Impressum

Dorothea Iser

Wolkenberge tragen nicht

ISBN 978-3-95655-256-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

In zwei Stunden hin ich neunzehn Jahre alt. Zwei Stunden vergehen schnell. Sie reichen nicht mal, um zu dir zu fahren. Aber stell dir vor, Jan, ich käme. Mitternacht wäre ich bei dir. Ich würde dich leise wecken, du wärst nicht mal überrascht, weil du von mir geträumt hast. Du stehst auf, nimmst mich an die Hand und läufst mit mir raus. Wir lachen laut, rufen in den Wald, warten auf das Echo, und nicht nur warten würden wir, das kannst du dir denken, ja?

So müsste das neue Jahr für mich anfangen, mein zwanzigstes. Ich weiß ja, dass es nicht geht. Die Wache ließe mich nicht zu dir. Es soll streng sein bei der Armee. Vielleicht liegst du aber gar nicht in deinem Bett, stehst irgendwo rum und sperrst die Augen bei jedem Rascheln auf. Die Zeit wird dir lang, du denkst an mich. Wir sehen dieselben Sternschnuppen fallen und wünschen, uns nah zu sein, und sind es in unseren Träumen trotz strenger Vorschriften. Du bist bei mir, überall, wo ich bin, bei allem, was ich tue. Im Umkleideraum zwischen fast zwanzig Frauen, die mit schrillen Stimmen aufeinander einreden, gewöhnt, Maschinenlärm zu überschreien. Ich höre nur deine Stimme. Körper- und Spraygeruch machen die Luft dünn, aber ich atme nur dich, und auch die Maschine nimmt dich mir nicht. Ich verspinne Steingrau für euch, Jan, Armee-Stoffe werden das. Wenn das mit deinem Urlaub geklappt hätte, würde ich heute nicht hier stehen, Locken holen und einhängen, diese Filzrollen aus dem Krempel, aus denen die Fäden gedreht und auf Hülsen gewickelt werden. Wir würden bei mir sitzen, Musik hören und träumen, uns lieben, durch den Wald laufen und wieder träumen.

Träumen finde ich nämlich schön, immer noch, obwohl ich jetzt neunzehn werde. Früher habe ich natürlich mehr geträumt. Meist war ich ein Mädchen, das endlich von seinen Eltern gefunden wurde. Eltern, die was zu sagen haben wie der Hausmeister oder der dicke Schulze, der sich sogar beim Milchmann vordrängelte. Ist doch egal, Hauptsache Eltern, die fragen, welche Erzieher waren schlecht zu dir. Ich würde weinen, keinen Namen sagen. Oder doch, Lehrer Henne. Und der würde rot werden und vor Verlegenheit lispeln, wie immer, wenn der Direktor neben ihm stand. Das träumte ich oft, weil es mir gefiel. Und ich malte es mir aus, wenn ich stehen musste, mich alle anstarrten, seine schmalen Lippen vor Wut blass waren, er Luft durch die Zähne zog, seine Stimme vibrierte, er trocken und spitz lachte, weil er sich von mir angegriffen fühlte. Da dachte ich an meine Geschichte, stellte meinen Vater und meine Mutter daneben und ließ Henne rot werden und lispeln. Da heulte ich wenigstens nicht, auch wenn keine Eltern kamen, und ich wusste längst, dass sie nie kommen würden.

Wenn ich heute träume, dann am liebsten bei Musik. Die Fischer höre ich gern und die Mann. Komm, ich brauch' dich so sehr. Ja, Jan. ich brauche dich, ich mag dich. Heulen will ich nicht, aber mir ist danach zumut’. Das Garn läuft auch noch miserabel. Dauernd reißt es, und ich muss rennen, um auf meine Kilos zu kommen. Punkt zwölf aber stelle ich die Maschine ab, gehe runter auf den Hof. Sterne kann ich nicht sehen, Jan, nur Wolken. Ob sie von dir kommen? Wenn du zurück bist, werden wir uns immer Mitternacht gratulieren, anstoßen und runter vor die Tür gehen, auch wenn es mal regnet so wie jetzt. Ich bleibe stehen, denke, du wirst auch nass werden, wenn du draußen sein musst. Was ist schon so ein Regen, nur, dass man in nassen Sachen friert, frieren wir eben beide vielleicht. Ich stelle es mir vor, aber jetzt, Jan, haben mich die Frauen entdeckt und holen mich rein. Deine Mutter ist auch dabei. Sie schimpft mit mir, warum ich im Regen stehe, ob ich mir was wegholen wolle. So sind eben Mütter, auch Betty. Sie ziehen mich in den Umkleideraum und gratulieren. Jan, sie vertreiben dich mit ihren Blumen und guten Wünschen. Dabei wollte ich noch in mein Tagebuch eintragen, wie das ist, wenn man ein Jahr älter geworden ist. Neunzehn, das klingt schlimm erwachsen.

Mit fünf Jahren wollte ich fliegen lernen, mit zwölf nach Alaska auswandern, mit sechzehn kam ich in den Werkhof. Nun also schon neunzehn. Aber ein Jahr kann man nicht in einer Minute älter werden. Wann wird man eigentlich älter? Die Leute sagen, ich wäre jung. Ich finde das nicht. Wenn man nicht vergessen würde, was man erlebt hat, dann käme einem die Zeit, die man lebt, viel länger vor. Ich will nicht alles vergessen, will aber auch nicht alles behalten. Man schleppt viel zu viel mit sich rum. Zum Beispiel die Sache mit dem blinden Hugo, den wir so lange ärgerten, bis er uns mit dem Stock drohte. Besondere Mutprobe war, ihm den Stock wegzureißen. So was möchte ich wie ein Tonband löschen können. Was wichtig war, schreibe ich auf. Wenn ich in dem Tagebuch lese, denke ich, dass ein Jahr verdammt lang sein kann.

Manchmal bilde ich mir ein, nur ein Tag wäre mein ganzes Leben. Da kommt die Angst, was machst du, wenn es am Abend mit dir zu Ende ist? Ich würde auf Wiesen laufen, mich in nasses Gras werfen, nicht rühren, nur horchen und Erde atmen. Wenn die Sonne die Feuchtigkeit aufsaugt, drehe ich mich um, lasse mich trocknen, sehe in Wolken, schlage Schaum aus ihnen, stecke das Dorf hinein. Wolkenberge, aus denen das Dorf aufsteigt wie aus Nebel. Die zwei Straßen wie Adern von einem Blatt, bebaut mit Ein- und Zweifamilienhäusern, bewachsen mit Blumen und Bäumen, umgeben von Koppeln und Wäldern. Das Forsthaus mit steilem Giebel, der dünner wird und flacher, der Stierberg mit seinem Aussichtsturm, der kopfsteht und auf das Dach vom Gemeindehaus stippt. Mein Dorf, ich nenne es Wolkenberg. Ich würde aufstehen, Blumen pflücken, sie verwelken lassen, in den Bach werfen, ihnen nachlaufen, und noch immer wäre nicht Mittag. Ich würde zu dir fahren, Jan, du bekämst Ausgang für den einen Tag mit mir. Wir würden uns lieben, irgendwann schlafen und träumen, nein, schlafen nicht, und immer noch hätte ich Zeit zu leben. So würde der Tag sein, vielleicht. Ich würde nicht auf dem Bett hocken, um nachzudenken. Einer soll mal gesagt haben, Denken ist das größte menschliche Vergnügen. Für mich trifft das also nicht zu. Aber nur einfach warten, dass die Zeit vergeht, das will ich nicht. Manchmal gibt es eben lange Tage. Simone Dieskau, träum nicht!

Die Frauen schüttelten mir die Hände, mit denen ich etwas später wieder die Maschine einstellte, Fäden andrehte, Keilriemen nähte, ausfegte und putzte. Ich schmierte mir heimlich eine Träne breit, dachte, was willst du denn noch, die gratulieren dir, und du flennst, na, sollen sie dich vor Freude in die Luft werfen oder auf die Kilos pfeifen, bloß, weil du ein Jährchen älter geworden bist? Geburtstag, das kommt In der Schicht achtzehnmal vor, die Männer nicht mal mitgerechnet, und jedes Jahr wieder, also nichts Besonderes,

«Als ich neunzehn wurde», sagte Helga, während sie mir heim Abziehen half, «da haben sie in Berlin gerade die Grenze dicht gemacht. Im sechsten Monat, sage ich dir, und die Leute reden von Russen und Amis. Ich mit dem Kind im Bauch. Einer sagte ‚Krieg'. Das warf mich um.»

War doch klar, dass in Berlin mal Schluss sein würde.

«Muss schon eine Weile her sein», sagte ich. Erzähl, dachte ich, erzählen ist gut.

Nach der Schicht reichte ich eine große Flasche Sauren rum, wollte mich nicht lumpen lassen. Die meisten nippten nur.

«Verdammt noch mal, trink doch!» Ausgerechnet zu Kathi sagte ich das, die auf das Haus von Kühns scharf ist. Der Sohn muss es ihr versprochen haben. Was soll er damit, wenn die Alten mal nicht mehr sind? Der wohnt in der Stadt, so einer kommt nicht zurück, wird eben verkauft, genau darauf wartet diese Kathi.

«Prost, Mone, wie alt, noch alles vor dir, Mädchen. Wenn das klappt mit dem Haus, Kühns bestellen nichts mehr, was willst du, also, denke nicht, wir setzen dich raus, das nicht, obwohl das Zimmer …, man braucht Platz,»

«Ihr braucht Platz, okay, aber es ist mir egal, verstehst du. Komm, trink, Kathi, kostet dich nichts, nur mein Geld, verstehst du. Ich muss mich nicht drücken, nicht mal um einen Kaffee, ich spare nämlich nicht auf ein Haus, Kathi.» Ich merkte schon, dass ich zuviel redete. Kathi zog sich den Mantel über. Ich wollte sie festhalten, aber sie riss sich los.

«Die kann sich selbst eine Flasche leisten, du, und nicht nur eine. Der ihr Sparbuch möchte ich mal sehen», sagte Helga.

Mann, das wusste ich selber. Meine Dachkammer aber, die würde sie nicht bekommen. «Trink du wenigstens», sagte ich zu Helga. Sie nippte auch nur, vertrug nichts. Wann trank die schon mal. Immer hieß es nur: die Kinder, die Kinder. Die wollte auch nach Hause, das merkte ich schon. Sie hat zu tun. Wecken, erst die Großen, dann den Kleinen für den Kindergarten fertig machen, aufräumen, abwaschen, einkaufen, Wecker stellen. So eine kommt nicht zum Träumen oder stellt sich vor, nur einen Tag zu leben. So wenig Zeit, immer müde, das ist auch nichts, aber heute, da beneide ich sie. Sie ist nie allein, so wie ich es bin. Auf mich warten eben nur Kühns. Die Frau, die nicht mehr richtig hört und die Wäsche zipflig aufhängt und sich hinterher an der Wäschestütze festhalten muss, weil ihr schwindlig wird. Der Mann, der nach Holz riecht, weil er es schneidet und hackt, schnitzt und schleift. Es lebt, wenn er es in die Hände nimmt.

Was soll’s. An so einem Tag, da konnte nicht mal ein ganzer Wald helfen. Ich hatte Angst vor meinem Zimmer. Ich würde mich aufs Bett setzen und das Elend kriegen. Die Geschichten, die ich mir ausdachte, stimmten vorn und hinten nicht. In Wolkenberg würde ich bestimmt lachen, tanzen, singen, mindestens schlafen. Wo lag mein Wolkenberg. Ich wohnte in Talrode, und dort hatten es alle Leute eilig. Da konnte ich nicht mal auf die Wiese laufen, mich ins Gras werfen. Es war November noch, dunkel und diesig, kalt und nass. Wo war die Sonne, die mich wärmt, Blumen, die ich pflücken, welk werden lassen und in den Bach werfen könnte? Alles war nur ausgedacht. Nicht mal Betty hatte gewartet. Sie sagte noch, komm zu mir rum am Nachmittag, und ich antwortete, vielleicht, mal sehen, und hätte gern gesagt, nimm mich gleich mit, lass mich nicht hier. Erzähl von Jan oder von dir, irgendwas. Aber ich ließ sie alle gehen, auch Anne und die Hirschelmann. Mir klebte der Mund, und immer noch war die Flasche halb voll. Die andere Schicht arbeitete schon. Arbeiten ist gut, da vergeht die Zeit. Am besten, du wirfst dich wieder in den Kittel.

In der Halle dröhnten die Spinnmaschinen. Ich schmeckte Staub und Maschinenöl. Wie das hier aussah! Überall lagen Abfälle rum. Das traute sich bei Betty nicht mal Anne. Sauberer Abfall, also, nicht alle Farbpartien zusammengefegt, sauberer Abfall wird aufbereitet, Materialeinsparung. Hatte Betty alles ausgerechnet. Diese Schicht hielt nichts davon, das sah ich gleich. Was nutzte da die ganze Rechnerei. Es fehlte Methode, besser, die Bettymethode, klang gut, nicht schlechter als andere, nur noch ungewohnt. Das wollte ich ändern. Ich lief zur Meisterbude.

«Hallo, Meister!» Warum guckte der so komisch? Ich lief doch noch gerade und lutschte Pfeffi. «Also, Meister, das ist so, ich habe den Auftrag, na, ich will fragen, ich möchte fragen, verstehen Sie? Das ist nämlich, ich meine, wir arbeiten jetzt nach der Bettymethode, da dachten wir, es wäre schön, nicht wahr?»

Der Meister war aufgestanden und kam mir nahe, sehr nahe, das konnte mein Pfeffi nicht schaffen.

«Ich will arbeiten, bin ja schon still, nur arbeiten, an der Eins, ein paar Kilo extra, ist für Ihre Schicht, verstehen Sie?»

Aber er wollte nicht kapieren, blieb stur. Der sollte sich freuen und mich endlich loslassen, das konnte er nicht machen, nicht mit mir. «Außerdem habe ich Geburtstag», sagte ich.

«Schon gut, Mädchen, du ziehst dich jetzt um und gehst nach Hause.»

Immer auf die wunden Stellen. Ich und nach Hause, wo ist denn das? Dem wollte ich was husten, aber gehen musste ich, sonst packte der mich wieder, und Hände hatte der wie Schraubstöcke. Nicht mal mit Methode kam man da raus. Ich gebe zu, ich trank noch einen Zug oder zwei, und überlegte, wie spät es sein könnte. Es wurde schon hell. «Hallo, Pförtner, wie geht’s dir denn? Scheißposten, was? Schranke auf und Schranke wieder zu, den ganzen Tag oder die Nacht über, na Hilfe, ich würde eine Macke kriegen.» Ich ging zu ihm rein. Wenigstens schön warm war die Bude. Die Flasche stellte ich auf den Tisch. «Saurer, trinkst du so was?»

«Nu ja, Mäken, ’nen beten, ehe dat wi uns schloagen loaten. Nu vertell mi moal, wo et drückt. Schlarfenzelt er mit einer anderen, loaten lopen, den Holzbock. Mäken, de Ogen wiet upsperren!»

Ich verstand nicht alles. Manchmal versuchte er, hochdeutsch zu sprechen. Red, wie du willst, dachte ich, es ist eh egal. Windhund oder Holzbock, na, du kannst einem Mut machen, mein Lieber. Holzbock, wie kam er nur darauf, weil sich Holzböcke tief und fest einsaugen, sich vollpumpen und dann fallen lassen, ohne nach dir zu fragen? Mann, Klapproth, es gibt auch noch andere, auch wenn sie mal fluchen, weil du den Schlagbaum nicht gleich hochziehst.

«Wir trinken ohne Grund, ich habe keinen», sagte ich. «Nur, dass Jan nicht da ist. Gestern dachte ich noch, es reicht, wenn wir ganz fest aneinander denken. Aber jetzt habe ich Lust zu trinken, vielleicht träumt es sich morgens schlechter, vielleicht will ich nicht an so einem Tag allein sein. Ich habe nämlich Geburtstag, und mein Geburtstag soll immer ein besonderer Tag sein. Im Heim haben wir immer zusammen gefeiert. Kaffee und Kuchen und ein Geschenk gab’s auch. Frühsport brauchte ich an dem Tag nicht mitzumachen, und nachmittags haben wir Hans-du-stinkst gespielt. Kennst du das, diesen frechen Bengel, der Fleisch vom Friseur und Gemüse vom Schuster holen will, weil er nicht weiß, wer Fleischer oder Schuster ist? Dabei konnten wir uns richtig kloppen. Die Mutter verprügelte den Hans, weil er dumm und frech war. Dann wurde er Mutter und prügelte weiter. Man konnte also auch die Mutter beschimpfen, das machte erst recht Spaß. Später hatten wir dann lieber Disco, da war ich schon im Werkhof. Na und? Was denkst du, wenn ich Eltern gehabt hätte, ob dann alles anders gekommen wäre?»

Klapproth kratzte sich am Kopf.

«Was hab’ ich schon von meiner Mutter gehabt? Einmal einen weißen Riesenteddy. Da bläkte ich anderen die Zunge raus und gab an, ich kriege noch einen viel größeren, bäh, und ihr nicht. Nachts drückte ich mich an sein weiches Fell und beschimpfte die anderen, bis sie genug hatten, mich fesselten und mit verstopftem Mund in die Besenkammer steckten. Als ich aufwachte, lag ich im Krankenhaus. Den Teddy hatten sie aufgeschnitten, im Heizungskeller fand sich das Fell. Ich sollte einen neuen kriegen, aber ich wollte keinen. Das hatte ich von meiner Mutter. Die meisten im Werkhof haben Eltern. Da dachte ich zum ersten Mal, vielleicht ganz gut so, dass ich keine habe.»

Klapproth scharrte mit seinen Schuhen und holte tief Luft, weil er auch mal was sagen wollte, aber der hatte ja seine Adele, mit der er reden konnte. Was die miteinander hatten, wusste immer das ganze Dorf. Adele stand oft im Konsum. Zuerst freute ich mich, dass sie mich manchmal vorließ, bis ich wusste, warum. Sie wollte wissen, was die Leute kauften. Schon wieder backen, Lisa, habt doch man erst. Mir kam sie nicht so, wäre ihr schlecht bekommen. Aber Klapproth, der hatte nichts zu lachen. Es soll Spinnenweibchen geben, die ihre Männer verspeisen oder aussaugen. So was Ähnliches denke ich, wenn ich Klapproth mit Adele sehe. Und der redet von Holzböcken. Jetzt nicht, jetzt ist gerade Kathi dran, die ihn nicht mal grüßt, höchstens, wenn’s Geld gab, und einmal zwischendurch, als sie den Vierer im Lotto hatte. Und er erzählt, dass er die Leute kennt, auch wenn sie morgens noch zugeknöpft: sind wie dicke Mäntel.

Wir trinken immer noch vom Sauren, und ich glaube dir alles, was du erzählst. Hör mir noch mal zu. Dreißig Jahre sitzt du hier, ja, vor dreißig Jahren der Unfall, mit der Hand in die Kreissäge, aus mit Beruf und mit dem Bauen und mit Adeles Hoffnung auf ein Haus, eine eigene Wirtschaft.

Der Werkleiter fuhr mit seinem Wartburg durch. Klapproth beeilte sich mit dem Schlagbaum.

«Da het», sagte er und nickte rüber und reichte sogar den Schlüssel raus. Das wussten alle: Wenn man zum Alten musste, war es besser, Klapproth vorher nach seiner Laune zu fragen, das kriegte der schon immer morgens mit. Der schrieb nicht nur Nummern auf und leierte den Schlagbaum hoch und runter. Nur Adele, die hat er nicht im Griff. Sie ist verbittert, und er trinkt, und dann zanken sie sich durchs Dorf. Hat eben Pech gehabt, der Pförtner, wissen alle im Dorf.

«Ich lass’ dir die Flasche da, aber erst will ich dir noch erzählen, wie so ein Geburtstag im Werkhof war. Er war wie ein Heiligabend im Heim, an dem nur ein Rest da war, alle anderen fuhren schon vorher nach Hause. Wir aber, der Rest, wir hockten unterm Baum, zankten und stritten uns oder spielten verrückt, um nicht nachdenken zu müssen. Ob nun Geburtstag oder Heiligabend, früh brannte die Kerze. An meinem sechzehnten Geburtstag schenkten mir die Mädchen Zigaretten. Endlich durfte ich rauchen, offiziell, versteht sich. Ein Zettel, ganz sauber beschrieben und bemalt mit Herzen und Rosen und so einem Kreuz, weil der Staatsanwalt jetzt seine Hände von mir nahm. Ich durfte mir sogar aussuchen, mit wem ich feiern wollte. Feiern, das war Musik hören, tanzen und rauchen. Ich fand das schön. Aber Janka meinte, das wäre Asche, ohne Alkohol und ohne Jungs. Ich gab ihr recht, obwohl ich von Prozenten nicht viel vertrage. Nur Janka, die warf so schnell nichts um, die wurde mit allem fertig, mit den Werkhofjungs, alles keine Männer. Janka war meine Freundin, Klapproth. Von Leipzig schrieb sie auch mal. Dann kam der erste Geburtstag in der Freiheit, mein achtzehnter, als ich hier ankam. Talrode, die große Freiheit.»

«Mäken, tau miene Tiet wiern wi taufreden mit de Kau im Stall.»

Zu meiner Zeit, na Hilfe. Ich rüttelte den alten Pförtner. «Bist doch noch ganz schön im Gange.»

«Mäken, wat soll dat noch werden? Det ls bald vörbie.»

Erzählen wollte ich, das ja, aber nicht so was. Ich stand auf und ging. Die Straße war nass und glatt. Die Fahrer nahmen den Fuß vom Gas, dreißig waren bei Nässe erlaubt. Ich könnte stehen bleiben, winken, einer würde mich mitnehmen, wohin, egal. Aber ich winkte nicht, stand nur da, sah ihnen nach, ihren Nummern. Eins, zwei, drei, vier, das Glück gehört mir, auch so’n Quatsch. Ich dachte, du musst endlich weitergehen, brauchst nur über die Straße bei Kulpkes vorbeizugehen, die Hexentreppe hochzusteigen, die beiden Kühns zu grüßen und dich in die Falle zu hauen. So einfach war das, aber ich stand immer noch. Nebel lag bleich und zerfahren auf der Straße. Mir war kalt. Klara sagte, es gibt einen strengen Winter. Man wird sehen. Leute reden viel. War doch egal, na und? Mir fiel eine Erzieherin ein. Die konnte nicht leiden, wenn einer «egal» sagte. Am «Na und» zog die sich richtig hoch. Wir tauften sie dann Na-Und. Ansonsten war sie nicht schlecht. Wenn die mich so sehen würde. Wennschon! Ich konnte nicht aus meiner Haut. Immer hieß es: Entscheide dich! Du musst wissen, was du willst! Lass dich nicht hängen! Davon hatte ich genug, ob mich Na-Und sah oder nicht.

Ich dachte, wie es wär’, nur zu sein, wie ein Blatt vielleicht, das sich in den Wind hängt, steigt, fällt und liegen bleibt. Eigentlich war ich doch so ein Blatt, vom Wind hierhergetrieben, und nun blieb ich in diesem Talrode, hatte Sehnsucht nach meinem Wolkenberg. Dahin würde kein Fahrer den Weg wissen, nur mit Jan war es leicht zu finden. Aber in Talrode werden Blätter schnell welk, dazu Nässe und Kälte, das war nichts für mich. Ich wollte noch nicht faulen, und ob ich mal hierbleiben würde? Nur eins wusste ich: Keinen Sauren wieder. Hörst du, Genosse Unteroffizier, nie wieder Sauren, mein Tagesbefehl also. Auf der Straße war das natürlich kein Kunststück. Neue Marschrichtungszahl und auf zu Lori, da wird es dir schwerfallen, heute bestimmt, dachte ich. Ich wollte sehen, ob ich das schaffe, ob Jan recht hatte. Er sagte, man kann sich selbst Befehle geben. Das hat er mal gelesen, auf so was käme er von allein nicht, aber er hat es an sich ausprobiert. Was Jan kann, das schaffe ich doch auch.

Bei Lori war noch nichts los. Sie heizte den Ofen. Der Kohlenanzünder lag da, eine Schütte Kohlen stand auf dem Blech. Lori wusch sich die Hände. Der Ofen bollerte, es flackerte über ihr Gesicht, als sie schürte. Ich fand es schön, im Warmen zu sitzen, da vergaß ich, was ich wollte. Ich überlegte noch, als mir Lori die Cola brachte, mit Schuss natürlich, immerhin am Geburtstag, das fiel mir noch ein.

Lori setzte sich zu mir. «Man muss es verstehen, mit dem Ofen umzugehen, hör mal, wie der zieht. Aber er hält die Wärme nicht. Vielleicht sind’s die Kohlen.»

Ich dachte: Red nur, du weißt nichts von meinem Geburtstag, von dem Einen-Tag-nur-Leben, vom Blatt im Wind. Und da fiel mir meine Verpflichtung ein, mein Tagesbefehl. Mir kamen nur verrückte Sachen in den Kopf. Wenn nicht Alaska, wie wäre es mit Sibirien? Ich möchte mal zur Tschuktschenhalbinsel, von der Tundra bis zur Taiga in die Steppe. Die Fahrt gibt’s nicht im Reisebüro, nicht mal in der Jugendtouristik. Nur Städte und Kraftwerke und vielleicht mal eine Bärenjagd, da muss man schon Glück oder Freunde dort haben. Was mich reizte, war die Welt Jack Londons, Goldfieber, Geisterstädte, ob Alaska oder Tundra.

Mit Jan werde ich einmal die Reise machen, dann kann er mich auch mit in die Wüste nehmen. Er möchte nämlich so gern mal auf einem Kamel reiten. Solche Reisen soll’s ja geben, ganz schön pfeffrige Preise. Ehe wir da rankommen, haben wir vielleicht schon Rheuma und verzichten. So’n Quatsch, dachte ich, und als Lori mich ansprach, war ich froh, dass ich davon noch nichts erzählt hatte. Solche verrückten Geschichten, die vergesse ich einfach, wenn ich will, oder ändere sie. Das finde ich ungeheuer gut, weil außer mir keiner davon weiß, da muss man sich keinen Kopf machen. Fängst du erst an zu reden, ist es schon anders. Dann gehört dir das alles nicht mehr allein, und Vorwürfe hinterher mit «Hätte» und «Wenn» sind zwecklos. Also ist Denken besser als Reden. Aber gleich das größte Vergnügen? Dichter übertreiben wohl immer, Ich fand, zu leben war besser.

Lori brachte noch mal Cola mit Schuss. Ich muss ziemlich mickrig dagesessen haben, denn sie ließ mich nicht in Ruhe. «Liebeskummer, was? Ich sehe das gleich, mir machst du nichts vor.»

«Weißt du, Lori, ein Rekorder mit David Dundas oder den Smokies, das bringt mich hoch. Kennst du Dundas? Ein bisschen zu poliert ist er mir. aber Jeans on, das finde ich stark. Und die Smokies, na. Ein bisschen zu weich für heute.»

«Soll ich dir eine Platte auflegen?», fragte Lori.

«Mann, Lori, ich rede von Dundas, nicht von Herz.»

Ich sah, dass sie nicht verstand, und überlegte, ob sie eingeschnappt sein sollte oder was. Einschnappen konnte Lori einwandfrei. Das wussten alle. Besser noch konnte sie wieder ausschnappen, wie eine Feder, die zu lange gespannt war und dir um um die Ohren flog. Lori überlegte noch, hatte Mitleid mit mir und schnappte nicht. «Du bist nur verärgert. Das ist alles. Sonst waren dir meine Platten gut genug», sagte sie.

Das stimmte nicht. Ich und ärgerlich. Wozu aufregen? «Wenn du nach Hause kommst und bist allein, Mann weg, Kinder weg. Was würdest du denn machen?», fragte ich.

«Hinlegen und schlafen, mal richtig ausschlafen.»

«Na, und morgen, übermorgen und danach immer noch allein, was dann?»

«Fragen stellst du manchmal. Ich würde mich eben richtig erholen. Finde ich nicht mal schlecht:, wenn ich mir das so überlege. Montagabend könnte ich mir den Film ansehen. Gerd sagt, kitschig. Aber ich sehe diese alten Streifen gern, weil sie immer gut ausgehen. Man muss nicht erst lange nachdenken. Dann würde ich öfter zu Kathi gehen. Das sieht mein Mann auch nicht gern. Er sagt, die hat einen Flitz mit dem Haus. Sie tut so vornehm, dass sie sich beim Sprechen noch mal auf die Zunge beißen wird. Das stimmt natürlich nicht. Du kennst sie doch. Sie will vorwärtskommen, was ist dabei. Männer haben keinen Nerv dafür. Je länger ich so nachdenke, um so besser finde ich das. Vielleicht würde ich nicht mal in der Kneipe arbeiten. Was hier manchmal für Leute sitzen! Viele reden sich bei mir den Ärger runter. Ich mag das gar nicht hören. Jeder hat mit sich zu tun.»

Das stimmte haargenau. Ich gab Lori recht. Man ist selbst fertig und soll sich um andere kümmern.

«Weißt du», erzählte Lori weiter, «Gerd sagt immer, ,da kannst du nicht nein sagen.‘ Helga lädt mich sogar zu sich ein. ,Geh hin‘, sagt er, ,man muss an die Kundschaft denken. Wer weiß, was die im Dorf erzählen würde.‘ Na, ich war nicht ungefällig, ging also hin. Mone, nie wieder, sag’ ich dir. Die redete und redete, und hier lag die Arbeit. Ich kam nicht weg. Ihr Kaffee ging ja, aber schwarz, auch nicht das richtige. Die hörte nicht auf zu reden. Warum sitzt du bloß hier? dachte ich. Wenn sie wenigstens ein bisschen schneller erzählen würde, käme ich eher weg, nicht so lange Pausen mit Schneuzen und Schluchzen. Dann heulte sie tatsächlich noch. Warum, das habe ich gar nicht mitgekriegt. Verdammt peinlich, was sollte ich nun sagen? Wenn ich nur aufgepasst hätte! Aber sicherlich der Mann, du weißt doch, Mone, weshalb sonst, ist schon ihr dritter und nicht der letzte, so dumm, wie die ist, dachte ich. Und in dem Alter, da muss sie bald zuzahlen, ich kannte das von anderen. Ich tröstete sie, was soll’s. Du bist viel zu gutmütig, die Männer sind das nicht wert und so was. Na, die und gutmütig! Findest du Helga gutmütig, Mone? Mir fiel nur nichts anderes ein. Weißt du das überhaupt, ihren ersten hat sie verprügelt, ihr zweiter sitzt.»

«Na und?», sagte ich.

«Stimmt schon, schlecht ist sie eigentlich nicht. Das Glas Leberwurst neulich, ganz umsonst, selbst geschlachtet. Vielleicht rückt sie noch eins raus, dachte ich. Natürlich würde ich bezahlen, will keinen ausnutzen. Aber Helga wollte nichts nehmen. Mit Heulen hätte sie wirklich aufhören können. Was hat Leberwurst mit Männern zu tun? Ich konnte ihr nicht helfen, ob ich zuhörte oder nicht. Gerd und die Kinder warteten zu Hause. Ein Mensch muss merken, wenn ein anderer keine Zeit hat. Weißt du, was sie sagte? Zu mir hätte sie Vertrauen, ich wäre die einzige, die sie verstünde. Na dann, ich trank den letzten Schluck. Nichts wie weg wollte ich, kannst du dir denken. Gerd regt sich so leicht auf. Und was machte sie? Goss noch mal nach. Ich bitte dich, muss man das alles hinnehmen, nur wegen der Leute? - Da hast es gut, Mone, kannst machen, was du willst, musst keine Rücksichten nehmen.»

Ich bestellte noch einen Weißen zur Cola.

«Weißt du was, ich mach’ dir lieber einen Kaffee, einen so richtig dicken, der macht dich munter, sonst rutschst du mir noch untern Tisch.»

«Du passt hier ganz prima rein. Es gibt keine, die das besser bringt», sagte ich, «dass du das nicht gern machst?»

«Musst nicht alles so ernst nehmen, man redet viel. Ich meine nur, wenn ich noch mal von vorn anfangen könnte, ich würde was anderes werden, vielleicht Kindergärtnerin, ehrlich.»

Alle wollen sein, was sie nicht sind, Lori also auch, nur mir war alles egal. «Kaffee, meinetwegen.»

Die ersten Urlauber kamen, Bier, Kaffee. Limo, Würstchen, Schokolade. Es wurde rauchig, ich hustete, rauchte auch. Lori hatte zu tun. Ich sah ihr nach. Die Leute guckten zu mir rüber. Ich wusste, dass ich mies aussah, so fühlte ich mich auch, hundemüde war ich. Es war bald Mittag. Eigentlich wollte ich mir das Haar waschen und nachmittags zu Betty gehen. Mein Haar verträgt keinen Nebel und Regen erst recht nicht, da wird es strähnig. Ich brauchte frische Luft. Ein bisschen Sonne kam sogar durch. Von Jan müsste Post da sein, dachte ich.

Du siehst durch den Schlitz etwas Weißes schimmern und schließt beruhigt auf, und dann ist es eine Einladung oder so was. Und siehst du nichts, schließt du auch auf, denkst, vielleicht ist der Brief nur ungünstig gefallen. Aber wenn der Kasten leer ist? Ich hatte nicht den Mut nachzusehen. Er konnte zu einer Übung sein, oder die Post bummelte. Ich ging doch zu Betty, ohne sie nimmt der Katzenjammer kein Ende, aber als ich den Tritt hochstieg, wollte ich nicht mehr klopfen. Sie schlief, der Fensterladen war noch zu. Mit Jan wäre es anders. Der würde seinen Arm um mich legen und mich zur Tür reinschieben. Und ohne ihn?

Ich setzte mich auf die Schwelle, lehnte mich an, der Betrieb, Kulpkes Schornstein, der mächtig spuckte, die Straße, jetzt war sie stumpf und trocken, sah Leute vorübergehen. Verdammt kalt war es, da nutzte nichts, auch nicht, tiefer in den Mantel zu kriechen. Nur denken, es geht dich nichts an, es ist nicht dein Körper, in dem Kälte aufsteigt, ist doch egal, na und, ruhig bleiben, das half. Ich wachte auf, weil ich in dem Flur fiel. Betty stand vor mir, beide waren wir erschrocken.

«Na, hör mal», sagte sie und half mir hoch.

Ich konnte nicht viel sagen, war steif gefroren, das sah sie ja. Sie steckte mich einfach ins Bett, vorher ins Bad. Da fühlte ich mich wie ein kleines Mädchen. Betty fragte nicht viel. Ich musste heißen Tee trinken und schlief danach schnell ein. Ich träumte, ich wäre ein Blatt. Wind treibt mich über Straßen, wirbelt mich hoch, pustet mich über Wälder. Unter mir ein Dorf wie aus einem Baukasten. Sonne spiegelt sich in Dachfenstern wider, blendet mich, ich falle, Häuser wachsen, Bäume und Sträucher. Ich liege vor einer Tür und friere. Über mir Gesichter, der Bürgermeister, Klapproth, der ABV, Förster Kulpke, Lori, Adele, Helga, Betty. Fünfhundert Einwohner sind viele Gesichter. Die Sonne wird größer, aber die Leute laufen auf die Straße und frieren, verstehen nicht, warum. Klapproth holt seine Flasche vor, trinkt und lacht vor sich hin. Aber es wird immer kälter. Da sehe ich Jan, rufe, hier bin ich. Er kommt und sieht mich nicht. Nur ein Blatt liegt da. Er hebt es auf. Seine Hände wärmen mich, da erkennt er mich.

Ich wachte auf, brauchte Zeit, mich zurechtzufinden. Wie warm mir war. Es war schon dunkel. Ich musste doch zur Schicht. Das war’s also, Mone. Wieder klar und vernünftig und ausgeschlafen auch.

Betty hatte schon gewartet. Abendbrot stand auf dem Tisch. Betty zündete Kerzen an, Kerzenlicht mag ich. Blumen auf dem Schränkchen, daneben ein Päckchen. «Jan wollte, dass du es genau zu deinem Geburtstag bekommst, und den Brief hier auch», sagte sie.

Ich schämte mich, Tatsache, ich schämte mich für den verhunzten Tag vor Jan und vor Betty, vor mir selbst auch. Angefangen hatte alles mit dem Sauren. Ich riss den Umschlag auf.

 

«Hallo, Mone! Wenn Du diesen Brief liest, werde ich an Dich denken. Warte einen Augenblick, sei ganz still, dann hörst Du mich. Ich sitze in meiner Stube und sehe zum Fenster raus. Ich sitze immer so, dass ich zum Fenster raussehen kann, wenn ich an Dich denke. Ich weiß, Du magst frische Luft und Wald. Der Wald ist zwar ein Ende weg, unter meinem Fenster ist der Appellplatz mit dem Fahnenkranz, dahinter unser Volleyballplatz. Wenn ich das Fenster öffne, höre ich den Ball aufklatschen, höre die Spieler und Zuschauer. Ab und zu geht auch mal einer vorbei. Ich höre Stiefel auf Asphalt schlagen oder weiche Einlaufschuhe darüberlaufen und hoffe, mich holt keiner, damit ich in Ruhe den Brief schreiben kann.

Mone, ich gratuliere Dir ganz laut, Du musst es hören. Betty sollte Dir den Brief pünktlich um fünfzehn Uhr geben, und das hat sie, wie ich sie kenne. So können wir also zusammen sein, und ich sehe Dir an, was Du für ein Gesicht machst, wie Du Deine Augenbraue hochziehst, weil Du denkst, na, Jan, da hast du dir was ausgedacht. Du wirst vielleicht enttäuscht in den Briefkasten gesehen haben, aber wie könnte ich Dich vergessen, ob mit oder ohne Geburtstag. Ich träume oft von Dir. In der letzten Nacht vor Deinem Geburtstag werde ich Wachdienst haben.

Was rede ich von mir? Wie fühlst Du Dich mit neunzehn?

Vor Dir wird die Torte stehen, ich kenne das, und Kaffee. Das Päckchen wird daliegen. Du weißt noch nicht, was drin ist, hoffentlich gefällt es Dir.

Vor einem Jahr, Mone, hat alles angefangen. Da war ich noch im Dorf und hatte Herzklopfen, wenn ich Dich sah. Herzklopfen habe ich immer noch, wenn ich an Dich denke. In meiner Gruppe habe ich einen, der sagt, das geht vorbei, spätestens, wenn man verheiratet ist. Die Liebe stirbt in der Ehe. Nach zwei Jahren ist man abgestumpft, sagt er, dann ist alles nur noch Gewohnheit. Da ist noch ein anderer mit mir auf der Stube. Der sagt, für die Liebe muss man was tun, jeden Tag, sonst stimmt das mit der Gewohnheit. Wie denkst Du, Mone, werden wir es schaffen?

Erst mal müssen wir durchhalten. Ich freue mich auf den nächsten Urlaub, weil ich mich auf Dich freue.

Du weißt, ich schreibe lange an einem Brief, aber sie werden nicht lang. Ich habe das Gefühl, nur die Hälfte von dem geschrieben zu haben, was ich Dir alles sagen wollte.»

 

Ich hatte wirklich Grund, mich zu schämen. Er hatte mir gratuliert, als ich vor der Tür saß und schlief. Er hatte sich alles schon ausgedacht, und ich verpatzte alles mal wieder. Aber, was er geschrieben hat, das von der Liebe, das fand ich gut. Darüber wollte ich nachdenken. Aus dem Päckchen holte ich einen Pulli, im grellen Rot, bunt bestickt. Schockfarben stehen mir. Ich probierte ihn über, stand vor Bettys Frisierkommode mit dem neuen Klappspiegel, in dem ich nicht mal meinen Kopf sah. War sie denn um so viel kleiner? Ich musste mich bücken. Der Pulli saß, einer aus Polen oder Ungarn. Nur dicker kam ich mir vor. Dabei wollte ich schmal sein, wie vor Jahren. Ich fand enge Jeans dufte, mit Hemdblusen getragen. Blousons standen mir — und solche Pullis.

Nach dem Abendbrot fing Betty an zu erzählen, natürlich von Jan. «Als Jan klein war, war alles anders. So ein Kind, das kann einen stark machen. Da denkt man nicht daran, dass es mal seinen eigenen Weg geht. Die Leute kümmerten mich nicht. Hättest mal Adele hören sollen, zusammen mit der Kulpke, da blieb ich auch nicht fein. Das wichtigste für mich war der Junge, sollten sie tratschen. Jan sieht aus wie der Bürgermeister, das möchten sie. Solange Jan da war, hatte alles einen Sinn. Als er größer wurde, hatte ich immer Angst, er könnte fortgehen. Vielleicht war es falsch, ihn im Forst unterzubringen. Ich dachte, da ist er wenigstens nicht aus dem Haus, nur die paar Wochen Berufsschule. Er wollte immer was mit Technik zu tun haben, deshalb ist er weg, gleich so lange, sonst würde er im Frühjahr wieder zurückkommen. Ich habe ihn wohl selbst vertrieben.»

So kannte ich Betty noch nicht. Die ist immer obenauf, nie ganz unten, so richtig fertig, dachte ich. Aber jetzt konnte ich mir das vorstellen.

 

Ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr. Ich habe getan, was ich konnte. Es reicht nicht. Was habe ich falsch gemacht, was hat sie falsch gemacht? Darüber will ich nicht länger nachdenken. Alles ist sinnlos. Es gibt keinen Ausweg. Ich könnte die Flasche leer trinken, mich in mein Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen. Trinken, vergessen, einschlafen.

«Alkohol ist keine Lösung», sagte Betty.

Manchmal schon, Betty, manchmal löst er, was mich erdrücken will. Nur heute nicht. Meine Zunge schwillt an wie nach einem Wespenstich.

Jetzt sitzt du wieder bei Muttern. Das musste so enden, wir haben’s immer gewusst, es wäre nicht nötig gewesen, sie hat dich reingelegt mit dem Kind, du kommst drüber weg, zahlen, natürlich, erst mal. zur Ruhe kommen, Zeit heilt, du musst nur wollen.

Und wenn nicht, wenn da einer sitzt und nicht mehr will?

«Junge», sagt Betty. Ihre Stimme ist kraftlos wie der Schatten, der auf mich fällt, über mein Gesicht tastet.

«Junge.» Der Schatten krümmt sich, wellt sich, fliegt leicht gegen die Decke, als ein Moped vorbeifährt. Ehe er sich wieder senkt, fallen Tropfen auf mein Hemd.

Guck hoch, Jan! Warmer Regen ist schön, nicht? Lass ihn über dein Gesicht rinnen. Ich fühle mich wie Erde. Aus mir wachsen Träume und steigen auf. Guck doch hoch, Jan, wir fliegen mit!

Die Pfütze, Mone!

«Ich werde sie holen», sagt Betty.

«Bleib hier. Sie weiß, wo ich bin.»

«Von allein kommt sie nicht, nicht Mone.»

Der Schatten liegt breit auf dem Tisch. Die Nase, vom Tischläufer zerfranst, die Kinnspitze sticht in den Teppich.

Jan, ziehen wir die Schuhe aus, damit wir keine Löcher in unseren Himmel treten. Auch nicht barfuß auf die Sterne. Jan, lass sie schwimmen. Halt mich fest! Du bist noch so weit, und sie sind so rot heute und wärmen meinen Rücken. Jan, warum hängt die Erde so bleich an der Decke?

Sei still, Mone, ich muss das alles vergessen! Ich weiß nicht weiter, Mone, das müsste ich doch. Ich war wütend, weil du dir nichts sagen lässt und weil du wegen Betty gleich verrückt spielst. Aber der Schreck! Warum denkst du denn so was? Wenn das so ist, da wage ich nicht, dich anzurühren, da muss ich gehen. Dabei war alles mal schön mit uns.

«Einer muss den ersten Schritt machen», sagt Betty.

Weißt du noch, Mone, als ich Herzklopfen kriegte, wenn du da warst. Und du hast getan, als merktest du nichts, hast mir den Rücken zugedreht. Und ich hätte dich so gern berührt. Ich musste meine Hände in den Hosentaschen festhalten. Und Betty sagte dann immer: Jan, du Flegel! Was weiß Betty schon von mir?

2. Kapitel

Als ich ins Dorf kam, war ich froh, endlich allein zu sein. Am Morgen wurde ich aus dem Werkhof entlassen und heulte, als ich mich von den anderen verabschiedete. Warum? Keine Ahnung. Wir sangen noch meine Lieblingslieder, von dem Schicksal, das jedem Menschen vorbestimmt ist, und den Freunden, die sich nie ade sagen. In Wirklichkeit gibt es solche Freunde nicht, ich kenne jedenfalls keine. Dann lagen wir uns in den Armen, vergaßen Streit, den es oft um Punktzahl beim Bettenbau, um Sirupstullen zum Abendbrot, ums Tisch-Abwischen oder Aschenbecher-Leeren gab. Sie steckten mir Andenken in die Tasche, einen Kuli, ein Schaumgummikissen, einen Stoffhund, ein Tagebuch, einen Tabakbeutel. Der Erzieher war froh, als ich endlich im Büro stand und die Papiere einpackte. Er sagte etwas von Verantwortung, die ich jetzt selbst für alles trage, sprach von Bewährung im Leben. Das hörte sich an wie das Pass-auf-wenn-du-über-die-Straße-gehst. In Wirklichkeit dachte der, die hält das keine Woche aus. Die Na-Und war anders. Sie sagte: «Schreib mal», und bei ihr fiel es mir schwer, so zu tun, als ob mir die Entlassung egal wäre. Die würden sich alle wundern! Lange hatte ich auf diesen Moment gewartet, hatte die Tage im Kalender rot abgestrichen und gezählt, die Extratour bei der letzten Disco bekommen, in der FDJ-Versammlung von meinen Plänen gesprochen, von dem Zimmer irgendwo in einem Dorf, dass ich immer arbeiten werde. Es waren Jappsens Pläne, man musste sehen!

Noch vor ein paar Monaten hätte ich gesagt, dass ich zu Kralle ziehe. Ich dachte nämlich, das wäre der Richtige. Er gefiel mir schon, als ich ihn zum ersten Mal sah. Wir standen alle im Schulkorridor, und die meisten rauchten.

«Wenn dich der Qualm stört, drehe ich mich um», sagte er zu Janka neben mir. «Ich weiß, das Kraut stinkt scheußlich.» Janka schüttelte den Kopf, und sie sahen sich an, dass mir heiß wurde. Dabei war Janka nur scharf auf seine Karo oder auf ein paar Züge wenigstens. Ich kannte sie doch, und es gefiel mir nicht, dass er nur sie sah.

Da holte einer seine verfilzten Socken aus der Hosentasche und hielt sie Janka unter die Nase. Sie prallte zurück und gegen den Pfeiler. Die Jungs lachten, wir hielten uns die Nase zu. Dann schrien wir auf. Kralle schlug zu. Blut tropfte aus einer Nase auf seine geputzten Schuhe. Bevor er mit dem Lehrer ging, rieb er sie blank und drückte Janka ein sauberes Taschentuch in die Hand.

Ein toller Kerl, aber es war schwer, an ihn ranzukommen. Ich mogelte Briefe in seine Zelle, wusch ihm die Hemden, als er wieder draußen war, und bügelte seine Hosen, darin war er genau. Zur Disco tanzte er dann mit keiner anderen. Sie beneideten mich um ihn. Was war davon geblieben? Nur unsere Namen standen noch mit Kuli in Schulbüchern, auf Bänken, mit Kreide an Dachbalken und im Putz vom Waschraum gekratzt, so oft wird nicht renoviert. Nach ihm habe ich keinen mehr gehabt. Dabei dachten viele wie der Erzieher, als ich mich in der Versammlung verabschiedete, dass ich es ohne Freund nicht lange aushalten würde und nicht lange bei demselben bleiben könnte. Es würde sich zeigen.

Beim Bettwäschetausch habe ich weißes Entlasser-Bettzeug bekommen, die bunten Bezüge lagen griffbereit für meinen Nachfolger. Ich schlief in Weiß der Entlassung entgegen. Später würde ich mir nur weiße Wäsche kaufen.

Der Erzieher schloss hinter mir ab. Nun stand ich vorm Haus und wusste auf einmal nicht mehr weiter. Dabei bin ich oft umgezogen. Das war immer anders. Da wurde ich in ein Auto gesetzt und hingebracht. Heime sind sich alle ähnlich. Da kannte ich mich aus, wusste, was der Erzieher darf und was nicht, dass ich mich beim Heimleiter beschweren kann oder bei Jappsen, meinem Jugendfürsorger. Jappsen war auch so einer, der mir nichts zutraute. Das ärgerte mich. Dem konnte ich nicht mit einer Beschwerde oder mit Durchbrennen drohen, bei dem half auch nicht, sich an der Pulsader zu kratzen, alles zu versprechen oder zu bereuen. Der ließ sich nichts vormachen. Das machte mich verrückt. Ich wusste, was der von mir dachte: Heimkind! Ein hoffnungsloser Fall war ich für den, viel Arbeit. Für andere Leute waren Heimkinder solche, die bedauert werden mussten. Das merkte ich sogar, wenn ich auf Tramp war. Das fand ich schön und erfand für sie ganz schlimme Geschichten.

Ich stand auf der Straße. Hinter mir hingen sie an den Fenstern. Mir fehlte der richtige Abgang. Ich stellte mich unter die Außenbeleuchtung und malte mich an. Dann warf ich den Mädchen meine Kosmetiktasche zu, in die ich zehn Mark gequetscht hatte.

Durch die Stadt ging ich langsam, sah in Wohnzimmer und auf ungemachte Betten, sah Frauen Wäsche aufhängen und Kinder mit Schulmappen vor mir laufen. Die konnten mir leid tun. Den ganzen Tag in der Schule hocken. Ich hatte Zeit. Keiner rief «Geh weiter, geh schneller, aufrücken, bleibt zusammen!» Ich konnte auffallen, ich wollte auffallen, stehen bleiben und rufen, Leute, ich bin achtzehn und mein eigener Herr. Ich lachte den Fahrern zu, die nach mir hupten, und grüßte alle Leute. Aber wie weiter?

Ich könnte in das Dorf fahren, wo Jappsen mir ein Zimmer und Arbeit besorgt hatte. Die Na-Und sagte was von Glück und schöner Gegend. Aber mir hatte keiner mehr was zu sagen, nicht mal Jappsen, das war jetzt vorbei. Als ich die Fahrkarte holte, hielt ich den Antrag so, dass keiner den Werkhofstempel sehen konnte. Die Leute tippten bei mir wohl auf Urlaub. Dabei war ich von hier aus nie in Urlaub gefahren. Kralle hatte mir bei seiner Entlassung versprochen, sich darum zu kümmern. Wir wollten zusammenbleiben. Aber er hat nicht einmal geschrieben. Ich pfeif’ auf ihn, überhaupt auf Männer. Die wollen alle das gleiche. Janka hat mir viel erzählt.

«Wenn mein Alter hinterm Lenkrad saß und ein Mädchen sah, war der schon weg. Da konnte ich in aller Ruhe ein paar Lunten hochziehen, merkte der nie.»

Wenn Janka hier wäre, dachte ich, die hatte immer gute Einfälle. Mich störte, dass sie wussten, woher ich kam. Männer auf dem Bahnsteig musterten mich. Auf der Toilette rieb ich mir die Farbe aus dem Gesicht. lch hörte den Zug einfahren, Bremsen kreischen, Türen klappen, dazwischen den Lautsprecher. Ich wischte noch mal über meine Augen, verschmierte Wimperntusche mit Lidschatten und stürzte los. Rein in den Zug. Ich fand einen Platz, dann rollten wir aus dem Bahnhof. War ich hier überhaupt richtig? Ich fragte andere, wurde ruhig, sah nicht mal zurück. Zweimal stieg ich um, zuletzt in die Kleinbahn. Die Fenster beschlugen. Ich wischte sie frei. Einzelne Gehöfte, in Baumgruppen versteckt, tauchten auf, eine Putenfarm, Felder, dann erste Hänge, bunt wie Teppiche. Du kannst denken, du sitzt auf einer Bank, alles um dich her bewegt sich Telegrafenmasten laufen über Felder, in den Wald, und die Bäume bewegen sich, Häuser fliegen auf dich zu, dass du dich fest auf die Bank drückst. Wie im Film ist das. Du bist die Heldin, noch unbekannt; aber einer würde dich entdecken, dich, das Heimkind. Das waren Träume. Ich dachte, es wäre schön, so etwas zu glauben.