ELISABETH HERING

Sagen und Märchen von Donau und Rhein


Illustrationen: Kurt Eichler

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Inhalt

Das Schratl

Der Fischer und die Donaunixe

Die feindlichen Brüder

Die dicke Agnes

Der stille Stein

Agnes Bernauer

Der Geist mit dem Grenzstein

Der Königssohn und der Wassermann

Das starke Geschlecht

Der Möringer

Der dumme Hansl

Die bestrafte Prinzessin

Die Basler Turmuhr

Der steinerne Ritter

Die Schlangenjungfrau

Das Straßburger Schützenfest und der Züricher Brei

Meister Erwin

Die Straßburger Münsterruhe

Im Münsterschatten

Im Wispertal

Die Teufelsleiter

Der Binger Mäuseturm

Loreley

Der Bauer und der Abt

Der Kölner Dom

Die Solinger Klingen

Der Schwanenritter

Kaiser Karls Geburt

Kaiser Karl und Elbegast

Hildegard und Taland

Der Schlangenring

Die Freundesprobe

Das Schratl

Vor langer Zeit lebte auf einem Schloss im Donautal ein reicher Jüngling mit Namen Julius. Er hatte von seinem verstorbenen Vater ein großes Vermögen geerbt. So wusste er nicht, was arbeiten heißt, und lebte in den Tag hinein, ohne auch nur einen Finger zu rühren.

Am Morgen, wenn er aufwachte, läutete er, und schon kam sein Kammerdiener und brachte ihm das Frühstück ans Bett. Während er aß, holte der Diener warmes Wasser zum Waschen, dann legte er seinem Herrn kostbare Kleider an, und niemals musste Julius sich auch nur einen Schuh selbst zuschnüren oder eine Weste knöpfeln.

Wenn er dann angekleidet war, verneigte sich der Diener und verließ das Zimmer. Und Herr Julius setzte sich in einen bequemen Lehnstuhl oder trat ans Fenster und sah in die Landschaft hinaus. Ein schönes Bild bot sich ihm dar: Sein Schloss stand auf einer Anhöhe, von wo aus er über die bunten Blumenbeete seines Gartens auf das breite Bett des Stromes sehen konnte und auf die bewaldeten Berge, die sich am jenseitigen Ufer erhoben. Aber selbst wenn der Sonnenschein auf den Wellen der Donau tanzte und die Vögel im Garten um die Wette sangen, war Herr Julius nicht fröhlich, denn er langweilte sich.

Was sollte er tun? Sollte er spazieren fahren? Gewiss, es hätte nur eines Winkes bedurft, und gleich wäre eine Kutsche für ihn angespannt worden. Aber wollte er denn? Er kannte längst alle Dörfer und Städte in der Umgebung, kannte die Aussicht von jedem der Berge ringsum — und nichts davon lockte ihn mehr.

Oder sollte er lesen? Herr Julius besaß in seinem Schloss eine Bibliothek mit unzähligen alten und neuen Büchern, aber es machte ihm längst keinen Spaß mehr, darin zu blättern. Wozu all das Wissen in sich aufnehmen? Er wusste ja doch nicht, was er damit anfangen sollte!

Vielleicht wäre es am besten, sich Gäste einzuladen? Er hatte eine Menge von Bekannten, die er zu sich hätte bitten können, um mit ihnen Feste zu feiern und bei reichlichem Essen und Trinken seine schlechte Laune zu vergessen. Aber nur mit Widerwillen dachte er an all die oberflächlichen Gespräche, die er so oft hatte mit anhören müssen, an die vielen zweifelhaften Späße, über die er nicht hatte lachen können — nein, er wollte von alldem nichts wissen! Nicht Gäste einladen, und nicht sich selbst zu Gaste laden lassen!

Oft schon hatte man ihm zugeredet, zu heiraten. Aber davor scheute er sich ganz besonders. Konnte er denn jemals wissen, ob eine Frau, die vorgab, ihn zu lieben, es nicht nur auf seinen Reichtum abgesehen hatte?

So stand Herr Julius eines Tages wieder am Fenster und hing seinen trüben Gedanken nach. Endlich aber ging er mit langsamen Schritten aus seinem Zimmer, schritt die breite Schlosstreppe hinunter und wanderte ohne Zweck und Ziel die Gartenwege entlang. Ohne es zu merken, kam er dabei immer mehr ab von den schön gepflegten Anlagen, wo die Springbrunnen ihre Wasserkünste zeigten und Marmorstatuen auf dem kurzgehaltenen Rasen standen, und plötzlich befand er sich in einem abgelegenen Winkel, den selten ein Mensch betrat. Keine Blume wuchs hier unter den hohen Bäumen, deren dichte Kronen kaum einen Sonnenstrahl bis zum feuchten Boden dringen ließen. Doch im Hintergrund rankte sich an einem alten Gemäuer Efeu empor.

Plötzlich hörte Herr Julius eine feine Stimme, die deutlich seinen Namen rief. Erstaunt blickte er sich um, konnte aber niemanden entdecken. »Wo bist du denn, der du mich rufst?« fragte er. Da wimmerte das Stimmchen:

»Hier bin ich, hier bin ich,

im Kästchen steck ich,

zwischen den Steinen,

es ist zum Weinen!«

Der Schlossherr ging zu dem Mauerwinkel, aus dem die Stimme zu dringen schien, nahm einen dürren Ast vom Boden auf und schob den Efeu auseinander. Und richtig, zwischen den Steinen eingemauert fand er ein Kästchen, löste es sorgfältig heraus und hörte nun noch deutlicher:

»Hier bin ich, hier bin ich,

befrei mich, ich bitt dich!«

»Erst muss ich wissen, wer du bist!« sagte Herr Julius.

Da antwortete es aus dem Kästchen: »Ein Schratl bin ich. Und böse, undankbare Menschen haben mich vor hundert Jahren hier eingesperrt. Mache mich frei, ich will es dir reichlich lohnen!«

Der Schlossherr hatte schon oft von den kleinen Kobolden erzählen hören, von denen man sagt, dass sie den Menschen sowohl Hilfe leisten als auch manchen Schabernack spielen, und er verspürte große Lust, einmal einen von ihnen leibhaftig vor sich zu sehen. Deshalb brach er das morsche Holz des Kästchens auseinander.

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Da tat das Schratl einen mächtigen Satz an ihm vorüber, sprang auf einen Baumast, dehnte und reckte sich und schüttelte seine Glieder, bis es, das zuerst klein wie ein Mäuschen gewesen war, die Größe einer Elle erreicht hatte. Dann setzte es sich rittlings auf den Ast, schlenkerte mit den Beinen und blinzelte den Verdutzten aus listigen Augen an. Es war ganz in altmodische Tracht gekleidet, trug ein rotes Wams, gelbe Hosen, ein schwarzes, spitzes Hütlein mit einem wehenden Federbusch, und an der rechten Seite hing ihm ein Lederbeutel, auf den es mit der Hand schlug, dass die Geldstücke darin klimperten.

»Wünsche dir, was du haben willst!« sagte das Schratl zu Julius. »Geld kann ich dir geben, soviel du magst!« — »Davon habe ich genug!« antwortete der Schlossherr. »Wenn du mir nichts Besseres bieten kannst. — »So willst du vielleicht Wissenschaft?« fragte der Kleine. — »Wissenschaft?« Julius machte eine abweisende Handbewegung. — »Dann Ruhm und Ehre?« — »Ruhm und Ehre ist für Geld feil. Wer das eine hat, der braucht sich um das andere kaum noch zu mühen!«

Das Schratl zog ein nachdenkliches Gesicht. »Wenn du verschmähst, was ich dir anbiete«, sagte es, »dann musst du dir selbst wünschen, was du haben willst!«

Lange überlegte Herr Julius. Endlich sprach er: »Sag, du kleiner Mann, kannst du mich zu einem andern machen, als der ich bin?« — »Wie sollte ich nicht?« erwiderte das Schratl. »Auf der Stelle kann ich dich verwandeln, in wen immer du willst!«

Da war der reiche Mann zum ersten Mal seit Jahren wirklich froh, denn er hatte sein inhaltsloses Leben von Herzen satt. Er bedachte sich daher gar nicht lange, sondern, da er eben ein Schiff die Donau herunterkommen sah, sagte er: »So wollte ich, ich wäre Schiffskapitän und führe mit einem schönen, starken Segler in die weite Welt hinaus!«

Kaum hatte er den Wunsch ausgesprochen, als auch schon ein stattlicher Dreimaster am Ufer anlegte. Julius blickte erstaunt vom Schiff zum Schratl und dann an sich selbst hinunter, denn er merkte, dass er nicht mehr seine gewohnte Kleidung anhatte, sondern in der Uniform eines Kapitäns steckte. Selbst ein richtiger Seemannsbart hing ihm vom eben noch glatten Kinn.

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Er eilte zum Strand, und der Gärtner, der die Wege harkte, erkannte ihn nicht. Das war ihm aber gerade recht, denn so konnte er sich davonmachen, ohne noch irgendwelche Erklärungen abgeben zu müssen.

Auf dem Schiff schien man nur auf ihn gewartet zu haben. Kaum hatte er es betreten, da wurde er von allen Seiten umringt und willkommen geheißen, und er gab auch sogleich Befehl, den Anker zu lichten und mit vollen Segeln stromab zu fahren.

Die Landschaft war schön. Rechts und links erhoben sich bewaldete Berge, und im Tal sah man bebaute Felder und Obstgärten, die in voller Blüte standen. Oft auch drängten sich die Berge näher an den Strom, und mancher von ihnen trug eine Burg oder eine Kapelle. An Dörfern kamen sie vorüber und an großen Städten, deren Türme sich in den Wellen der Donau spiegelten.

Dann traten die Berge zurück, und eine Ebene breitete sich aus, flach wie ein Tisch. Weit und breit keine Erhebung, an der sich der Blick hätte fangen können, außer vielleicht an einem einsamen Feldbrunnen, der seinen Schwengel zum Himmel reckte, oder an einer Reihe hochragender Pappeln, die den Himmelsrand umsäumten. Ab und zu sah man Herden, von berittenen Hirten gehütet, und eine große Ruhe lag über der Weite.

Doch dann versuchten die Berge noch einmal, sich den Wassern in den Weg zu stellen. Hoch und steil wurde das Ufer und das Bett des Stromes schmal und eng. In wilden Wirbeln wälzten sich die Wasser an den sie bedrängenden Felsen vorbei, und Julius stand auf der Kommandobrücke und erteilte seine Befehle so sicher, als habe er zeit seines Lebens nichts anderes getan als Schiffe gelenkt. Ohne Schaden zu erleiden, kamen sie über die gefährlichen Stellen hinweg, und nun dauerte es nur noch einige Tage, bis sich die Donau in viele Arme teilte und zwischen dem Schilf- und Weidendickicht des Deltas ihren Weg ins Meer suchte.

Auch in diesem Gewirr der breiteren und schmäleren Wasseradern fand sich Julius zurecht. Vögel flogen kreischend auf, wo sich sein Schiff zeigte, große Pelikane begleiteten schwimmend den Segler, Möwen umflatterten ihn. Und endlich blieb das Ufergebüsch zurück und gab den Blick frei auf eine weite, unbegrenzte Wasserfläche, die sich vor ihnen ausdehnte, blinkend und glitzernd im Sonnenlicht.

Das war ein anderer Wind, der dem Schiff in die Segel fuhr, als sie das Meer erreicht hatten! Hier erst konnte sich Julius so recht der Lust des Fahrens hingeben. Freilich dauerte seine Freude nur eine kurze Zeit, denn schon nach wenigen Tagen kam Sturm auf.

Als die Wogen haushoch gingen und mit dem Schiff, obgleich es die Segel gerefft hatte, Fangball zu spielen schienen, es von einer Seite zur andern werfend, verging ihm allerdings schnell die Freude an der Seefahrt. »Schratl«, rief er in großer Angst, »da kann ja mein Schiff mit Mann und Maus untergehen! O hätte ich mir doch niemals gewünscht, Kapitän zu sein!« Und der Kleine stand auch schon vor ihm und fragte: »Was willst du denn sonst werden?«

Julius überlegte nicht lange. Nur fort vom Wasser, fort aufs Land, wo man festen Boden unter den Füßen hatte! Rasch antwortete er: »Ein General will ich sein!«

Sieh, da waren auch schon Meer und Schiff verschwunden, und Julius saß auf einem Pferd und ritt inmitten einer Schar von Offizieren und Soldaten in einem weiten Gelände dahin. Es war früh am Morgen und noch angenehm kühl, obgleich die Sonne schon aufgegangen war. Die Rosse griffen rasch aus, doch Julius saß so fest und sicher im Sattel, als sei er auf einem Pferderücken zur Welt gekommen, obschon er vorher niemals geritten war. »Das ist freilich eine andere Sache«, dachte er, »als im Sturmwind den Wellen preisgegeben zu sein!«

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Plötzlich erhob sich in der Ferne eine Staubwolke. Und mit einem Mal wusste Julius, dass dort der Feind aufmarschierte, und dass er seine Soldaten nun in den Kampf führen musste.

Er hielt auf einem Hügel, von wo aus er das Gelände überschauen konnte, erteilte seine Befehle, und die Schlacht kam in Gang. Doch als Julius die vielen Verwundeten sah, die an ihm vorübergetragen wurden, und als gar eine Kugel einen Mann, der neben ihm stand, zu Boden riss, ging ihm mit einem Mal auf, in welcher Lage er sich befand.

Krieg! War das nicht etwas noch viel Entsetzlicheres als der Sturm auf der offenen See? Denn dort rangen die Menschen mit den Elementen, und einer stand dem andern bei und wagte gar sein Leben, um den Kameraden zu retten – hier aber sollten die Menschen sich gegenseitig umbringen. Und er selber sollte sie dazu anleiten. »Schratl!« rief er aus, »hilf mir, ich will nicht mehr General sein!

Wieder stand der Kleine vor ihm und fragte: »Was denn möchtest du sein?« Aber Julius schrie ihm entsetzt entgegen: »Ich will nicht General sein, Schratl! Lieber noch Einsiedler in der Wüste.«

Im Handumdrehen erfüllte ihm das Schratl auch diesen Wunsch. Julius fiel in einen tiefen Schlaf, und als er aufwachte, lag er in einer dunklen Höhle, in die nur ein matter Lichtschimmer durch einen schmalen Felsspalt drang. Er erhob sich und tastete sich an den Wänden der Höhle entlang, bis er an ihrem Ausgang stand, durch den er sich mit Mühe hindurchzwängte.

Draußen umfing ihn sternklare Nacht. Eine große Stille war um ihn, und er dachte an all die Schrecken der vergangenen Tage und freute sich, dass sie vorüber waren und kein Mensch ihm mehr etwas anhaben konnte.

Aber auch diese Freude dauerte nicht lange. Denn die Nächte waren kalt und ihn fror in seiner mangelhaften Kleidung — trug er doch nur eine Kutte auf seinem Leib, die mit einem hänfenen Strick gegürtet war — und er fand keinen Schlaf auf der nackten Erde, er, der gewohnt war, auf Daunenbetten zu ruhen. Am Tag aber brannte die Sonne mitleidslos und unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel, und der Weg zum Brunnen war steinig und lang, und Nahrung fand er nur spärlich. Weit und breit aber war kein Mensch, der ein einziges tröstliches Wort zu ihm gesprochen hätte.

Als der dritte Abend zu dämmern begann, dachte Julius: »Nein! Eine weitere Nacht kann ich und will ich hier nicht zubringen! Und er rief das Schratl herbei und sagte: »Einsiedler mag ich nicht bleiben!«

»Und was willst du dann sein?« fragte der Kleine.

Aber so viel Julius auch hin und her überlegte, fiel ihm doch nichts mehr ein, was er sich hätte wünschen mögen, und ganz verzweifelt sagte er: »Ich weiß es nicht!« — »So will ich dir einen Rat geben«, sagte das Schratl. »An der Donau, nicht weit von deinem Schloss, steht eine Hütte, in der ein Fischer wohnt mit seiner Frau und vier Kindern. Der Mann ist heute mit seinem Boot in einen Strudel geraten und ertrunken, und die Frau wartet voll Bangen auf seine Heimkehr. Soll ich dir seine Gestalt geben und dich dorthin versetzen, dass du seine Stelle bei Frau und Kindern einnehmen kannst?«

Julius seufzte. Aber da ihm nichts Besseres einfiel und er unter allen Umständen aus seiner jetzigen Lage befreit sein wollte, gab er seine Zustimmung, wenn auch mit einigem Zögern.

Kaum war das geschehen, als er auch schon in triefnassen Kleidern vor dem Hoftor eines kleinen Anwesens stand. Und die Tür der Hütte tat sich auf, und eine Frau lief ihm entgegen. »Kommst du endlich!« rief sie. »Die Kinder schlafen schon. — Aber du, wie siehst du aus? Ist ein Unglück geschehen?« Sie presste ihn an sich, als merke sie es gar nicht, dass das Wasser aus seinen nassen Kleidern in die ihren drang. Und als er ihr sagte, dass das Boot an den Klippen zerschellt sei, antwortete sie: »Wenn nur du wieder da bist!« Und zog ihn ins Haus hinein.

Nun kam eine schwere Zeit für die Fischersleute. Das Boot war verloren, und die Frau wollte auch gar nicht, dass ihr Mann jemals wieder auf Fang auszöge, zu große Angst hatte sie um ihn ausgestanden.

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Lieber wollte sie mit ihm zusammen auf Taglohn gehn. So arbeiteten sie miteinander von früh bis abends. Und seltsam — nie hatte dem reichen Schlossherrn sein üppiges Mahl so gemundet, wie ihm jetzt das einfache Essen schmeckte, das seine Frau ihm auf den Tisch setzte — nie auch hatte er auf seinen weichen Pfühlen nachts so tief und fest geschlafen wie jetzt auf einem harten Strohsack.

Die Frau war fleißig und sparsam, und so gingen die beiden daran, auf dem Stückchen Land, das sie besaßen, eine Gärtnerei anzulegen.

Wie freute sich Julius über das erste Gemüse, das er erntete, die ersten Beeren, die er selbst gezüchtet hatte! Wie beobachtete er sorgfältig das Wachsen und Gedeihen all der Pflanzen, die unter seiner Obhut heranwuchsen! War er früher nur gelangweilt zwischen den Blumenbeeten seines Schlossgartens, die andere für ihn pflegten, umhergegangen, so kannte er nun jede Staude, jedes Kraut auf seinem Feld und kümmerte sich, dass alles rechtzeitig gedüngt und gehackt wurde, denn er wusste, dass vom Gedeihen der Früchte das Wohl und Wehe der Menschen abhing, die ihm anvertraut waren. Und die Kinder, die ihn für den rechten Vater hielten, waren ihm gerne gehorsam, er leitete sie an, und sie halfen ihm bei der Arbeit, und wenn Feierabend war, saßen sie alle friedlich beisammen. Niemals in seinem ganzen Leben hatte sich Julius so glücklich gefühlt, und das Schratl hatte er fast vergessen.

Deshalb erschrak er nicht wenig, als eines Tages das kleine Männchen plötzlich wieder vor ihm stand. »Hast du noch nicht genug von diesem mühsamen Leben?« fragte es mit seinem dünnen Stimmchen. Julius war eben damit beschäftigt, die Beete um seine Johannisbeeren umzugraben, und er legte den Spaten nicht aus der Hand. »Ich bin zufrieden«, sagte er, »und wünsche mir kein anderes.« — »Zufrieden, zufrieden«, kicherte hämisch der Kleine. »Schön dumm bist du, das kann ich dir sagen! Rackerst dich ab für fremde Menschen, wo du es doch ganz anders haben könntest! Zu einem Kaufherrn kann ich dich machen, der Samt und Seide, Gewürze und kostbare Spezereien in seinem Laden feilbietet, zu einem Prälaten, der in Purpurgewändern einherschreitet, zu einem ... « — »Halt ein!« rief Julius ärgerlich, »und scher dich zum Kuckuck! Nie werde ich die Frau verlassen, die mich lieb hat, nie die Kinder, die mich brauchen und an mir hängen!«

Als das Schratl merkte, dass es seine Rolle bei Julius ausgespielt hatte, wurde es sehr ärgerlich. Es murmelte etwas von Unverstand und schnödem Undank und trollte sich, ohne dass Julius ihm noch weitere Beachtung schenkte.

Die Frau war gerade mit der Zubereitung des Abendbrots beschäftigt, als das Schratl in die Küche trat. Es war ihr nicht geheuer, als sie das kleine, sonderbar gekleidete Männchen vor sich stehen sah, sie fasste sich aber schnell, denn sie war von Natur ein beherzter Mensch. »Wer bist du — und was willst du von mir?« fragte sie.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, erwiderte das Schratl, » ich will dir nichts Böses! Ich bin nur gekommen, um dir ein Geheimnis zu verraten, das dein Mann schon seit Jahren vor dir verbirgt.« Und das Schratl erzählte der Frau alles, was sich mit Julius zugetragen hatte.

Mit immer größerer Spannung hörte die Frau zu. Und als sie erfuhr, dass Julius gar nicht ihr rechter Mann sei, gab es ihr einen Stich ins Herz. Ertrunken sollte er sein, der Vater ihrer Kinder, und ein anderer sich seine Stelle angemaßt haben. Doch dann überlegte sie. Und wenn es wahr war? Musste sie dann dem Mann, der mit ihr arbeitete, der ihr half, die Kinder großzuziehn, die gar nicht seine eigenen waren, nicht doppelt dankbar sein?

Ein großer Zorn über das kleine Männchen, das hier Zwietracht säen und sie alle unglücklich machen wollte, packte sie, und: »Du lügst!« rief sie aus. »Deine dumme Geschichte ist von Anfang bis Ende erfunden! Du hättest doch überhaupt keinen Platz gehabt in einem Kistchen, das nicht großer war als mein Nähkästchen hier!«

Aber der Kobold schrumpfte vor ihren Augen zusammen, bis er so klein wurde wie ein Mäuslein, schlüpfte in den Nähkasten und sagte: »So wahr ich hier hineinpasse, so wahr ist auch alles, was ich dir erzählt habe!«

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Da schlug die Frau, nicht faul, schnell den Deckel zu, und das Schratl war gefangen. »Ein zweites Mal sollst du nicht frei werden, du Unheilstifter!« sagte sie, und sie suchte einen schweren Stein, band das Kästchen daran, ging und warf es in die tiefe Donau.

Als Julius am Abend nach Hause kam, war der Tisch mit dem besten Geschirr gedeckt, und sein Lieblingsgericht stand darauf. Auch waren Frau und Kinder festlich angezogen. »Was habt ihr denn nur?« fragte der Mann erstaunt. — »Dich haben wir!« antwortete die Frau und sah ihn mit glücklichen Augen an.

Da merkte Julius, dass der boshafte Kleine ihn verraten hatte, und dass er ihm doch nichts hatte anhaben können, und er fragte nicht weiter, sondern drückte seiner Frau nur stumm die Hand.

Niemals wünschte sich Julius ein anderes Leben als das der gemeinsamen Arbeit mit Frau und Kind, und so blieben sie mitsammen glücklich bis an ihr Ende.

Der Fischer und die Donaunixe

Es war einmal ein junger Fischer, der fuhr Tag für Tag mit seinem Kahn auf die Donau hinaus, und während er sein Netz auswarf und seiner Arbeit nachging, sang er dazu. Denn er hatte eine schöne und weithin klingende Stimme und war von einer großen Lebenslust erfüllt.

So hatte er wieder einmal auf dem Wasser gearbeitet, bis im Westen der Tag verglommen war. Aber der Vollmond stand hoch und klar am Himmel und gab dem Fischer Licht genug zu seinem Werk. Auch war es Sommer und der Abend mild.

Die Nachtigallen schlugen im Ufergebüsch, die Wellen kräuselten sich vor dem leichten Wind, das Mondlicht tanzte auf den Wassern, und der Fischer fühlte in jeder Bewegung seines Körpers die Kraft der Jugend und das Glück, auf dieser schönen Welt zu leben. Das klang auch aus seinen Liedern, und ihm war, als schwinge seine Stimme sich empor bis zu den Sternen.

Da rauschte mit einem Male das Wasser auf, und als er sich umwandte, sah er einen schönen Mädchenkopf aus der Flut aufsteigen, und eine weiße Hand fasste nach seinem Kahn. Dem Fischer blieb vor Staunen das Lied in der Kehle stecken, aber: »Oh, sing weiter!« bat die Nixe. »Ich lauschte dir schon oft.« Und als der Fischer ihrer Bitte willfahrte, wiegte sie sich nach den Tönen seines Liedes auf den Wellen und tanzte einen zauberischen Tanz, halb über dem Wasser und halb unter ihm, und der Fischer sah ihren schlanken Leib durch die erhellten Wogen schimmern und sah ihr offenes, nur von einem Kranz aus Seerosen zusammengehaltenes Haar ihren Körper umfließen gleich einem Mantel.

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Da erfasste ihn ein unwiderstehliches Verlangen, das schöne Wesen an sich zu ziehen, und er tat einen plötzlichen Ruderschlag, warf sein Netz über sie aus und zog sie in seinen Kahn.

Die Nixe sträubte sich auch nicht. Sie schmiegte sich zärtlich an ihn, und es war ihr so wohl wie niemals draußen in ihrem kalten Fluss.

Die Nixe und der Fischer trieben ihr schönes Spiel miteinander, solange der Sommer währte. Niemals bisher hatte der junge Mann ein solches Glück beim Fang gehabt, denn seine schöne Freundin lockte ihm von nah und fern die Beute ins Netz. Wusste sie doch, dass er, je rascher sein Kahn sich füllte, um so eher seine Arbeit lassen konnte, um mit ihr zu scherzen und zu kosen.

Als aber die Herbstwinde durchs Land brausten, wartete sie vergeblich auf ihn. Traurig stieg sie Abend für Abend aus der Flut, setzte sich auf einen Felsen, der aus dem Wasser ragte, und weinte. Der Kranz in ihren Haaren war verwelkt, das Lied der Nachtigall verstummt, und ihr Liebster verschollen.

Doch es war nicht nur das stürmische Wetter, das den jungen Mann davon abhielt, seine schöne Wasserjungfrau aufzusuchen, sondern etwas anderes: Eines der Mädchen seines Dorfes hatte es ihm angetan. Das hatte dralle braune Arme, eine flinke Zunge und lustige Augen. Und da der junge Fischer genug erworben hatte, um sich einen Hausstand zu gründen, machte er das tüchtige und frische Mädchen zu seiner Frau.

Eines Abends aber ging er doch wieder ans Ufer der Donau, um Reusen auszulegen — da stand die Nixe, an die er lange nicht mehr gedacht hatte, plötzlich vor ihm. »Du hast mich vergessen !« sagte sie traurig. »Und auch ich möchte dich gern vergessen, aber ich kann es nicht.« Damit schlang sie ihre weißen Arme um seinen Hals und versuchte, ihn mit sich ins Wasser hinunter zu ziehen.

Da kam den Fischer ein Grausen an, und mit aller Gewalt stieß er das unglückliche Wesen in den Strom zurück und lief davon, so schnell seine Füße ihn trugen.

Seit jenem Tage war der junge Mann wie verändert. Er wollte nicht mehr mit seinem Kahn aufs Wasser hinausfahren, sondern er kaufte sich von seinem Geld einen Acker und eine Wiese, die er zusammen mit seiner Frau bewirtschaftete. Aber er sang auch nicht mehr bei seiner Arbeit. Ernst und schweigsam ging er seinem Tagewerk nach, wie ein Mensch, dem eine schwere Last auf der Seele liegt.

Seine Frau spürte bald die Veränderung im Wesen ihres Mannes, und sie tat, was alle liebenden Frauen in solchen Fällen tun: Sie drang mit Schmeichelreden und schließlich mit Tränen so lange in ihn, bis er ihr endlich sein Geheimnis anvertraute. Da wurde ihm etwas leichter zumute, und er konnte manchmal auch wieder ein wenig lachen. Nur seine Lieder blieben verstummt.

So lebte er denn mit seiner Frau schlecht und recht einige Jahre dahin; wenn auch nicht in übermäßigem Glück, wie er es sich einst vorgestellt hatte, so doch auch nicht in Harm und Unglück. Und vielleicht hätte er die Nixe ganz und gar vergessen.

Als aber an einem Sommermorgen die Sonne gar so hell schien, überkam ihn seine alte Lebenslust, und er sagte zu seiner Frau: »Ich möchte doch wieder einmal auf die Donau hinausfahren und meine Netze auswerfen! Das Heu ist eingebracht, die Ernte noch nicht reif — da könnte ich in diesen Tagen durch Fischen etwas hinzuverdienen!« Und so sehr auch sein Weib erschrak und ihn bat und in ihn drang, es ja nicht zu tun, machte er sich doch gleich an seinen Netzen zu schaffen, flickte und besserte aus, und am nächsten Morgen vor Tau und Tag ging er zum Strande. Die Frau aber, als sie sah, dass sie ihn von seinem Vorhaben nicht abhalten konnte, lief ihm nach und bat ihn inständig, sie wenigstens mitzunehmen. Das tat er denn auch, und so bestiegen sie gemeinsam das Boot und fuhren die Donau hinab.

Den Fischer überkam ein Glücksgefühl, wie er es all die Jahre nicht mehr gekannt hatte. Er zeigte seiner Frau die Insel im Strom, die er in seiner Jugend gar oft besucht hatte, freute sich über jeden Baum, den er wiedererkannte, wunderte sich, wenn er sah, wie viel der Strom im Laufe der Zeit an seinen Ufern verändert hatte, und endlich, da er sein Netz in die Flut senkte und spürte wie es voll und voller wurde, begann er auch wieder zu singen. Und siehe, seine Stimme war nicht schwächer geworden in den Zeiten seines Stummseins. Mächtig drang sie über das Wasser und vermischte sich mit den Stimmen der Wellen und der Winde, und seine Frau saß neben ihm im Kahn und fühlte, dass er sie in eine ihr fremde Welt einführte, die seine Welt war. Und ob sie gleich fröstelte in der Morgenkühle, war ihr doch warm ums Herz, und ihre Augen hingen an ihrem lebensfrohen und schönen und starken Mann.

So fuhren sie eine Weile dahin, bis sie an eine Stelle kamen, wo eine Felswand weit ins Wasser hineinragte. »Nanu!« sagte der Fischer, »diese Stelle kenne ich doch von Kind an! Aber den Felsen habe ich noch nie gesehen! Wenn auch das Wasser die Sandbänke ändert von Sommer zu Sommer, und wenn es auch Erdreich abreißt vom Ufer und es anderswo wieder anschwemmt, so hab ich doch noch nie gehört, dass binnen weniger Jahre Felsen aus dem Boden wachsen!« Und er tat ein paar Ruderschläge, um sich das Steingebilde zu betrachten.

Doch als er in seine Nähe kam, erschrak er bis ins Herz. Ein Leib erhob sich halb aus dem Wasser — ein steinerner Leib.

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Und der trug auch ein Antlitz — ein nur zu gut Gekanntes: Es waren die Züge der schönen Nixe, die den Fischer mit großen, starren, toten Augen ansahen. Kein Zweifel, sie, die sich so oft an ihn geschmiegt, die mit ihm gekost und gescherzt hatte, stand hier als Fels im Wasser, an dem die Flut sich brach.

Er wollte mit einigen Ruderschlägen fort von der grausigen Stelle, fort auch vom Wasser, nur hin zum Ufer und sich bergen auf festem Grund — doch seine Arme waren wie gebannt, und die Strömung trieb den Kahn näher und näher an den Felsen, um den die Wasser in wilden Wirbeln kochten und tosten.

Die Frau schrie auf, denn sie sah, wie die Wellen das Fahrzeug erfassten und es mit ganzer Wucht dem Felsen zutrieben, wo es zerschellen musste. Und der Mann, statt sich mit aller Gewalt in die Ruder zu legen, stellte sich plötzlich steil auf im Boot, und wie von unsichtbarer Gewalt gezogen sprang er hinein in die Flut.

Umsonst griff die Frau nach den Rudern und stemmte sich gegen die Strömung. Die Wirbel rissen das Fahrzeug in die Tiefe, und erst nach Tagen bargen Fischer ihre Leiche aus den Wassern. Vom Manne aber fanden sie keine Spur, so weit sie auch stromab nach ihm suchten. Sie sagten, die Donaunixe habe ihn zu sich geholt.

Die feindlichen Brüder

Als das schwäbische Donaustädtchen Lauingen noch ein Dorf war, wohnte darin ein reicher Bauer, der neben seiner Landwirtschaft auch einen Gasthof betrieb. Sein Wirtshausschild sah dem Wappen des Reiches ähnlich, da es gleich diesem Adler und Krone zeigte. Als er starb, hinterließ er zwei Söhne, Werner und Klaus. Sie waren Zwillinge und waren einander von Kind an herzlich zugetan. Doch nach dem Tode des Vaters kam es zum Streit um die Erbschaft. Äcker und Wiesen zwar hätten sie unschwer unter sich aufgeteilt, aber das Vaterhaus und die Gastwirtschaft wollte jeder gern für sich behalten, und da zwischen ihnen kein Erstgeburtsrecht entscheiden konnte, füllten sich ihre Herzen mehr und mehr mit Bitterkeit gegeneinander. Trotzdem brachten sie es fertig, das Anwesen ein Jahr lang gemeinsam zu bewirtschaften, bis sich Werner eines Tages mit einer reichen Bauerntochter verlobte. Da wollte er mit dem Heiratsgut, das ihm seine Braut in die Ehe einbringen würde, den Bruder auszahlen.