keine Delikte, es gibt keine Täter, es gibt keine Schuldigen.

In einem kontroversen Dokumentarfilm (ich schreibe kein Drehbuch zu Unser Hirn, das grösste Wunder der Natur oder Brainwatch: die Entschlüsselung des komplexesten Organs in der Geschichte der Evolution, wie es sich meine Auftraggeber vorstellen, denen ich in zwei Monaten ein Exposé schicken muss, worauf sie womöglich den Drehbuchautor auswechseln werden), da ich die Stossrichtung vorgeben, die Problemstellung bestimmen, die Fragen bereitstellen muss, kann ich nicht anders, als eine starke Gegenposition einnehmen, das ergibt die Dialektik der Auseinandersetzung, die Spannung