Inhalt

Hong Kil Tong

Der Hase und die Schildkröte

Die Meeresbraut

Die verzauberte Weinflasche oder warum Hund und Katze einander feind sind

Des Schwalbenkönigs Lohn

Die Liebe der Sterne

Impressum

ELISABETH HERING

HONG KIL TONG


Und andere Märchen - frei nach koreanischen Motiven

Mit Zeichnungen von Annemarie Hoerisch

HONG KIL TONG

Im Lande Korea lebte zur Zeit des dritten Königs ein Mann aus der berühmten Familie Hong. Er war ein Minister und führte deshalb den Titel eines Pansa. Auch seine Frau stammte aus einer angesehenen Familie, und er hatte außerdem noch mehrere Nebenfrauen, wie es damals in vielen Ländern des Ostens besonders bei den reichen Männern Sitte war.

Eines Tages hatte Hong Pansa einen sonderbaren Traum. Ihm träumte, ein großer Drache flöge in das Zimmer und fülle es ganz aus, sodass er selber keinen Raum mehr darin habe. Als er aufwachte, war er sehr froh, weil er wusste, dass der Traum von einem Drachen Glück bedeutet. Und richtig, es vergingen auch nur wenige Tage, da gebar ihm eine seiner Nebenfrauen einen Sohn. Hong Pansa betrachtete den Neugeborenen lange, und er sah, dass er außergewöhnlich schön war. Ebenmäßig war sein Gesichtchen, weich und zart die Haut, kräftig und wohlgebildet die Gliedmaßen, sodass alle, die ihn sahen, ihre Freude an ihm hatten. Und doch mischte sich in diese Freude des Vaters ein Kummer. »Ach«, dachte er, »warum hat mir eine Nebenfrau diesen Knaben geboren und nicht meine erste Gattin? Dann könnte er mein Amt erben, und ich würde viel Ehre mit ihm einlegen. So aber sind ihm nach dem Gesetz alle hohen Ämter verschlossen!«

Der Knabe erhielt den Namen Kil Tong, und da er zur Familie der Hong gehörte, hieß er also Hong Kil Tong.

Die erste Gattin Hong Pansas hatte auch zwei Söhne. Sie waren mit Kil Tong nicht zu vergleichen. Denn dieser entwickelte sich zu einem überaus schönen und zugleich auch sehr klugen und kräftigen Knaben. Er überflügelte seine Brüder bald, und als sie unterrichtet wurden, war er allen voran. Keiner malte die Schriftzeichen so schön mit Tusche und Pinsel, keiner lernte so schnell die chinesische Sprache, und keiner machte so gute Aufsätze wie Kil Tong. Doch es nützte ihm wenig. Seine Brüder waren die rechtmäßigen Söhne, er aber nur der Sohn einer Nebenfrau. Sie ließen es ihn spüren, wo sie nur immer konnten, weil sie ihn beneideten und ihn kränken wollten. Er durfte nicht mitgehen, wenn sie an den Gräbern der Ahnen beteten und ihnen opferten, er durfte seinen Vater nicht Vater nennen, sondern er musste ihn mit seinem Titel ansprechen, und er durfte nicht mit den Brüdern speisen, sondern sein Platz war bei den Dienern. Zu all dem kam, dass sie ihn deswegen auslachten und verspotteten. Das kränkte sein empfindliches Herz sehr. Einst hatte er im Unterricht wieder höhnische Worte von ihnen zu hören bekommen. Stumm und verbittert hockte er auf dem nackten Fußboden und hatte sein Schreibtäfelchen vor sich auf den Knien, während vor jedem seiner Brüder, die auf schönen Matten saßen, ein zierliches Pult stand, auf dem Bücher und Schreibzeug lagen. Der Lehrer stellte eine schwierige Frage. Die Brüder schwiegen. »Nun, Kil Tong?« wandte sich der Lehrer an den Knaben, der finster zu Boden blickte.

Da stand Kil Tong auf. Er sah dem Lehrer ins Gesicht. Trotzig blitzten seine schwarzen Augen: »Ich weiß die Antwort wohl, aber ich sage sie nicht«, erwiderte er, »denn was nützte es mir, wenn ich zehnmal so viel wüsste wie meine Brüder? Sie werden dennoch Beamte werden und angesehene Stellen erhalten, und ich werde nicht einmal zu einer Prüfung zugelassen.« Er stürzte sich auf die Brüder und warf ihnen die Lesepulte um, sodass Bücher, Pinsel und Tusche zu Boden fielen. »Ich bin es satt«, schrie er, »mich quälen zu lassen! Ich werde ein Kämpfer und will mir die Achtung erfechten, die man mir hier verweigert!«

In der Nacht war heller Mondschein. Kil Tong nahm einen Degen und ging in den Hof, um sich im Fechten zu üben. Hong Pansa sah zum Fenster hinaus, erblickte seinen Sohn und wunderte sich über sein Treiben. Er trat zu ihm und fragte ihn, was das bedeuten solle. »Ich bereite mich für mein Leben vor«, antwortete Kil Tong, »denn ich kann die Ungerechtigkeiten nicht länger ertragen, denen ich in deinem Hause ausgesetzt bin. Auf der Erde ist sicherlich Raum und Sonne für jeden Menschen, aber ich denke mir, dass das Geschick nur denen hilft, die sich selber helfen wollen.«

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Als der Vater die Entschlossenheit und den Mut seines Sohnes sah, war er tief ergriffen. »Welch ein Jammer«, dachte er wieder, »dass Kil nicht mein anerkanntes Kind ist. Wie weit würde er es dann bringen, und wie würde mich jeder um einen solchen Sohn beneiden!« Er legte seine Hand auf des Knaben Schulter: »Kil Tong«, sagte er weich, »es ist schon spät, du musst jetzt schlafen gehn.« — »Ich kann nicht schlafen«, gab der Knabe traurig zurück, »denn wenn ich mich niederlege, rinnen mir die ganze Nacht die Tränen über die Wangen vor Schmerz über die Kränkungen, die ich erdulde.« Da wandte sich der Vater bekümmert ab und ging zurück ins Haus.

Seit dieser Zeit hatte Hong Pansa den jungen Kil Tong besonders lieb. Er freute sich, wenn der Lehrer ihn lobte, und es verging kaum ein Tag, an dem dieser nicht etwas Anerkennendes über Kil Tong sagte. Das ärgerte aber Hong Pansas gesetzmäßige Gattin und die andern Nebenfrauen von Tag zu Tag immer mehr, und alle hassten Kil Tong, weil Hong Pansa ihre eigenen Kinder nicht so lieb hatte, wie diesen Sohn.

Nun lebte im selben Orte eine Moh Tang, eine Zauberin, der klagten die Frauen ihre Not und baten sie um Hilfe. »Schaff uns den Knaben aus dem Hause«, sagten sie, »wir wollen es dir reichlich vergüten.« — »Das ist mir ein Leichtes«, antwortete das boshafte Weib, und die Frauen führten sie darauf in ihr Haus.

»Was willst du?« fragte Hong Pansa erstaunt, als er die Alte erblickte. — »Ich habe so viel von deinem Kil Tong gehört«, sagte die listige Moh Tang, »und da möchte ich einmal in den Linien seiner Hand lesen, ob ich ihm eine glückliche Zukunft Voraussagen kann.«

Hong Pansa ließ Kil Tong rufen. Die Alte ging feierlich auf den Knaben zu, verbeugte sich tief vor ihm und sagte zu Hong Pansa: »Ich bitte dich, schicke alle fremden Leute aus dem Zimmer!« Nachdem sich die Diener und die Sklavinnen entfernt hatten und Hong Pansa mit seinen Frauen und Kil Tong allein geblieben war, sagte die Moh Tang zu dem Knaben: »Ich lese Glück und große Erfolge in den Linien deiner Hand. Du wirst ein großer Herr werden — zwar kein König, und doch mächtiger als ein König. Aber«, fuhr sie zu Hong Pansa gewendet fort, »über dich und deine Familie wird dieser Knabe Not und Kummer bringen, und er wird euch zuletzt töten, um der Ungerechtigkeiten willen, die er in seiner Jugend erdulden musste.«

Diese Worte der listigen bösen Alten schnitten Hong Pansa ins Herz wie ein scharfes Schwert. Er fürchtete Unglück durch den Knaben und ließ ihn deshalb einsperren und streng bewachen. Tag und Nacht war nun der Unglückliche allein und seinem Kummer und seiner Verzweiflung preisgegeben. Nicht einmal seine Mutter, die er so innig liebte, ließ man zu ihm, sein Vater aber schämte sich vor sich selber, ihn zu besuchen und ihm Rede und Antwort zu stehen. Nur einen einzigen Trost gewährte man Kil Tong: Man gab ihm Bücher. Darin las er Tag und Nacht, und oft gelang es ihm, in seiner Zelle sein Elend zu vergessen.

Ein Buch war ihm besonders lieb. Es war eine uralte chinesische Sternkunde. Daraus lernte er, die Zukunft zu deuten und Gewalt über die Dämonen zu erlangen. Und nun bereitete er seine Flucht vor.

Unterdes lag Hong Pansas Gattin ihrem Manne täglich in den Ohren. »So lange Kil Tong lebt«, sagte sie, »habe ich keine ruhige Stunde. Wie leicht könnte er seinem Gefängnis entfliehen und über dich und uns alle Kummer und Unglück bringen!« Auch die anderen Nebenfrauen bestürmten ihn, Kil Tong müsse sterben. Schließlich konnte Hong Pansa das ewige Quälen nicht mehr ertragen. Dazu hatte sich auch in seinem eigenen Herzen die Furcht vor Kil Tong eingenistet. So rief er eines Tages seine Diener herbei und befahl ihnen, den Knaben zu töten. Kaum aber hatte er die verhängnisvollen Worte ausgesprochen, da befiel ihn ein Krampf. Er musste auf sein Lager gebettet werden. »Das ist die Strafe für meine große Sünde«, sagte sich Hong Pansa, und er widerrief in aller Eile den Mordbefehl.

Doch die Krankheit wollte nicht weichen. Alle Arzneien machten Hong Pansa nicht wieder gesund. Die Moh Tang wurde gerufen. Sie ließ die Trommeln schlagen, Zaubertänze aufführen, vergeblich. »Siehst du«, sagte seine Gattin, »an dieser Krankheit ist nur Kil Tong schuld. Er hat dich verhext. Solange er lebt, wirst du nicht wieder gesund.«

Da ließ sich Hong Pansa von seinem bösen Weib zum zweiten Mal überreden, Mörder in Kil Tongs Gefängnis zu schicken. Aber diese Männer hatten Angst vor dem Knaben, und die alte Zauberin musste vor ihnen hergehen, um ihnen Mut zu machen.

Kil Tong stand am vergitterten Fenster seiner Zelle und sah über die weite Ebene hin bis zu den fernen Gipfeln der südlichen Gebirge. Doch das schöne Bild konnte sein Herz nicht trösten, das vor Verzweiflung krank war. In seiner Seele brannte die Ungerechtigkeit der Welt. »Warum«, dachte er, »gibt es Arme und Reiche? Warum gibt es Menschen, die täglich bis zur Erschöpfung arbeiten müssen, und Menschen, die nichts tun und sich zum Vergnügen in ihren Sänften tragen lassen? Und warum erlaubt das Gesetz den Männern, sich Nebenfrauen zu halten, und gewährt den Kindern dieser Frauen nicht dieselben Rechte, die die Kinder der ersten Gattin haben?«

Auf den Baum, der vor seinem Fenster stand, setzte sich eine Krähe und krächzte. »Weißt du mir Antwort, du dunkler Vogel«, fragte Kil Tong, »oder verkündest du mir neues Unheil?« Und bange Ahnungen erfüllten sein Herz.

Auf einmal tat sich die Tür auf, und herein stürzten die Mörder. Voran die Moh Tang, die böse Zauberin. Da ließ die drohende Gefahr in Kil Tong die aus dem Buche chinesischer Weisheit erworbenen Kräfte erwachen, und er stellte sie den Mördern entgegen.

Diese staunten nicht wenig, als sie sich plötzlich in einer Felsenhöhle befanden und sich gegenseitig verwundet, statt des Knaben aber die Moh Tang erschlagen hatten. Ein mächtiger Sturm schleuderte Felsblöcke rings in die Luft wie Spielbälle von Kindern. Die Mörder wurden zu Boden geworfen und fürchteten, ihre letzte Stunde sei gekommen.

Da erschien vor dem Eingang der Höhle ein wunderschöner Jüngling. Überirdische Musik erklang — und der Sturm legte sich. Die Männer blickten auf und erkannten Kil Tong. Bestürzt flehten sie um Gnade. »Legt eure Waffen nieder«, rief er, »und schwört mir, nie wieder einem Menschen nach dem Leben zu trachten!« Zitternd gehorchten sie. »Wehe euch, wenn ihr euren Schwur nicht haltet«, sagte er noch, »denn ich würde es sofort erfahren, und ihr wäret des Todes.« Damit verließ er sie.

Kil Tong ritt nun auf einem Esel nach seiner Vaterstadt. Hong Pansa erschrak in seinem tiefsten Herzen, als er den Knaben an sein Krankenlager treten sah, denn er glaubte, der Geist des Ermordeten käme, an ihm Rache zu nehmen. Aber Kil Tong sprach freundlich: »Fürchte dich nicht, mein Vater! Was du mir Böses getan hast, verzeihe ich dir. Ich bin nicht gekommen, um zu vergelten, sondern um dir zu helfen und dich gesund zu machen.« Er gab ihm eine Arznei, und kaum hatte Hong Pansa einige Tropfen davon genommen, so konnte er sich erheben und war gesund. Er umarmte seinen Sohn und sagte: »Wie danke ich dem Himmel, dass er dich bewahrt hat.« Und Tränen standen in seinen Augen.

Im Hause seines Vaters wollte Kil Tong nicht bleiben. Er nahm Abschied von seinen Eltern und begab sich auf die Reise. Nach Süden nahm er seinen Weg. Dort, wo die hohen Felsen in den Himmel ragen, suchte er die Einsamkeit, denn er wollte den Menschen und ihren ungerechten Gesetzen entfliehen.

Viele Tiger gab es in jenen Bergen, aber Kil Tong fürchtete sie nicht. Er streifte tagelang auf ihrer Fährte durch das Gebirge — doch es war, als ob die Tiger seine Ankunft gewittert hätten und angstvoll vor ihm geflohen wären. Er bekam keinen Einzigen zu Gesicht.

Als er die steilen Felsenpfade immer höher und höher hinanklomm, sah er plötzlich ein großes Tor vor sich, das augenscheinlich von Menschenhand in die Bergwand gehauen worden war. Voller Neugier schritt Kil Tong hindurch. Auf der anderen Seite öffnete sich vor seinen Augen ein Tal, rings von unübersteigbaren Felsen eingeschlossen. Pferde tummelten sich darin, und bewaffnete Männer waren mit den Tieren beschäftigt. Kaum hatten sie Kil Tong bemerkt, als sie schon herzueilten und ihn umringten. »Wer bist du?« herrschten sie ihn an. — »Ich heiße Kil Tong«, antwortete er unerschrocken, »und bin Hong Pansas Sohn. Die Ungerechtigkeit der Menschen hat mich in die Einsamkeit getrieben, und ich hätte nie erwartet, hier in den wilden Bergen menschliche Gesellschaft zu finden.

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Wer aber seid ihr?« — »Man nennt uns Räuber«, antwortete der Anführer der Schar, »aber wir rauben nur von den Reichen. Wir nehmen den Beamten, die das arme Volk aussaugen, ihr Blutgeld wieder ab; den Armen und Unterdrückten helfen wir, wo wir können. Niemand weiß, wo wir hausen. Wenn ein Mensch dieses Felsental betritt, darf er es nicht lebend verlassen, er sei denn einer der Unsern geworden. Das erfordert unsere Sicherheit. Wir können aber nur Männer gebrauchen, die stark und kühn sind. Kannst du Proben von Mut und Tapferkeit ablegen, so wollen wir dich als Kameraden behalten, wenn nicht, so musst du sterben.«

Freudig ging Kil Tong darauf ein. Auf einem riesigen Felsblock lagen einige Männer und schliefen. Da brach ihn Kil Tong aus dem Grund und schleuderte ihn zum Erstaunen aller hoch in die Luft. Die Männer wurden unsanft aus dem Schlafe geweckt, und als sie sich auf dem Boden kugelten, entstand ein allgemeines fröhliches Gelächter.

Die Räuber waren froh, einen solchen Genossen gefunden zu haben. Sie bereiteten Kil Tong zu Ehren ein großes Festmahl, und als sie gegessen und getrunken hatten, schlossen sie mit ihm einen Pakt, den sie alle mit ihrem Blute besiegelten. Kil Tong aber brannte darauf, den Gefährten auch Proben seines Mutes zu geben.

Die Gelegenheit dazu bot sich bald. In der Nähe des Felsentales stand ein großer Buddhistentempel und daneben ein Kloster. Die Mönche aber waren in der ganzen Gegend verhasst, denn sie steckten mit betrügerischen Beamten unter einer Decke; im Namen Buddhas beuteten sie das arme Volk aus. Sie hielten im Tempel geheime Gastgelage und Schlemmereien ab, zusammen mit den Beamten, und dafür drückten diese die Augen zu, wenn sich die Mönche mit ihren schamlosen Erpressungen am armen Volke bereicherten.

Die Räuber hatten schon oft versucht, in den Tempel einzudringen und sich der zusammengerafften Reichtümer zu bemächtigen, aber umsonst. Das Kloster war stark befestigt, und die Mönche argwöhnisch und wachsam. Es war ihnen deshalb nicht beizukommen.

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