Impressum

Dietmar Beetz

Visite in Guiné-Bissau

ISBN 978-3-95655-189-5 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1975 im Verlag Neues Leben Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Für Karin, die daheim durchgehalten hat

Vorwort

Am 24. April 1973 beschloss der Weltbund der Demokratischen Jugend auf einem Meeting in Conakry, eine internationale Ärztebrigade zur Unterstützung des Befreiungskampfes nach Guiné-Bissau zu schicken.

Davon erfuhr ich zum ersten Mal am 24. Mai im Ministerium für Gesundheitswesen in Berlin. Mich reizte die Aufgabe, und ich erhielt die Möglichkeit, im Auftrag des Zentralrats der FDJ gemeinsam mit einem anderen Arzt aus unsrer Republik drei, vier Monate als Mitglied dieser Brigade zu arbeiten.

Guiné-Bissau also! - Liegt irgendwo in Afrika, ist neben Mocambique und Angola und ein paar Inseln noch immer portugiesisches Kolonialgebiet, teilweise befreit und seit Jahren umkämpft. - Viel mehr war mir damals, Ende Mai 1973, nicht bekannt über dieses Land.

Auch noch am 24. Juni, am Abend der Ausreise, wusste ich im Wesentlichen nur, was man im Band 6 von MEYERS NEUEM LEXIKON auf Seite 24 nachlesen kann:

Guiné-Bissau, früher Portugiesisch-Guinea, sogenannte Überseeprovinz von Portugal, tatsächlich aber portugiesische Kolonie in Westafrika. Liegt am Atlantischen Ozean, grenzt im Norden an Senegal, im Süden und Osten an die Republik Guinea. Erstreckt sich von einem Mangroven umsäumten, zur Regenzeit weithin versumpften Küstentiefland im Westen bis zu den etwa 200 Meter hohen Vorbergen des Fouta Djalon im Südosten. Gleichmäßig warmes Tropenklima mit einer Regenzeit von Mai bis Oktober/November und einer sich anschließenden Trockenperiode.

Des Weiteren nennt das Lexikon eine Bodenfläche von 36 125 Quadratkilometern und die Zahl von 560 000 Einwohnern, ermittelt im Jahre 1970, davon etwa 40 000 in der Hauptstadt Bissau. Die Bevölkerung - Angehörige von etwa 30 Stämmen und eine vorwiegend portugiesische Minderheit - lebe größtenteils im Küstengebiet nördlich der Gebamündung.

Hier gingen, dem Lexikon zufolge, 1434 die ersten Europäer an Land, und bald darauf errichteten Portugiesen an dieser Küste befestigte Siedlungen, die zu Zentren des Sklavenhandels wurden. Immer wieder flammten Aufstände auf, besonders gegen Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

1956 - und zwar, wie wir später erfuhren, am 19. September - wurde die PAIGC gegründet, die Partido Africano da Independéncia da Guiné e Cabo Verde, die Afrikanische Unabhängigkeitspartei von Guinea und den Kapverdischen Inseln.

Zunächst versuchte sie, mit friedlichen Mitteln ihr Ziel zu erreichen - eine Hoffnung, die nach dem Massaker an fünfzig streikenden Hafenarbeitern in Bissau am 3. August 1959 endgültig zerschlagen war.

So begann die PAIGC 1961 unter Führung ihres Gründers und Generalsekretärs Amilcar Cabral mit dem bewaffneten Kampf gegen das Kolonialregime.

Partisanentrupps erweiterten sich in der Folgezeit und bildeten 1965 die Forcas Armadas Revolutionares Popular, die Revolutionären Volksstreitkräfte, die bereits 1970 etwa zwei Drittel des Territoriums kontrollierten und an drei Fronten (Süden, Osten und Norden) kämpften.

In den Befreiten Gebieten, den Regioes Libertadas, schuf die PAIGC eine Ordnung auf demokratischer Grundlage. Es entstanden Schulen, Hospitäler, Magazine für den Tauschhandel, Justizorgane und Einheiten der Miliz, die Forcas Armadas Local. Die portugiesische Kolonialmacht war im Wesentlichen auf die Städte und befestigten Stellungen zurückgedrängt.

In dieser Situation organisierte General de Spinola, der damalige Gouverneur von Bissau, ein Komplott gegen die Führung der Befreiungsfront. So kam es, dass Amilcar Cabral am 20. Januar 1973 vor dem Büro der PAIGC am Place Miniere in Conakry ermordet wurde.

Die Rechnung der Verschwörer und ihrer Hintermänner ging jedoch nicht auf, im Gegenteil: Die PAIGC festigte sich, und Anfang Mai 1973 erstürmten ihre Truppen die Festung Guiledje - eine Aktion, die bezeichnenderweise unter dem Namen „Amilcar Cabral“ zum Erfolg geführt hat.

Damit war die Politik de Spinolas, ein demagogischer Neokolonialismus, offensichtlich gescheitert. Ende August wurde er vom portugiesischen Diktator Caetano aus Bissau abberufen und durch einen Vertreter der Eskalationsstrategie ersetzt.

All das erfuhren wir bereits im Kommando der Südfront bei Kandiafara, einem Ort in Grenznähe auf dem Gebiet der Republik Guinea, die von Anfang an den Befreiungskampf in ihrem Nachbarland konsequent unterstützt hat.

In Kandiafara waren wir am 1. Juli eingetroffen, angereist nach fünftägigem Aufenthalt in Conakry über Boké, einer Regionalhauptstadt im Nordwesten von Guinea, einer Stadt mit Flugplatz, mit dem Zentralhospital der PAIGC und mit anderen Einrichtungen für die Versorgung und den Nachschub. Im etwa 80 Kilometer entfernten Kandiafara hatten wir seitdem gelebt und gearbeitet, hatten uns an das Klima gewöhnt und leidlich den völlig fremden Gegebenheiten angepasst.

Hier in Kandiafara erreichte uns auch die Nachricht, dass am Vortag, am 24. September, gegen vierzehn Uhr im Wald von Madina Bóe die Republik proklamiert worden war.

Viva a República da Guiné-Bissau! Und wir können sagen ...

Aber niemand, weder wir noch unsre Kameraden, konnten damals ahnen, was sich in Jahresfrist in Portugal und in seinen ehemaligen Kolonien ereignen würde: der Sturz des Caetanoregimes am 25. April 1974, die De-jure-Anerkennung der Republik Guiné-Bissau durch Portugal am 10. September und der vollständige Abzug der portugiesischen Truppen von ihrem Territorium bis zum 31. Oktober 1974 ...

Ein Jahr zuvor noch duckten wir uns beim Anflug portugiesischer FIAT in den Splittergräben, wateten durch Schlamm und Wasser und verbanden zerfetzte Gliedmaßen - eine Realität, die heute bereits Vergangenheit ist. Zumindest in diesem Teil der Welt.

Trotzdem sollte sie meines Erachtens nicht zu rasch vergessen sein. Auch deshalb kehren wir auf den folgenden Seiten noch einmal zurück in das Jahr 1973, zurück nach Boké und zu jenem 16. Oktober, an dem unsere Geschichte beginnt.

1. Kapitel

Gestern waren wir noch in Conakry, und nun verlassen wir auch Boké. Wieder geht es in Richtung Grenze, diesmal über Kandiafara hinaus, mitten in die befreiten Gebiete. Genaues wissen wir natürlich nicht; trotzdem ahnen wir, was uns erwartet. Ahnen es und denken daran und schweigen, schweigen beide und schaun gradeaus.

Ich habe das Seitenfenster zurückgeschoben und mich in den Fahrwind gelehnt. Heiß weht es mir ins Gesicht, heiß trifft es auf die schweißfeuchte Brust unter der Uniform. In einer Kurve verrutscht der Rucksack neben mir, und ich kippe hinterher. Und sitze dann wieder senkrecht, die Lider zu einem Spalt verkniffen, sitze da und registriere, was wahrzunehmen ist, und bin dabei noch immer wie gelähmt, gleichsam erstarrt.

Vor uns überquert eine Frau mit schleppenden Schritten die Fahrbahn; sonst ist niemand auf der Straße zu sehn. Im Schatten vor einer Schwelle liegt ein Hund, die Schnauze auf den Vorderpfoten, ausgestreckt auf der steinigen, rostbraunen Erde. Selbst die Geier hocken zu dieser Stunde reglos auf Mauern und Dächern, die matt in der Sonne glänzen. Darüber flimmert die Luft, und der Himmel blendet die Augen und weckt Erinnerungen:

Abends sitzen hier am Rand der Straße Händler, vor sich ein Talglicht auf dem Tisch. Da kann man geröstete Erdnüsse kaufen, eine Handvoll für ein paar Münzen, kann flanieren, geborgen im Dunkel unter den hohen, ausladenden Bäumen, kann ins Kino gehn, sogar in eine Bar. Dann lachen Burschen, kreischen Mädchen, und Greise schreiten würdevoll einher im weißen, wallenden Bubu. Und niemand verstummt plötzlich und horcht, und niemand rennt los, um rechtzeitig in den nächsten Splittergraben zu springen.

Ein Stoß holt mich zurück in die Wirklichkeit, zurück ins grelle Licht, das an diesem frühen Oktobernachmittag Boké übergießt. Wieder hat der Chauffeur, ohne das Tempo zu mindern, eine Kurve genommen, und wieder hat sich der Rucksack, mein einziges Gepäckstück, in Erinnerung gebracht.

Wir fahren jetzt vorbei am Marktplatz, der verlassen daliegt, vorbei an der Moschee und am Minarett, das schlank und weiß die flachen Häuser überragt - immerhin gemauerte Häuser, Wohnungen mit elektrischem Licht, teilweise sogar mit Wasserleitung und Kanalisation.

Und dann prescht der Landrover über richtigen Asphalt, über eine schimmernde, makellos glatte Chaussee. Man spürt geradezu, wie der Fahrer zum Rasen verleitet wird, und etwas von seiner Begeisterung, ein Hauch von diesem Rausch überträgt sich auch auf mich.

Klaus ergeht es wohl genauso. Er schaut herüber und nickt mehrmals; doch was er sagt, wird vom Lärm des Motors überdröhnt.

„Das sind Straßen, das ist Tempo!“, lese ich ihm von den Lippen ab, und ich weiß, dass sein Stoßseufzer auch den Wegen gilt, die vor uns liegen.

Bei dieser Aussicht - ich spüre es deutlich - wird mein Gesicht wieder starr. Anders, in der ihm eigenen Art, reagiert auf solche Perspektiven Klaus: Er wendet sich ab, rasch, beinah brüsk, und brennt sich eine Zigarette an, bereits die zweite, seitdem wir uns im Zentralhospital der PAIGC verabschiedet haben. Und stößt den Rauch aus wie durch ein Ventil, wie einer, der unter Hochspannung steht und so den Dampf ablässt.

Inzwischen sind wir von der Asphaltstraße abgebogen, und nun holpern wir, hinter uns eine Wolke aus rötlichem Staub, auf ein umzäuntes Gelände zu. Der Posten am Tor hebt die Schranke, ohne die Maschinenpistole aus der Hand zu lassen; der Landrover weicht einer Gruppe Soldaten aus, kurvt um eine Baracke und hält mit quietschender Bremse vor der Rampe eines lang gestreckten Schuppens.

Caba“, sagt der Fahrer. - „Schluss.“ Für ihn ist die Fahrt hier zu Ende.

Muito obrigado!“ - „Vielen Dank!“

Bom viagem!“ - „Glückliche Reise!“

Und dann stehn wir auf dem sonnenüberfluteten Platz, umringt von Burschen und Männern in Uniform, von Frauen und Kindern in Zivil, und schütteln Hände, sagen: „Boa tarde!“ - „Guten Tag!“ - und fragen: „Bo esta bom?“ - „Wie geht’s?“

„Peter! Klaus!“, ruft plötzlich jemand, und ich erkenne Mamadu, einen der Fahrer aus Kandiafara. Mit ausgebreiteten Armen kommt er auf uns zu, im Gesicht das wohlbekannte spitzbübische Grinsen; und nun beginnt eine Begrüßung mit allem Drum und Dran, eine Begrüßung mit Umarmen, Auf-den-Rücken-Klopfen und mit diesem überschwenglichen Wechselspiel aus Frage, die mehr Gruß ist, aus Erwiderung und Gegenfrage:

„Peter, Pedro! Bo esta bom?

Esta bom, Mamadu. E bo esta bom?“

„Obrigado, muito bom! E bo esta bom? Saude? Corpo? Pedro! Bo esta bom?“

Ach, Mamadu, camarada, weißt du: die Gesundheit und der lausige Körper ... Aber das lassen wir lieber. Später vielleicht mal, nicht jetzt. - Also, es geht, Mamadu, „esta bom“.

„Pedro! Klaus! Bo esta bom?“

So schwirren die Worte eine Weile her und zurück, und alle im Umkreis freuen sich mit uns über das Wiedersehen. Und so heftig die Begrüßung begonnen hat, so unvermittelt endet sie. Jetzt können wir uns nach dem wirklichen Befinden erkundigen.

Nun, Mamadu geht’s tatsächlich sehr gut, eben muito bom. Auch in Kandiafara ist es ruhiger geworden: Vor anderthalb Wochen - zwei Tage, nachdem wir abgereist waren - sind die Tugas dort zum letzten Mal oben aufgekreuzt und haben dabei wieder eine FIAT verloren, bereits die fünfte über Kandiafara.

Cinco!“, wiederholt Mamadu begeistert, und er hebt die Rechte hoch, dazu den Daumen der linken Hand. Der rechte Zeigefinger wurde ihm vor Jahren nach einer Verwundung amputiert.

Fünf FIAT allein im September über Kandiafara, neunundzwanzig, soweit wir informiert sind, bisher insgesamt in diesem Jahr. - Wir kennen die Zahlen, und wir werden sie, glaube ich, auch so bald nicht vergessen: Bei den ersten vier Abschüssen über Kandiafara waren wir mit dabei.

Aber drüben, sagt Mamadu, im befreiten Gebiet, gehe es heiß her, nach wie vor, und er stößt einen Fluch aus auf die verdammten Tugas, die Portugiesen, und fährt mit seiner verkrüppelten, zur Faust geballten Hand wie bei einem Hieb durch die Luft.

In der Stille, die eintritt, hört man eine Frau seufzen, und ein Säugling fängt zu schreien an. Da erkundigt Klaus sich rasch bei Mamadu, fragt, ob er mit uns nach Kandiafara fahre.

Sim“, sagt er verdrossen, noch gedankenverloren. Doch gleich darauf bestätigt er, nun wieder aufgeweckt, mit einladender Geste: Ja, er, Mamadu, werde uns alle nach Kandiafara chauffieren. Und wie zur Bekräftigung geht - nein: schreitet er voran; sein Stolz ist unübersehbar.

Wir folgen ihm über den staubigen Platz, entlang der Rampe, auf die das Schuppendach einen harten Schatten wirft. Die erhitzte Luft kommt uns wie in Wogen entgegen. Wir bewegen uns so gemächlich, so sparsam wie möglich. Trotzdem bricht mir nach wenigen Schritten erneut der Schweiß aus. Klaus brennt sich die ich-weiß-nicht-wievielte Zigarette an.

Unsere Rucksäcke tragen, ungeachtet unseres Protestes, zwei Soldaten. Zwei andere schleppen den verdächtig schweren Koffer, das Angebinde der Botschaft, das schon auf dem Flugplatz von Conakry Argwohn erweckt hat.

Medicamentos — muito bom!“, haben wir bereits mehrfach auf verwunderte Fragen hin erklärt, und als Spezialmedizin, als besonders gute, leider aber ziemlich schwere, werden wir den Inhalt des Koffers deklarieren, bis er in Kandiafara seiner Bestimmung übergeben ist.

Vorerst jedoch müssen wir die Last auf den LKW bugsieren. Und nachdem das mit vereinten Kräften geschafft ist und auch die Rucksäcke hochgereicht sind, wollen wir hinterherklettern; da steht plötzlich eine Frau neben uns.

Dieses hagere Gesicht mit den frühen Falten um Nase und Mund, das dunkle, tief in die Stirn gebundene Tuch - wo nur habe ich das schon gesehn? Und wie sie den Kopf hält: ein wenig schräg - teils Abwehr, teils Erwartung ...

Als ihr meine Musterung zu lange dauert, ruft sie halblaut: „Médico!“ - „Arzt!“ Es klingt wie eine Beschwörungsformel.

Und da endlich erinnere ich mich, und während ich ihre Hand ergreife und sie die Zurückhaltung überwindet und zu reden beginnt, ist mir alles wieder gegenwärtig: jener Morgen in Kandiafara nach der durchwachten Nacht, die Verletzten von der Insel Komo, die fast eine Woche unterwegs gewesen sind, ihre grässlichen Wunden ...

Damals, Anfang Juli, waren wir erst wenige Tage im Einsatz. Den Bombenterror der Portugiesen kannten wir bis dahin nur vom Hörensagen. Behandelt hatten wir hauptsächlich Malaria, Hauterkrankungen, Infekte - eben das Übliche. Da kam die Nachricht, auf der Insel Komo - wo lag die bloß? - sei eine Hochzeitsgesellschaft bombardiert worden.

Auf einer Hochzeit über zwanzig Tote: Frauen, Kinder, Greise, auch Männer und Burschen - Bauern, keine Soldaten; denn Komo war seit Jahren befreit und zu jener Zeit ohne militärischen Schutz. Man feiert eine Hochzeit und wird dabei von Splitterbomben zerfetzt. Anfang Juli 1973.

Von den Verletzten - die genaue Zahl haben wir nie erfahren - kamen bis Kandiafara nur sechs. Sie überlebten die Fahrten mit der Piroge über all die Flussarme im Schutz der Nacht, das Abwarten tagsüber in einem Sanitätsposten oder mitten im Busch, den Transport durch Tümpel, über weglose Schlammfelder, durch Dickicht auf Pfaden, schmal wie die Schultern der Träger, und schließlich auch noch das Holpern über die Trasse. Fiebernd langten sie bei uns an, mit flachem, kaum spürbarem Puls, die Verbände blutgetränkt, von Fliegen umschwärmt.

Da war einer, den hielten wir für einen Greis, bis man uns sagte, wie alt er war: erst achtundzwanzig Jahre. Er reagierte weder auf Fragen noch beim Anlegen der Infusion. Reglos lag er auf einer der Tragen; der Blick - fast erloschen, starr. An seinem Hals klaffte eine verkrustete, geschwollene Wunde; die Speiseröhre war eröffnet, die linke Schlagader angeritzt.

Suicidio“, sagte jemand leise.

Ein Selbstmordversuch; das war offensichtlich. Während wir den Verband erneuerten, erfuhren wir den Grund: Bei jenem Bombardement waren alle seine Angehörigen umgekommen.

Und an einen anderen Patienten erinnere ich mich jetzt, da diese Frau auf mich einredet in einer Sprache, von der ich kein Wort verstehe, an einen acht- oder neunjährigen Jungen. Er fieberte stark und wimmerte, und als wir den Verband entfernten, begann er schrill und durchdringend zu schrein. Seine Hand, die rechte, war zertrümmert und unförmig angeschwollen. Wir mussten amputieren, sofort; das ließ sich nicht umgehn.

Dieser Junge ... Ja, und die Frau hier ist seine Mutter: Während der Operation, die ganze Zeit lang, stand sie hinter Klaus, eine Hand auf den Mund gepresst, die Augen geweitet, und auf ihren hageren Wangen schimmerte es feucht.

„Was sagt sie?“, fragt Klaus. Er hat die Zigarette ausgedrückt und gleichfalls die Frau begrüßt.

Ich zucke mit den Schultern; ihre Stammessprache - wahrscheinlich Balanta oder Nalu - ist mir so unverständlich wie ihm. Deshalb versuchen wir, uns auf crioulo nach dem Schicksal ihres Sohnes zu erkundigen.

Sie schüttelt den Kopf und lächelt verlegen. Doch gleich darauf läuft sie zur Fahrerkabine und öffnet die angelehnte Tür; und der dann herausklettert, von ihr gestützt, ist tatsächlich unser ehemaliger Patient.

Nur widerstrebend nähert er sich den hellhäutigen medicos, die er sicher in schlechter Erinnerung hat; seine Mutter muss auf ihn einreden, ihn schubsen. Schließlich steht er vor uns, den Kopf gesenkt, den rechten Arm hinter dem Rücken versteckt. Erst als seine Mutter die Stimme hebt, zeigt er den Stumpf vor - plötzlich, mit einem Ruck.

„Erkennst du ihn wieder?“, frage ich Klaus; ich will damit die Stille, dieses bedrückende Schweigen, überbrücken.

Er nickt, und nach einer Weile stellt er mit belegter Stimme fest: „Gute Stumpfverhältnisse, gut verheilt.“

„Ja“, erwidere ich, „wenigstens das.“

Inzwischen haben die andern die Ladefläche erklommen. Mamadu beugt sich aus der Kabine und fordert gebieterisch zum Beeilen auf. Die Frau will uns ihren Platz neben dem Fahrer überlassen; doch wir lehnen ab, entschieden, und klettern hoch zu den andern. Und steigen dort über Bündel, über Beine, zwängen uns an Rücken vorbei, treten aus Versehen einer Ziege auf den Fuß; ihr Gemecker löst bei allen Gelächter aus. Schließlich finden wir Platz hinter dem Fahrerhaus auf einer der herabgeklappten Bänke, unter der bereits unsere Rucksäcke verstaut sind, Platz, der nur für einen reicht.

„Setz du dich zuerst!“, sagt Klaus. „Ich will versuchen, ein paar Aufnahmen zu machen.“

Doch dann stelle auch ich mich, so gut es geht: immerhin auf einen Fuß. Mit der rechten Hand auf die rüttelnde Flanke gestützt, mit der linken auf das heiße Kabinendach, lasse ich mir den Fahrwind ins Gesicht wehn. Er zaust den Bart, zaust die Haare; er trocknet die schweißfeuchte Stirn und ordnet, scheint mir, auch die Gedanken dahinter, bringt sie in Bewegung, bringt mich wieder in Schwung.

Oder hat sich die Erstarrung schon früher gelöst, bereits bei der Begrüßung von Mamadu oder während der Begegnung mit dieser Frau und ihrem Jungen, unserem ehemaligen Patienten?

Ich weiß es nicht; egal auch. Wichtig nur, dass endlich dieses Bedrücktsein verflogen ist, die Benommenheit, die seit Tagen wie ein Bann auf mir gelegen hat. Endlich sehe ich die Welt wieder unmittelbar.

Die Welt, unsere Welt - das sind die Kameraden hier auf dem LKW. Ihre Bündel gehören dazu und ihre Maschinenpistolen, ihr Lachen, ihre Rufe und ihr unvermitteltes, mitunter brütendes Schweigen. Und die Blicke, mit denen sie Abschied nehmen von Boké , von den Häusern, die weiß über die grünen Hügel verstreut sind, vom Band der Asphaltstraße, die bald zurückbleibt, viel zu früh, die schon am Stadtrand, hinter der Brücke, abgelöst wird von diesem steinigen, holprigen Weg.

Von nun an kommt immer seltener Gelächter auf, und immer häufiger schauen wir in die entgegengesetzte Richtung, hin zum Horizont vor uns und auf das von Wolken gescheckte Blau darüber.

Dieser Himmel dort im Nordwesten, der Himmel über dem Grenzgebiet und über Guiné-Bissau - auch er wird bald wieder ein wesentlicher Teil unserer Welt sein, vielleicht der wichtigste überhaupt. Und genau genommen, haben wir ihn nie vergessen, nicht in Boké und nicht in Conakry, die ganze Zeit lang; eigentlich war er uns immer gegenwärtig.

Einmal, fällt mir ein, saßen wir in Ratoma bei den Lehrausbildern, bei der FDJ-Brigade, tranken Bier und plauderten, als über Conakry, ziemlich tief am Horizont, eine Linienmaschine erschien. Kaum war sie zu hören, verstummte Klaus mitten im Satz, und auch ich folgte ihr mit dem Blick, sekundenlang gebannt, entrückt, und wenn mich die Erinnerung nicht trügt, bin ich sogar zusammengezuckt.

Kann sein, den andern ist das entgangen, oder sie haben - feinfühlig, wie sie sind - darüber weggesehn. Für sie waren wir auf Urlaub, im Übrigen betraut mit einer Aufgabe, über die aus Gründen unserer Sicherheit bis auf Weiteres nicht gesprochen wird. Und so haben sie, als sei das selbstverständlich, uns rausgefüttert und verwöhnt, uns gerüstet für die Zeit, die nun kommt, und nicht mit Fragen bestürmt.

Und doch, scheint mir, war manchmal in dem einen und dem andern Blick Befremden, zumindest einige Verwunderung, weil ich so teilnahmslos gewesen bin, vielleicht auch, weil Klaus oft beinah hektisch reagiert hat.

Ach, Leute, werdet ihr jemals erfahren, je ganz verstehn, wie fremd uns das alles geworden war? Geradezu unwirklich - ein klimatisierter, mit Mobiliar ausstaffierter Raum, beispielsweise. Oder selbst Kartoffeln und Rotkraut, Braten und Bier. Und vor allem ein Himmel, an dem Motorendröhnen, Düsenpfeifen keine Alarmzeichen sind.

„Dös nicht!“, sagt Klaus, und er stößt mich in die Seite. „Mach, wenn’s geht, ein bisschen Platz! Mir sind schon beide Beine eingeschlafen.“

„Bin munter wie seit Langem nicht“, erwidere ich, während ich das rechte Knie von der Bank nehme und, den linken Fuß noch immer eingekeilt, mich so weit herumdrehe, dass Klaus seine eingeschlafenen Beine befrein und sich hinsetzen kann.

Nun habe ich Platz für beide Füße und Platz genug, um die Unterarme auf das Blechdach der Kabine zu stützen. Ich spüre die Hitze auf der Haut - ein Brennen, das sich steigert, bis es kaum noch wahrzunehmen ist.

Alles Gewöhnung, denke ich; und ein weiteres Mal wird mir bewusst, wie vertraut mir die Gegend, die wir durchfahren, erscheint: die Hügelkette rechts am Horizont, dunkelgrün und ein wenig von Dunst verschleiert, die Baumgruppen davor - Inseln im übermannshohen Gras, der rostbraune Weg, der durch diese Graswände führt wie durch eine Schlucht.

Als wir zum ersten Mal hier entlangfuhren, Ende Juni, waren die Flächen rechts und links der Strecke von der Sonne versengt. Damals begann die Regenzeit gerade, begann wie überall in Westafrika in diesem Jahr zu spät. Und nun ist sie fast schon vorbei: Der Bambus färbt sich bereits gelb, und selbst die Pfützen sind während der letzten zwei Wochen merklich kleiner geworden.

Pfützen! denke ich, und ich muss darüber lächeln.

Was hier streckenweise den Weg bedeckt, das sind noch immer mittlere Teiche, mitunter bis zu hundert Meter lang. Rutschend, mit aufheulendem Motor arbeitet sich der LKW hindurch, und das braune Wasser schwappt über die Ränder und ergießt sich schwallweise auf den sumpfigen Boden, von dem ein modriger und beißender Geruch in die Nase steigt.

Dieser Geruch und das Zirpen der Grillen, das in den Ohren dröhnt, als Mamadu einmal eine Pause einlegt - auch das gehört von nun an wieder zu unserer Welt. Mir erscheint es jetzt schon wirklicher, typischer für das Afrika, das wir kennen, als beispielsweise der Markt von Conakry und die malerischen Straßen dort.

Später fahren wir durch ein Dorf, dann durch ein zweites, vorbei an Rundhütten mit Grasdach. Die Felder dazwischen sind bestellt; da wachsen Mais und Maniok, Erdnüsse und Bataten. Und Kinder springen umher, und Frauen hantieren an den Feuerstellen, und Greise hocken im Schatten unter einer breitkronigen farobéra wie unter einem Dach. Schräg darüber steht die Sonne; es geht bereits auf den Abend zu.

„Mist, dass es bald dunkel wird!“, ruft Klaus, als wir einen Hang hinabrollen, als ich mich ducken muss vor den Zweigen, die über das Dach der Kabine fegen. „Hätt ich doch diesen Jungen vorhin fotografiert! Das wär ein Schnappschuss geworden - das Richtige für die Reportage!“

„Lass man!“, erwidere ich. „Wir kriegen, glaub ich, solche Motive noch genug zu sehn.

Mehr als uns lieb ist.“

„Aber nicht, wenn man bloß dasteht und in die Gegend guckt! Ein bisschen muss man schon dafür tun.“

„Stimmt“, gebe ich zu. „Obwohl vielleicht auch das In-die-Gegend-Gucken mal ganz nützlich sein kann.“

„Ach, du mit deinen Stimmungen! Fakten brauchen wir, Fakten und Dokumente, die erschüttern.“

Ich seufze und nicke wiederum; er hat ja recht. Und doch erscheint mir plötzlich der Plan, einen gemeinsamen Bericht über diesen Einsatz zu schreiben, unsicherer, gefährdeter denn je.

Nun, wir werden ja sehn.