Impressum

Dietmar Beetz

Abrechnung am Klosterfriedhof

ISBN 978-3-95655-165-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1989 im Verlag Neues Leben, Berlin (Band 219 der Reihe „Spannend erzählt“).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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PROLOG

Der Mann betrat den nächtlichen Pfad, überzeugt, seinen Verfolger abgeschüttelt zu haben. Dennoch mied er Stellen, wo der Mond durch Lücken im Gestrüpp oder im Bambusdickicht schien, und immer wieder stockte er, spähte und lauschte.

Nichts von einem Verfolger.

Überhaupt nichts Verdächtiges.

Ringsum war es still - so still, wie es sein kann unweit einer Großstadt zur Nachtzeit, dicht bei einem Fluss im Dschungel. Grillen zirpten, Moskitos sirrten, und allenthalben quakte, schnarrte, raschelte es. Dazu ein vielstimmiges Rauschen und Raunen - der gedämpfte Lärm von Saigon.

Jetzt Ho-Chi-Minh-Stadt, dachte der Mann, und er grinste dabei.

Im nächsten Moment war sein Gesicht wieder angespannt, und dann blieb er von Neuem stehen.

Der Pfad hatte eine fahle, stellenweise eingestürzte Mauer erreicht. Dahinter erhob sich in einiger Entfernung ein Gehöft. Das Gemäuer wirkte zur Überraschung des Mannes nicht so verfallen wie die Umfriedung, im Gegenteil; die Wände unter den schrägen, schmucklosen Dächern waren offenbar in jüngster Zeit erst getüncht worden.

Ein renoviertes Kloster im kommunistischen Vietnam ... Der Mann schüttelte den Kopf und zuckte nach ein paar Schritten die Schultern. - Die Mönche würden schon nichts mitkriegen.

Trotzdem setzte er seine Schritte nun noch vorsichtiger als vorher, und einmal griff er an die Brusttasche seiner Bluse, nach einem kugelschreiberähnlichen Gerät, das dort stak. Es war nur ein Notbehelf, aber - wie er sich sagte - besser als nichts.

Er schlich jetzt an der Mauer entlang und spähte durch die Lücken, die meist überwuchert waren. Soweit er den Ort in Erinnerung hatte, sah es hier noch wie vor reichlich zehn Jahren aus, in jener Nacht Ende April neunzehnhundertfünfundsiebzig. - Fast auf den Tag zehneinhalb Jahre, dass er schon einmal über diesen Pfad gegangen war.

Der Friedhof!

Beim Anblick der Kreuze und der Grabsteine verschlug es dem Mann den Atem, und er schloss für einen Moment die Augen.

Kaum zu glauben! Und doch genauso wie damals! - Wie immer wieder seitdem, bei Tag und bei Nacht.

Mehr als ein Jahrzehnt hatte er darauf gelauert, hierher zurückkommen zu können, zurück zu diesem Klosterfriedhof, heimlich, allein. Bis vor Kurzem war das ein Wunschtraum gewesen, eine Unmöglichkeit für ihn und für seinesgleichen, und selbst jetzt, bei Lage der Dinge ...

Er schaute sich um, tat noch einen Schritt, einen Schritt auf den Friedhof zu, erstarrte.

Hinter ihm stand der Verfolger.

Wie unter einem Reflex griff der Mann nach der Brusttasche der Bluse.

Da bemerkte er in der Hand des Verfolgers ein Messer.

Seine Finger, plötzlich schweißfeucht, berührten das Schießgerät.

„Mister!“, stieß der Verfolger mit vietnamesischem Akzent hervor; es war das erste Wort zwischen den beiden.

„Was willst du?“, fragte der Mann gepresst.

„Der Mister weiß es“, sagte der Vietnamese, und in der Tat: Dem Mann war klar, was der Verfolger wollte; er hatte es gleich gewusst, von Anfang an.

Entschlossen griff er nach dem Gerät, entsicherte es. Das Messer erhoben, duckte sich sein Gegner zum Sprung.

ERSTES KAPITEL

1

In dieser Nacht haben bei der Zentrale der Polizei von Ho-Chi-Minh-Stadt Hauptmann Thanh und Leutnant Son Bereitschaftsdienst.

To Hung Thanh und Nguyen Cong Son - zwei Kriminalisten, vom Wesen her so grundverschieden, dass ihnen im Prinzip nur zwei Varianten der Verhaltensweise bleiben: ständig zu streiten oder einander nach besten Kräften zu ergänzen.

Beide neigen sie zu Variante zwei, was nicht ausschließt, dass hin und wieder die Funken fliegen.

Im Übrigen führt der Hauptmann den Leutnant locker an der Leine. So hat er ihm heute Abend stillschweigend erlaubt, sich zum Logenfenster der Pförtnerin, die auch die Telefonvermittlung der Zentrale versieht, zurückzuziehen. — Soll Son, mit fünfundzwanzig noch ledig, ruhig ein wenig mit der jungen, hübschen Pförtnerin schäkern!

Natürlich ist Thanh nicht absolut uneigennützig. Seit einer Verschüttung im Krieg leidet er unter Kopfschmerzen und ermüdet rasch, sodass es ihm gelegen kommt, im gemeinsamen Büroraum einmal allein und ungestört arbeiten zu können. Außerdem hat er Schwierigkeiten beim Abfassen von Schriftstücken.

Auch jetzt dreht und wendet er den Satz, der ein Fazit aus der Ermittlungsarbeit mehrerer Tage sein sollte. Die Täter, Jugendliche zwischen sechzehn und zwanzig, des gemeinschaftlichen Raubmords überführt und geständig — kann man solche Delinquenten heute, im elften Jahr nach dem Sieg, noch „Opfer der amerikanischen Aggressoren und ihrer einheimischen Nutznießer“ nennen?

Gewiss, der Krieg wirkt nach, und das besonders hier, in der Metropole des Südens, im einstigen Saigon. Zum Beispiel bei jenen Jugendlichen: ohne Eltern, ohne Anverwandte aufgewachsen, dem Rauschgift verfallen, ohne Geld für „Stoff“ - Jugendliche, die, bei einem Raubzug ertappt, auf einen Wächter derart eingeschlagen haben, dass der seinen Verletzungen erlegen ist.

Also doch „Opfer der Vorzeit“?

Aber weshalb ist dann einer wie Nguyen Cong Son einen anderen Weg gegangen?

Leutnant Son — gleichfalls Kriegsvollwaise; mit einem der Täter hat er sogar eine Zeit lang im selben Heim gelebt.

Und jetzt kommt er, munter trotz der vorgerückten Stunde, ohne anzuklopfen, herein.

„Chef, wieder Arbeit! Eine Leiche — draußen am Fluss!“

Sitten ..., denkt Thanh, während er von seinem Schriftstück aufsieht. Son gilt ihm so viel wie ein jüngerer Bruder, das aber nach vietnamesischer Tradition, und die gebietet dem Jüngeren, einem Älteren respektvoll zu begegnen. — Wo bleibt bei „Chef, wieder Arbeit!“ der Respekt?

Der Leutnant scheint die missbilligenden Blicke seines Vorgesetzten nicht zu bemerken. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, spricht er weiter, und sein Bericht reißt den Hauptmann endgültig aus der Grübelei.

„Ein Fremder?“, vergewissert sich Thanh.

„Ja, ein Weißer.“

„Nationalität?“

Son hebt die Schultern. „Keine Ahnung.“

Na, dann ...! denkt der Hauptmann. Er greift nach dem Telefon, rekapituliert in Gedanken die Schritte, die bei einem solchen Fall unverzüglich zu tun sind: Benachrichtigung der Sicherheitsorgane, Information der Konsulardienste, Meldung an das Ministerium ...

„Welche Nationalität vermutet denn der Mönch, der angerufen hat?“, fragt er den Leutnant, während er auf die Verbindung wartet und sorgsam die Blätter seines Protokolls zusammenlegt.

„Keine“, gibt Son zur Antwort. „Der wusste auch nicht mehr. Übrigens: der Chef von diesem Kloster.“

„Der ,Chef‘?“

„Oder wie das bei katholischen Mönchen eben heißt“, räumt der Leutnant ein, und ungerührt fügt er hinzu: „Jedenfalls ein hilfsbereiter Mensch.“

„Hilfsbereit? — Dass der Abt die Entdeckung gemeldet hat“, versetzt Thanh, „Abt“ und „Entdeckung“ betonend, „war schließlich seine Pflicht.“

„Klar“, erwidert Son unverdrossen, „aber dieser Abt lässt uns außerdem abholen. Mit einem Toyota, einem Wagen des Klosters! — Ein wenig bequemer, glaub ich, als unsere klapprige Jawa.“

Die Verbindung kommt zustande, und Thanh gibt eine erste Information, wobei ihn das Gefühl beschleicht, einen Stein anzustoßen und eine Lawine ins Rollen zu bringen.

„Ein Weißer - ermordet? Bei uns?“

„Ja, ein noch nicht identifizierter Ausländer, draußen am Fluss.“

„Na, dann ...“ Und der Sicherheitsbeamte bietet an, beim Absperren des Geländes zu helfen, eventuell auch Armee-Einheiten anzufordern und eine Großrazzia zu starten.

Thanh dankt für das Angebot, verspricht, bei Bedarf darauf zurückzukommen, und bittet, nichts zu überstürzen.

„Gut“, sagt der Sicherheitsbeamte, „fangt schon mal mit euern Ermittlungen an und meldet euch wieder! Wir kümmern uns inzwischen um alles andere.“

Hauptmann Thanh dankt noch einmal, legt auf und erwägt, sich mit seinem Vorgesetzten verbinden zu lassen. Er unterlässt es nach einem Blick auf die Uhr, erhebt sich seufzend und verschließt das Protokoll, dem noch das Fazit fehlt.

2

Der Leutnant und der Hauptmann stehen bereits mit ihren Utensilien an der Tür, als in ihrem spärlich möblierten Dienstraum das Telefon anschlägt.

„Bestimmt der Toyota“, sagt Son.

Thanh nimmt ab.

Wie die Pförtnerin meldet, ist tatsächlich ein Mönch aus dem Kloster „Zum Heiligen Herzen“ vorgefahren, um die Genossen Kriminalisten zum Tatort zu bringen; Chi Van, die Pförtnerin, spricht hörbar aufgekratzt — ein Umstand, den Thanh nicht unbedingt auf den Mönch bezieht.

„Wir kommen, Genossin Chi Van“, sagt er. „Und danke“, fügt er mit einem Seitenblick auf Son hinzu, „dass Sie mich diesmal direkt benachrichtigt haben!“

„Gern geschehen, Bác Thanh.“

Betroffen legt der Hauptmann auf. — Ihn, einen Mann im besten Alter, einen Fünfunddreißigjährigen, „Bác“ zu nennen, „Onkel“, wie einen ehrwürdigen Alten!

Er rückt den Beutel zurecht, in welchem er Schreibzeug, eine Taschenlampe aus der Kriegszeit und andere Utensilien verwahrt, und dann beginnt er zu lächeln; als Hauptmann im Dienst, wenngleich ohne Uniform, lächelt er selbstverständlich beherrscht.

„Chào dong chi!“

Der Mönch erwidert den Gruß, und auch auf seinem Gesicht hält sich dabei ein Lächeln. Die Augen aber — die bleiben ernst. Oder verraten sie Angst, die Angst, verstrickt zu werden?

„Ein Unglück, ein Mord — direkt bei unserem Kloster! Wir haben Lärm gehört, sind hingelaufen, haben einen Sterbenden entdeckt …“

„Und der Mörder?“

„Der war schon verschwunden.“

Thanh lässt sich den Namen des Klosters nennen und beauftragt die Telefonistin, die Spurensicherungsabteilung zu benachrichtigen.

„Bereits geschehn“, bemerkt der Leutnant.

„So? — Hm ... Na, dann …“

Son hält den beiden Älteren die Tür auf und eilt mit ihnen zu einem Wagen, der lackglänzend vor dem Haus, einem Bau aus der französischen Kolonialzeit, geparkt steht; der Mönch rafft seine Kutte, schwingt sich hinter das Steuer, startet, und los geht’s.

Die Kriminalisten haben im Fond Platz genommen, der Hauptmann rechts, der Leutnant links. So können sie sich während der Fahrt bequem unterhalten, und auch ein Gespräch mit dem Chauffeur, dem Mönch, ist möglich.

Thanh schweigt, und Son scheint ausnahmsweise ebenfalls keine Lust zum Reden zu haben. Er rekelt sich auf den Polstern und schaut hinaus.

Der Toyota ist längst aus der Nebenstraße, an der die Polizeizentrale liegt, in die Magistrale eingebogen. Hier rollt selbst zu dieser späten Stunde sechsspurig der Verkehr. Zwischen Wagen aus Japan, Europa, den USA, zwischen Fahrrädern und Motorrollern — auch Motorräder, wie die Kriminalisten üblicherweise eins bei Dienstfahrten benutzen.

„Na“, fragt Son, „besser als unsere Jawa?“

„Ja“, sagt Thanh, „bequemer.“

Plötzlich sieht er seine Kinder vor sich, alle sieben. Wenn die Mutter mit den beiden Jüngsten vorn sitzen würde, hätte hier drin vielleicht die ganze Familie Platz. Er — nicht auszudenken! — am Lenkrad ...

Der Hauptmann verscheucht den Wunschtraum und geht an gegen die Kopfschmerzen, gegen die Müdigkeit. „Noch weit?“, fragt er den Mönch am Steuer.

„Nein, Herr — äh, Genosse, nicht weit. Die übernächste links ab und dann raus zum Song Saigon.“

Der Saigonfluss berührt auch das Zentrum der Stadt. Dort liegen Schiffe aus Übersee, und am Hafen kann man promenieren, den Ausblick und die Brise genießen. Trotzdem beginnt für gebürtige Saigoner der eigentliche Song Saigon erst außerhalb, dort, wo der Fluss seine Wasser durch den Dschungel wälzt, wo er mit seinen Armen Bambusdickicht und Reisfelder umfasst.

Thanh holt tief Luft und schließt die Augen. Eine Weile meint er, einen mondbeschienenen Pfad vor sich zu sehen, schlammiges Wasser zu riechen, ein Konzert von Fröschen, Zikaden, Nachtvögeln zu hören, und auf einmal glaubt er sogar, sich an fahl erhelltes, halb überwuchertes Gemäuer zu erinnern.

„Habt ihr nicht eine Mauer rings um euer Kloster?“, fragt er.

Der Mönch, der inzwischen von der Magistrale abgebogen ist, wirft einen Blick über die Schulter — argwöhnisch; so scheint es dem Kriminalisten.

„Ganz recht, Genosse Hauptmann, eine alte, verfallene Mauer. Davor ist es ja passiert, draußen auf dem Pfad, in Höhe des Friedhofs!“

„Draußen, nicht auf dem Gelände des Klosters?“

„Nein, Genosse Hauptmann; dem Himmel sei Dank! Draußen, vor der Umfriedung, nicht drinnen bei uns; wir haben nicht das Geringste damit zu tun.“

„Auf einem öffentlichen Pfad also“, konstatiert Thanh. „Und wer sperrt den Tatort ab?“

Leutnant Son, in die Polster zurückgelehnt, will etwas erwidern, doch der Mönch kommt ihm zuvor.

„Wir“, verkündet er.

„Ihr — aus dem Kloster?“

„Ja, wir vom ,Heiligen Herzen‘.“

3

Der Abt des Klosters hat auch die Polizei zweier benachbarter Ortschaften benachrichtigt. Der eine Dorfpolizist steht mit vorn bei der Einbiegung auf den Pfad, der andere, dem Worten des Abtes zufolge, unten am Fluss.

„Dank, Ehrwürden, für Ihre Umsicht!“

„Keine Ursache, Herr Hauptmann; wir tun, was in unserer Macht liegt.“

Der Mönch, der die Kriminalisten geholt hat, ist beim Wagen zurückgeblieben. Außer dem Abt begleitet ein zweiter Ordensbruder Thanh und Son. Er trägt eine zischende, hell leuchtende Acetylenlaterne.

„Gutes Licht“, sagt Thanh, froh, die Taschenlampe mit den müden Batterien nicht aus dem Beutel holen zu müssen.

„Licht?“ Der Abt begreift nicht gleich, und dann wendet er ein, leider sei der Brennstoff knapp.

Trotzdem hat er offenbar eine weitere Laterne zur Verfügung gestellt. Thanh bemerkt ihren Schein schon aus einiger Entfernung. Bestimmt der Tatort, denkt er.

Mittlerweile ist ihm klar geworden, dass er die Gegend tatsächlich kennt. Während des Krieges hat er in der Nähe manche Nacht als Partisan verbracht; bei einem der Einsätze war der Trupp, dem er angehörte, sogar über diesen Pfad geschlichen.

Die Kameraden damals ...

Einen von ihnen hat Thanh erst unlängst in der Stadt getroffen: nach einer Festveranstaltung, bei der er selbst unter den Ordnungshütern gewesen war. Pham Long Hanh, ein alter Freund, der Verwegenste und der Berühmteste aus ihrem Trupp und weit darüber hinaus — heute einer der Helden Vietnams, Leiter einer Fischereigenossenschaft am Song Saigon und unübersehbar vom Krieg gezeichnet.

Leutnant Son tippt den Hauptmann an, holt ihn aus den Erinnerungen zurück.

„Hier! Schon wieder!“

Er weist zum Pfad, zu einer lehmigen Stelle, wo ein Absatz, eben erkennbar, einen Abdruck hinterlassen hat.

„Seine Spur!“

„Hast Augen wie ein Tiger“, lobt Thanh, und der Abt bestätigt erstaunt: „Der Tote trägt tatsächlich festes Schuhwerk, keine Sandalen!“

Kurz darauf können sich die Kriminalisten auch davon persönlich überzeugen, und merkwürdigerweise bemerkt Thanh das zuerst, vor allem anderen. Er tritt, von Son gefolgt, an den Leichnam heran und starrt dabei wie gebannt auf die Sohlen, auf die der Schein der Laternen fällt.

Festes Schuhwerk, bestimmt aus Leder, keine Sandalen aus alten Autoreifen.

Der Tote liegt, in den Hüften verdreht, auf dem Bauch. Den rechten Arm hat er wie bei einem letzten, verzweifelten Stoß ausgestreckt. Die Finger sind gekrümmt — eine Hand, halb Kralle, halb Faust.

„Ganz schöner Zweikampf vorher“, lässt sich Leutnant Son vernehmen.

Inzwischen hat auch Thanh die Spuren bemerkt. Der Pfad ist zerstampft, von Schuhen mit Absatz zertrampelt worden. Zwischen den Löchern, den Kerben, den Schürfrillen — da und dort das abgenutzte Profil von Sandalen, wie viele Vietnamesen sie tragen.

„Das wird uns kaum weiterhelfen“, stellt der Hauptmann fest. „Stimmt“, gibt der Leutnant zu, „aber vielleicht lässt sich damit was anfangen?“

Er steht, von einem der Mönche, die den Tatort bewacht haben, aufmerksam gemacht, etwas abseits und beugt sich über einen fingerlangen, matt glänzenden Gegenstand. Thanh tritt hinzu, und die Mönche heben die Laternen, leuchten.

„Sieht wie ein Kugelschreiber aus, wie ein Stück davon“, konstatiert Son, und er streckt die Hand aus.

„Nicht anfassen!“, mahnt Thanh — und an die Mönche gewandt: „Hat jemand von Ihnen etwas berührt?“

„Nein, Herr Hauptmann.“

„Auch den Leichnam nicht?“

„Nein, nicht.“ Und stellvertretend für alle erklärt der Abt: „Wir verfügen über eine umfangreiche Bibliothek. Darin befinden sich auch Werke der Kriminalliteratur. Wir kennen uns also in Ihren Gepflogenheiten ein wenig aus — natürlich nur, um mit unseren Glaubensbrüdern sachkundig reden zu können.“

Thanh nickt zu dieser Erklärung und nimmt dabei den Toten, den er bisher nur flüchtig inspiziert hat, genauer in Augenschein.

Ein Weißer - soviel steht fest; die Haut wirkt im Licht der Acetylenlampen geradezu kalkig.

Alter: schätzungsweise Ende Dreißig.

Größe: etwa eins siebzig, für europäische, australische oder nordamerikanische Maßstäbe also Durchschnitt.

Besondere Kennzeichen kann der Kriminalist weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick entdecken, doch fällt ihm auf, dass die Gesäßtasche der kakifarbenen Hose aufgerissen und offenbar geleert worden ist.

Hat man das Opfer ausgeraubt?

Im Übrigen ist die hemdartige, blutgetränkte Bluse zerfetzt; und neben dem Brustkorb hat sich eine schillernde, von Fliegen umschwirrte Lache gebildet.

Kein schöner Anblick, bestimmt nicht.

4

Hauptmann Thanh und Leutnant Son sind spätabends auf dem Pfad beim Klosterfriedhof angelangt, und bald darauf, noch vor Mitternacht, treffen auch ihre Kollegen, die Spezialisten für Spurensicherung, am Tatort ein.

Sie kommen auf einer alten, klapprigen Jawa.

Die Maschine stammt aus der Kriegszeit, aus einer Sendung im Rahmen einer Solidaritätsaktion. Weit mehr als ein Jahrzehnt hat sie im Monsunregen oder unter stechender Sonne, bei drohendem Taifun oder in drückender Schwüle Dienst getan.

Man merkt ihr ihre Vergangenheit an.

Thanh hört das stotternde Geknatter, das wie chronischer Husten klingt, und spürt plötzlich wieder Kopfschmerzen. Dabei ärgert es ihn, dass die Kollegen den Pfad hergefahren kommen.

Können sie nicht das Stückchen laufen?

Es sind jüngere Männer, beide im Alter von Son. Der Leutnant begrüßt sie mit „Hallo!“, und Thanh denkt: Na, dann …

Er fühlt sich auf einmal zum Umfallen müde.

„Lasst euch nicht stören!“, sagt er zu den Spurenexperten, die sich bereits am Tatort zu schaffen machen. „Leutnant Son wird bei euch bleiben. Ich geh mal runter zum Fluss.“

Der Motorenlärm ist verstummt, und nun bleiben Worte, Gesprächsfetzen, einzelne Zurufe zurück. Bald ist der Hauptmann nur noch von den Geräuschen der Nacht umgeben.

Die Stimmen des nächtlichen Dschungels, das Schnarren, Quaken, Sirren wie damals ...

Wieder muss Thanh an seine Kriegsgefährten denken, und wieder erinnert er sich an Pham Long Hanh. Der war nicht nur verwegen wie kaum ein zweiter, nicht nur tapfer, ja manchmal tollkühn, sondern auch unbekümmert und heiter — ein Kerl, der die anderen mitriss.

Und heute?

Die Erinnerung verschwimmt, und der Hauptmann gewahrt so scharf, wie es im Mondschein Müdigkeit und Kopfschmerzen erlauben, wieder seine Umgebung: den Pfad, der hier abschüssig wird, ein Quaken und Schnarren, das alle übrigen Geräusche übertönt, und seitab zwischen aufragendem Bambus und wirrem Gesträuch ein Glitzern — der Song Saigon.

Kurz vor dem Fluss teilt sich der Pfad — ein Arm, der rechts abbiegt, in Ufernähe verläuft, und ein kurzes, fast überwachsenes Stück, das zu einem Bootssteg führt.

Dort stehen jetzt — Silhouetten vor dem strömenden, glitzernden Wasser — zwei Männer. Der eine ist an seiner Kutte als Mönch zu erkennen; der andere trägt eine alte, ausrangierte Uniformbluse, dazu nach Art der Bauern oder der Fischer eine knielange Hose.

Sicher der zweite Dorfpolizist, denkt Thanh.

Er grüßt, bleibt bei den beiden stehen und schaut hinaus auf den Fluss. Seine Knöchel sind feucht vom Gras, das ihn gestreift hat, und durch die dünnen Sohlen der Sandalen spürt er die Planken der Anlegestelle.

„Wohl von der K?“, fragt der Polizist in einem Ton, der die Neugier nicht verhehlt.

Der Mönch mustert den Fremden gleichfalls gespannt.

Thanh nickt, nennt Dienstrang und Namen.

Nun stellt sich auch sein Amtsbruder, der Dorfpolizist, vor. Dabei nimmt er Haltung an, steht stramm und erstattet dann Bericht: Hier, an dieser Kontroll- und Absperrstelle, sei niemand vorbeigekommen, keiner außer Vuong, ein Fischer der Genossenschaft, der auch Polizeihelfer sei, also absolut zuverlässig. „Er bewacht in dieser Woche die Reusen weiter oben, auf Chotho zu, eigentlich im Wechsel mit Quoc, seinem Bruder, der genauso zuverlässig ist, obwohl ... Heute war er nicht oben, der Quoc, weil er Nachwuchs gekriegt hat und weil’s bei Tag und am Abend nicht so schlimm mit Spitzbuben ist, und ausgerechnet da muss das beim Kloster passieren!“

Thanh hat aufgehorcht, doch das weniger wegen Vuong und Quoc, den Wächtern; die Worte des Polizisten haben ihn aus anderem Grund berührt, in ihm eine Befürchtung geweckt.

„Gehören die Reusen eurer Genossenschaft?“, fragt er und fügt möglichst beiläufig hinzu: „Wie heißt sie gleich?“

„,Reicher Fang‘“, sagt Nam, und etwas verwirrt erklärt er nachdrücklich, die Reusen befänden sich zwar dicht an der Grenze zum Gebiet von Chotho, aber eindeutig und unbestreitbar in den Fischgründen von Chovinh!

Noch hofft Thanh, sich zu irren. „,Reicher Fang‘?“, wiederholt er stirnrunzelnd. „Woher kenn ich den Namen bloß?“

„Bestimmt aus der Zeitung!“, ruft Nam, und er reckt die schmächtigen Schultern. „Der Leiter unserer Genossenschaft ist doch Pham Long Hanh, der Held!“

5

Thanh hat sich von Nam, dem Polizisten aus Chovinh, der nächsten Ortschaft flussabwärts, verabschiedet.

„Vielleicht besuch ich euch mal.“

„Wegen Vuong? Wegen seinem Alibi?“

„Ja, deshalb. Eine reine Formsache.“

Trotzdem sieht der Polizist plötzlich besorgt aus. — Oder ist er argwöhnisch? Hat er Angst?

„Also bis später! Und Dank für die Hilfe! Ich werde dafür sorgen, dass so bald wie möglich Ablösung kommt.“

Der Hauptmann gibt Nam noch einmal die Hand und macht sich dann in Begleitung des Mönches auf den Rückweg.

Als er von der Steigung aus einen Blick über die Schulter wirft, steht Nam nach wie vor an der Anlegestelle. Der Polizist starrt her, wendet sich ab und schaut zu dem Pfad, der am Fluss entlang nach Chovinh führt.

„Weshalb interessieren Sie sich eigentlich für diesen Vuong?“, fragt unvermittelt der Mönch.

„Weshalb?“ Thanh hebt den Kopf, mustert seinen Begleiter, doch der wirkt arglos wie vorher; bedächtig — und nach dem Anstieg etwas kurzatmig — setzt er Fuß vor Fuß.

„Weil wir allen Spuren nachgehen müssen“, gibt Thanh zur Antwort.

Der Mönch nickt, als habe er so eine Ausflucht erwartet.

Im nächsten Moment fängt er zu reden an, tastend, wie in Gedanken. „Seltsam, dass mir Pham Long Hanh nicht aus dem Kopf geht, die ganze Zeit schon. Ist das nicht merkwürdig?“

Thanh hat es den Atem verschlagen, und nun bewegt er sich wie auf vermintem Terrain. Dabei ist er bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.

„Merkwürdig?“, sagt er und fragt: „Was hat Sie denn an Hanh erinnert?“

„Tja, was? Wenn ich das wüsste! Vielleicht der Leichnam, der Tote da vorn.“

Thanh schluckt und erkundigt sich, als eine Erklärung ausbleibt. „Wie das? Wieso — der Tote?“

Jetzt verlangsamt der Mönch den Schritt. Wie er den Kopf hält, scheint er zu spähen, zu lauschen; fast sieht es aus, als schleiche er, schleiche sich an.

„Sie wissen, was Hanh im Krieg widerfahren ist?“

Ein Blick trifft den Hauptmann.

Der Mönch hat sich umgewandt, ist stehengeblieben.

Thanh nickt, und eine Weile gehen sie auf dem schmalen Pfad schweigend nebeneinander.

„Ich weiß“, sagt der Hauptmann; „ich habe davon gehört.“

Das stimmt und ist doch nicht ganz exakt. In Wahrheit war Thanh, als es geschah, an der Seite von Hanh, gemeinsam mit ihm und mit anderen Gefährten im Einsatz, und sie alle haben von jenem Verbrechen, von jener „Vergeltungsaktion“ amerikanischer „Ledernacken“ zunächst nur gehört.

Die Nacht darauf, als Hanh mehr wusste, als er die verstümmelten Leiber seiner Angehörigen gesehen hatte, als er losstürzen wollte, blindwütig zum nächsten amerikanischen Posten ...

„Ich war damals noch Novize“, sagt der Mönch, „habe aber schon hier in der Nähe gelebt. Wir alle, Christen wie Buddhisten, waren empört über die Bluttat. Frauen und Kinder — Wehrlose zu morden, zu massakrieren ...“

Auch meine Hoa, auch meine Hoa ...

Thanh meint, Hanh schreien zu hören, meint, ihn vor sich zu sehen: das Gesicht — verzerrt wie damals, in jener Nacht ... Hoa war Hanhs Lieblingstochter — ein Kind, zwei Jahre alt.

„Ist je rausgekommen“, fragt er, „wer Hanh verraten hat?“

Der Mönch schüttelt den Kopf und seufzt. „Leider nein.“ Und nach einem Seitenblick fügt er hinzu: „Ich sage ,leider‘, weil Pham Long Hanh wahrscheinlich zu jenen Menschen gehört, die ohne irdische Vergeltung nicht leben können.“

Thanh will etwas erwidern, doch der Mönch redet weiter. „,Nicht leben können‘, Herr Hauptmann, das ist gewiss übertrieben; Hanh lebt ja noch, falls man das so nennen kann. Nein, richtiger wäre wohl zu sagen, dass er seit jenem Verlust mit seinem Leben nicht mehr zurechtkommt.“

Thanh ist stehen geblieben, der Mönch genauso. Ein Stück weiter — der Tatort: Licht, Stimmen, Geschäftigkeit ...

„Soll das heißen“, fragt Thanh gedämpft, „dass Sie Pham Long Hanh verdächtigen?“

„Gott bewahre, Herr Hauptmann! Es waren nur meine Gedanken — eine Befürchtung, wenn Sie so wollen, sonst nichts!“

6

Alles Unsinn, sagt sich Thanh. Der Song Saigon ist schuld, die Erinnerung, der verdammte Krieg ... Es steht ja noch nicht einmal fest, dass der Tote ein Nordamerikaner und nicht irgendein anderer Weißer war.

Der Leichnam wird bereits weggebracht. Ein Arzt, erkennbar an seinem Kittel und an seiner Tasche, folgt zwei Trägern, die wie Krankenpfleger gekleidet sind, und einen Moment lang hat Thanh die abwegige Hoffnung, der Tote sei gar nicht tot, sei nur verletzt.

Selbstverständlich handelt es sich um einen Leichnam; der Arzt und die Träger stammen, wie nicht anders zu erwarten, aus dem Gerichtsmedizinischen Institut.

Gut immerhin, denkt Thanh, dass sie nicht versucht haben, mit ihrem Wagen bis hierher zu fahren.

Auch die beiden Spurenexperten befinden sich im Aufbruch. Sie bemühen sich gerade, ihre Jawa zu starten, und die Art, wie der eine wieder und wieder den Anlasser durchtritt — sie verrät dem Hauptmann nichts Gutes.

Zu allem kommt ihm Son nicht entgegen, und das, obwohl er ihn längst bemerkt haben muss. Der Leutnant steht dort, wo bis vor Kurzem der Leichnam gelegen hat, und rührt sich nicht. Ein stiller, in sich gekehrter Nguyen Cong Son?

„Na“, fragt der Hauptmann, „die Spurensicherung abgeschlossen?“

„Vorerst, ja“, sagt der Leutnant. „Hast nichts versäumt.“

„Wieso?“

Statt eine Erklärung zu geben, wendet sich Son an den Abt. „Ehrwürden, könnten Sie bitte veranlassen, dass Ihr Kollege uns ins Büro bringt?“

„Bruder Cuong“, erwidert der Abt, „wird Sie selbstverständlich zurückfahren. Nicht wahr, Bruder Cuong?“

„Aber gewiss, Vater Abt!“

In diesem Moment springt knallend und knatternd das Motorrad an.

Endlich! denkt Thanh.

Die Spurenexperten winken ihm und den anderen — wie ihm scheint: etwas grämlich — zu und holpern davon.

„Gehen wir!“, sagt der Hauptmann.

Der Abt und die Mönche begleiten ihn und den Leutnant sichtlich erleichtert bis zur Einbiegung auf den Pfad, bis zum Toyota, wo Thanh den anderen Polizisten bittet, den Zugang zum Tatort bis zur Ablösung im Auge zu behalten. Danach verabschieden sich die Kriminalisten vom Abt und von den Mönchen, von allen außer Bruder Cuong, der sich bereits, die Kutte raffend, hinter das Lenkrad geklemmt hat.

„Und nochmals Dank für die Unterstützung!“

„Viel Erfolg — mit Gottes Hilfe!“

„Na?“, fragt Hauptmann Thanh, kaum dass Bruder Cuong angefahren ist.

„Nichts“, antwortet Son, der Leutnant, wieder in die Polster zurückgelehnt.

„Nichts?“

„Na, dass er tot ist, dass er erstochen wurde, haben wir schließlich schon vorher gewusst, und viel mehr ist den Spurenexperten auch nicht aufgefallen.“

„Und das Wenige, das sie auf Anhieb ermittelt haben?“, fragt der Hauptmann, nun beinah förmlich.

„Erstens die Todeszeit“, berichtet der Leutnant. „Sie liegt, den Ermittlungen der ,Experten' zufolge, vor viereinhalb, fünf Stunden, also gestern Abend zwischen zehn und halb elf. Das stimmt im Übrigen überein mit den protokollierten Angaben der Mönche, wonach der Verletzte exakt um zweiundzwanzig Uhr siebzehn den letzten Seufzer hienieden getan hat.“

„Und zweitens?“, erkundigt sich Thanh.

„Zweitens“, gibt Son zur Antwort, „hat sich bestätigt, dass die Hülse, die wie ein Stück von einem Kugelschreiber aussieht, ein Schießgerät ist.“

„Ach! Und das nennst du ,nichts‘?“

„Das nenne ich ,nicht viel‘, denn einen dahin gehenden Verdacht habe ich gleich gehabt. Übrigens auch der Abt sowie der eine und der andere seiner Brüder — durchweg Kenner der einschlägigen Fachliteratur.“

Son grinst, und Thanh spürt plötzlich wieder Kopfschmerzen. Er lächelt.

„Ach ja!“, fährt Son fort. „Das Opfer wurde offenbar ausgeraubt. Kein Geld, keine Papiere, nichts, was uns die Identifizierung ermöglichen würde.“

„Schön“, sagt Thanh, plötzlich erleichtert.

„Na, ich weiß ja nicht ...“, erwidert der Leutnant.

„Doch, schön“, beharrt der Hauptmann grinsend, ohne die leicht abstehenden Ohren von Bruder Cuong, dem Chauffeur, aus den Augen zu lassen. „Das spricht nämlich nicht für ein bestimmtes, scheinbar naheliegendes Motiv und öffnet den Blick auf eine Vielzahl möglicher, grundverschiedener Täter. Ich habe da so eine Idee, aber das muss ich erst überschlafen.“

ZWEITES KAPITEL

7

Stunden später, als es dämmert, sitzt Hauptmann Thanh im Büro der Kriminalisten auf einem ungepolsterten Stuhl. Die Arme hat er bis zu den Ellenbogen auf dem Schreibtisch liegen, und auf den Armen ruht der Kopf.

Es ist eine nicht gerade bequeme Haltung, aber in früheren Jahren hat Thanh nicht selten noch unbequemer geschlafen.

Jetzt schläft er tief und lautlos.

Leutnant Son hat es sich auf einer Matte neben dem Schreibtisch bequem gemacht. Auch er kennt miesere Schlafbedingungen. Im Unterschied zu Thanh erlaubt er sich, leise zu schnarchen.

Das Telefon auf dem Schreibtisch schweigt noch. Es ist Sekunden vor sechs — die letzte Minute der Dienstbereitschaft.

Son und Thanh haben sich erst vor rund zweieinhalb Stunden zur Ruhe begeben. Vorher war Rücksprache mit dem Bereitschaftsdienst der Sicherheitsorgane zu halten, waren die Ablösung der beiden Dorfpolizisten und die weitere Überwachung des Tatorts zu organisieren, war schließlich Oberst Nguyen Van Diem, der Vorgesetzte der Kriminalisten, aus dem Schlaf zu klingeln — Obliegenheiten, denen sich Hauptmann Thanh vom Schreibtisch aus mit schwerem Kopf unterzog.

Leutnant Son befand sich derweil an der Pforte, wo er, wie Thanh grollend vermutete, Chi Van, die Pförtnerin und Telefonistin, von der Arbeit abhielt.

„Im Gegenteil“, protestierte er, daraufhin angesprochen. „Ich hab sie eher angetrieben. - Übrigens auch die Spurenexperten, die, sobald es hell wird, noch mal raus zum Tatort fahren wollen.“

Draußen dämmert es gerade. — Punkt sechs.

Da schlägt schrillend das Telefon an. Thanh schreckt auf und greift nach dem Hörer.

Ja?“

„Bist du’s?“ fragt eine der Stimme nach junge Weibsperson.

„Klar, ich“, krächzt Thanh.

„Guten Morgen, Genosse Hauptmann“, sagt Chi Van, die Telefonistin, nach kurzem Besinnen. „Ich möchte Sie und den Genossen Leutnant wecken. Der Tee ist fertig und ... und die Anfrage abgesetzt.“

„Tee? — Anfrage?“

Aber da hat die Telefonistin schon aufgelegt.

Thanh betrachtet nachdenklich zunächst den Hörer, dann seinen Mitarbeiter. Schließlich erhebt er sich kopfschüttelnd, reckt sich und verlässt den Raum.

Auf dem Flur stößt er um ein Haar mit Chi Van, die in jeder Hand eine dampfende Tasse trägt, zusammen.

„Oh, Bác Thanh! Würden Sie bitte ...?“

Verwirrt hält der Hauptmann die Tür auf, und dann ist er vollends sprachlos.

Chi Van hat die Tassen auf den Schreibtisch gestellt und Son an der Schulter gerüttelt. Eine Frau, ein junges Mädchen, einen Mann, einfach so!

„Aufstehen! Es ist so weit! Die Spurenexperten sind schon wieder auf Achse.“

Tatsächlich hört Son zu schnarchen auf, hebt den Kopf, blinzelt und springt auf die Beine.

Lachend huscht Chi Van hinaus.

Sie hat ein helles, fast kindliches Lachen, und Thanh überlegt, wann Phuong, seine Frau, zuletzt so gelacht hat.

„Herrlich!“, verkündet Son und beginnt zu schlürfen. „Heißer Tee - genau das Richtige nach so einer Nacht!“

Thanh nickt und holt aus dem Schreibtisch zwei Päckchen Klebereis. Die Portionen sind, das Werk von Phuong, traditionsgemäß in große grüne Blätter eingeschlagen.

Die eine schiebt Thanh über den Tisch. „Lass es dir schmecken!“

„Dank dir!“, sagt Son. „Falls ich mal heirate, revanchiere ich mich.“

„Falls ...“, erwidert der Hauptmann, während er das Blatt sorgsam auseinanderfaltet.

Son ist bereits dabei, den gewürzten, klebrig gekochten Reis zu verspeisen. Zwischendurch nippt er an der Tasse, oder er redet, erklärt, dass man zum Heiraten Geld brauche, vor allem Geld, mehr, als er verdiene.

Thanh wiegt den Kopf und wirft ein, da sei auch noch anderes nötig, Liebe zum Beispiel.

„Und außerdem“, fährt Son, ohne den Einwurf zu beachten, fort, „wie denn die Richtige finden, sie kennenlernen und testen, wie und wann? Nimm bloß die letzten Tage! Erst rund um die Uhr der Bandendiebstahl mit Totschlag, nun dieser Raubmord …“

Thanh schluckt. An und für sich stört es ihn nicht, beim Essen über dienstliche Belange zu sprechen, im Gegenteil. Was er aber grundsätzlich nicht mag, ist solch — wie er meint — putzmunteres, oberflächliches und maßlos übertreibendes Gerede. Oder möchte Son ihn wieder einmal provozieren? Spricht er deshalb so unernst vom Heiraten, so leichtfertig von ihrer Arbeit? Soll Thanh sich ereifern?

„Erstens“, erklärt der Hauptmann beherrscht, „steht noch gar nicht fest, dass es Raubmord war.“

„Und zweitens?“, fragt grinsend Son.

„Zweitens ...“ Der Hauptmann drückt das Blatt, das er bis auf das letzte Reiskorn geleert hat, zusammen und wirft es in den Papierkorb. „Zweitens sollten wir jetzt in dieser Mordsache eine erste Bilanz ziehn, und zwar sachlich!“

„Einverstanden“, sagt Leutnant Son und fegt sein Frühstücksblatt vom Schreibtisch, sodass es gleichfalls im Papierkorb landet. „Also, ich bin aufgrund unserer bisherigen Erkenntnisse der Meinung, dass es Raubmord war, und tippe auf einen Täter, der süchtig ist und Geld gebraucht hat, möglichst Dollars.“

„Könnte sein“, räumt Hauptmann Thanh ein, „obwohl die Identität des Opfers noch nicht bekannt ist und Weiße nicht nur in den USA leben.“

„Klar“, erwidert Son, „aber erstens haben auch andere Weiße, egal, woher sie stammen, außer unseren Dong vermutlich meist ein paar Dollars bei sich, und zweitens wird der Tote bestimmt bald identifiziert sein.“

„Ach!“ Thanh runzelt die Stirn. „Wohl die ,Anfrage', von der beim Wecken die Rede war?“

„So? War davon die Rede? Was hat denn Chi Van gesagt?“

„Dass sie ,abgesetzt' sei, die ,Anfrage‘.“

„Na bitte!“ Son grinst. „Ich habe Chi Van in einer Verschnaufpause zwischen deinen Telefonaten und meinen Verhandlungen mit den Spurenexperten gebeten, noch in der Nacht reihum die größeren Hotels anzurufen. — Ob dort ein Weißer verschwunden ist.“

„Gute Idee“, lobt Thanh.

„Was du nicht sagst!“, ruft Son.

„Weiter!“, drängt der Hauptmann. „Was kommt außer einem Raubmord mit einem Motiv, wie du eins genannt hast, noch infrage?“

„Na, eine Abrechnung unter Agenten“, sagt Son.

„Stimmt. Dafür spricht das benutzte Schießgerät, auch der abgelegene Tatort.“

„Genau“, hakt der Leutnant ein. „Vielleicht wollte dieser Kerl, das spätere Opfer, eine Nachricht überbringen, einen Bericht abholen oder sich mit einem Zuträger treffen. Auf alle Fälle werden unsere Freunde von der Spurensicherung jetzt, bei Tageslicht, die ganze Gegend dort draußen absuchen, eingehender als während der Nacht: nach einem toten Briefkasten, nach dem Projektil aus dem Schießgerät, nach irgendwelchen Indizien ...“

Der Hauptmann nickt zu der Aufzählung, dem Programm, nickt zerstreut und wiegt den Kopf.

Leutnant Son bricht ab und fragt ihn: „Ist was? Hast du Bedenken?“

„Nein, keine“, wehrt Thanh ab. „Im Gegenteil; soweit ich den Fall übersehe, werden uns am ehesten Indizien zur Lösung verhelfen.“

Er verstummt, bleibt zerstreut.

„Und die Spur, auf die du gestoßen bist“, erkundigt sich Son, „der Verdacht, den du erst mal überschlafen wolltest — geht das in eine der Richtungen, in denen wir den Täter vermuten?“

„Nein, absolut nicht.“ Thanh schüttelt den Kopf und erklärt dann bedächtig: „Der Mann, an den ich letzte Nacht erinnert worden bin, beinah zufällig erinnert — der kommt aller Wahrscheinlichkeit nach weder für einen Raubmord noch für den Kontakt mit Agenten infrage.“

„Also ein Motiv aus dem Krieg“, konstatiert Leutnant Son.

„Ja“, sagt Thanh. „Das heißt“, fügt er rasch hinzu, „eigentlich habe ich ihn gar nicht in Verdacht, wirklich nicht. Es ist nur eine Befürchtung, mehr nicht, eine gewisse Sorge um ihn. Vielleicht auch“ — er zögert — „die Angst, wir könnten ihm unrecht tun, indem wir ihn verdächtigen, oder wir könnten zu viel Rücksicht auf ihn nehmen und dabei etwas übersehn.“

„Hm ...“, brummt Son. „Das hört sich ja ziemlich verworren an und verdammt allgemein. Kannst du nicht etwas konkreter werden?“

Thanh holt tief Luft und fängt an, von Pham Long Hanh zu erzählen; da schrillt das Telefon.

„Ein Mister Mooreland, ein Amerikaner“, meldet die Frau an der Pforte, die Ablösung von Chi Van. „Er will unbedingt mit euch sprechen. Angeblich wegen einem Vermissten.“

8

Als der Hauptmann aufgelegt hat, sitzt er noch eine Weile am Schreibtisch, und auch der Leutnant hockt da und rührt sich nicht. Beide schauen einander an.

„Ein Mister Mooreland, der uns sprechen will.“

„Ich weiß; es war gut zu hören.“

„Also doch ein Yankee?“

„Scheint so.“

Im nächsten Moment springen sie wie auf Kommando auf. Die Teetassen verschwinden im Schreibtisch; Papier taucht auf.

„Und die Ruhe bewahren!“, mahnt Hauptmann Thanh. „Ruhig Blut wie vor einem Angriff!“

„Du musst dich kämmen“, stellt Leutnant Son fest.

Als es kurz darauf klopft, sitzen die Kriminalisten wieder am Schreibtisch. Beide sind gekämmt und haben Papier vor sich liegen, Schriftstücke, in die sie scheinbar vertieft sind.

Thanh kriegt immerhin mit, dass der Text vor ihm, jenes Protokoll, an dem er gestern Abend geschrieben hat, noch immer ohne Fazit ist.

Der Krieg wirkt eben doch nach, sagt er sich, und das, selbst wenn es nur um irgendeinen Mister geht.— Der erste Yankee nach zehneinhalb Jahren!

Wieder klopft es, und einen Moment hat Thanh Amerikaner vor Augen, wie er sie aus der Zeit vor ihrem Abzug zur Genüge kennt: Uniformierte, die durch die Straßen patrouillieren, die sich grölend vergnügen, die aus Helikoptern springen ...

„Herein!“, ruft Leutnant Son, und die Erinnerung verfliegt.

Oder nimmt sie — im Gegenteil — Gestalt an?

Der Mann, der auf der Schwelle erscheint, gleicht aufs Haar jenen Nordamerikanern, an die Thanh soeben gedacht hat. Gewiss, der hier trägt keine Uniform, sondern Jeans und ein bunt bedrucktes Hemd, sieht auch älter aus als beispielsweise ein Gl, so alt etwa wie ein Captain oder ein Major, und doch unterstreicht all das nur noch den ersten Eindruck.

Einer der Schlächter auf Urlaub, denkt Thanh — und verbietet sich sogleich solche Gedanken.

Der Besucher, der Gast, hat gegrüßt, zur Überraschung von Thanh auf vietnamesisch, und nun erwidern die Kriminalisten den Gruß. Dabei erheben sie sich.

Hinter dem Besucher ist ein Geleitposten eingetreten, ein Sergeant, der Meldung macht und dem Hauptmann einen Passierschein überreicht. Thanh dankt und schickt den Sergeanten zurück zur Pforte. Den Besucher bittet er, Platz zu nehmen: auf einem Stuhl neben dem Schreibtisch, der dritten Sitzgelegenheit im Raum.

„Sie wünschen, Mister ...?“ Er blickt auf den Schein.

„Mooreland“, kommt ihm der Besucher zuvor. „Hauptmann, Sie müssen mir helfen; ich bitte darum! Einer meiner Leute ist spurlos verschwunden.“

„Einer Ihrer Leute?“

„Ja. Ein Mitglied des Teams, das ich leite. — Exhumierungsarbeiten.“

Thanh runzelt die Stirn — für Mooreland offenbar der Anstoß, zu erläutern: „Wir graben die sterblichen Überreste gefallener amerikanischer Soldaten aus und überführen sie in die Heimat, auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen unserer Regierung und der Regierung Ihres Landes.“

Der Hauptmann nickt. „Ich habe davon gelesen. — Die einzige Vereinbarung zwischen Vietnam und den USA bisher ...“

„Genau“, bestätigt Mooreland und fährt fort: „Um so wichtiger, dass die Aktion ohne Störungen verläuft, ohne Komplikationen. Nicht auszudenken, dass unserem Mann was passiert ist!“

Thanh wechselt mit Son einen Blick.

Die Miene des Leutnants ist unbewegt.

Auf einem Blatt vor ihm — erste Notizen.

„Und weshalb“, fragt Thanh, „befürchten Sie, Ihrem Mitarbeiter könnte etwas passiert sein?“

„Na, weil er verschwunden ist, weil er vermisst wird!“

„Seit wann verschwunden?“

„Seit gestern Abend.“

„Und da schlagen Sie gleich Alarm?“

Mooreland weicht dem Blick aus, schaut zu Son, behält beide Kriminalisten im Auge. „Erstens müssen wir, wenn wir mal in der Stadt waren, spätestens um Mitternacht wieder im Hotel sein, und zweitens hieß es vorhin an der Rezeption, Sie hätten angerufen, sich erkundigt, ob jemand von uns vermisst wird. Das stimmt doch, oder?“

„Es stimmt“, sagt Thanh, „stimmt im Prinzip. Wir haben tatsächlich anrufen lassen, doch das in allen größeren Hotels der Stadt. Wir müssen den Leichnam eines Weißen identifizieren.“

„Den — Leichnam?“

„Ja, leider. Der Mann, um den es geht, wurde ermordet.“

Mooreland ist blass geworden, bleich unter der leichten Bräune bis an das blonde, angegraute Haar. „O Gott“, murmelt er, „unsere Aktion!“

Es sind, seit er eingetreten ist, seine ersten Worte auf englisch.

„Warten Sie doch erst mal ab“, rät Thanh, „ob es sich bei dem Toten überhaupt um Ihren Mitarbeiter handelt!“

Mooreland sieht ihn verstört, begriffsstutzig an.

„Wieso?“

„Na, noch ist der Leichnam ja nicht identifiziert! Wir haben keinen Ausweis gefunden, keine Papiere; wir wissen nichts zur Person.“

Mooreland nickt und sagt dann gepresst, fast drohend in seinem akzentuierten Vietnamesisch: „Gebe Gott, dass es nicht unser Mann ist!“

9

Vom Sitz der Kriminalpolizei bis zum Gerichtsmedizinischen Institut ist es nicht weit, und der Weg führt durch Straßen, die jetzt, am frühen Vormittag, noch nicht überfüllt sind.

„Gehn wir zu Fuß!“, schlägt Thanh vor.

„Einverstanden“, sagt Mooreland nach kurzem Zögern.