The Cover Image
 

 

Der Krieg in der Ostukraine ist ein Krieg im Zentrum Europas. Das wurde spätestens klar, als über dem Kampfgebiet eine zivile Verkehrsmaschine abgeschossen wurde. Über 300 Menschen, die meisten aus den Niederlanden, kamen ums Leben. Doch nichts geschah, was die Gewalt und den rasanten Zerfall von Zivilität bis hin zum Sterben der Millionenstädte Donezk und Luhansk hätte stoppen können. Die Ereignisse, die der Maidan-Revolution in Kiew folgten, von der Krim-Annexion bis zur Invasion russischer Truppen in Nowoasowsk, haben binnen weniger Monate die Grundlagen der europäischen Nachkriegsordnung erschüttert: territoriale Integrität, Souveränität, Sicherheit, Frieden scheinen außer Kraft gesetzt. Russland und der Westen stehen sich wieder feindlich gegenüber. Wie konnte es dazu kommen? Und was bedeutet das für das künftige Zusammenleben in Europa. Schriftsteller und Publizisten suchen nach Antworten.

 

Die Herausgeber: Katharina Raabe, geboren 1957, arbeitet als Verlagslektorin in Berlin. Manfred Sapper, geboren 1962, ist Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa in Berlin.

 

 

Testfall Ukraine
Europa und seine Werte

Herausgegeben von Katharina Raabe und Manfred Sapper
Mit einem Fotoessay von Yevgenia Belorusets

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.

Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagfoto: Jerome Sessini/Magnum Photos/Agentur Focus

 

eISBN 978-3-518-74102-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Kateryna Mishchenko
Stille Aktion

Alice Bota
Unterirdisches Leben. Die Würde des Maidan und das Elend des Krieges

Andreas Kappeler
Vom Kosakenlager zum Euromaidan. Ukrainische Widerstandstraditionen

Serhij Zhadan
Befreite Gebiete

Andrew Wilson
Vergangene Zukunft des Donbass

Yevgenia Belorusets
Verborgene Formen des Widerstands

Arkadi Babtschenko
Putins schrecklichste Tat

Elena Racheva
Der Marsch für die Einheit des Volkes

Irina Prochorova
Der autoritäre Virus und das Unterbewusstsein Europas

Karl Schlögel
Lob der Krise. Die Ukraine und die Sprachlosigkeit der Historiker

Herfried Münkler
Das Chamäleon Krieg und der Kampf um eine neue Weltordnung

Roland Götz
Handel im Wandel.
Die Ukraine, die EU und Russland

Stefan Auer
Der Maidan, die EU und die Rückkehr der Geopolitik

Helmut König
Revolution, Nation und Freiheit

Bruno Schoch
Russische Märchenstunde. Die Schuld des Westens und Putins Kampf gegen den Faschismus

Nachbemerkung

Weiterführende Literatur

Bildlegenden

Kurzbiographien

Kateryna Mishchenko
Stille Aktion

Vor ein paar Tagen meldete die Presse, in der Ukraine habe es ein leichtes Erdbeben gegeben, dessen Ausläufer selbst in Kiew zu spüren waren. Genau zu dieser Zeit wurde hier der Toten des Maidan gedacht und der Jahrestag der ersten Proteste begangen. Die Nachricht ließ mich über die politische Tektonik des Maidan nachdenken, schließlich war er ja unter anderem auch ein Anstoß gewesen, ein Nullpunkt, auf den die Ungewissheit folgte. Wie hat sich nun diese Tektonik verändert, welche Schichten sind verschwunden und was für ein Relief ist entstanden? Der Boden unter den Füßen bewegt sich immer noch; infolge der schrecklichen Verschiebungen von der städtischen Befreiungsguerilla gegen Regierung und Miliz hin zu Okkupation und Krieg hat sich unter unseren Füßen ein Abgrund aufgetan, dessen Magnetfelder Menschenleben wertlos machen und dazu zwingen, die Wirklichkeit nur als Kampf ums Überleben zu sehen; Platz für Gedanken und Kreativität ist hier nicht vorgesehen.

Die Totalität des Maidan, sein Hinausgehen über die Grenzen des dreidimensionalen Raumes, ließ keine Möglichkeit, ihn irgendwie vollwertig zu benennen. Welchen Namen wir diesem Phänomen auch gaben – politisches Wunder, Gesamtkunstwerk, soziale Bewegung, Revolution –, es blieb immer noch etwas Anderes, Unausgesprochenes. Die Menschen schienen einen anderen Kosmos geschaffen zu haben, der ein neues Verständnis von der eigenen Person, von Politik und Gesellschaft prägte. Ich bin mir nicht sicher, ob die Zeit helfen kann zu vermessen, was mit diesem Kosmos jetzt passiert. Vielleicht existiert er wie die Galaxie in einem kleinen Amulett aus einem Science-Fiction-Film als kleinere Einheit: »der Maidan im Kopf«, »in der Seele«, »im Herzen«, auf Fotos, in Büchern, auf Video – in den Spalten unserer Realität, aber er ist sicher nicht mehr so allgegenwärtig wie früher.

Das Universum des Maidan hat sich ins Innere zurückgezogen, ist auf eine glatte Oberfläche zusammengeschrumpft. Am 21. November 2014 kamen Menschen mit Blumen, Kerzen und Plakaten auf diese Oberfläche, sie kamen, um zu gedenken – nicht nur der Toten, sondern auch ihrer Erfahrung von Kollektivität, sie kamen, um die Kraft in den Muskeln des körperlichen Gedächtnisses zu spüren. Als ich diese Oberfläche betrat, erkannte ich den Maidan wieder und gleichzeitig auch nicht. Unter den Füßen neue Pflastersteine, ein riesiges, kitschiges Banner verdeckt das ausgebrannte Gewerkschaftsgebäude, die Zelte und Barrikaden sind verschwunden – die Stadtreinigung hat im Auftrag des neuen Bürgermeisters versucht, auf die Schnelle die sozialen Wunden zu flicken oder einfach ein paar Pflaster darauf zu kleben. Uns wird davon abgeraten, in diese Wunden zu blicken, für eine Weile oder auch auf lange Zeit. Schließlich sind mit der Krim und dem Donbass neue Epizentren entstanden.

Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Okkupation der ukrainischen Stadtzentren sind diese Territorien von repressiven Militärapparaten okkupiert, die die Gesellschaft als solche vernichten wollen. Geografisch betrachtet, erinnerte der Maidan an eine von Barrikaden begrenzte und von Menschenströmen umspülte Insel mitten in der Stadt. Die Annexion der Krim, ihre Umwandlung in eine okkupierte Insel, war die konterrevolutionäre Antwort auf den Protest. Die als Volksaufstand maskierte Eroberung der Städte im Donbass und die Verbreitung von Thesen über einen Bürgerkrieg zwingen uns in aller Dreistigkeit eine politische Symmetrie der Ereignisse auf, in deren Folge zwei angeblich gleichberechtigte Seiten entstehen. Diese Seiten existieren jedoch nur in einer Dimension – auf der Oberfläche. Durch eine oberflächliche oder gar platte Interpretation lassen sich Debatten über neoimperialistische Ressentiments und befreienden Ungehorsam, über Protest von unten und einen von oben aufgezwungenen Konflikt, über Hierarchien auf internationaler Ebene umgehen. Der öffentliche Diskurs zwingt dazu, den Maidan aus der Vogelperspektive zu betrachten, als konspirativ interpretierte Oberfläche, und den derzeitigen emanzipativen Kampf der ukrainischen Bürger als Krieg um Territorien beziehungsweise die Neuaufteilung von »Einflusssphären«.

Als Antwort auf diesen Prozess kann man nur entschlossen auf das Unsichtbare blicken. Gemeinsam mit denen suchen, lernen und denken, die, nachdem sie im Frühjahr den öffentlichen Raum verlassen haben, ihre kleine Galaxie fest umschlossen halten und ins Ungewisse gehen, das sie sich in einer tollkühnen Schlacht erkämpft haben. Ihre Stimmen klingen aus den Spalten der rasend schnell verschwindenden Realität, manchmal jage ich ihnen nach und gerate dabei in diverse Leerstellen meiner Erinnerung, wobei ich paradoxerweise vergesse, dass draußen eine schreckliche neue Welt entsteht.

 

***

 

»Was ich am 30. November mache? Das ist Sonntag. Unter den Maidanlern ist ein Toter, den ich persönlich kannte. Der Mann unserer Krankenschwester. An diesem Tag würde ich mich gern mit ihr treffen und auch mit einigen von meinen Klienten, ihnen diese historischen Orte zeigen. Man könnte eine völlig stille Aktion machen. Warum eine stille, Katja – weil jetzt die alltägliche Arbeit zählt und keine ins Mikro gerufenen Losungen. Der Maidan ist ein so totales und besonderes Thema, aber eins weiß ich genau: Die Menschen, die versuchen, etwas zu bewegen, was sich nicht bewegen lässt, verdienen unsere Achtung, und ihre Anstrengungen sind keine Sisyphusarbeit.«

Am Ende des Arbeitstages sitze ich mit Olexij, einem Mitarbeiter des Kiewer Sozialdienstes, in seinem Beratungszimmer. Wir haben uns auf einem Seminar für Sozialarbeiter kennengelernt, in der sogenannten Nach-Maidan-Zeit, im Herbst, als sich alle Tischgespräche in der Mittagspause um Krieg, Umsiedler, Kriegstechnologie und die Frage drehten, wer von den internationalen Politikern sich wie zu den Ereignissen im Donbass geäußert hatte. Olexij hat mit den am stärksten marginalisierten, einfacher gesagt, am wenigsten gebrauchten Menschen in der Ukraine zu tun, mit Straßenkindern, Drogenabhängigen, Alkoholikern und Armen, aber auch mit ihren Verfolgern, der Miliz, und verfügt über einen Schatz an unzähligen mündlichen Geschichten, deren Nacherzählung er immer mit den Worten beginnt: »Ich hatte mal einen Klienten …« Er hatte im psychologischen Dienst des Maidan gearbeitet, operative soziale Unterstützung geleistet. Unter dieser Bezeichnung verstehe ich psychologische Beratung oder die Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten für Menschen aus anderen Orten. Wobei die Anlaufstelle der ersten Binnenflüchtlinge der Maidan selbst war. Die Menschen kamen aus anderen Städten mit ihren ungeklärten gerichtlichen Angelegenheiten, sie kamen, um auf Kiews zentralem Platz »Gerechtigkeit zu finden«. Einige waren gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen, weil sie zu Hause Drohungen bekommen hatten, weil sie die Proteste unterstützten oder daran teilgenommen hatten; hier besorgten sie sich neue Papiere, genauso wie diejenigen, deren Papiere schon auf dem Maidan verbrannt waren. Jetzt ist Olexij regelmäßig auf dem Bahnhof im Einsatz, wo er Umsiedler berät. Aber die Maidanler kommen immer noch zu ihm. Ihre Berichte schreibt er gewissenhaft auf und verwahrt sie sorgfältig in einem Safe. Denn am stärksten interessieren sich nicht Verlage oder Journalisten für diese Berichte, sondern die Miliz.

»Ich habe einen Klienten, einen Maidanler aus Armjansk. Er kann überhaupt nicht schlafen. Von den Pillen, die er verschrieben bekommen hat, hilft überhaupt nichts. Er hat eine Quetschung und mehrere Verletzungen. Er hört nur mit Hörgerät. Seit einiger Zeit trinkt er zwei, drei Flaschen Gin Tonic, nur so kann er einschlafen. Er wurde als potentieller Alkoholiker zu mir geschickt, braucht psychologische Hilfe. Solche Fälle gibt es bei uns sehr viele, wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Leute zu einem anderen Leben zurückfinden müssen. Und das Leben, das es gibt, ist kein ruhiges.«

Die Unmöglichkeit zurückzukehren ist ein durchgängiges Symptom unserer Zeit, wohl nicht nur in der Ukraine. Diejenigen, die nach den unglaublichen Erfahrungen letzten Winter in Kiew an ihre Fernsehbildschirme und Laptops zurückgekehrt sind, wissen genau, dass sie nicht mehr dort sind, wo sie früher waren. Der Schmerz und die körperlich spürbare Realität nach Jahren virtueller Politik und virtueller Kommunikation lassen nicht nach, sosehr sie auch versucht haben, so zu tun, als sei alles wieder beim Alten. Und diese merkwürdige Bezeichnung für unsere Flüchtlinge: »Binnenvertriebene« … Die trockene Amtssprache kriecht in die Seele, lässt die subjektiven Verschiebungen durchscheinen. Hunderttausende mussten im wahrsten Sinne des Wortes vor der Wirklichkeit fliehen. Sie haben ihr Zuhause, ihre Angehörigen und ihren Glauben an die Zukunft verloren. Andere traten die Flucht ins Innere an – ins Privatleben, in die Arbeit, in die Sucht, ja sogar in den Wahnsinn. Die Soldaten, die auf Urlaub zu Hause sind, schweigen oft und wollen nicht viel reden, obwohl sie sich in den Fernsehreportagen nicht wiederfinden. Ich frage mich ständig, wohin sich die Angehörigen der zwanzigjährigen Jungs flüchten können, deren Leichen kreuz und quer durch die Ukraine transportiert werden. Und wird es irgendwann irgendwo einen Ort geben, an den die Kriegsflüchtlinge ihr Leben verschieben können?

 

***

 

»Der wird schon ganz zu Recht mit Hitler verglichen, das ist einfach ein Scheusal. So viele, wie der ins Unglück gestürzt hat!«

»Poroschenko hat ihm halt die Hand gegeben, na und? Was soll er denn machen, wenn sie sich irgendwie einigen müssen.«

Zwei Omas sitzen im Empfangsbereich einer Bank, die ein paar Monate später offiziell Konkurs anmelden wird. Ich verbringe hier jedes Mal, wenn ich meine Karte entsperren lassen will, gleich ein paar Stunden und verfolge, wie die alten Leute rätseln, wann denn wohl der glückliche Moment kommt, in dem wenigstens ein bisschen Bargeld gebracht wird, und sich dann anstellen, um die Zinsen von ihren Ersparnissen abzuheben. Sie lauern in der leeren Bank, die die meisten Angestellten schon verlassen haben, und diskutieren die Nachrichten über die Minsker Verhandlungen. Die eine spricht Ukrainisch, die andere Russisch. Der Geldautomat ist schon seit Monaten »vorübergehend außer Betrieb«, die Miniatur-Goldbarren sind aus der Vitrine verschwunden, und die Frau hinter dem Kassenschalter geht ständig rauchen, weil sich ihre Arbeit auf die genervte Äußerung »Kein Geld in der Kasse!« reduziert hat. Das Einzige, woran mein Blick in diesem leeren Warten hängenbleibt, ist das gelbe Nationalwappen auf blauem Grund aus einem Farbdrucker. Früher dominierte in der Bank Weiß-Rot, was das Schweizer Offshore-Kapital symbolisierte, jetzt hat sich unsere heimische Armut entblößt, und wir sind mit unserer bescheidenen Hoffnung auf Kompensation zu ihren Wachposten geworden.

 

***

 

Der Genuss, über den eigenen Körper und seine Existenz im öffentlichen Raum verfügen zu können, erscheint jetzt manchmal als unanständiger Luxus. Die reaktionären Stimmen wiederholen auf verschiedenen Frequenzen, dass der Preis für Protest Krieg ist. Um die soziale Empfindsamkeit zu bewahren und der Reaktion etwas entgegensetzen zu können, geht der Maidan in den Bereich des Intimen über, er wird zur Deckung. Die Kiewer Kulturwissenschaftlerin Lesja Kultschynska sagte im Zusammenhang mit der Ausstellung Schutzraum des Charkiwer Künstlers Mykola Ridnyi, dass die Barrikaden an den Grenzen des Maidan der Verteidigung, aber zugleich auch der Selbstbeschränkung des Protestes dienten und dass diejenigen, die den öffentlichen Raum verlassen und sich ins Private zurückgezogen haben, in den sogenannten Schutzraum, sich vielleicht nur erholen, um den Kampf dann mit neuen Kräften fortzusetzen. Zweifellos bietet der Rückzug ins Private auch die Möglichkeit der gedanklichen Verarbeitung und der Verwurzelung kollektiver Erfahrung in den persönlichen Praktiken des Alltags. Und natürlich wurde das Wahlkampfmotto des jetzigen Präsidenten »Neu leben« von den Bürgern der Ukraine ernster genommen als von Poroschenkos PR-Strategen.

»Wir haben ja lange genug mit Lenin-Zitaten gelebt, jetzt ist mal Schluss damit. Wir sind als Sozialarbeiter zu den Menschen rausgegangen, weil sie in die Geschichte geraten waren, die sie selbst gerade erschufen. Und was jetzt so geredet wird, dass das Ganze ein Wirtschaftsprojekt anderer Staaten, eine Verschwörung, ein Soros-Komplott war, kann ich langsam nicht mehr hören.[1] Wir müssen endlich lernen, die Wahrheit zu sagen und zu akzeptieren.«

Olexij erzählt, dass er mit den »Pessimisten des Maidan« arbeitet, er schafft ein unprätentiöses, aber heroisches Narrativ darüber, wie die revolutionären Ereignisse ihre Schützlinge verändert haben.

»Wir hatten mal einen Klienten mit schwierigen Lebensumständen, er hatte Probleme mit seinem Stiefvater. Aber anstatt auf der Straße zu leben, ist er auf den Maidan gegangen. Jetzt ist er in einem Freiwilligenbataillon bei Nowoasowsk. Man darf die Leute nicht nach ihrer Vergangenheit beurteilen, gerade unter solchen Bedingungen offenbaren sie ihr wahres Wesen und werden wirklich nützlich.«

Dann erzählt Olexij von einem Mann, den sie schon abgeschrieben hatten, weil er schwer drogenabhängig war. Aber jetzt ist er Freiwilliger, davor hat er »den Maidan mitgemacht«. Über eine Frau, die von ihrem Mann geschlagen wurde und die sich dann in der Frauenhundertschaft beweisen konnte, dass sie in der Lage ist, ihre eigenen Rechte und auch die der Männer zu verteidigen. Am besten ist mir jedoch die Geschichte von einem anderen Klienten Olexijs in Erinnerung, einem alten Drogenabhängigen, der vor ein paar Jahrzehnten in Petersburg, damals noch Leningrad, gelebt hatte und sich an Wladimir Putin als Mitarbeiter der Strukturen, die gegen den Drogenhandel kämpften, erinnern konnte. Er erzählte, dass er damals die Möglichkeit gehabt hätte, ihn umzubringen, und jetzt natürlich bereut, das nicht getan zu haben.

Rückblickend scheint diese Geschichte genauso utopisch, wie Olexij als Autor kühn den diversen Narrativen widersteht, die man nicht mal so richtig als Propaganda bezeichnen kann. In seinen Geschichten phantasiert er davon, wie die Unglücklichsten und Schutzlosesten den Aggressor zu Fall bringen, über den sich raffinierte und diffuse Fiktionen ausbreiten – unter ihrem Einfluss modifiziert sich alles ringsum.

Beeindruckend und bezeichnend waren für mich die Worte des Bloggers Dmytro Potechin, der einige Monate als Geisel in den Kellern der Volksrepublik Donezk zubrachte, in einem Interview, das er nach seiner Freilassung gab:

Das Bewusstsein der Menschen in der Volksrepublik Donezk ist ein völlig mythisches, sie verhalten sich, handeln und sprechen wie die Helden aus russischen Serien über den FSB und den Zweiten Weltkrieg. Das ist so nah an der Künstlichkeit des Fernsehens, dass es völlig absurd wirkt. Der Unterschied liegt allein darin, dass es real ist. Es lässt sich überhaupt nicht ausmachen, ob talentierte Regisseure so drehen oder ob die Leute versuchen, das Verhalten ihrer Fernsehstars möglichst echt nachzuahmen. Eine völlig […] infantile, kindische Wahrnehmung der Fernsehbilder, wo der Zuschauer keine Distanz hat und keinen Unterschied zwischen dem Bild und seinem Leben sieht.

Autorschaft als gesellschaftliche Partizipation, die Olexij mit seinen Legenden für sich beansprucht, lässt sich als Form des politischen Widerstands gegen die von oben festgelegten Lesarten der Realität verstehen. Hinter der Schaffung eines solchen Gegennarrativs verbirgt sich keine scheinbare »Version der Gegenseite«, sondern eine Umdeutung des Sprechenden. Olexij bezeichnet die Ukrainer als Menschen mit einer unvorhersehbaren historischen Vergangenheit und besteht deshalb auf der direkten Artikulation derjenigen, die an den Protesten teilgenommen haben. Verbittert stellt er fest, dass die Bürger in politischen Talkshows immer noch die Masse im Saal bilden, die nur durch das Drücken von Knöpfen auf die Äußerungen der Studiogäste reagieren kann, dass das Wort Maidan immer seltener zu hören ist und die Namen der Freiwilligenbataillone immer öfter. Abschließend bemerkt er noch, dass über den Maidan sehr viel Lyrik und sehr wenig Prosa geschrieben wurde.

Am 21. November war ich im Ukrainischen Haus, dem ehemaligen inoffiziellen Kulturzentrum des Maidan. Dort gab es eine merkwürdige Buchinstallation – verschiedene Ausgaben über den Maidan, die an Fäden von der Decke hingen wie die Erhängten auf den Straßen der besetzten Städte während des Krieges. Darunter waren einige Lyrikanthologien, Hochglanzbände mit dramatischen Fotos und ein paar Texten sowie ausländische Zeitschriften und Anthologien. Unter den ukrainischsprachigen Büchern waren so gut wie keine analytischen Texte, und irgendwie scheint auch niemand vorzuhaben, in nächster Zeit welche herauszugeben. Man denkt sofort an den Film Maidan von Sergej Losniza, in dem er zeigt, wie Gesang und Gebet den leeren Raum der politischen (Selbst-)Artikulation der Gesellschaft füllten. Einfache Bürger betraten die Bühne auf dem Maidan, um Gedichte vorzutragen, Lyrik über Patriotismus, Gerechtigkeit und Kampf. Wie die weiteren Ereignisse zeigten, kam ihr politisches Handeln ihrem politischen Diskurs deutlich zuvor, Letzterer ist selbst heute auf Heldenverehrung und Protest- oder Märtyrerlyrik reduziert. Es besteht ein fataler Mangel an Gedanken und, sicher nicht weniger wichtig, Erinnerung oder vielmehr Mechanismen, die sie bewahren könnten.

Der Hang, möglichst schnell zu vergessen, zeigte sich in dem Bestreben von Kiews neuem Bürgermeister, Vitali Klitschko, den Maidan so schnell wie möglich gründlich aufzuräumen, damit von seinen Spuren so wenig wie möglich übrigbleibt. In dieser Hast wurden dann auch die »europäischen Werte« der LGBT-Community vergessen, denen es die Stadtregierung nicht ermöglichte, ihre Demonstration für die rechtliche Gleichstellung durchzuführen. Ihre Teilnahme an den Protesten hatte keinen affirmativen Charakter, was es der Regierung erlaubte, die Rechte dieser Community zu »vergessen« oder sie wie üblich für nicht dringend zu erklären. Wobei dem kurzen Gedächtnis der politischen Spitze die Politisierung der Gesellschaft von unten entgegensteht. Schon seit einem Jahr reagiert sie, die Zivilgesellschaft, solidarisch auf die Herausforderungen der neuen, nur noch von Reaktion bestimmten Lage. Vor kurzem wurde in Kiew das älteste öffentliche Kino mit dem symbolträchtigen Namen Oktober in Brand gesteckt, weil dort ein Film mit homosexueller Thematik gezeigt wurde. Regierung und Miliz reagierten in ihrem Genre, das im Volk gern als »tiefe Besorgnis« bezeichnet wird, und die Schutthaufen wurden von den zahlreichen Aktivisten und Kiewern beseitigt, die gekommen waren, um die große Brandstätte, an deren Stelle früher der Kinosaal war, aufzuräumen. Im Kampf um Raum und Erinnerung werden wir immer wieder mit dem Topos der Brandstätte konfrontiert, deren größte letztendlich der Maidan selbst war. Die rasend schnelle Vergänglichkeit der Ergebnisse kollektiver Anstrengung, die Fragilität des Moments, hat gleichzeitig eine stabile materielle Dimension – die Asche, die sich auf die Gesichter der Menschen legt und darauf kleben bleibt wie ein zweites Antlitz. Diese Maske trägt man ständig, sie war während des Aufstandes in Kiew so oft zu sehen.

 

***

 

Eine weitere Maske des Maidan musste ich im Herbst dieses Jahres sehen, als ich vor dem Krankenhaus wartete und mein Mann aus dem Rettungswagen stieg. Eine halbe Stunde zuvor war er im Stadtzentrum von einer Gruppe Neonazis in Militäruniform überfallen worden, sieben Männer hatten ihn geschlagen und getreten, vor allem auf den Kopf. Ein geschwollenes blaues Gesicht und rot unterlaufene Augen. Was für ein Schock war es, als die Aktivistin Tetjana Tschornowol im Dezember 2013 zusammengeschlagen wurde, ihr Foto ging sogar durch die internationalen Medien. Damals konnten wir den Schock noch spüren, weil wir noch nicht wussten, dass bereits ein paar Wochen später solche Masken Teil unseres Alltags sein würden. Aber ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell wieder in dem Krankenhaus landen würde, in dem ich während des Maidan gemeinsam mit den Afghanistanveteranen Wache gehalten habe, diesmal um in eigentlich schon friedlichen Zeiten einen mir nahen Menschen zu begleiten.

Wir gehen durch die schummrigen Flure von Sprechzimmer zu Sprechzimmer, die Krankenschwester, die die Fahrstuhltür schließt, sagt zu uns: »Also jetzt, nach dem Maidan, wieso prügeln die noch …« Außer der Vergangenheit, die uns mit sehr direkten Zitaten kalt erwischt, verletzt mich die Hilflosigkeit der Menschen, die hier auf den Fluren liegen, weil in den Krankenzimmern offensichtlich kein Platz mehr ist. Vor dem Röntgen wartet mit uns zusammen eine Frau über fünfzig, sie wurde auf dem Fußgängerüberweg von einem Auto angefahren, das sofort weitergefahren ist. Die Frau wird nach Hause entlassen, sie stützt sich auf den ihr hingestreckten Arm und weint leise, weil sie niemanden hat, der sie abholen könnte, bis nach Hause ist es weit, und natürlich hat sie, wie die meisten Leute bei uns, kein Geld für ein Taxi. Ich hole einen größeren Schein aus der Tasche – davon habe ich ein paar mitgenommen, um für die in der Ukraine »kostenlose medizinische Versorgung« zu bezahlen – und gebe ihn der Frau für ein Taxi. In dem Moment blickte mir die Krankenschwester in die Augen, und darin sah ich den stillen Schmerz einer Frau, die seit Jahren täglich Not und Ausweglosigkeit sehen muss, welche wie ein Gespenst durch die Flure des vorrevolutionären Krankenhausgebäudes irren.

Trotz gebrochener Gesichtsknochen wollte mein Mann nicht im Krankenhaus bleiben, und wir gingen nach Hause. Zu meiner eigenen Verwunderung dachte ich in dieser Nacht vor allem an den Maidan. Als ich mit dem Schlaf kämpfte, wurde mir klar, dass diese Sadisten nicht verhaftet werden würden, obwohl es nicht so schwer war herauszufinden, wer das war. Wenn die Mörder der Maidanler immer noch nicht im Gefängnis sind, worauf sollen wir dann hoffen. Ich spürte, wie mein Fundament zerbröckelte und in verschiedene Richtungen flog, ich mich im freien Fall wiederfand, mutterseelenallein und ohne Hoffnung auf Gerechtigkeit oder Sicherheit. Neben mir im Dunkeln lag schlaflos ein Mensch, den die Welle der Gewalt auf dem Maidan verschont und jetzt überwältigt hatte. Wie viele schlaflose Menschen gibt es in unserem Land, und sie schweben wie in einem schwarzen Vakuum, in das sie das Übermaß an tragischen Ereignissen der letzten Monate geschleudert hat. In diesem Übermaß ging die Sensibilität für individuelle Geschichten verloren, die Gewalt bedroht auch die neuen solidarischen Bindungen, die die Menschen noch vor einem Jahr geeint hatten.

Zwei Monate nach dieser Geschichte brachte sich das Krankenhaus in unserer Nähe wieder in Erinnerung. Eines Abends schrieb mir ein unbekannter Mann mit der Frage, ob ich in der Nacht auf den 23. Januar 2014 dort war, als die Automaidanler entführt worden waren. Es war einer der Entführten, der jetzt eigenständig Ermittlungen anstellte und Zeugen suchte. Ein weiteres Beispiel für gesellschaftliches Engagement in einem Bereich, wo die staatlichen Institutionen tätig werden sollten, in diesem Fall die »neue« Miliz. Jakiw, so hieß der Mann, verbrachte damals im Winter drei Wochen im Gefängniskrankenhaus, mit zahlreichen Knochenbrüchen, erst vor kurzem wurde er rehabilitiert und machte sich an die Untersuchung seines Falls. In seinem Twitter-Archiv hatte er meine Nummer gefunden. Er schickt mir ein Foto, aber ich erkenne darauf niemanden, denn nach der Entführung, damals Ende Januar, habe ich mein Leben irgendwie weitergelebt, aber für ihn war die Zeit an jenem Tag stehengeblieben, er wurde zum Startpunkt für einen Albtraum, der sich nur überwinden lässt, wenn ihm Gerechtigkeit widerfährt; dieses schreckliche Verbrechen, dem er zum Opfer gefallen war, muss aufgeklärt und die Schuldigen müssen bestraft werden. Schließlich bestand genau darin die wichtigste antikriminelle Intention des Maidan, und die kann nicht gerade jetzt erschöpft sein, wo die Schuldigen immer noch nicht bestraft sind und sich an die Reihe der Ungerechtigkeiten neue, noch brutalere Verbrechen anschließen, die heute Terror und Krieg heißen.

Was ich damals erlebt habe, erzähle ich jetzt zum wiederholten Male, diesmal als Zeugenbericht im Büro eines Ermittlers der Miliz. Er sieht mich an seinem Monitor vorbei an und notiert, was ich sage. Eine recht unerwartete Gesellschaft, um in der Erinnerung die eigene Teilnahme an etwas, das damals als kriminell galt, wachzurufen. Meine Aussagen bezeugen genau das – die Regierung hatte damals die Verfolgung der Protestierenden ausgerufen. Zum Schluss füge ich noch hinzu:

»Und übrigens, ich habe damals per SMS Drohungen bekommen.«

»Aber jetzt doch nicht mehr«, bemerkt der Ermittler.

»Nein, und das hat ja auch nicht direkt mit der Entführung zu tun, zeigt aber trotzdem, dass das eine sogfältig geplante Aktion war und ein ganzer repressiver Apparat daran arbeitete.«

»Gut, dass das alles vorbei ist«, antwortet er leicht genervt.

Ich unterschreibe das Zeugenprotokoll und trete hinaus in den Frost des Spätherbstes. »Das alles« ist noch nicht vorbei, in Wirklichkeit liegt es noch vor uns – fortdauerndes Verbrechen und Straflosigkeit bilden einen Epilog für jede Geschichte, die sich hier entfaltet. Und die Sujets werden durch diese toxische Willkür immer schrecklicher. Die Unabwendbarkeit und Ungewissheit der Zukunft nach dem Maidan erlaubt es auch weiterhin, auf Ehrlichkeit zu beharren, wie es Jakiw und andere Unterdrückte und Aktivisten machen. Ihre und somit unsere Hoffnung ist bereits ein großer Gewinn.

 

Kiew, November 2014

 

Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel



[1] George Soros, Devisenspekulant und Philanthrop, der mit seiner Stiftung Open Society die Transformation der ehemals kommunistischen Gesellschaften gefördert hat. (Anm. d. Hg.)