Vorwort

Seit einigen Jahren arbeite ich, ein ausgebildeter Entwicklungspsychologe, mit Kolleginnen und Kollegen aus der Psychologie, der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Ökonomie interdisziplinär zusammen. Als Psychologe ist mir der Gedanke vertraut, dass wir als Individuen unsere sozialen Netze gestalten. Von der Soziologie habe ich gelernt, welche Kräfte sozialen Strukturen innewohnen. Zwischen der Perspektive auf das Individuum und der Perspektive auf soziale Strukturen zu wechseln ist zwar nicht einfach, aber fruchtbar. Ich hoffe, in diesem Einführungstext beiden Perspektiven gerecht zu werden. In jedem Fall gilt: Dieses Buch ist eine Einführung in das breite Gebiet der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Forschung zu sozialen Netzen. Mehr dazu findet sich in den Originalarbeiten.

Dieses kurze Buch fertigzustellen hat viel länger gedauert, als ich zuvor angenommen hatte. Für Unterbrechungen hat es immer gute Gründe gegeben (die findet man immer), und es ist nach einer Pause nicht leicht, die Arbeit fortzusetzen. Meine sozialen Netze am Deutschen Zentrum für Altersfragen haben mich dabei unterstützt, bis zum Schluss durchzuhalten. Danken möchte ich ganz herzlich Claudia Gählsdorf, Rebecka Andrick, Katharina Mahne, Heribert Engstler, Ingolf Böttcher, Sebastian Richter sowie Elke Hoffmann, Sonja Menning, Andreas Motel-Klingebiel, Beate Schwichtenberg-Hilmert und Tina Königstädt. Danken möchte ich auch Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag für seine Geduld sowie meinen Mitherausgebern Susanne Zank, Hans-Werner Wahl und – ganz besonders – Siegfried Weyerer.

In allen Kapiteln bin ich auf Spuren von mir selbst gestoßen. Ob es um theoretische Überlegungen oder um die Beziehungen zu Großeltern, Eltern, Kindern, Geschwistern und Freunden ging – vieles hatte auch mit mir zu tun. Möglicherweise stellen auch die Leserinnen und Leser dieses Buches fest, wie sehr sie in soziale Netze eingebunden (und bisweilen auch verstrickt) sind. Besonders deutlich ist mir geworden, wie wichtig Familie ist – und wie wichtig mir meine Familie ist. Daher möchte ich dieses Buch meinen Kindern Friederike Römer und Magnus Römer widmen.

1 Bedeutung sozialer Beziehungen im Alter

Lernziele

In diesem einführenden Kapitel des Buches werden grundlegende Aspekte des Themas erläutert. Dabei wird eine »kontextuelle Entwicklungsperspektive« eingenommen. Entwicklung über den Lebenslauf ist eingebettet in soziale, gesellschaftliche und historische Kontexte. Nach einer kurzen Darstellung der Prinzipien individueller Entwicklung wird die Bedeutung sozialer Beziehungen in unterschiedlichen Lebensabschnitten dargestellt (Perspektive des Lebenslaufs bzw. der Lebensspanne). Danach wird die Bedeutung des historischen Kontextes für die sozialen Netze behandelt. Dabei geht es um die sozialen Beziehungen alter Menschen zu früheren Zeiten (diachronischer Vergleich: Blick zurück in die Geschichte).

1.1 Einleitung

Wenn wir älter werden, werden wir gemeinsam mit anderen Menschen älter. Altern ist zwar in erster Linie ein individueller Prozess, in dessen Verlauf ein Individuum körperliche und psychische Veränderungen erlebt. Individuen sind aber in ein Geflecht von sozialen Beziehungen eingebettet, so dass Altwerden auch ein sozialer Prozess ist. In langjährigen Partnerschaften werden beide Partner gemeinsam älter. Eltern, die ein hohes Alter erreichen, haben Kinder, die im mittleren oder reifen Erwachsenenalter sind und die möglicherweise selbst Kinder haben. Freunde können gemeinsam älter werden und sehen dies sehr deutlich, wenn sie sich nur selten sehen. Wer als »Single« älter wird, ist vielleicht in Beziehungen zu Geschwistern, Nichten und Neffen, Freunden und Nachbarn eingebettet. Und natürlich können Partnerschaften, Freundschaften und Bekanntschaften auch im Lebensabschnitt Alter neu entstehen, vielleicht von Alt zu Alt, vielleicht aber auch von Alt zu Jung.

1.1.1 Typen sozialer Beziehungen

Von den sozialen Beziehungen älter werdender und alter Menschen handelt dieses Buch. Es wird darin um die verschiedenen Formen von Beziehungen gehen, die alte Menschen zu anderen haben, und es wird gezeigt, von welchen Faktoren diese Beziehungen beeinflusst werden. Unterschiedliche Beziehungen haben unterschiedliche Bedeutungen: Gerade in Beziehungen zu älter werdenden Familienmitgliedern geht es um Zuneigung, Vertrauen und gegenseitige Unterstützung. Allerdings sollen nicht allein die guten, positiven und harmonischen Seiten von Beziehungen in den Blick genommen werden. Beziehungen zu anderen Menschen können auch belastend und durch Konflikte gekennzeichnet sein. Die folgenden Fragen werden gestellt:

Wenn in diesem Buch über soziale Beziehungen gesprochen wird, so wird eine sehr einfache Definition zugrunde gelegt. Eine soziale Beziehung liegt dann vor, wenn mindestens zwei Personen ihr Denken, Fühlen und Handeln wechselseitig aufeinander beziehen. Von den sehr unterschiedlichen Arten sozialer Beziehungen werden in dem vorliegenden Buch die folgenden genauer betrachtet werden:

Die meisten sozialen Beziehungen beruhen auf sozialen Interaktionen. Beispiele für soziale Interaktionen sind Gespräche, gemeinsame Unternehmungen, gegenseitige Unterstützung, aber auch Konflikte und Streit. Der (eher seltene) Fall der sozialen Beziehung ohne Interaktion (beispielsweise ein Cousin, den wir noch nie gesehen haben) soll nicht berücksichtigt werden. Unterschiedliche Typen von Beziehungen funktionieren nach unterschiedlichen Regeln. Beispielsweise bringt eine Paarbeziehung andere (und stärkere) Verpflichtungen mit sich als die Beziehung zu einem Wohnungsnachbarn. Während wir uns innerhalb von Familien nicht immer dazu verpflichtet fühlen, eine Hilfeleistung sofort »auszugleichen«, gilt das für Freundschaften sehr viel stärker.

1.1.2 Alter und Altern

Da sich dieses Buch mit sozialen Beziehungen alter Menschen beschäftigt, soll in einem ersten Schritt dargelegt werden, was unter den Begriffen »Alter« und »Altern« zu verstehen ist. Altern bezieht sich auf individuelle Veränderungsprozesse im Verlauf der Lebensspanne, während Alter einen Abschnitt im Lebenslauf meint, dessen Beginn und Bedeutung kulturell recht unterschiedlich aussehen kann (Wahl & Heyl, 2004). »Wenn der Begriff Alter verwendet wird, stehen die älteren Menschen und das Resultat des Altwerdens im Vordergrund, das Alter als Lebensperiode und die Alten als Bestandteil der Gesellschaft. Wenn dagegen von Altern gesprochen wird, liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung von Prozessen und Mechanismen, die zum Alter führen und die dem Altwerden zugrunde liegen« (Baltes & Baltes, 1994).

Individuelle Prozesse des Älterwerdens sind in gesellschaftliche Prozesse des sozialen Wandels eingebettet. Ein wichtiger Aspekt des sozialen Wandels sind demographische Veränderungen, bei denen Veränderungen in der Altersstruktur einer Bevölkerung eine zentrale Rolle spielen. Die durchschnittliche Lebensspanne wird in den meisten Ländern der Welt weiter anwachsen, es wird in Zukunft mehr alte, vor allem mehr hochaltrige Menschen geben als heutzutage, und ihr Bevölkerungsanteil wird größer sein als je zuvor. Ab welchem Lebensalter ein Mensch als hochaltrig bezeichnet wird, hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt: Heutzutage werden Altersgrenzen von 80 oder 85 Jahren gewählt, ab der man vom »hohen Alter« spricht (Wahl & Rott, 2002).

In Zukunft wird auch der Umfang nachkommender Generationen kleiner werden. Bereits seit längerem ist in diesem Zusammenhang eine grundlegende Änderung der Familienstrukturen zu beobachten, die sich auch weiter fortsetzen wird. In Zukunft wird es mehr hochaltrige Familienmitglieder und möglicherweise mehr zur gleichen Zeit lebende Generationen geben, als dies heute der Fall ist. Zugleich ist ein Wandel in den Lebensläufen und Lebensplanungen zu verzeichnen, der auch Auswirkungen auf die Ausgestaltung und Bedeutung sozialer Beziehungen hat. Nachbarn, Freunde und Bekannte sind wichtige soziale Netzwerkpartner – und ihre Relevanz wird in Zukunft ansteigen. Die hier angedeuteten Veränderungen werden nicht allein für die sozialen Netzwerke älter werdender Menschen von Belang sein. Vielmehr sind sie Ausdruck eines andauernden Prozesses, der in die Gesellschaft insgesamt eingreift und diese nachhaltig verändert.

1.2 Bedeutung von Familienbeziehungen im Lebenslauf

Die Bedeutung sozialer Beziehungen im Lebenslauf soll zunächst anhand des sogenannten »klassischen Familienzyklus« verdeutlicht werden (Schmidt-Denter, 2005), also dem Verlauf des Lebens im Rahmen von Familienbeziehungen. Hierbei ist zu bedenken, dass dieser Familienzyklus aus historischer Perspektive sehr modern ist. Er ist erst im 20. Jahrhundert entstanden, und es ist keineswegs ausgemacht, dass dieser klassische Familienzyklus im 21. Jahrhundert weiterbestehen wird. In den letzten Jahrzehnten sind sehr unterschiedliche Formen des Familienlebens entstanden, so dass der hier skizzierte Verlauf nur als »idealtypisch« bezeichnet werden kann. Viele Lebensläufe sind durch diesen klassischen Familienzyklus nicht zu beschreiben – wir werden später noch einmal darauf eingehen.

1.2.1 Familien als Beziehungsnetze

Wenn ein Kind geboren wird, gehört es sofort zu einem bereits existierenden Netzwerk von Familienmitgliedern: Mutter und Vater, eventuell auch Geschwister und Großeltern, nicht selten auch Tanten und Onkel. Hierbei unterscheiden sich diese Beziehungen in der Bedeutung für das Kind ganz wesentlich. Mutter und Vater sind für das Kind diejenigen Personen, zu denen eine vertraute und sichere Bindung aufgebaut wird, was eine bedeutsame Voraussetzung für aktives Explorationsverhalten und stabile emotionale Bindungen in späteren Abschnitten des Lebenslaufs ist (Grossmann & Grossmann, 2001). Die Eltern versorgen das Neugeborene aber nicht nur, sondern versuchen auch über Lob (und Strafe) das Verhalten des Kindes zu beeinflussen. Eltern kontrollieren Ressourcen, sie erlauben und verbieten. In diesem Sinn sind die Beziehungen zwischen dem Kind und seinen Eltern asymmetrisch und hierarchisch.

Im Gegensatz dazu sind die Beziehungen zu Geschwistern mit Blick auf Kompetenzen, Ressourcen und Interaktionen relativ ausgeglichen und symmetrisch. Dies kann auf der einen Seite eine hohe Intimität bedeuten, andererseits aber mit Konkurrenz und Konflikten verbunden sein. Geschwister sind diejenigen Personen, zu denen eine der am längsten dauernden Beziehungen im Lebenslauf besteht. Die Geschwisterbeziehung kann sich im Lauf des Lebens erheblich verändern, was Nähe und Qualität der Beziehung betrifft. Neben die Geschwister treten Gleichaltrige, mit denen ein Kind im Kindergarten, in der Schule oder im Sportverein Kontakt hat und die zu Freunden werden können, bisweilen für ein ganzes Leben.

Die Interaktionen zwischen Enkeln und Großeltern zeichnen sich dadurch aus, dass Großeltern in der Regel sehr viel weniger Sozialisationspflichten übernehmen als Eltern, so dass über die Generationen hinweg positive und verständnisvolle Beziehungen entstehen können (Uhlendorff, 2003). Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen gehören ebenfalls zum Kreis der erweiterten Familie und können ebenfalls wichtige Beziehungspersonen für ein Kind sein. Gerade dann, wenn die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern nicht gut sind, können die Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern Schutz und Geborgenheit vermitteln. Die Forschungslage zur erweiterten Familie ist aber leider nicht sehr umfangreich.

1.2.2 Phasen des Familienzyklus

Eine Reihe von Orten und Institutionen, in denen neue und andere Beziehungen geknüpft werden, treten neben die Kernfamilie, wenn die Kinder dem Kleinkindalter entwachsen sind. Kinderkrippe, Kindergarten und Schule sind für die Entwicklung von Beziehungen wichtige Institutionen. Die Beziehungen zu Kindergarten- und Schulfreunden gleichen den Geschwisterbeziehungen, da auch sie symmetrisch sind. Im Verlauf der mittleren Kindheit und der Adoleszenz weitet sich der Kreis von Beziehungspersonen aus: Freunde und Schulkameraden (Mitglieder der »peer group«) werden von Heranwachsenden häufig als bedeutsamer wahrgenommen als die Mitglieder der Herkunftsfamilie (von Salisch & Seiffge-Krenke, 1996). Gerade die Beziehung zu den Eltern verändert sich in diesem Lebensabschnitt. Auch wenn es keinesfalls regelmäßig zu tiefgreifenden Auseinandersetzungen zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern kommen muss, verändert sich doch die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des heranwachsenden Kindes. Die Adoleszenz ist durch die Herausbildung einer eigenständigen Identität gekennzeichnet, zu der einerseits der Aufbau von Freundschaften und andererseits die Entstehung intimer und vertrauensvoller Liebesbeziehungen gehört.

Wenn das Kind zum jungen Erwachsenen geworden ist, verlässt es in der Regel den elterlichen Haushalt. Nach dem Ende der schulischen und der beruflichen Ausbildung endet das »erste Lebensalter« (Kindheit und Jugend), und es beginnt der Abschnitt des »zweiten Lebensalters«, der vor allem durch Berufstätigkeit gekennzeichnet ist, wobei es sich keinesfalls um einen zeitlich klar umgrenzten Übergang handelt. Je nach Bildungsverlauf kann dieser Lebensabschnitt früher oder später beginnen. Der Auszug aus der elterlichen Wohnung, der Einstieg in eine weiterführende Ausbildung oder der Beginn der Berufstätigkeit sind bedeutsame Schritte in der Entwicklung des Individuums und haben wichtige Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen. Als Beziehungstypus im jungen Erwachsenenalter treten nun Kolleginnen und Kollegen in das soziale Netz eines Menschen. Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen sind zunächst über gemeinsame Arbeitsaufgaben definiert, bilden aber auch die Möglichkeit zur Bildung von Freundschaften. Eine wichtige Entwicklungsaufgabe des jungen Erwachsenenalters ist die Gründung einer eigenen Familie: Mit der Wahl des Partners, der Gründung eines Haushalts und der Geburt des ersten Kindes beginnt eine neue Phase im Lebenslauf, die durch Veränderungen und Aushandlungen in der neu gegründeten Familie gekennzeichnet ist (Reichle & Zahn, 2006).

Die Familiengründung der Kinder und die Geburt von Enkelkindern stellen einen wichtigen Einschnitt im Leben der älter werdenden Eltern junger Erwachsener dar. Mit dem Auszug des letzten Kindes aus dem elterlichen Haushalt beginnt die Phase des »empty nest«. Die Beziehung zwischen älter werdenden Eltern ist nicht mehr durch die Sorge um die eigenen Kinder gekennzeichnet. Dadurch verändert sich die Beziehung der Eltern. Eine Neuorientierung der Partner beginnt, die sich nun nicht mehr auf die eigenen Kinder beziehen, sondern stärker wieder aufeinander. Auch die Beziehungen der älter werdenden Eltern zum erwachsenen Kind verändern sich (Papastefanou, 2006). Die Eltern-Kind-Beziehungen werden ausgeglichener, obwohl häufig noch eine Asymmetrie hinsichtlich finanzieller Unterstützung besteht, bis das Kind auch finanziell selbständig wird. Älter werdende Eltern können zu Großeltern werden. Ein weiteres wichtiges Ereignis im Lebenslauf ist der Übergang in den Ruhestand, der den Beginn des »dritten Lebensalters« (Ruhestand) markiert.

Die letzte Phase des Familienzyklus reicht bis an das Ende des Lebens der beiden älter und alt gewordenen Partner. Es sind häufig Frauen, die erleben, wie ihr Partner stirbt. Nicht selten leben Frauen nach dem Ereignis der Verwitwung im zuvor gemeinsam bewohnten Haushalt allein weiter. Die Beziehungen zwischen alten Eltern und ihren nun im mittleren bis höheren Erwachsenenalter stehenden Kindern verändern sich: Die Kinder übernehmen mit zunehmendem Hilfebedarf der alten Eltern Unterstützung im Haushalt. Allerdings bleibt in der Regel eine ausgeglichene Austausch-Bilanz in der Beziehung zwischen alten Eltern und ihren erwachsenen Kindern bestehen: Während die erwachsenen Kinder tatkräftige Unterstützung im Haushalt leisten, geben die alten Eltern finanzielle Transfers an ihre Kinder und Enkel weiter (Kohli, Künemund, Motel & Szydlik, 2005). Angesichts von wachsendem Hilfe- und Pflegebedarf wird schließlich häufig pflegerische Unterstützung durch jüngere Familienmitglieder notwendig. Nicht selten sind es Töchter im mittleren Erwachsenenalter, die ihre alten Mütter unterstützen und pflegen. Wie die Belastungen durch Pflege erlebt werden, hängt dabei auch von der – lebenslangen – Beziehungsqualität der pflegenden und der gepflegten Person ab. Aber auch die Beziehungen zwischen den erwachsenen Geschwistern können sich angesichts der Herausforderung der Pflegesituation und des nahenden Todes der Eltern verändern. Einerseits besteht die Gefahr, dass alte Konflikte neu aufbrechen, andererseits gibt es auch die Möglichkeit, dass die Beziehungen zwischen zuvor distanzierten Geschwistern positiver werden.

1.2.3 Vielfalt der Familienbeziehungen

Der eben beschriebene »klassische Familienzyklus« ist sehr stark vereinfacht und idealisiert. Familienformen und -beziehungen sind durch Vielfalt und Ungleichheit gekennzeichnet. Der soziale Kontext und die Lebenslage spielen eine zentrale Rolle für die Ausgestaltung von Familienbeziehungen. Lebensläufe und Familienzyklen werden durch die soziale Schicht geformt. Bildung, Einkommen und Art der Berufstätigkeit beeinflussen Art und Umfang der sozialen Beziehungen, in denen wir aufwachsen, erwachsen werden und altern. Aber nicht allein die Lebenslage, sondern auch die Pluralität von Lebensstilen bestimmt die Vielzahl unterschiedlicher Beziehungskonstellationen. So gehen nicht alle Menschen lang andauernde Partnerschaften ein: Allein lebende »Singles« werden in anderen sozialen Netzen alt als Menschen in Partnerschaften. Aber auch Partnerschaften unterscheiden sich erheblich voneinander: Neben (heterosexuellen) Partnerschaften mit Kindern gibt es (heterosexuelle) Partnerschaften ohne Kinder sowie homosexuelle Partnerschaften (in der Regel ohne Kinder, aber seit einiger Zeit bisweilen auch mit Kindern). Zudem existieren eine Vielzahl von Familienformen mit Kindern: alleinerziehende Mütter und Väter; Familien, in denen sich die Eltern im Verlauf einer Partnerschaft trennen, oder Familien, in denen zuvor verheiratete Menschen mit neuen Partnern zusammenleben (»Patchwork-Familien«).

In den folgenden Kapiteln wird die Vielfalt von sozialen Beziehungen dargestellt und danach gefragt, welche Bedeutung diese Beziehungen für ältere Menschen haben und welche Funktionen sie im Verlauf des Lebens erfüllen. Zunächst aber soll erörtert werden, welche Stellung ältere Menschen in Familien und sozialen Netzen zu früheren Zeiten innehatten (diachronische Perspektive: Vergleich unterschiedlicher historischer Epochen). Im Abschlusskapitel dieses Buches wird der Blick auf andere Länder und Kulturen gerichtet (synchronische Perspektive: Vergleich von Kulturen und Gesellschaften).

1.3 Familienbeziehungen im historischen Wandel

Wenn soziale Netze und Familienbeziehungen thematisiert werden, dann wird nicht selten unterstellt, dass gegenwärtig eine »Krise« der Familie zu verzeichnen ist, dass soziale Beziehungen brüchig geworden sind – und dass es in der Geschichte ehemals ein »goldenes Zeitalter der Familie« gab, in dem mehrere Generationen unter einem Dach wohnten und in dem die Familienbeziehungen durch hohe Solidarität gekennzeichnet waren. Allerdings wurde bereits im 19. Jahrhundert die Krise der Familie ausgerufen, insbesondere von den frühen Familienforschern Fréderic Le Play (in seinem 1855 erschienenen Hauptwerk »Ouvriers européens«) sowie Wilhelm Heinrich Riehl (vor allem im 1854 erschienenen dritten Band »Die Familie« seines Hauptwerkes »Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik«). Jene Familienformen, die sich auf das Zusammenleben in einem umfassenden Haushalt gründeten, wurden von Le Play als »Stammfamilie« und von Riehl als »ganzes Haus« bezeichnet. Dieser umfassende Haushalt stiftete einen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zwischen den in ihm lebenden Menschen (Schwägler, 1975). Wichtigstes Merkmal des »ganzen Hauses« war die Einheit von wirtschaftlicher Produktion und Zusammenleben einer erweiterten Mehrgenerationenfamilie, zu der neben Familienmitgliedern im engeren Sinne auch andere Personen, etwa Knechte und Mägde, gehörten. Die Söhne zogen bei der eigenen Heirat nicht aus, sondern blieben mit Frau und Kindern Teil des Haushaltes. Haupt und Autorität der Stammfamilie war der Hausvater, der erst im fortgeschrittenen Alter die Autorität an den ältesten (in manchen Regionen auch an den jüngsten) Sohn übergab.

Sowohl Le Play als auch Riehl sahen in diesen traditionellen Familienformen das Fundament der Gesellschaft und betrachteten die Begleiterscheinungen der Industrialisierung außerordentlich kritisch, da der damit verbundene soziale Wandel den Zusammenhalt der Familien zerstöre. Die aus zwei Generationen bestehende »Kernfamilie« (Eltern, die mit Kindern zusammenleben) wurde als instabile Familienform gesehen. Beide Autoren plädierten in konservativ-restaurativer Absicht für patriarchalische Familienstrukturen, in denen ein Hausvater über »das ganze Haus« bestimme. Allerdings wurde nicht allein von diesen Autoren übersehen, welche Vielzahl von Familienformen es in Europa bereits vor der Industrialisierung gegeben hatte. »Von der Mutter- bzw. Vaterfamilie (Ein-Eltern-Familie) über die nichteheliche Eltern-Kind-Gemeinschaft (›Konsensusehen‹) bis zu komplizierten Stiefelternverhältnissen, von der Kleinfamilie bis zu größeren komplexen Familienverbänden, die so kaum noch existieren, war das Spektrum gespannt« (Huinink & Wagner, 1998). Die damaligen und auch heutigen Vorstellungen eines »goldenen Zeitalters« stabiler, aus mehreren Generationen harmonisch zusammenlebender Familien sind nichts anderes als Mythen (Mitterauer, 1977a). Wie aber sahen Familien in der Geschichte tatsächlich aus – und welche Stellung hatten alte Menschen innerhalb der Familien?

Blickt man in die Geschichte zurück, stellt sich sofort die Frage: Welche Zeiträume, Kulturregionen und soziale Schichten nimmt man in den Blick, wenn man etwas über die Stellung alter Menschen in der Familie erfahren will? Man erhält unterschiedliche Antworten, je nachdem, ob man bis ins Altertum, ins Mittelalter (ab etwa 800), in die Neuzeit (ab etwa 1500) oder zum Beginn der Industrialisierung (Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts) zurückschaut. Zudem ergeben sich unterschiedliche Antworten, je nachdem, welche der etwa 3 000 Kulturen weltweit man betrachtet (Fry, 1988). Aber auch innerhalb Europas gibt es erhebliche Unterschiede, etwa zwischen Nordwest-, Mittel-, Süd- und Osteuropa. Zusätzlich unterscheiden sich die familiären Verhältnisse in den Städten und auf dem Land sehr stark. Und schließlich muss darauf verwiesen werden, dass es einen großen Unterschied macht, ob man sich den Lebensverhältnissen von Bauern, Handwerkern, Bürgern oder Adligen zuwendet. An dieser Stelle muss der Hinweis auf die Fachliteratur genügen, in der eine historisch und regional umfassende Geschichte der Familie vorgelegt wurde (z. B. Burguière, Klapisch-Zuber, Segalen & Zonabend, 1996; 1997a; 1997b; 1998). Im vorliegenden Kontext sollen einige typische Merkmale europäischer Familien in der Zeit vor der Industrialisierung herausgearbeitet werden, mit Blick auf Funktion und Größe von Familien, Heiratsalter und Generationenabstand, Geschlechterverhältnisse, Qualität der Familienbeziehungen sowie die Stellung alter Menschen in der Familie.

1.3.1 Familiengröße

Geht man davon aus, dass sich die Familie im historischen Verlauf sehr stark verändert hat, nämlich von einer komplexen und erweiterten Mehrgenerationenfamilie hin zu einer kleinen, reduzierten Kernfamilie, so müsste dies in erster Linie in der durchschnittlichen Haushaltsgröße deutlich werden. Eine solche Annahme ist empirisch überprüfbar, insbesondere für England, da dort schon ab dem 16. Jahrhundert in vielen Gemeinden die Haushaltsgrößen erfasst und durchschnittliche Haushaltsgrößen errechnet wurden. »Während im 16., 17. und 18. Jahrhundert die Mittelwerte ziemlich gleichbleibend 4,75 Personen ausmachten, beträgt der Durchschnitt für die Gegenwart [Anfang der 1970er Jahre] 3,04. Von einer vorindustriellen Großfamilie lässt sich im Hinblick auf diese älteren Daten kaum sprechen« (Mitterauer, 1977a, S. 42).

Auch die Zusammensetzung der Haushalte spricht nicht dafür, dass Familien vor dem Beginn der Industrialisierung in der Regel aus mehr als zwei Generationen bestanden. In England betrug der Anteil an Drei-Generationen-Familien an allen Haushalten vom ausgehenden 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert etwa sechs Prozent. Während dies in anderen west- und nordeuropäischen Ländern ähnlich war, traten Mehrgenerationenfamilien in osteuropäischen Regionen deutlich häufiger auf. Allerdings muss festgehalten werden, dass sich Haushalts- und Familiengrößen nicht allein zwischen europäischen Regionen und Ländern unterscheiden, sondern dass auch innerhalb der Länder und Regionen eine große Vielfalt von Familienformen zu beobachten ist (Burguière & Lebrun, 1997). Auch in Deutschland gab es in früheren Zeiten durchaus die von Le Play beschriebenen »Stammfamilien«, etwa in jenen Regionen, in denen das bäuerliche Gut ungeteilt weitervererbt wurde. Dennoch: Die Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kindern, ist zumindest in weiten Teilen Europas kein historisch neues Phänomen. Offensichtlich war also bereits in vorindustrieller Zeit die Kernfamilie zahlenmäßig sehr bedeutsam.

1.3.2 Lebenserwartung und Generationenabstand

Ein Gedicht des schwäbischen Dichters Gustav Schwab hat die populäre Vorstellung der früheren Mehrgenerationenfamilie sehr beeinflusst. Das Gedicht beginnt mit der Aufzählung von vier Generationen eines Haushaltes: »Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dumpfer Stube beisammen sind ...« (siehe »Im Fokus: die Vier-Generationen-Familie in Schwabs Gedicht ›Das Gewitter‹«). Wenn man die Zeitungsmeldung liest, die dem Gedicht zugrunde liegt, so wird deutlich, dass es Anfang des 19. Jahrhunderts offensichtlich Mehrgenerationenhaushalte gegeben hat. Zwei Fragen stellen sich hier: Wie hoch war die Lebenserwartung in früheren geschichtlichen Perioden, und in welchem zeitlichen Abstand folgten die Generationen?

Im Fokus: die Vier-Generationen-Familie in Schwabs Gedicht »Das Gewitter«

Im Schwäbischen Merkur vom 8. Juli 1828 (Nr. 163) fand sich die folgende Meldung: »Am 30. Juni 1828 schlug der Blitz in ein von zwey armen Familien bewohntes Haus der württembergischen Stadt Tuttlingen, und tödtete von zehn Bewohnern desselben vier Personen weiblichen Geschlechts, Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, die erste 71, die letzte 8 Jahre alt.« Der schwäbische Dichter Gustav Schwab (1792–1850) verarbeitete dieses Ereignis in seinem Gedicht »Das Gewitter«, das zu einem Sinnbild der früheren Mehrgenerationenfamilie geworden ist. Im Folgenden ist die erste Strophe des Gedichts abgedruckt:

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind

In dumpfer Stube beisammen sind;

Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,

Großmutter spinnet, Urahne, gebückt,

Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl –

Wie wehen die Lüfte so schwül.

Die Lebenserwartung in früheren Jahrhunderten war durchschnittlich viel kürzer als heutzutage. Während in Deutschland im Jahr 2008 Mädchen bei der Geburt mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa 82,4 Jahren und Jungen mit etwa 77,2 Jahren rechnen können, betrug die durchschnittliche Lebensdauer in früheren Jahrhunderten selten mehr als 30 Jahre. Da die Kindersterblichkeit sehr viel höher war als heutzutage und Menschen in allen Lebensabschnitten sterben konnten, bedeutet dies, dass nur wenige Menschen das junge Erwachsenenalter überlebten. Aber es wurden auch in früheren Zeiten Menschen alt oder sogar sehr alt. »Dass der Durchschnitt [in der vorindustriellen Zeit] trotzdem noch 25 oder 30 Jahre beträgt, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass einige Menschen auch damals schon alt und sehr alt wurden: 60, 70, 80, 90 Jahre alt« (Imhof, 1988, S. 5). Allerdings: Dies war im Gegensatz zu heute keineswegs die Regel. Alt und sehr alt zu werden war in früheren Zeiten eher eine Ausnahme. Während im Jahr 2006 etwa ein Viertel der Bevölkerung 60 Jahre und älter war, lag der Anteil der Menschen in dieser Altersgruppe im 19. Jahrhundert weit unter zehn Prozent (Sieder, 1977).

Ein kleiner Generationenabstand erhöht die Chance, dass Großeltern und Enkel Lebenszeit miteinander verbringen. In der Zeitungsmeldung, die dem Gedicht von Gustav Schwab zugrunde liegt, fällt der geringe Altersabstand zwischen Urgroßmutter (71 Jahre) und Urenkelin (8 Jahre) auf – dies bedeutet einen mittleren Generationenabstand von etwa 21 Jahren. Ein so geringer Generationenabstand war in vorindustrieller Zeit die Ausnahme. In der Regel wurde in der damaligen Zeit erst gegen Ende des dritten Lebensjahrzehnts geheiratet, so dass die gemeinsame Lebenszeit von Großeltern und Enkeln kurz war. Soweit in der vorindustriellen Gesellschaft die Generationen einer Familie einander erlebten, wohnten sie allerdings häufiger in einem Haushalt zusammen, als dies heute der Fall ist (Sieder, 1977). Dies bedeutet, dass die Versorgung durch die Familie die wichtigste und häufig die einzige Form der Altersversorgung darstellte.

1.3.3 Funktionen der Familie

In der vorindustriellen Zeit war der Haushalt, insbesondere bei Bauern und Handwerkern, nicht allein der Lebens-, sondern auch der Produktionsort der Familie. Dies bedeutet, dass (Erwerbs-)Arbeit und Familienleben keineswegs so getrennt waren, wie dies heutzutage der Fall ist. So garantierte ein Hof, wenn denn der dazugehörige Grund und Boden groß und ertragreich genug war, Überleben und möglicherweise auch Wohlstand einer Familie (Imhof, 1984). Dafür war es aber auch wichtig, dass ein Hof über die Generationen hinweg ungeteilt im Familienbesitz verblieb. Nicht die individuellen Familienmitglieder und ihr Wohlbefinden, sondern das Wohl des Hofes selbst war wichtig. So wurde vor allem in Norddeutschland ein im Familienbesitz befindlicher Bauernhof ungeteilt an den ältesten männlichen Erben gegeben (Anerbenrecht). Dieses Erbschaftsrecht unterscheidet sich grundlegend von der in Süddeutschland praktizierten Realteilung, wo der Hof zwischen den erbberechtigten Söhnen aufgeteilt wurde. Das Anerbenrecht führte dazu, dass die Landwirtschaft in Norddeutschland produktiver war als in Süddeutschland, weil die norddeutschen Höfe größer waren als die parzellierten süddeutschen Höfe. Allerdings ergaben sich auch Unterschiede im Zusammenleben der Familien: Während in Süddeutschland die männlichen Kinder gleichberechtigt behandelt wurden, waren in Norddeutschland die ältesten Söhne bevorzugt, und die jüngeren Söhne waren gezwungen, den elterlichen Hof zu verlassen und sich als Knechte zu verdingen. Der männliche Erbe siedelte sich gemeinsam mit seiner Frau im Bereich des Vaters an (Patrilokalität, Kennzeichen der oben beschriebenen Stammfamilie).

1.3.4 Stellung alter Menschen in der Familie

Die Vererbung eines Hofes an einen Erben hatte auch Konsequenzen für die Stellung der älteren Menschen in der Familie. Einen allgemeinen »Ruhestand« im Sinne der modernen Altersversorgung gab es in den auf der Familienwirtschaft beruhenden Gesellschaften nicht – dazu kam es auf den jeweiligen Einzelfall an (Mitterauer, 1977b). Allerdings war die Stellung des »Hausherrn« mit einer Reihe von Pflichten verbunden, deren Erfüllung im Verlauf des Älterwerdens schwierig werden konnte. In der Bauernschaft hat sich eine Form der Versorgung älterer Menschen entwickelt, für die es verschiedene Bezeichnungen gab (»Altenteil« und »Ausgedinge« gehören zu bekannteren Begriffen). »Beim Altenteil handelt es sich um eine rechtlich geregelte Form der Versorgung des alten Bauern bzw. der alten Bäuerin ... im Rahmen der Hausgemeinschaft« (Mitterauer, 1977b, S. 193). Diese Form der Altersversorgung war allerdings durch eine Reihe handfester Probleme gekennzeichnet. Auch hier irrt man, wenn unterstellt wird, dass die Sorge um alte Menschen in vorindustrieller Zeit harmonisch und konfliktfrei ablief. Dies wird schon daran deutlich, dass die alten Eltern den Kindern keineswegs vertrauten, sondern rechtlich bindende Verträge abschlossen. Zudem gab es Konflikte zwischen Vater und Sohn vor dem Abschluss des Vertrages. Nach Abschluss eines Vertrages kam es nicht selten zu Rechtsstreitigkeiten, und die Altbauern waren nach der Übergabe des Hofes an den Nachfolger keineswegs immer wohlgelitten (insbesondere dann, wenn das Ausgedinge hohe Zahlungen des Jungbauern an den Altbauern vorsah).

Während es auf dem Land die Möglichkeit gab, durch Übergabeverträge die Altersversorgung zu sichern, traf dies auf die städtische Bevölkerung nicht zu. Hier spielten, übrigens schon seit dem Mittelalter, Klöster und Spitäler eine wichtige Rolle. Jene Bürger, die ausreichende Mittel zur Verfügung hatten, konnten durch Übergabe eines bestimmten Betrages Unterhalt auf Lebenszeit, eine sogenannte »Leibrente«, erkaufen. Für jene Bewohner der Städte, die sich dies nicht leisten konnten, blieb aber nur lebenslange Arbeit oder der Aufenthalt im Armenhaus (siehe »Im Fokus: das Kieler Stadtkloster«).

Im Fokus: das Kieler Stadtkloster

Im Jahr 1242 wurde Kiel das Stadtrecht verliehen. Schon wenige Jahre danach entstand ein Hospital, das ein Altenheim, Kranken- und Armenhaus und gleichzeitig eine Übernachtungsstätte für Pilger war. Nach mittelalterlicher Auffassung gehörte zu einer Stadt neben einer Pfarrkirche auch ein Spital als soziale Einrichtung. Die Stiftung der Grafen Johann I. und Gerhard I. wurde im Jahr 1257 vom Erzbischof von Bremen bestätigt. Das Hospital erhielt um 1260 den Namen »Heiligengeisthospital«.

Wer in das Hospital eintrat, musste Geld und Habe dem Haus überlassen, dafür wurde man mit Wohnung, Kleidung und Nahrung versorgt. Die Eintretenden hatten eine Probezeit von Jahr und Tag zu bestehen. Männer und Frauen lebten getrennt und trugen eine besondere Tracht. In insgesamt sieben Betstunden mussten die Bewohnerinnen und Bewohner jeweils siebenmal das Vaterunser für die Wohltäter des Hospitals sprechen, täglich also 49-mal. Das Hospital versuchte, mit Vergünstigungen Wohlhabende zu gewinnen (diese mussten beispielsweise nicht im Kloster wohnen), um mehr Mittel für die Versorgung von Armen zu Verfügung zu haben.

Das Kieler Stadtkloster existiert noch immer, es ist heute eine gemeinnützige Stiftung des privaten Rechts und betreibt Einrichtungen der stationären Altenhilfe. Im Jahre 2007 wurde das 750-jährige Jubiläum gefeiert (Stiftung Kieler Stadtkloster, 2007).

1.3.5 Resümee

Im westlichen Europa ist die Kernfamilie ein historisch seit langem bekanntes Phänomen. Ein goldenes Zeitalter der Mehrgenerationenfamilie gab es in Westeuropa nicht, auch wenn man Phasen unterschiedlicher Wertschätzung des Alters unterscheiden kann (Borscheid, 1987). Die Neugründung von Familien war in der Regel durch die Herausbildung eines neuen Haushalts gekennzeichnet (Neolokalität). Koresidenz verschiedener Generationen gab es vor allem in ländlichen Räumen, allerdings war das Zusammenleben der Generationen keineswegs konfliktfrei. Das Leben in getrennten Haushalten bot den älteren und jüngeren Generationen einerseits ein erhöhtes Maß an Autonomie, andererseits bestand die Gefahr der Isolation – ähnlich wie dies heute auch der Fall ist. Wenn genügend Besitz vorhanden war, konnte die Altersversorgung durch Regelungen der Besitzübergabe wie Ausgedinge oder Leibrenten vertraglich geregelt werden. »War dies nicht der Fall, dann war die Situation alter Menschen in jeder Hinsicht prekär. Schon früh zeigte dies die Notwendigkeit ergänzender, außerfamilialer Versorgungsinstanzen« (Gestrich, 2004, S. 76).

1.4 Ausblick auf das Buch

Im zweiten Teil des Buches werden soziologische und psychologische Theorien sozialer Beziehungen sowie methodische Überlegungen dargestellt. Als soziologische Theorien werden die Disengagement-Theorie, die Theorie des sozialen Austauschs, das Modell der intergenerationalen Solidarität sowie die Theorie der intergenerationalen Ambivalenz diskutiert. Als psychologische Ansätze werden die Bindungstheorie, die sozioemotionale Selektivitätstheorie sowie das Modell des sozialen Konvois vorgestellt. »Methodisches Rüstzeug« wird für die Diskussion der forschungsbezogenen Erhebungsmethodik und der Familiendiagnostik benötigt.

Der dritte Teil ist der Darstellung der familialen wie außerfamilialen Beziehungstypen gewidmet: (Ehe-)Partner, Eltern-Kind-Beziehungen, Großeltern-Enkelkind-Beziehungen, Geschwisterbeziehungen sowie Beziehungen zu Freunden und Nachbarn. Dabei sollen insbesondere jene strukturellen Veränderungen diskutiert werden, die bereits im Eingangskapitel angesprochen wurden. In jedem der Kapitel werden gesondert die Bedeutung der Beziehungen und die jeweiligen Funktionen sozialer Unterstützungen diskutiert (instrumentelle Unterstützung, materielle Transfers, informationelle Unterstützung, emotionale Unterstützung, gemeinsame Aktivitäten). Von besonderem Belang ist die Frage, inwieweit soziale Unterstützung nicht allein positive, sondern (auch) negative Auswirkungen haben kann. Schließlich werden differenzielle Aspekte berücksichtigt. Hierbei wird es etwa um die Frage gehen, inwieweit die Bedeutung verschiedener Beziehungstypen für Männer und Frauen, für Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten oder auch für bestimmte Phasen des Lebenslaufs gleich oder verschiedenartig ist.

Im vierten Teil werden spezifische Problemlagen im Bereich sozialer Beziehungen im Alter behandelt. Insbesondere geht es um die Frage von Isolation und Einsamkeit, Pflegebedürftigkeit sowie Konflikt und Gewalt im sozialen Nahraum.

Im fünften Teil soll schließlich diskutiert werden, wie die sozialen Netze alter Menschen in anderen Kulturen und Gesellschaften aussehen – und inwiefern dieses Wissen bei der Gestaltung politischer Rahmenbedingungen nutzbar gemacht werden kann.

Zusammenfassung

Thesen zum Kapitel

In einem idealtypischen Familienzyklus der heutigen Zeit verändern sich die Beziehungen zwischen alten Eltern und ihren Kindern und Kindeskindern nach Eintritt in die dritte und speziell in die vierte Lebensphase. Im hohen Alter kommt es häufig zur gegenseitigen Unterstützung, von der sowohl die Kinder und Enkel als auch die Großeltern profitieren: materielle Unterstützung von Seiten der alten Eltern einerseits sowie Betreuung und Pflege durch die erwachsenen Kinder andererseits. Da es in Zukunft mehr alte, vor allem mehr hochaltrige Menschen geben wird als heutzutage (und ihr Bevölkerungsanteil wachsen wird), ist eine langfristige Änderung der Familienstrukturen wahrscheinlich. So wird es mehr alte Menschen geben, die ohne eigene Kinder alt werden. Es ist aber auch möglich, dass es künftig vermehrt zur Bildung von Mehrgenerationenhaushalten kommen wird. Betrachtet man die sozialen Beziehungen und Lebensumstände/Familienverhältnisse alter Menschen zu früheren Zeiten in Westeuropa, so stellt sich heraus, dass diese sehr komplex waren und nicht vereinheitlicht und glorifiziert werden können. Ein goldenes Zeitalter der Mehrgenerationenfamilie gab es nicht, zudem lebten schon vor der Industrialisierung häufig nur zwei Generationen (Kernfamilie) in einem Haushalt.

Fragen zur Selbstüberprüfung

  1. Worin bestehen die Phasen des Familienzyklus?
  2. Was ist der Unterschied zwischen Alter und Altern?

Weiterführende Literatur

Bengtson, V. L., Acock, A. C., Allen, K. R., Dilworth-Anderson, P. & Klein, D. M. (Eds.). (2005). Sourcebook of family theory and research. Thousand Oaks, CA: Sage.

Lenz, K. & Nestmann, F. (Hrsg.). (2009). Handbuch Persönliche Beziehungen. Weinheim: Juventa.

2 Was sind Theorien?

Lernziele

In diesem Kapitel wird beschrieben, was eine wissenschaftliche Theorie von einer Alltagstheorie unterscheidet und welche Kriterien es gibt, um die Güte von Theorien zu bewerten.

2.1 Über Theorien

Was sind Theorien – und warum sind sie wichtig? Theorien sind ein Versuch, die Wirklichkeit zu erklären, und dieser Versuch ist ein Prozess des Entwickelns von Ideen, mit deren Hilfe wir Beobachtungen der Wirklichkeit zu verstehen lernen (Bengtson, Gans, Putney & Silverstein, 2009a). Eine Theorie ist ein vereinfachtes Bild der Wirklichkeit (oder von Teilen der Wirklichkeit), wobei es wichtig ist zu betonen, dass dieses Bild keine Fotografie (Abbild) der Wirklichkeit ist, sondern eine Konstruktion (Erfindung) von Forscherinnen und Forschern, die sich mit diesem Teil der Wirklichkeit beschäftigen. Theorien bilden die Wirklichkeit also nicht ab, sondern sie bilden die Wirklichkeit nach: Sie sind Konstruktionen oder Modelle der Wirklichkeit; die Vielfalt der Wirklichkeit wird in Theorien vereinfacht dargestellt.

Theorien sollen dabei helfen, Sachverhalte zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen. Sie dienen dazu, die Vielfalt der Wirklichkeit zu ordnen und die Frage zu beantworten, warum die Wirklichkeit ist, wie sie ist, und warum sie sich in der Weise verändert, in der sie sich verändert. Theorien enthalten Annahmen über die Ursachen von Ereignissen, Prozessen und Entwicklungen. Sozialwissenschaftliche Theorien bestehen in der Regel aus miteinander vernetzten Hypothesen, die sich empirisch bewährt haben. Theorien dienen auch dazu, Prognosen über die Zukunft zu machen und Handlungsempfehlungen zu geben. Diskussionen zu Anforderungen an Theorien der menschlichen Entwicklung finden sich beispielsweise in den Büchern von Bengtson und Kollegen (Bengtson, Gans, Putney und Silverstein, 2009b) sowie von Flammer (2003). Einführungen in den Theoriebegriff enthalten die Bücher von Bortz und Döring (2006) sowie von Schnell, Hill und Esser (2005).

Theorien gibt es nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Alltag (in der Psychologie und Soziologie werden diese Theorien unter dem Begriff der »Alltagstheorien« behandelt). Wir versuchen stets, uns ein Bild von der Wirklichkeit zu machen, und bemühen uns, Ereignisse der Natur oder das Verhalten anderer Menschen zu erklären. Allerdings unterscheiden sich wissenschaftliche Theorien von Alltagstheorien. Wissenschaftlichen Theorien liegen in der Regel explizite Annahmen zugrunde, sie sind möglichst exakt formuliert (in den Naturwissenschaften werden häufig mathematische Symbole verwendet, in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften werden Theorien in sprachlicher Form dargestellt), und sie werden in der Regel durch systematische Beobachtung überprüft (empirische Prüfung). Erklärende Theorien haben die Form: »Wenn x, dann y« (oder »Weil x, folgt y«). Diese Form kann man am Beispiel der sozioemotionalen Selektivitätstheorie zeigen: »Weil sich mit dem Alter die Struktur der sozialen Motive ändert, bevorzugen alte Menschen vertraute Menschen als Beziehungspartner«. Theorien sollten sich in der Wirklichkeit bewähren können: Sie sollten empirisch testbar sein. Dabei kommt es darauf an, dass diese Überprüfbarkeit unabhängig von Personen möglich sein muss (»intersubjektive Überprüfbarkeit«). Innerhalb einer Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern muss Einigkeit darüber herrschen, wie man Theorien und Hypothesen überprüfen kann. Die Methoden empirischer Forschung sind »intersubjektiv«, das heißt allgemein anwendbar.

2.2 Güte von Theorien

Um die Güte von Theorien zu bewerten, kann man eine Reihe von Kriterien heranziehen, insbesondere Gegenstandsbereich, Reichweite, Konsistenz, Sparsamkeit, empirische Bewährung und praktische Brauchbarkeit.

Gegenstandsbereich: Theorien über soziale Beziehungen von Menschen können alle Formen von Beziehungen betreffen und sich auf alle Lebensalter beziehen (wie etwa die Austausch-Theorie), oder sie können enger gefasst sein (wie etwa das Modell der intergenerationalen Solidarität, in dem es um die Erklärung des Verhaltens von erwachsenen Kindern und alten Eltern geht). In der Regel wird man Theorien mit einem weiten Gegenstandsbereich den Vorzug vor Theorien mit einem engeren Gegenstandsbereich geben, aber häufig sind weiter gesteckte Theorien auch allgemeiner und treffen nicht unbedingt den Kern eines Problems.

Reichweite der Gültigkeit: Theorien unterscheiden sich darin, wie groß die Reichweite ihrer Gültigkeit ist. Universell gültig sind Theorien, die auf alle Menschen in allen Gesellschaft en zu allen historischen Zeiten zutreffen. Lokal oder historisch begrenzt sind Theorien, die für einen bestimmten Kulturkreis (z. B. europäische Länder) oder für eine historische Periode (z. B. postindustrielle Gesellschaften) Gültigkeit haben. Auch wenn es auf den ersten Blick anzustreben ist, allgemein gültige Theorien zu konstruieren, ist es möglicherweise dem jeweiligen Phänomen angemessener, Theorien begrenzter Gültigkeit zu verwenden.

Konsistenz: Im Gegensatz zu den ersten beiden Kriterien ist die Forderung der logischen Widerspruchsfreiheit (oder Konsistenz) grundsätzlich von Bedeutung. Aussagen einer Theorie (sowie Ableitungen daraus) müssen in sich widerspruchsfrei sein. Wenn aus einer Theorie sowohl eine bestimmte Aussage sowie gleichzeitig deren Gegenteil abgeleitet werden kann, so ist diese Theorie unbrauchbar. Ein populäres Beispiel einer logisch-inkonsistenten Theorie (oder vielmehr der Karikatur einer Theorie) ist: »Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder bleibt, wie es ist«. Die Beobachtung »der Hahn kräht« kann nicht zur Vorhersage des Wetters verwendet werden, da sowohl die Aussage »das Wetter ändert sich« als auch ihr Gegenteil (»das Wetter ändert sich nicht«) aus der Theorie abgeleitet werden kann. Daher ist diese Theorie unbrauchbar.

Sparsamkeit: Eine Theorie sollte mit möglichst wenigen Annahmen und Parametern auskommen. Wenn eine Theorie mit einer zweiten Theorie vergleichbar ist, etwa mit Blick auf den Gegenstandsbereich, die Reichweite der Gültigkeit, die Konsistenz und die empirische Bewährung, dann ist diejenige der beiden Theorien »besser«, die kürzer und knapper ist. Auch hier wieder ein sehr einfaches Beispiel: Man stelle sich vor, dass eine erste Theorie das Kreisen der Planeten um die Sonne mit der Schwerkraft erklärt, eine zweite Theorie dagegen nicht allein mit der Schwerkraft, sondern zusätzlich mit dem Wirken eines höchsten Wesens, das die Ordnung im Sonnensystem aufrechterhält. Vorausgesetzt, dass beide Theorien ansonsten gleiche Einschätzungen in den hier genannten Gütekriterien aufweisen, würde man die erste Theorie der zweiten Theorie vorziehen, da diese einen Parameter weniger benötigt, um dasselbe Ergebnis zu erzielen (das »höchste Wesen« wird nicht benötigt). Dieses Kriterium nennt man manchmal auch »Ockhams Rasiermesser«, nach einem mittelalterlichen Mönch namens Ockham, der dieses Kriterium als erster formuliert hat.

Empirische Bewährung: Eine Theorie sollte möglichst mit der Wirklichkeit in Einklang sein bzw. in möglichst geringem Widerspruch zur Wirklichkeit stehen. Dieses Kriterium ist nahe an unserer alltäglichen Auffassung von »Wahrheit«: Eine Theorie sollte richtige Aussagen über die Wirklichkeit machen (und keine falschen). Wenn eine Theorie eine Vorhersage macht, die durch die Wirklichkeit widerlegt wird, so könnte man sagen, dass diese Theorie »falsifiziert« worden ist. Allerdings ist es häufig nicht ganz einfach, eine Theorie als »falsch« zu bewerten, und zwar aus verschiedenen Gründen, von denen im Folgenden zwei ausgeführt sind. Viele Theorien sind nicht direkt überprüfbar, weil sie sehr allgemein formuliert sind und/oder sich auf Größen beziehen, die nicht selbst beobachtbar oder messbar sind. Daher ist es in der Regel notwendig, aus einer Theorie Hypothesen abzuleiten, die getestet werden können. Es kann durchaus vorkommen, dass einige der aus einer Theorie abgeleiteten Hypothesen mit der Empirie übereinstimmen, andere Hypothesen dagegen nicht. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass man die gesamte Theorie verwirft, sondern vielmehr, dass man Teile der Theorie verändert. Zudem ist es häufig so, dass – insbesondere sozial- und verhaltenswissenschaftliche – Theorien Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Theorien haben nur selten die Form »Wenn x, dann immer und in jedem Fall y«. Weitaus häufiger ist es, dass Theorien Aussagen mit Wahrscheinlichkeitscharakter enthalten, etwa in der folgenden Weise: »Wenn x, dann ist die Wahrscheinlichkeit für y erhöht«. Dies bedeutet auch, dass in der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Forschung Korrelationen als empirische Belege anerkannt werden.