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Fahimeh Farsaie

Eines Dienstags beschloss meine Mutter
Deutsche zu werden

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Fahimeh Farsaie

Eines Dienstags
beschloss meine Mutter
Deutsche zu werden

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

ISBN 978-3-943941-56-2

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2014
Abbildung auf dem Buchcover:
Bild der Malerin Jaleh Bagheri

Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen, die mich, bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt, beim Verfassen dieses Romans unterstützt haben, unter anderen Helga Resch, Karin Clark, G. Kranz, Wiltrud M., Ch. Theisen und last but not least meiner heiß geliebten Tochter Golbarg!

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

Kapitel 46.

Kapitel 47.

Kapitel 48.

Kapitel 49.

Kapitel 50.

Kapitel 51.

Kapitel 52.

GLOSSAR

FAHIMEH FARSAIE

1.

»Ich will Deutsche werden.«

Mit diesem Satz versetzte meine Mutter unsere Kleinfamilie in einen schweren, bis heute anhaltenden Aufruhr. Abbas Agha*, mein Vater, war der Erste, der die Auflehnungsflagge hisste. Denn er ist ein schrecklich stolzer Perser. Er war es immer, überall und in jeder Hinsicht. Daher ahmt er bei jeder Gelegenheit unseren aus dem Volk stammenden Nationalhelden Dash Akoll* nach. Selbst wenn er in der Morgendämmerung in seinem Restaurant hinter der Kasse sitzt und auf das trübe Tageslicht starrt, das aus dem Kölner Himmel tropft, schwelgt er in seinem persischen Stolz. Er schwebt auf einem persischen Teppich, gewoben aus Ehre und Stolz, wenn er die fette Luft seiner Kebab-Bude einatmet und, um Zeit totzuschlagen, die Kassenschublade auf- und zumacht. Ohne sein persisches Nationalgefühl verlöre Abbas Agha das Gleichgewicht wie eine Katze ohne Schnurrbart.

Beim Abendessen hielt meine Mutter tapfer dem bösen Blick Abbas Aghas stand, und nachdem sie die unentbehrlichen Vorteile ihres Deutschwerdens einzeln aufgezählt hatte, fügte sie hinzu: »Es ist mir eigentlich egal, welche Nationalität ich habe; die persische, deutsche …«

»Siiiiiiiimaaaaaa!«

Mein Vater brüllte warnend ihren Namen. Seine Stimme schwoll mit jeder Silbe. Er versuchte wie Dash Akoll zu klingen, der in unserer Erinnerung wie der persische Schauspieler Behrooz Woussoghi aussah.

Sima ließ sich nicht einschüchtern, zwinkernd sagte sie: »Was ist? Ist doch wahr. Wo meine Kinder leben, bin auch ich zu Hause. Da bin ich glücklich! Ob es in Iran ist oder auf dem Planeten Mars, ist in meinem Alter völlig egal!«

So alt ist meine Mutter gar nicht. Sie ist sogar ein paar Jahre jünger als mein Vater, der immer noch glaubt, gleichaltrig mit dem jungen Omar Sharif zu sein. Als der die Rolle des Häuptlingssohns eines einflussreichen Stammes im Film »Lawrence von Arabien« spielte, selbstverständlich. Ab und zu ahmt er Omar Sharif sogar nach, wenn er uns seine Macht demonstrieren will.

Wir lernten ziemlich früh, den Bezug auf das »Alter« nicht besonders ernst zu nehmen. »Nein, sehr spät«, interveniert mein Bruder Reza, immer wenn ich das laut auszusprechen wage. Vielleicht hat er Recht. Ich begriff es erst vor kurzem, mit zwanzig, und er schon mit fünfzehn. Seitdem will er nicht mehr Reza, sondern Ryan genannt werden.

Früher versuchte Sima Khanoom* unermüdlich, unser Leben in allen Einzelheiten nach den »Geboten des Alters« zu gestalten. Sie pflegte immer zu sagen: »Jedes Alter setzt ein bestimmtes Verhalten voraus.« Sie war der Ansicht, dass man die Verhaltensweise, die für ein gewisses Alter bestimmt sei, nicht zu einem ungeeigneten Zeitpunkt an den Tag legen dürfe. Das sei fatal. Man würde ja Tag und Nacht auch nicht gegeneinander austauschen.

Nach dieser unumstrittenen Logik durfte ich mit sechzehn meine dichten Augenbrauen nicht zupfen. Ich musste mit jenen schwarzen Balken, die wie Haare an Ziegenbeinen aussahen, bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr herumlaufen. Reza, oh sorry, Ryan wagte bis vor kurzem nicht, Ohrringe zu tragen. Und nun? Nun hängen überall allerlei goldene und silberne Ringe von seinen Ohrläppchen, an der Nase, am Hals!

Abbas Agha* sieht in Ryan das »Licht seiner Augen«. Er soll als ältester und einziger männlicher Erbe »den Hort seiner kleinen, heiligen Familie« wie einen Backofen stets warm halten. Ryan ist gleichzeitig sein Leben, seine Seele, sein »Djahn«*. Als ob Djahn ein Bestandteil von Ryans Name wäre, benutzt Abbas Agha diesen Zusatz ausnahmslos, selbst im Streit. Es wäre ein Affront, wenn Ryan Djahn einmal nicht mit dem ehrfürchtigen Namen des Augenlichts von Abbas Agha angesprochen würde. Ryan war bis zu seiner Pubertät von diesem Ausdruck der väterlichen Zuneigung völlig entzückt. Doch nun, wo er sich auf dem Weg ins Erwachsenendasein befand und dabei war, alles, unter anderem seine Unschuld und seine mädchenhafte Stimme, zu verlieren, war er nicht mehr begeistert, besonders wenn Abbas Agha die Formel »Djahn, Djahn« wie der gütige Dash Akoll chauvimäßig betonte. Ryan Djahns Verdrossenheit ließ sich an den Nuancen seiner Stimme erkennen, die ab und zu zwischen hell und dunkel wechselte, selbst in einem einzigen kurzen Satz. Ehrlich gesagt amüsierte ich mich köstlich über diesen Klangsalat.

Jedenfalls, als wir lernten, keinen allzu großen Wert mehr auf das Alter und seine Ansprüche zu legen, stellten wir zu unserem Erstaunen fest, dass die von unserer Mutter erklärten Verbotsbereiche langsam schrumpften. Selbstverständlich unterließ Sima Khanoom ihre altersbezogenen Argumentationen nicht. Sie versuchte nur ihre Ausdrucksformen entsprechend den pädagogischen Methoden, die sie sich als versierte Lehrerin über Jahre in Iran angeeignet hatte, auszubauen. Nachdem sich Ryan zum ersten Mal an der linken Augenbraue gepierct hatte, begann Sima Khanoom mit unsichtbaren Geistern zu reden. Sie tauchten stets wie auf Befehl auf und hörten ihre Beleidigungen und Erniedrigungen widerstandslos an. Als Sima Khanoom in Ryans Unterlippe einen zweiten Ring entdeckte, beschimpfte sie die fiktiven Gespenster unverhohlen, dass sie keinen Funken Menschenwürde besäßen, dass sie den Segen, als freie Wesen leben zu dürfen, nicht zu schätzen wüssten und freiwillig als niederträchtige Sklaven aufträten.

Ryan, der sich angesprochen und sichtlich beleidigt fühlte, fragte: »Tschuldigen Sie, Mutter. Sprechen Sie so mich an?«

Aufgebracht schob meine Mutter den Kebab mit gebratenen Tomaten, der aus Abbas Aghas Restaurant geliefert worden war, in die Mikrowelle und antwortete scheinheilig: »Nein, Liebes. Ich meine die Leute, die sich so benehmen.«

Selbstverständlich sprach meine Mutter uns niemals direkt an, wenn wir ihr Missfallen erregten, zielte aber mit ihrer neuen Methode darauf ab, Schuldgefühle in uns hervorzurufen. Oft gelang es ihr. In mir lösten ihre Vorhaltungen stechende Schmerzen aus, als seien Holzsplitter in mein Fleisch eingedrungen.

2.

Der Tag, an dem uns meine Mutter über ihre Entscheidung in Kenntnis setzte, war kein günstiger Tag. Es war ein regnerischer Dienstag. Dienstage sind grundsätzlich langweilig und garstig. Sie sind weder energisch wie der Montag noch ermutigend wie der Freitag, an dessen Ausklang sich die Erwartung des nahenden Wochenendes knüpft. Am Mittwoch stellt sich ein neuer Energieschub ein bei dem Gedanken daran, dass der Woche das Kreuz gebrochen ist. Dem Dienstag fehlt dieses schwache und trübe Licht, das den Mittwoch zart erhellt. An einem Dienstag in einen Unfall verwickelt zu werden, der mich lebenslang lähmt, würde mich überhaupt nicht wundern. Aus Angst vor den unheilbaren Folgen dieses Tages verabrede ich mich dienstags auch nie, mit Peter.

In der Tat, jener Dienstag war so trüb wie der Atem eines kranken Menschen. Ich stellte mir meinen Vater vor, der an diesem Tag die ganze Zeit hinter der lautlosen Kasse in einem Restaurant saß und sehnsüchtig auf das turbulente Leben starrte, das draußen wirbelte. Von ihrer Alterslast gebeugt ging höchstwahrscheinlich auch meine Mutter an diesem Tag allein in unserer Vierzimmerwohnung auf und ab und fragte sich: »Was soll ich jetzt tun?«

Es ist die Frage, die sich Sima Khanoom stets und in jeder Situation stellt. Denn sie ist meist so in Gedanken versunken, dass sie vergisst, was sie schon erledigt hat und was noch zu tun ist. Manchmal lautet die Antwort, sie solle sich nun waschen, da ihre Notdurft schon verrichtet sei. Dann wieder, sie solle sich heftig mit Abbas Agha streiten, weil für sie das alles nicht mehr zum Aushalten wäre.

Am Ende eines solchen geplanten, durch die Was-soll-ich-jetzt-tun-Frage ausgelösten Streits hatte Sima Khanoom einmal meinen Vater so massiv unter Druck gesetzt, dass er unsere wunderschönen Seidenteppiche verkaufte und Holzparkett auf dem nackten Boden verlegte. Sima Khanoom war ausgesprochen begeistert. Sie zog ihre roten Pumps an, trippelte geräuschvoll durch die Wohnung und meinte zufrieden: »Ach, wie schön! Jetzt kann ich tagsüber wenigstens meine eigenen Schritte hören, kann merken, dass ich noch lebe und meine Ohren in Ordnung sind.«

Ihre noch recht ordentlichen Ohren bereiteten jedoch Abbas Agha später große Schwierigkeiten, weil er gezwungen war, den vor etwa einem Jahr gekauften Kühlschrank Marke Siemens zu veräußern und einen neuen anzuschaffen. Das ununterbrochene Summen des alten Geräts hatte angeblich Sima Khanoom das Gehirn wie eine Bohrmaschine durchlöchert und ihre Ohren taub gemacht.

Die Tatsache, dass meine Mutter grundsätzlich mit ihren Ohren Probleme hat, stört uns mittlerweile nicht mehr. Fatal ist nur, dass sie manchmal vergisst, dass sie überhaupt welche hat. Dann schließt sie ihre Augen und redet pausenlos wie ein Wasserfall. In solchen Situationen finden weder ich noch Abbas Agha oder Ryan bei ihr Gehör.

An jenem trüben Dienstag verhielt sich meine Mutter so, als ob sie ohne Ohren auf die Welt gekommen wäre. Beim Abendessen, während sie das Tablett mit dem aromatisch duftenden Basmatireis auf den Tisch stellte, teilte sie uns mit, Deutsche werden zu wollen. Im Reisdampf, der sich ungeduldig zum Kronleuchter schwang, strich sie sich kurz durch ihre grauen Haare und fuhr fort: »Wäre super, wenn es klappen würde. Muss nur den Antrag schnell stellen. Man weiß ja nicht, was passieren wird, jetzt wo die Große Koalition dran ist. Vielleicht ändern sie das Gesetz wieder …«

Mein Vater unterbrach sie empört und brüllte mit Dash Akoll-Stimme: »Was? Willst du wirklich Deutsche werden?

Willst du unsere Kleinfamilie zerstören? Ist dir gleichgültig, was die persische Gemeinde hier sagt? Ist dir egal, wie ich meinen Kopf danach vor meinen Landsleuten, vor meinem Volk hochhalten soll?«

Meine Mutter zeigte sich erstaunt. Zuerst streifte sie mich und Ryan Djahn mit einem kurzen Blick, dann wandte sie sich höflich an Abbas Agha: »Darf ich mal fragen, welches Volk Sie meinen?«

Diese Frage versetzte Abbas Agha-Dash Akoll, der sich immer als ein Mann aus dem Volk bezeichnete und ein Leben lang für die Rechte der einfachen Leute gekämpft hatte, plötzlich in Verlegenheit. Seine Zugehörigkeit und Verbundenheit zur persischen Volksgemeinschaft lag seiner Ansicht nach unmissverständlich auf der Hand. Niemand durfte sie in Frage stellen. Verwirrt zeigte er auf die gebratenen Tomaten auf dem Tisch und sagte: »Na, das Volk eben. Ich meine diese Perser.«

Sima Khanoom ignorierte zu Recht die als Volk angesprochenen gebratenen Tomaten, blickte sich um, und da sie niemenden außer mir und Ryan entdeckte, begann sie, die haltlosen Argumente meines Vaters zu analysieren. Mit Fragen wie »Meinst du Frau X oder Herrn Y?« blätterte sie sämtliche bekannten und unbekannten Perser in ihrem Gedächtnisregister durch und schied ausnahmslos alle als nicht dem persischen Volk zugehörig aus. Der duftende Reis löste sich im Licht des Kronleuchters auf. Das Kebab-Fett gerann. Die Haut der gebratenen Tomaten platzte. Meine Mutter jedoch war immer noch damit beschäftigt, die Perser in verschiedenen Ländern und Städten der Welt auszusortieren und der Gruppe der Nicht-zum-Volk-Gehörigen zuzuordnen.

Als ich genervt von ihren Ausführungen den Fernseher einschaltete und Ryan Djahn im Begriff war, zum Kiosk um die Ecke zu gehen, um seinen Hunger wie immer mit Chips und Cola zu stillen, gelangte meine Mutter zu der abschließenden Feststellung, dass in den persischen Volksgemeinschaften im Ausland nicht ein aus dem Volk stammender Mensch existierte, vor dem Abbas Agha sein Haupt hochhalten sollte. Am Schluss fügte sie hinzu: »Außerdem, du konntest als Mitglied der Toudeh-Partei* jederzeit deinen Kopf hochhalten, auch nach dem historischen Verrat dieser Partei an der Volksbewegung* Anfang der fünfziger Jahre und nach ihrer üblen Unterstützung des Khomeini*-Regimes. Da dürfte es dir eigentlich nicht schwer fallen, es weiter zu tun, auch wenn ich Deutsche werde!«

Mein Vater, der sich wie gewöhnlich den Diskussionen über Verrat oder Nichtverrat der Toudeh-Partei zu entziehen versuchte, rettete sich in die autoritätstrotzende Stimme des Schauspielers Omar Sharif und sagte: »Nun, es ist spät. Darüber reden wir ein anderes Mal.«

Er begab sich ins Wohnzimmer, holte die Kassette von »Lawrence von Arabien« aus dem Regal und steckte sie in den Videorecorder, um sie sich zum tausendsten Mal anzuschauen.

Abbas Agha sieht dem großen Schauspieler Omar Sharif tatsächlich nicht unähnlich. Besonders seine großen braunen Augen erinnern an Sharifs Stieraugen. Vielleicht deshalb oder auch, weil er selbst vor Zeiten in Iran ein hochrangiger Offizier gewesen war, versucht Abbas Agha Sharifs Stimme und sein Verhalten als Häuptlingssohn nachzuahmen. Dann bildet er sich ein, wieder von der unwiderstehlichen Aura von Macht und Autorität umhüllt zu sein, die ihm einst sein angriffsbereiter Stierblick und der Glanz seiner nun wertlosen Militärorden verliehen hatten. Aus unerklärlichen Gründen lassen wir uns stets von seiner Omar Sharif-Pose einschüchtern und beharren nie auf der Fortsetzung unangenehmer Diskussionen. Sogar Sima Khanoom, dank ihrer gar nicht mehr so ordentlichen Ohren, zieht es vor, sich nicht mit ihrem Omar Sharif-Double anzulegen.

So blickte sie an jenem Abend auf die kalt gewordenen Speisen auf dem Tisch, die unter dem weißen Licht des Leuchters wie eingefroren wirkten, und fragte erstaunt: »Warum habt ihr nicht zugelangt? Jetzt ist das Essen kalt und ungenießbar.«

Sirna Khanoom ist grundsätzlich nicht die Art Frau, die auf die Idee käme, dass ihre allzu entbehrlichen Ausführungen eventuell unseren Appetit verdorben haben könnten. Als ich sie ganz vorsichtig darauf ansprechen wollte, war sie zutiefst beleidigt. Wie immer rief sie ihre unsichtbaren Geister herbei und begann, das Holz ihrer »mütterlichen Pflicht« und »unserer unverschämten Undankbarkeit« zu hobeln und Splitter und Späne des Tadels zu verstreuen.

»Es ist sinnlos, sich von morgens bis mitternachts für die Familie aufzuopfern. Statt sich zu bedanken, heißt es am Ende, alles sei falsch, was man getan hat.«

Je mehr ich mich bemühte, das Missverständnis auszuräumen, desto geringer war mein Erfolg. Außerdem fühlte ich mich von ihren schmerzhaft stechenden Tadel-Splittern wie gelähmt. Sie drangen so tief in meine Seele ein, dass keine Pinzette sie herausgebracht hätte. So flüchtete ich mit dem Gedanken an Peter und an seine Schutz und Trost versprechende Schulter aus der Wohnung.

3.

Peter empfing mich, obwohl unter Stress, erfreut und umarmte mich liebevoll. Als Beweis seines Mitgefühls griff er auf sein Patentrezept zurück: »Nimm endlich Abstand von deiner Familie, mein Schatz. Sie nutzen deine Schwäche für Harmonie rücksichtslos aus.«

Bei der Vorstellung, dass Abbas Agha und Sima Khanoom meine Schwäche rücksichtslos ausnutzten, brach ich in Lachen aus. Sie waren es doch, die unserer Zukunft wegen Tag und Nacht schufteten. Dennoch widersprach ich Peter nicht. Von Streitereien hatte ich für heute genug, dazu noch ein kulturelles Missverständnis aus dem Weg zu räumen ging über meine Kräfte.

Peter ist Buchhändler von Beruf. Seine internationale Krimi-Sammlung ist bundesweit einmalig. Ständig sortiert er die Bücher nach Genre und nach den Namen der Autoren in alphabetischer Reihenfolge. Dann ordnet er sie in die vorgesehenen Regale ein. Auch sein Leben arrangiert er nach einer ähnlich strikten Ordnung, nach umständlich durchdachten, nur ihm verständlichen »kurzfristigen und langfristigen Plänen«, die er sorgfältig auf Zetteln notiert, die am Kühlschrank hängen. Sein Verhalten im Alltag ist unwillkürlich davon in Mitleidenschaft gezogen, was sich auf unsere Beziehung auswirkt. Stets redet er von »meinem Problem«, »deinem Problem«, von »meinem Geld« und »deinem Geld«, was mir völlig fremd ist. Peters scharfer Verstand gleicht einem Computer, so dass für ihn Gott und die Welt allein durch die Zahlen Null und Eins darstellbar und verständlich sind, unsere Liebesbeziehung nicht ausgenommen.

Ich verkroch mich in seinen Armen, vergaß die Holzspäneschmerzen und sagte sanft: »Aber Peter, es sind meine Eltern. Du redest so, als ob sie Fremde wären.«

Peter mit seinem 0/1-Verstand wie ein Computer, den er mir übrigens gründlich erklärte, meinte, es gäbe keinen Unterschied zwischen Verwandten und Fremden, wenn »persönliche Interessen« im Spiel sind. Stolz fügte er hinzu: »Das weiß ich, seit ich siebzehn bin!«

In seinem siebzehnten Lebensjahr war Peter von zu Hause ausgezogen und in eine Wohngemeinschaft umgesiedelt. Als Nichtraucher hatte er keine großen Ausgaben. Seine allein erziehende Mutter Margrit unterstützte ihn mit einem bescheidenen monatlichen Taschengeld. Die Großmutter übernahm seine GEW-Rechnungen. Er selbst arbeitete in der Freizeit als Fensterputzer und Transporthelfer, um seine restlichen Ausgaben zu decken. Auf dem von der Umzugsfirma gestellten T-Shirt, das er aus Zeitmangel manchmal sogar in der Schule trug, stand in großen Lettern: Ihren Umzug zu erledigen, ist unsere Pflicht.

So hatte Peter am eigenen Leib erfahren, wie hart Geldverdienen sein kann. Hart lernte er auch, seine Einkünfte zu sparen.

Im Gegensatz zu Peter geht mein Vater leichtsinnig mit Geld um. Selbst während er den Tagesumsatz zählt, blickt er träumerisch in die oftmals regnerische Nacht, als sei er beauftragt, Regentropfen statt Geld zu zählen. Er vertieft sich mit so viel Ernst in jene nasse Finsternis, als sei Regen ein seltsames, jährlich nur einmal in Deutschland zu beobachtendes Ereignis und als entginge seinen Augen eines der Weltwunder, ließe er diesen bizarren Vorfall unbeachtet. Wenn Peter dagegen den Preis eines eben verkauften Buches in die Kasse tippt, konzentrieren sich all seine Sinne allein darauf; erst erfasst er die Ziffern mit den Augen, dann registriert er sie in seinem Gedächtnis. Anschließend spürt er sie förmlich in seinen geübten Fingern, wenn er die Kassentasten berührt und die Zahlen eingibt. Am Schluss errechnet sein trainiertes Gehirn nach dem 0/1-System die bis dato prozentual eingenommene Handelsspanne. Da Peters exklusive Krimi-Angebote äußerst gefragt sind, schwebt ständig ein melodisches Kassengeklingel in der Luft, als zwitschere ohne Unterlass eine Nachtigall in seinem Laden.

4.

Nach jenem düsteren Dienstag gelang es meinem Vater nicht, Sima Khanooms Entscheidung zu ändern. Auch die Autorität Dash Akolls konnte sich nicht durchsetzen. Nicht einmal von Omar Sharifs Bullenblick ließ Sima Khanoom sich einschüchtern. Ihr Entschluss blieb unüberwindbar. Als Abbas Agha sie zum tausendsten Mal mit Dash Akoll-Stimme fragte: »Warum, zum Teufel, willst du Deutsche werden?«, antwortete ich an ihrer Stelle, zermürbt von den unendlichen Streitereien: »Unseretwegen. Sie will einfach ohne Angst und Sorge um ihr Aufenthaltsrecht bei ihren Kindern bleiben dürfen. Ist das so schwer zu verstehen?«

»Nein, das ist nicht schwer. Aber um in diesem verfluchten Land bleiben zu können, gibt es hundert andere Möglichkeiten.«

Ich kannte keine einzige. Trotzdem sagte ich: »Vielleicht haben Sie ja sogar Recht. Aber Ihre verehrte Frau hat sich für diesen Weg entschieden. Ist das so schlimm?«

Es fiel meinem Vater oft schwer, eine freie Entscheidung der Mitglieder seines »gemütlichen, warmen und hellen Familienhorts« zu respektieren. Meine Verteidigung brachte ihn erst recht in Wallung. Er bekam einen roten Kopf, riss die Augen auf und brummte empört: »Na, so was! Ich bin dir also egal, wie? Gut zu wissen, dass auch du auf ihrer Seite stehst!«

Seit geraumer Zeit gelangte mein Vater immer wieder zu dieser Schlussfolgerung. Nur ließ er sie so klingen, als sei er gerade erst darauf gekommen. Problematisch war, dass ich nie das Bedürfnis verspürte, dieses je nach Standpunkt bittere oder süße Fazit zurückzuweisen oder zu bekräftigen. Also schwieg ich auch dieses Mal und hoffte, Abbas Agha würde die Diskussion nicht weiterführen, sondern ins Wohnzimmer entschwinden und seinen Trost in einem Dash-Akoll-Video suchen.

Doch mein Vater hatte Recht. Ich konnte gar nicht auf seiner Seite sein, auf der Seite von Abbas Agha-Dash Akoll, den mein Großvater mütterlicherseits »einen echten Hurensohn« nannte, denn er habe sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht, sobald er Wind davon bekam, dass im Land dicke Luft herrschte.

Immer wenn der Großvater gegen seinen Schwiegersohn, den Deserteur wetterte, versuchte meine Mutter, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Obwohl sie selbst von der Flucht meines Vaters ungeheuer betroffen gewesen war, führte sie geduldig aus: »Er war in einer Zwickmühle, Agha Djahn. Als hochrangiger Offizier hat er für die Freiheit gekämpft. Er ist kein normaler, simpler Dissident. Wäre er erwischt worden, hätte man ihn sofort hingerichtet. Deshalb ist er geflüchtet, nicht um im Ausland ein schönes Leben zu genießen.«

Da mein Großvater nach einer Weile einsah, dass er den Kampf mit dem Todesengel seines Schwiegersohns – wäre der im Lande geblieben und hingerichtet worden – nicht siegreich hätte führen können, holte er eben noch weiter aus. So ließ er jedes Mal seinen Umhang auf die Schultern rutschen, fuchtelte mit dem Stock in der Luft herum und kreischte: »Dieser Hurensohn hätte von Anfang an einen großen Bogen um die Politik machen müssen. Kein anständiger Mensch legt sich mit einem vom Volk gewählten Regime an, erst recht kein Offizier, der Mitglied der geheimen Militärorganisation einer kommunistischen Partei ist. Tausendmal hab ich gesagt: Mischt euch in solche Machenschaften nicht ein. Dreht eure Fahne nach dem Wind. Diese Regierung ist wie ein Esel. Ihr solltet ihn satteln und die Zügel straff anziehen. Basta!«

Meine Mutter hielt rigoros dagegen und warf ein: »Das sind keine Esel, Agha Djahn. Diese Mullahs sind schlimmer als tollwütige Wölfe. Bis jetzt haben sie alle zerfleischt und zerfetzt, die gewagt haben, sich gegen sie aufzulehnen, oder? Man muss doch die Tatsachen sehen.«

Mein Großvater ignorierte aber die Realität lieber. Zum tausendsten Mal wetterte er gegen die Vorfahren meines Vaters, verbrannte sie komplett in den lodernden Flammen seiner Wut und zerstreute die Asche ohne Gewissensbisse in der Luft.

Die Wirkung dieser Tirade auf die Physis meiner Mutter war für mich immer wieder erstaunlich; sie wurde krumm wie ein F:ragezeichen, nahm meine Hand und verließ das Zimmer.

Meine Großmutter gab ihrer Tochter daraufhin stets zu verstehen, sie solle das Geplapper des Vaters nicht ernst nehmen. Sein übles Benehmen sei altersbedingt.

Doch meine Mutter schämte sich, dass sie nun, nachdem sie jahrelang als Lehrerin finanziell für ihre Familie gesorgt hatte, ihre Beine wieder unter den Tisch des Vaters stecken musste. Sie wurde plötzlich äußerst sparsam, versuchte weniger Wasser und Strom zu verbrauchen. Mit der Ausrede, sie wolle abnehmen, aß sie kein Abendbrot mehr und legte eine Mahlzeit auf zwei Tage um. In der Nacht träumte sie schlecht und murmelte dabei stöhnend: »Oh, Abbas, guck auf dein düsteres Leben. Schau, was du mit mir gemacht hast.«

Später bemühte sich mein Vater sehr, Sima Khanoom davon zu überzeugen, dass nicht der Offizier Abbas Azad, sondern der Führer Ruhollah Khomeini ihr Leben verdüstert hatte. Meine Mutter beharrte dennoch unerschütterlich auf ihrer Meinung. Einmal unterbrach sie am Ende einer heftigen Auseinandersetzung die erschöpfenden Ausführungen und schrie ihn ärgerlich an: »Ihr seid alle aus demselben Holz geschnitzt, wenn es um die Rechte der Frauen und Kinder geht. Da macht es keinen Unterschied, ob ihr Abbas oder Nietzsche, Khomeini oder Lenin heißt!«

Sima Khanoom kochte vor Wut, so dass mein Vater sofort das Schlachtfeld verließ. Doch um das letzte Wort zu behalten, sagte er beleidigt: »Ach, vergiss es. Man kann sowieso kein offenes Ohr bei dir finden!«

Ich glaube, in dem Moment, als meine Mutter für sich die Gleichung Abbas = Khomeini = Nietzsche = Lenin entdeckte, entschied sie sich auch, gelegentlich ohne Ohren auszukommen.

5.

Abbas Agha kam einen Schritt auf mich zu und brummte noch einmal »Keine Hemmungen! Sag klipp und klar, dass es dir egal ist, ob es mich gibt oder nicht. So viel bin ich euch wert!«

Das stimmte so nun auch wieder nicht. Wenn mein Vater und der Inhalt seiner oft stummen Kasse nicht gewesen wäre, hatte ich nicht weiter studieren können. Als Kind war es mir ziemlich egal, dass er ein »echter Hurensohn« war. Denn wenn er kein Hurensohn gewesen wäre, hätte er ein Märtyrer sein müssen, wie meine Mutter behauptete, und zwar ein toter. Denn während des Iran-Irak-Kriegs gab es auch lebendige Märtyrer. Meine Großmutter verkündete immer, alle Kriegsinvaliden seien lebendige Märtyrer. Hätten die Passdaran* meinen Vater damals verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, wäre auch er durch Folter und Furcht in einen »lebendigen Märtyrer« verwandelt worden. Vorausgesetzt, man hätte ihn nicht sofort hingerichtet.

Abbas Agha wollte nicht in einem iranischen Gefängnis verschwinden, sondern noch eine Weile in Deutschland leben. Den Ehrentitel »lebendiger Märtyrer« verlieh er sich aufgrund seines märtyrerischen Aussehens selbst, nachdem er einen Monat lang durch Berg und Tal auf der Flucht gewesen und endlich in Deutschland gelandet war. Sein märtyrerisches Aussehen bewahrte er sich anscheinend auch während des Asylverfahrens. Er wurde sofort als einfache Arbeitskraft beim Bau eines Tunnels beschäftigt, damit niemand ihn zum Wirtschaftsflüchtling stempeln konnte, der durch politisches Asyl das reiche und wohlhabende Deutschland berauben wolle, wie es in politischen Debatten so gerne hieß.

Auf diese Weise verschwand Abbas Agha vor Sonnenaufgang unter der Erde und tauchte nach Sonnenuntergang wieder an die Oberfläche. Zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang setzte mein Vater beim Schaufeln all seine Kraft und Energie um in Schweiß, Blut und Tränen, bis er eines Tages bemerkte, dass sein Körper jede Flüssigkeit verloren hatte und seine Haut aufgerissen war wie bei einem geräucherten Fisch.

Dieser Zustand überwältigte Abbas Agha so plötzlich, dass er nicht einmal mehr dazu kam, den Grund seines Trockenheitsgefühles zu analysieren. Er fiel einfach um, zum gedämpften Klang der Schaufel, mit der er sechs Monate lang die Eingeweide der Erde ausgegraben hatte und die über die gesamte Zeit seine einzige Vertraute gewesen war.

»Ein einmaliges Erlebnis, wenn man einer Schaufel sein Herz ausschüttet!« So lautete die einzige Moral, die mein Vater aus seiner Märtyrerzeit zog. Jedes Mal, wenn er auf seine »einmaligen Erlebnisse« zu sprechen kam, brach er in Lachen aus. Er lachte auch beim Erzählen der erschütternden Ereignisse seiner Flucht, während Tränen über seine Wangen rollten.

»Im Krankenhaus waren alle neugierig. Jeder wollte wissen, welch wichtige Rolle die Schaufel in meinem Leben gespielt hatte, da ich im Koma und im Traum ständig nach meiner image Schaufel rief. Zuerst dachten sie, meine Frau oder meine Tochter hießen so.«

»Schaufel« gehörte zu den ersten deutschen Worten (neben »Bahnhof«, »egal« und »Scheiße«), die mein Vater lernte. Ohne diese Ausdrücke kam er in seinem Alltag auch später nicht mehr zurecht. Mit ihnen war er in der Lage, sich gegen die allgemeinen Vorurteile zu verteidigen, die unweigerlich mit der Unterschrift unter einen Asylantrag einhergingen: dass er nämlich nach Deutschland gekommen sei, um diese Wohlstandsgesellschaft zu ruinieren und die Deutschen ihrer Arbeitsplätze und Wohnungen zu berauben.

Als mein Vater erfuhr, dass der zu »Schaufel« gehörige Artikel feminin ist, war er tief enttäuscht. Es war ihm nicht begreiflich, wie ein derart kraftvoller Gegenstand, der ihm einerseits als Werkzeug einen gesicherten Aufenthalt in Deutschland ermöglicht und es ihm andererseits erlaubt hatte, wie ein Ochse die Erde umzupflügen, weiblichen Geschlechts sein konnte.

Vielleicht denkt er, wenn er aus dem Fenster auf die Straße starrt, statt auf seinen Umsatz zu achten, auch an die Schaufel und deren weiblichen Artikel und lacht heimlich in sich hinein.

6.

Abbas Agha musterte mich immer noch mit seinem Stierblick à la Omar Sharif und wollte wissen, ob mir seine Existenz oder Nicht-Existenz egal wäre. Ich konnte ihm dabei leider nicht weiterhelfen, weil ich mir selbst nicht im Klaren war. So stand ich unwillig auf und ging wortlos in die Küche. Hartnäckig lief er hinter mir her.

In Abbas Aghas »warmem und hellem Familienhort« stand nun jeden Abend zum Abendessen das Thema »Einbürgerung, ja oder nein« auf der Tagesordnung und brachte unser Leben durcheinander. Es war wieder ein düsterer Dienstag, als meine Mutter sich notgedrungen dazu gezwungen sah, ihren Koffer zu packen, um uns wegen Abbas Aghas ablehnender Haltung zu verlassen, und auch ich meine Sachen auf dem Bett anhäufte und meinem Vater zu verstehen gab, wenn er die Entscheidung seiner Frau nicht akzeptiere, würde ich ihm ebenfalls abhanden kommen.

Augenblicklich schlüpfte er in die Gestalt Omar Sharifs und gab sich affektiert autoritär: »Ach, jetzt drohst du mir auch? Unverschämt! Also, so weit bist du, ja? Von Anfang an war mir klar, dass du auf der Seite deiner Mutter stehst, dass du ihre Tochter bist!«

Hätte ich seiner Meinung nach die Tochter unseres berühmten Dichters Hafiz* sein sollen? Weder der große Dichter noch mein lieber Vater waren da, wenn ich sie dringend brauchte. Nur meine Mutter unterstützte mich, und zwar immer und überall. Etwa als ich auf unserer Flucht vor Angst ständig zitterte. Da war es meine Mutter, die fest meine Hand hielt und mich tröstete. In jenen turbulenten Tagen war ich wie besessen von der Furcht, irgendwann verloren zu gehen. Als wir damals von einem Bus auf einen Lastwagen umstiegen oder einen Packesel mit einem Mofa tauschen mussten. Als wir stundenlang mit einem Kamel in der Wüste herumirrten und dann in einem schrottreifen PKW Zuflucht fanden. Endlos war mir die Flucht mit all diesen unterschiedlichen Verkehrsmitteln damals vorgekommen. In den ersten Tagen hatte ich mir vorgestellt, wir unternähmen nur einige zufällige Ausflüge, obwohl Sima Khanoom mir bereits gesagt hatte, dass ich mich wie »Alice im Wunderland« auf eine abenteuerliche Reise vorbereiten sollte. Was sie tatsächlich damit meinte, ahnte ich nicht. Ich war aber froh, eine Weile Abstand von meinem netten Großvater zu bekommen. Der fuchtelte immer noch mit seinem Stock in der Luft herum und beschimpfte die Vorfahren meines von Hinrichtung bedrohten Vaters so heftig, dass sie sich im Grabe umgedreht hätten, wäre es ihnen zu Ohren gekommen. Nach einer Weile, als die Alicesche Reise zum Zwang wurde, hatte ich gar keinen Spaß mehr daran. Ich sehnte mich sogar manchmal nach meinem Großvater, seinen Flüchen und Schmähungen. Vielleicht, weil das Wunderland, das wir entdecken sollten, nicht so wunderbar war, wie mir meine Mutter versprochen hatte. Es war eine uferlose Wüste, ohne Anfang und Ende; nur die Menschen, die uns begleiteten, waren alle höchst wundersam.

Da gab es sieben oder acht Männer mit dichten Schnurrbärten, die ständig zum Horizont starrten und dir ihre gelben Zähne zeigten, wenn dich ihr Blick ungewollt streifte. Sie grinsten dich an mit einem verklemmten, furchterregenden Lächeln.

Einer, ohne Brille und fast blind, hieß Herr Nokteh Bin. Später, als meine Mutter den anderen von unserer Flucht erzählte, führte sie ihn als Registeramtsbeamten ein. Manche Männer der Gruppe verspotteten ihn hinter seinem Rücken seiner Hofsprache wegen und äfften ihn nach. Vor dem Schlafengehen verabschiedete er sich jeden Abend mit dem Satz: »Ich darf mich, gnädige Mitreisende, jetzt empfehlen.« »Hassan-das Sprichwort«, dessen Äußerungen stets mit Sprichwörtern gespickt waren, vertrat die Ansicht, Herr Nokteh Bin würde das Exil nicht länger als ein Jahr überleben, weil es ihm niemals gelingen könne, die deutsche Hofsprache zu erlernen. Denn im Exil würde es die Seele töten, wenn man beredt und dennoch sprachlos sei. Meine Mutter prophezeite, »Hassan-das Sprichwort« werde sogar schon nach sechs Monaten Exil durchdrehen. Es sei ebenso unmöglich, die deutsche Sprache so weit zu beherrschen, dass man in Sprichwörtern reden könne.

Das Erscheinungsbild des Reiseführers, den alle A Sardar nannten, war am schrecklichsten. Alles an ihm sah wirr und wüst aus; von seinem vollen Bart und den Augenbrauen bis zu seinem großen Tuch, das er mehrmals um den Kopf gewickelt hatte. Sogar seine Hose war so geschlungen, dass es aussah, als seien die engen Beinpartien in den Zwickel eingebunden oder umgekehrt. Er ähnelte den Biestern, die ich von meiner Großmutter her kannte. Mansureh Khanoom, meine Großmutter, hatte mich immer gemahnt, ein braves Mädchen zu sein und die Suppe ohne Meckern aufzuessen. Sonst rufe sie ihre vertrauten Ungeheuer und befehle ihnen, mich in einem Zug zu verschlingen.

Als ich A Sardar zum ersten Mal sah, brach ich vor Angst in Tränen aus. Ich hatte nicht gewusst, dass auch meine Mutter mit diesen Ungeheuern bekannt war. Das Schlimmste war, dass ich nicht begreifen konnte, warum sie sie ausgerechnet in diesem Moment rief. Hatte ich vielleicht etwas falsch gemacht? Ich war während unserer ganzen Wunderland-Reise völlig brav gewesen. Und auch an diesem Tag jammerte ich nicht, obwohl ich den ganzen Tag nur ein paar Tropfen Wasser zu trinken bekommen hatte. Nur um ein Stück Brot hatte ich meine Mutter ab und zu angefleht und war von ihr bis zur Ankunft im »nächsten« Dorf vertröstet worden. Einige dieser nächsten Dörfer lagen bereits hinter uns, und der schrottreife Kombi sauste unbeirrbar weiter. Fuhren wir an Siedlungen vorüber, warnte uns A Sardar jedes Mal: »Hier können wir nicht anhalten. Es ist gefährlich. Die Dörfler gehören nicht zu unserer Sippe. Keinen Mucks! Zieht eure Tücher über den Kopf, damit man euch nicht sehen kann!«

Die Männer vermummten sich noch fester mit ihren großen Tüchern und sanken tiefer in sich, in der Hoffnung, von niemandem gesehen zu werden.

Ich saß auf dem Schoß meiner Mutter im hinteren Raum des offenen Kombis und spielte mit ihrem Tschador, um meinen Hunger zu vergessen. Plötzlich knurrte mein Magen so sehr, dass es mir schwarz vor Augen wurde. Aus Angst zu erblinden schrie ich: »Brot! Ich will Brot!« Ehe meine Mutter reagieren konnte, blickte A Sardar aus dem Zwischenfenster des Kombis so böse auf mich, dass ich glaubte sterben zu müssen. Von unendlicher Furcht gepackt, begann ich zu heulen. Alle zappelten vor Entsetzen, kümmerten sich um mich und bettelten mich an, doch noch eine Weile, nur bis zum nächsten sicheren Dorf, still zu halten. An der Brust meiner Mutter weinte ich mir leise die Seele aus, bis ich schließlich einschlief. Ich merkte nicht, wann wir das nächste sichere Dorf erreichten. Als ich meine rot geschwollenen Augen aufschlug, die immer noch vom Tränensalz brannten, drückte mir meine Mutter ein großes Stück Brot mit Käse in die Hand und sagte: »Das hat dir Onkel Sardar aufbewahrt.«

7.

Abbas Agha haute mit voller Kraft auf den Tisch und brüllte noch einmal mit Omar Sharif-Stimme: »Antworte mir! Warum redest du nicht? Ich will wissen, ob ihr überhaupt Wert auf mein Wort, meine Ehre, auf mich persönlich legt oder nicht? Oder ist nur das wichtig, was Sima sagt, was sie tut?«

Aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, ist die Stärke meines Vaters. Außerdem besitzt er großes Talent, die Dinge zu verkomplizieren. Er bauscht eine Lappalie so lange auf, bis man nicht mehr weiß, auf welchen Aspekt des Themas man eingehen soll. Deshalb schwieg ich auch weiterhin. Während ich über eine vernünftige Antwort grübelte, kam es mir in den Sinn, dass Abbas Agha heute Nacht wieder von seiner Schaufel träumen könnte, um ihr sein Herz auszuschütten.

Mein Vater musterte meine Lippen eine Weile und da er endlich begriff, dass ich sie nicht auseinander bekommen würde, ließ er von seinem Gebaren ab. Er blickte zur Decke hinauf und sagte mit seiner eigenen, ratlos klingenden Stimme: »Oh weh, schau mal, wie einfach meine Familie zerstört wird, mein warmer und heller Familienhort.«

Obwohl er den Satz im Passiv formulierte, lag es auf der Hand, dass er mich und meine Mutter als Zerstörerinnen seiner Familie ansah.

Plötzlich ging die Tür auf und Ryan Djahn betrat die Wohnung. Abbas Aghas Augenlicht war seines Vaters letzte Rettung. Hilfe suchend blickte er ihn an: »Reza Djahn, komm du und sprich mit diesen Damen. Ich hab mir den Mund fusselig geredet. Aber sie haben wohl Knöpfe in den Ohren.«

Tatsache war, dass er kein vernünftiges Wort mit uns geredet hatte. Was er reden nannte, war nackte Omar Sharif-Drohung. Eine Weile versuchte er auch, uns seinen Willen mit der heroischen Autorität eines Dash Akoll aufzuzwingen. Dazu kam, dass er immer wieder Sima Khanoom beschuldigt, seine Würde und Ehre verletzt und geraubt zu haben.

Das »Augenlicht« des Abbas Agha würdigte uns keines Blickes. Es war tief beleidigt, weil es nicht mehr Reza gerufen werden wollte. Ryan Djahn kam rückwärts auf uns zu, während er mit einer Hand wie immer den Ring an seiner Augenbraue drehte und mit der anderen die Fernbedienung betätigte, um von einem Fernsehkanal zum anderen zu zappen. Sein Hosenbund hing ihm auf dem Po, der aufgeblähte Zwickel reichte bis zum Knie.

Meine Mutter ergriff ihren Koffer und ehe sie ihn hochhob, fragte sie Ryan: »Wo bleibt denn deine Begrüßung image, mein Sohn?«

Abbas Agha unterbrach sie rasch: »Ja! Bitte schön! Die schlechten Manieren hat er von den Deutschen, von diesem grünäugigen Jungen, Kai. Wie ein Esel platzt er immer hier ins Haus, ohne auch nur ein einfaches Hallo zu sagen. Und jetzt willst du auf Biegen und Brechen Deutsche werden?«

Ryan drehte sich kurz zu uns um und warf Abbas Agha einen düsteren Blick zu, weil er seinen Freund beleidigt hatte, hielt aber den Mund. Sima Khanoom grinste, nahm den Koffer und sagte: »Okay. Ich gehe jetzt. Redet ihr zuerst miteinander. Ich erfahre dann alles, wenn ich mich demnächst bei euch melde.«

Ich war bereit, meiner Mutter zu folgen, und zerrte entschlossen am Reißverschluss des Sackes, in den ich all meine Sachen gestopft hatte. Sobald Ryan merkte, dass es ernst war, hörte er abrupt auf, den Ring an seiner Augenbraue zu drehen und die Programme umzuschalten. Mein Bruder, der sich immer lässig und leger ausdrückte, sprach diesmal höflich und gefasst, halb auf persisch, halb auf deutsch: »Wohin gehen Sie denn wollen? Sie haben in dieser fremden Stadt image nicht Freunde.«

Meine Mutter stand schon am Ausgang. Ohne sich umzudrehen, erklärte sie der Wohnungstür: »Wohin schon? Ins Frauenhaus!«

Erstarrt hielt ich mit dem Schließen des Reißverschlusses inne. Augenblicklich beschloss ich, Peters Rat zu folgen und Abstand von meiner heiligen Familie zu nehmen, bevor sie mein Leben völlig zerstörte. Peter würden die Worte fehlen, wenn er hörte, dass meine Mutter Zuflucht im Frauenhaus gesucht hatte.

Ryan Djahn drehte vor Ratlosigkeit dieses Mal den Ring an seiner Unterlippe. Darin erschöpfte sich die Weisheit von Abbas Aghas männlichem Erben. Mein Vater, der mit zwei Sprüngen am Ende des Flurs landete, um die Tür abzuschließen, rief entsetzt: »Wie bitte?! Wohin?! Wohin sonst alle geschlagenen Frauen gehen? Wir haben dich alle nur mit Samthandschuhen angefasst, oder? Warum willst du unsere Ehre absichtlich beschmutzen?«