Dieses Buch ist ein Roman, der auf tatsächlichen Ereignissen beruht. Aber es ist ein Roman. Das bedeutet, dass ein Großteil der beschriebenen Ereignisse so oder ähnlich tatsächlich stattgefunden hat. Allerdings nicht immer zum exakt gleichen Zeitpunkt oder in genau dieser Form.
Die Geschichte über die Suche nach einem geeigneten VW Käfer-Nachfolger, die schließlich im VW Golf mündete, hat sich über nicht weniger als sechs Jahre hingezogen. Nachzulesen ist sie unter anderem in den Protokollen der wöchentlichen Vorstandssitzungen, die im Volkswagen-Archiv zu finden sind, in unzähligen Aufzeichnungen der Produktplanungskommission und in weiteren Dokumenten. Diese Geschichte genau so aufzuschreiben, wie sie tatsächlich abgelaufen ist, hätte bedeutet, den teils Monate und nicht selten Jahre dauernden Prozess schlichtweg zu dokumentieren; beispielsweise den, den die Form einer Rückleuchte vom ersten Entwurf bis zum endgültigen Modell durchlaufen hat. Oder darüber zu berichten, wie schier endlos über Pfennigbeträge sowie zwanzig verschiedene Vergaserentwürfe für ein bestimmtes Modell diskutiert worden war.
Aus diesem Grund wurden bestimmte Vorgänge und Entscheidungen zusammengefasst. Das Wesentliche blieb erhalten, einige Fakten mussten entfallen. Zwar würden sich vielleicht einige wirkliche Golf-Enthusiasten an der Beschreibung des detaillierten Entscheidungsweges erfreuen, der am Ende dazu geführt hat, dass die Sitze des Golfs keine in die Lehnen integrierten Kopfstützen bekamen – doch Details wie diese würden den Rahmen dieses Buches sprengen.
Apropos Namen: Auch hier musste sich die Realität in einigen Fällen dem Roman beugen. Die tatsächlichen Volkswagen-Lenker jener Ära haben sicher ähnliche Entscheidungen wie die Figuren in diesem Buch getroffen. Nur lässt sich heute natürlich nicht mehr feststellen, ob sie auch so gedacht und ob sie ihre Worte exakt so formuliert haben, wie es auf diesen Seiten wiedergegeben ist. Daher tragen sie auf den folgenden Seiten nicht immer ihre wahren Namen.
Zweifelsfrei real existierende Personen sind dagegen die Mitarbeiter des Unternehmensarchivs, die das Studieren der historischen Vorstandsprotokolle und weiterer Dokumente des Volkswagen-Werks ermöglichten. Sie stellten wahre Berge von Papierordnern zur Verfügung und gewährten Einblick in die Unmengen mittlerweile elektronisch archivierten Zeugnisse jener Zeit. Vor allem aber warnten sie von Anfang an vor dem eigentlichen Problem, das ein Buch über die Entstehungsgeschichte des VW Golf darstellt: Dass nämlich der schiere Umfang der Informationen regelrecht erschlagend wirkt.
Vor allem aus diesem Grund ist dieses Buch ein Roman geworden. Ein Roman, in dem Abteilungen wie Technische Entwicklung sowie Forschung & Entwicklung einfach zur TE zusammengefasst wurden, in dem man sich ohne viel Mühe auf ein geheimes Testgelände begibt, munter Arbeitsplätze und Verantwortlichkeiten wechselt oder sich problemlos frisch eingetroffene Designerskizzen eines Autos anschauen kann, das aus einem Wust von Entwicklungsaufträgen zum Projekt Blizzard und schließlich zum Welterfolg Golf avancierte.
Der Uhr lief. Henry Wolf starrte auf eine gelbe Eins, die im Bild erschien. Er wusste, was nun kam, nur wusste er nicht, wie es ausgehen würde. Zwei, drei – bei der Zehn hielt Wolf die Luft an. Die Elf registrierte er, ohne zu atmen. Jetzt wollte er nur noch die nächste Zahl sehen, mehr durften es nicht werden. Das Röhren des Motors kam näher, wurde lauter. Dann blieb der Zähler bei 12,1 Sekunden stehen. Geschafft, dachte er, während die angehaltene Luft zwischen seinen Lippen entwich und die Lunge ihre Arbeit wieder aufnahm.
Erleichtert lehnte sich Henry Wolf zurück in die Polster seiner Wohnzimmercouch und sah weiter auf den Fernsehschirm, wo der Autotester den Wagen nun über Rüttelpisten und durch Wasserlöcher hetzte. Alles funktionierte reibungslos, keine Aussetzer, keine Probleme. Genau das hatte er erwartet und musste fast über seine eigene Anspannung lachen. Er wusste, dass alles funktionieren würde, schließlich hatten sie jedes Teil unzählige Male geprüft. Aber gerade der Beschleunigungstest war so wichtig. Nicht, weil es im Alltag irgendeine Bedeutung hatte, ob ein Auto in 12,1 oder 13,5 Sekunden aus dem Stand auf Tempo hundert beschleunigte, sondern weil die Stammtische genau diesen Wert besonders intensiv diskutieren würden.
Außerdem wusste Wolf, dass an diesem Mittwoch die ganze Nation die Sendung verfolgte. Schließlich war diese in gleich mehrfacher Hinsicht ein Ereignis. Zum einen, weil wieder der beliebte Rainer Günzler ans Lenkrad griff. Der hatte sich eigentlich schon aus dem Moderatorenleben zurückgezogen, gab an diesem Tag aber sein Comeback, weil sein Nachfolger völlig betrunken in eine Polizeikontrolle geraten war und nun ohne Führerschein dastand.
Und natürlich war dieser Autotest an sich eine Sensation. Zum ersten Mal wurde der neue VW Golf unter die Lupe genommen. Jenes Modell, das die schwächelnde Legende Käfer beerben und nebenbei auch noch den Weltkonzern Volkswagen retten sollte.
Es könnte funktionieren, dachte er. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sich Henry Wolf befreit. Ein Test mit positivem Fazit vor Millionen von Fernsehzuschauern, dazu die begeisterten Rückmeldungen der Händler in den vergangenen Tagen. Vielleicht würde dieses kleine, kantige Auto wirklich das Unmögliche schaffen und das von Verlusten geplagte Unternehmen vor dem Ruin bewahren. Dann hätte sich die Mühe wirklich gelohnt. All die Jahre, in denen sie bis zur Erschöpfung schufteten, immer wieder neue Ideen ausbrüteten, sie vorantrieben – und schließlich verwarfen, um noch einmal ganz von vorne anzufangen.
Bis eines Tages dieses eine Konzept entstand, an das sie fest glaubten. Und dann doch wieder nicht glauben mochten, weil bisher so viel schiefgegangen war. Sechs Jahre gab es dieses ewige Auf und Ab der Stimmungen. Seit dem Tag, an dem er von seiner neuen Aufgabe erfahren hatte – der Arbeit am Projekt Blizzard.