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Markus Decker
Zweite Heimat

Markus Decker

Zweite Heimat

Westdeutsche im Osten

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Für Christiane

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, März 2015 (entspricht der 2. Druck-Auflage von Oktober 2014)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von
Birgit und Horst Lohmeyer (Fotograf: Roman Pawlowski)
Satz: Ch. Links Verlag, Berlin

ISBN 978-3-86284-294-0

Inhalt

Vorwort

Agenten einer schwierigen Einheit
Ein Einleitungsessay

Als Onkel Herbert aus der Ostzone sein Holzbein ablegte
373 Kilometer liegen zwischen Münster in Westfalen und Bernburg in
Anhalt – dazwischen die ehemalige deutsch-deutsche Grenze.

Was allen in die Kindheit scheint
Der Umzug von Düsseldorf nach Magdeburg hat den
Psychoanalytiker Jörg Frommer seelisch gefordert.

In die postsozialistische Unordnung geflohen
Rainald Grebe, Kabarettist aus dem Rheinland, singt spöttische
Lieder über die neuen Länder.

Mangelleben im Paradies
Gertraud Huber aus Niederbayern führt in der Uckermark
den beliebten »Huberhof«.

Fruchtbarer Aufbruch
Stephanie Maiwald ging von Frankfurt am Main zum Studium
nach Frankfurt an der Oder.

Lasst Blumen sprechen in Leipzig
Ilona und Peter Krakow sind seit 1994 eines
der Ost-West-Paare.

Gott suchen in Mitteldeutschland
Ilse Junkermann aus Stuttgart wurde Bischöfin in einer
atheistischen Umgebung.

Ein linker Abgeordneter findet Anschluss
Jan Korte sitzt für eine Partei im Bundestag, die in seiner
niedersächsischen Heimat bedeutungslos ist.

»Er ist besser als mancher Ostdeutsche«
Der Hesse Gotthard Debelius rettete ein Fachwerkhaus in Thüringen.

Vorhof zur Hölle
Uwe Gerig wurde am ostdeutschen Harzrand geboren,
übersiedelte in den Westen und zurück.

Glücklich in Görlitz
Westrentner haben sich zu Hunderten in der östlichsten Stadt
Deutschlands niedergelassen.

Ein Preis fürs Bleiben
Birgit und Horst Lohmeyer zogen von Hamburg in die Idylle
Mecklenburgs - und damit zu den ostdeutschen Nazis.

Lust auf das Unbekannte
Die rheinische Ökonomin Jutta Günther analysiert in Halle den
Übergang Ostdeutschlands von der Plan- zur Marktwirtschaft.

»Der Wessi-Doktor wird sich nicht lange halten«
Dirk Grotkopp wechselte als Landarzt nach Mecklenburg.

In Greifswald weint man zweimal
Ein Drittel der 12 000 Studenten stammt aus dem Westen.

»Wo mein Zuhause ist, bestimme ich«
Der Unternehmer Thomas Kemmerich kam aus Aachen nach Erfurt,
als die Mauer fiel.

Sprungbeförderung nach Magdeburg
Rainer Robra und Matthias Schuppe bauten in Sachsen-Anhalt
die Landesverwaltung auf.

»Wir sind Unioner und ihr nicht!«
Nico Schäfer heuerte 2011 bei dem Ostfußballclub
Union Berlin an.

Aufarbeitung Marke West
Helmut Müller-Enbergs erforscht in Ost-Berlin
das Wirken der Stasi.

Rückkehr in die Bürgerlichkeit
Ingrid Mössinger aus Schwaben wurde
Museumsdirektorin in Chemnitz.

Vier Westler für Thierse
Als der bekannteste Politiker Ostdeutschlands das Feld räumte,
bewarben sich in der SPD nur Altbundesbürger um seine Nachfolge.

»Leben ist Brückenschlagen …«
Ein Resümee mit Ausblick

Anhang

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Literaturverzeichnis

Dank

Zum Autor

Vorwort

Ein Buch über Westdeutsche in Ostdeutschland? Das Thema habe sich doch 25 Jahre nach dem Mauerfall überlebt, raunen kritische Stimmen. Ja, mehr noch: Wer die Frage trotzdem aufwerfe, der arbeite an der Spaltung, statt sie zu beheben. Das jedenfalls finden selbsternannte Patrioten. Also: Schwamm drüber! Schwamm drüber? Nein, das wäre ganz falsch. Ich kann vielmehr an allen statistischen Erhebungen ablesen und an meinem eigenen Leben immer wieder beobachten, dass sich das Ost-West-Ding ganz und gar nicht erledigt hat. Es fängt an bei den Ostrentnern, zu denen ich – da seit über 20 Jahren im Osten beschäftigt – heute gehören würde, obwohl ich im Westteil der Republik geboren und aufgewachsen bin. Und es hört nicht auf bei Gesprächen, die ich mit Ostdeutschen führe und bei denen ich merke, dass wir von unterschiedlichen biografischen Voraussetzungen ausgehen. Manches, was selbstverständlich scheint, ist weiterhin erklärungsbedürftig. Heimat aber, so könnte man sagen, ist dort, wo man nichts erklären muss, sondern sich alles von allein versteht. Erst kürzlich fragte mich eine ostdeutsche Leserin am Telefon, ob ich aus dem Westen komme. Um mein »Ja« daraufhin mit den Worten zu quittieren: Man merke das. Es handelte sich um ein Misstrauensvotum.

Die fast anderthalbjährige Arbeit an diesem Buch mit insgesamt 30 längeren Interviews quer durch die ehemalige DDR stützt die These, dass die innere Einheit eine bestenfalls fragile Angelegenheit ist. Westdeutsche kostet es mal mehr, mal weniger Mühe, sich im Osten zurechtzufinden und sich dort heimisch zu fühlen. Mühelos ist es eigentlich nie. Zuweilen stellte sich bei Betroffenen im Laufe der Gespräche auch ein gewisser Aha-Effekt ein. Sie waren gezwungen, sich mit ihrer Lage als Westdeutsche im Osten einmal eingehender auseinanderzusetzen und stießen dabei auf Verdrängtes oder noch gar nicht Reflektiertes.

In einem Einleitungsessay habe ich vor dem Hintergrund der letzten 25 Jahre ein Bild der West-Ost-Wanderung entworfen, den Rahmen abgesteckt, in dem sich das Individuum bewegt. Tatsächlich begann diese Wanderung – von zahlreichen Ausnahmen zu DDR-Zeiten abgesehen – direkt nach dem Mauerfall, nicht erst nach der offiziellen Vereinigung am 3. Oktober 1990. Vieles in dem Prozess war zunächst regellos, herrlich regellos, wie manche fanden, ja fast rauschhaft. Es handelte sich überwiegend um die Wanderung von Eliten aus allen Lebensbereichen, die ein fremdes System in einem ihnen fremden Landesteil implantierten, dieses System beherrschten und es nicht selten immer noch tun. Die Wanderung war Folge eines Systemwandels, der von den Ostdeutschen selbst gewollt war und dessen Folgen sie nicht übersahen. Dabei ist der Essay ein Konstrukt aus zeitgeschichtlicher Erinnerung und dem Studium der auffallend schmalen Literatur zum Thema.

Der Hauptteil des Buches besteht aus Porträts von Migranten der ersten Stunde bis heute. Sie wurden nach dem Kriterium größtmöglicher Vielfalt ausgewählt, ohne dass diese Vielfalt Vollständigkeit beansprucht. Frauen und Männer sollten etwa gleich stark vertreten und territorial möglichst gleichmäßig auf den Osten verteilt sein. Auch sollten alle Altersgruppen vorkommen. Einzelne der Porträtierten kannte ich vorher. Andere habe ich komplementär dazu gesucht und zuweilen mit Hilfe Dritter gefunden. Dabei überwiegen Vertreter von Funktionseliten: Beamte, Politiker, Wissenschaftler – so wie Funktionseliten unter den West-Ost-Migranten generell überwiegen. Es sind aber auch »einfache Leute« dabei. Doch selbst sie ragen durch materielle Überlegenheit oder besonderes gesellschaftliches Engagement oft noch hervor. In der Vielfalt der Erfahrungen zeigt sich: Das Leben widerlegt die entwickelte Theorie nicht, geht aber über sie hinaus. Anfangs herrschte deutsch-deutsche Euphorie. Bald allerdings setzten teils bittere Kämpfe ein. Die Porträts, Ausnahmen bestätigen die Regel, geben ein Zeugnis dieser Kämpfe. Sie flachten in den Nullerjahren ab. Denn die größten Umwälzungen im Osten waren damals schon vorüber. Die Klischees wichen einem beiderseitigen Realismus. Man wusste inzwischen, was man voneinander zu halten hatte. Zugleich war die wirtschaftliche Not im Osten damals anhaltend groß. Nahezu jeder Zweite hatte keine Arbeit. Die Gesellschaft in den neuen Ländern war eine andere. Und sie ist es, wenn auch mit abnehmender Tendenz, geblieben. Das stellen sogar jene Westdeutschen mit Überraschung fest, die ihren Wohnort erst in den letzten fünf Jahren in den Osten verlegt haben und in Teilen von der falschen Voraussetzung ausgingen, das Land sei vollends zusammengewachsen. Das ist es nicht. Noch nicht.

Unter die Porträts mischen sich Reportagen über Gruppen: Westbeamte, Westrentner, Weststudenten und West-Ost-Liebende am Beispiel eines Paares aus Leipzig. Der Text über den Wettbewerb um die Nachfolge des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) ist ein Solitär. Er steht ganz für sich. Nicht nur, weil er in Berlin spielt, sondern auch, weil er die Perspektiven von Ost und West auf denselben Sachverhalt gleichsam paritätisch ausleuchtet. In allen anderen Fällen dominiert die westliche Perspektive, wenn auch jeweils eingeordnet. Die meisten Betroffenen haben sich sehr geöffnet, auch Ängste vor Ablehnung thematisiert. Einzelne haben Persönliches eher verborgen. Doch auch Letztere geben wie durch ein Fenster Einblick in die deutsch-deutsche Gegenwart.

Es soll in diesem Buch nicht darum gehen, die Schuld für offensichtliche Integrationsschwierigkeiten der einen oder anderen Seite zuzuschreiben, wenn man von Schuld überhaupt sprechen will. Die wesentliche Ursache für diese Schwierigkeiten liegt ohnehin weniger in den Einzelnen als in den historischen Bedingungen, denen sie unterworfen sind. Ziel ist es zu zeigen, wo die innere Einheit krankt und wo sie gelingt. Denn die innere Einheit entscheidet sich ja in der Regel weniger abstrakt, also im Aufeinanderprallen unterschiedlicher Landesteile. Sie entscheidet sich überwiegend in der konkreten menschlichen Begegnung. Und diese Begegnung findet entweder im Osten statt – dann, wenn Westdeutsche sich dort hinbegeben – oder umgekehrt. Erst wenn man die Erfahrungen beider Migrantengruppen nebeneinander legen würde, ergäbe sich ein vollständiges Puzzle. Das Buch über Ostdeutsche im Westen müsste also noch geschrieben werden.

Dieses Buch endet mit einem essayistischen Nachwort, das versucht, die unterschiedlichen Erfahrungen der Porträtierten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und einen Ausblick zu geben. Das Fazit ist recht eindeutig: Oberflächlich betrachtet hat sich im vergangenen Vierteljahrhundert zwischen Ost- und Westdeutschen vielerlei angeglichen. Doch zumindest unter denen, die beim Fall der Mauer 20 Jahre alt und älter waren, gären die Differenzen unterhalb der Oberfläche weiter. Nur gesprochen wird darüber selten, weil viele das Thema für erledigt halten oder für erledigt halten wollen. Dabei sind Gespräche das Einzige, was hilft. Das war 1989 so. Und es ist heute nicht anders.

Agenten einer schwierigen Einheit

Ein Einleitungsessay

Er ist der Vater aller Sätze der deutschen Einheit und hat ihr vielleicht gerade deshalb am meisten geschadet – Willy Brandts berühmtes Diktum: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.« Nicht, dass es der vormalige Kanzler und langjährige SPD-Vorsitzende nicht gut gemeint hätte mit dem Satz, den er am 10. November 1989 auf dem Balkon des Rathauses Schöneberg gesagt haben soll, den er in Wahrheit aber erst später in das Redemanuskript einfügte.1 Der Satz war in seinem Pathos der Stunde angemessen. Doch er war falsch. Ja, mehr noch: Er wurde zur sich selbst eben nicht erfüllenden Prophezeiung, sondern provozierte ihr Gegenteil. Waren sich die Deutschen in den ersten Monaten nach dem Fall der Mauer noch recht nahe, so wuchs die Entfremdung nach dem formellen Vollzug der Einheit am 3. Oktober 1990 rapide. Die Entfremdung war Ergebnis der Begegnung. Die Nähe war gefährlich geworden. Man sieht dies nicht zuletzt an jenen Menschen, die seit dem 9. November 1989 von West nach Ost übersiedelten, zunächst vereinzelt, dann immer zahlreicher. Sie werden neutral Westdeutsche genannt, kursieren in der wissenschaftlichen Literatur vereinzelt als »West-Ostler« und mutierten bald zu den böse beleumundeten »Wessis« mit der Steigerungsform »Besserwessis«. Ganz selten werden die Westdeutschen im Osten als das benannt, was sie tatsächlich sind: Migranten aus einem anderen Land – mit einer in Teilen anderen Geschichte, anderen Sprache und Kultur, anderen Religiosität, anderen Anbindung an die westliche Lebensart und einer anderen kollektiven Erinnerung an die Zeit nach 1945. Diese Migranten sind Agenten einer schwierigen Einheit.

Westdeutsche im Osten hat es entgegen der herrschenden kollektiven Erinnerung auch schon vor 1989 gegeben. Die Historikerin Andrea Schmelz beziffert sie auf mehr als eine halbe Million allein in den 50er und 60er Jahren.2 Es waren zu zwei Dritteln heimkehrende Ostdeutsche, vom SED-Regime als »Republikflüchtlinge« gescholten, und zu einem Drittel »echte« Westdeutsche. Manche kamen aus politischen Gründen, nicht zuletzt nach dem KPD-Verbot 1956, andere aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen wie der vor allem in den 50er Jahren noch hohen Arbeitslosigkeit. Und es waren keineswegs nur Nobodys, die es in die DDR zog, sondern auch Angehörige der intellektuellen Elite. Der Bekannteste unter ihnen war der Liedermacher Wolf Biermann, der 1953 mit 17 Jahren und voller Überzeugung aus Hamburg nach Ost-Berlin ging und 1976 von der Obrigkeit in den Westen ausgesperrt wurde. Ähnlich verhielt es sich mit Lothar Bisky, der als 18-Jähriger aus Schleswig-Holstein rüberkam, um in der DDR das Abitur zu machen, und der die Linkspartei Jahrzehnte später mit einem Ost- und einem Westkopf führen konnte. Ein anderer interessanter Fall ist Horst Kasner, verstorbener Vater der heutigen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der evangelische Pfarrer übersiedelte 1954, also ein Jahr später als Wolf Biermann, ebenfalls aus der Hansestadt Hamburg in den real existierenden Sozialismus. Dort herrschte Mangel an Geistlichen. Überdies wird Kasner nachgesagt, Sympathie für die DDR gehabt zu haben: Man schimpfte ihn den »roten Kasner«. Auch Karl-Eduard von Schnitzler wäre zu nennen, der so verhasste TV-Propagandist vom »Schwarzen Kanal«, einer politischen Propagandasendung des DDR-Fernsehens. Kaum zu glauben angesichts seiner Hasstiraden, aber wahr: Schnitzler war »Wessi«. Er wurde nach dem Krieg beim neu entstandenen Nordwestdeutschen Rundfunk beschäftigt, »ließ in seine Kommentare indes fortgesetzt kommunistische Propaganda einfließen«3, wie der britische Chefkontrolleur Hugh Carleton Greene monierte. Schnitzler musste gehen und heuerte 1948 beim Berliner Rundfunk an. Last, but not least: Inge Viett. Die damalige Terroristin der Roten Armee Fraktion entwand sich der Strafverfolgung in Deutschland West, indem sie 1982 in Deutschland Ost untertauchte – mit Hilfe der Staatssicherheit. Das flog erst nach der Wende auf. Und schließlich gab es da die desertierenden Nato-Soldaten, die es ebenfalls in die DDR lockte.4

Der DDR waren die überwiegend jungen Übersiedler selbstredend genehm, weil sie den Aderlass in die Gegenrichtung kompensieren halfen, vor allem aber aus ideologischen Motiven. DDR-Zeitungen schrieben mit Blick auf die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland: »Jetzt stimmen die westdeutschen Jugendlichen mit den Füßen ab.« Gemeint ist: Sie fliehen vor dem Westmilitär in den Osten. In einem Aufnahmeheim in Röntgenthal bei Berlin fand sich noch im Januar 1990 ein 33-jähriger Dachdecker aus Köln ein und tat kund, er suche in der DDR »’ne Perspektive im menschlichen Bereich«. Ihm gehe der bundesrepublikanische »Scheißladen auf die Nerven«5. Der verzweifelte Handwerker ist einer von 300 Gleichgesinnten, die, wie der Soziologe Rudolf Stumberger später herausfand, noch in dem Augenblick Sehnsucht nach der DDR haben, als sie sich aufzulösen beginnt.

Das alles kann wiederum nicht darüber hinwegtäuschen, dass die West-Ost-Migranten bereits vor dem Verschwinden der DDR Integrationsschwierigkeiten hatten. Den Rückkehrern haftete der Makel an, auf der anderen Seite der Mauer nicht zurechtgekommen zu sein. Die »echten« Westdeutschen wurden mit Kopfschütteln betrachtet, weil man sich fragte, warum sie nicht blieben, wo sie waren. Schließlich war der Westen doch golden. Oder nicht? Dieses Unverständnis gilt wohl auch retrospektiv: Dass Angela Merkel für die Übersiedlung ihrer Familie von West nach Ost lobende Worte gefunden hätte, ist nicht überliefert.

Neben den Übersiedlern waren da die vielen Westdeutschen, die im Osten so gut es ging ihre Verwandten besuchten, und jene Schülergruppen, die für ein paar Tage den zweiten deutschen Staat in Augenschein nahmen. Im Oktober 1990 hatten 52 Prozent der westdeutschen Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren die DDR beziehungsweise Ost-Berlin bereist, knapp ein Viertel davon allerdings maximal zwei Tage.6 Die meisten Schüler beurteilten das, was sie vor 1989 in der DDR sahen, milde. Sie begegneten Land und Leuten mit Empathie sowie in der falschen Gewissheit, dass sie mit beidem nichts weiter zu tun haben würden. Hinterher wurde der Blick, wie Forscher herausfanden, gnadenloser. Urteile wurden nachträglich revidiert.7 Plötzlich erschienen die Ostdeutschen »fast wie kleine Kinder«8. Man schämte sich vorangegangener Urteile und urteilte nun umso härter. Zugleich wurden vermeintliche oder tatsächliche Interessengegensätze zwischen Ost und West ab 1990 zu einer der »wesentlichen Empathiebremsen im westostdeutschen Verhältnis«9. Aufrichtiger mutet da von Anfang an die Legende um Altbundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) an, der, wenn er die Elbe mit der Eisenbahn in östlicher Richtung überquerte, stets die Vorhänge zugezogen haben soll.

Mit der deutsch-deutschen Einfühlungsbereitschaft war es also spätestens vorüber, als die Einheit erreicht war. Dies gilt auch für den Blick der Ostdeutschen auf die in ihrem Land nun zahlreicher anzutreffenden Westdeutschen. 2 324 569 Frauen und Männer übersiedelten zwischen 1989 und 2011 von West nach Ost10 (bei 4 184 903 in die Gegenrichtung). Gerade am Anfang war der Anteil der Rückkehrer sehr hoch. Die »echten« Westmigranten siedelten in Ost-Berlin und dem Berliner Umland. Sie ließen sich in Thüringen und anderen eher grenznahen Gebieten nieder. Sie zogen überwiegend in die neu entstehenden Landeshauptstädte und in andere Verwaltungszentren. Die wenigsten gingen aufs Land oder an die Grenze zu Polen oder Tschechien. Es kamen weitaus mehr Männer als Frauen und vor allem die mittleren Altersgruppen. Lediglich 13 Prozent waren über 50. Kurzum: Es kamen hauptsächlich Eliten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Medien – Menschen, die im neuen Deutschland Ost gute Jobs fanden und sich besonders gern dort niederließen, wo es ihnen nicht ganz so fremd erschien, in Weimar oder in Dresden zum Beispiel. Bei vielen von ihnen ist bis heute ein Fremdheitsgefühl geblieben – ein Fremdheitsgefühl, das auch der Tatsache geschuldet ist, dass ausweislich einer Umfrage von 2012 noch immer über 40 Prozent der Ostdeutschen die Westdeutschen für arrogant, geldgierig und oberflächlich halten.11 Die Frage ist: Woher kommt das?

Die Antwort liegt auf der Hand. Die anhaltende Distanz hat außer einer unterschiedlichen Herkunft und ihren Konsequenzen wesentlich mit den Machtverhältnissen zwischen Ost- und Westdeutschland im Ganzen sowie Ost- und Westdeutschen im Einzelnen zu tun. Die Beziehungskiste war und ist asymmetrisch, und zwar in jeder Hinsicht. Nicht umsonst aber gelten Beziehungen im Privatleben dann am aussichtsreichsten, wenn sich die Partner ähnlich und gleich stark sind. Davon kann bei der deutsch-deutschen Paarung keine Rede sein.

Die Westdeutschen waren den Ostdeutschen zahlenmäßig überlegen. Knapp 64 Millionen Altbundesrepublikaner trafen auf rund 16 Millionen neue. Das mag eine banale Feststellung sein. Dennoch wirkt sie sich aus, auch mental. Schon die nackten Zahlen mussten in Ostelbien das Gefühl einer Übermacht auf der anderen Seite erzeugen.

Das ökonomische Gefälle war gigantisch und kam in der ersten Hälfte der 90er Jahre voll zum Tragen, als es darum ging, die DDR-Wirtschaft zu privatisieren. Bis Mitte 1994 fielen 80 Prozent des von der Treuhandanstalt verwalteten Produktivvermögens an Westdeutsche und nur sechs Prozent an ehemalige DDR-Bürger. Der Rest, nämlich 14 Prozent, fiel ausländischen Investoren zu.12 Die 45 Treuhanddirektoren kamen ihrerseits zu nahezu 100 Prozent aus dem Westen.13 Hinzu traten die zahllosen Rückgabeansprüche auf Immobilien, die in Städten wie Kleinmachnow bei Berlin bis zu 80 Prozent erreichten. Mit anderen Worten: Die Westdeutschen teilten die Reste der DDR unter sich auf. Dabei ist die westdeutsche ökonomische Dominanz im Osten in Teilen ungebrochen. So ergab eine Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunks in den Großstädten der Region, dass noch 2011 exakt 45 Prozent aller Eigentumswohnungen an Westdeutsche verkauft wurden. In Leipzig betrug der Anteil sogar 61 Prozent (in Erfurt hingegen nur 23 Prozent) – wobei die Westdeutschen eher die neuen oder frisch renovierten Wohnungen erwarben, während die Ostdeutschen auf gebrauchte Ware zurückgriffen.14 Dass von den 500 Zentralen der großen deutschen Konzerne bis heute 95 Prozent im Westen residieren, versteht sich fast von selbst. Es ist polemisch formuliert und doch richtig: Die Ostdeutschen leben in einem Land, das ihnen mehrheitlich nicht gehört.

Politisch-strukturell sah es nach 1989 ähnlich aus. Ökonomische wie politische Vorherrschaft bedingten sich gegenseitig. Die Deutschen Ost wollten keine Experimente. Schon im Dezember 1989 jubelten sie in Dresden Helmut Kohl, dem »Kanzler der Einheit«, zu. Auf den Transparenten stand nicht mehr: »Wir sind das Volk.« Darauf stand bekanntlich: »Wir sind ein Volk.« Bei der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 votierten die Ostdeutschen dann überwiegend für die CDU-dominierte »Allianz für Deutschland«. Rasch stiegen mit Kurt Biedenkopf (»König Kurt«) in Sachsen und Bernhard Vogel in Thüringen westdeutsche CDU-Politiker zu Ministerpräsidenten auf, deren Karrieren eigentlich schon beendet waren. Den politisch Verantwortlichen hüben wie drüben erschien das historische Zeitfenster berechtigterweise eng. So nutzte Kohl beherzt die sich ihm bietende historische Chance. Ohnehin wirkte die alte Bundesrepublik bis dahin im Ganzen wie ein exportfähiges Modell. Der Westen war ebenso wenig wie der Osten in der Stimmung, etwas auszuprobieren. Er hatte es scheinbar auch nicht nötig. Währungsunion, Einigungsvertrag, Vereinigung – es ging Schlag auf Schlag. Und weil das westliche System im Osten etabliert werden sollte, mussten die westdeutschen Eliten ran, allen voran die Juristen: »Leihbeamte« mit Zulage, Letztere bald für Ostdeutschland wenig schmeichelhaft »Buschzulage« getauft. Bereits Ende 1991 kamen in Brandenburg 53 Prozent der Beamten im Höheren Dienst aus den alten Ländern. In der Staatskanzlei waren es sogar 73 Prozent. Lediglich in den Randressorts konnten sich die Ostdeutschen besser behaupten.15 Auch in diesem Punkt herrscht bis heute Kontinuität. Zwar sind die ostdeutschen Ministerpräsidenten mittlerweile allesamt ostdeutscher Herkunft – von dem Westfalen Erwin Sellering (SPD) in Mecklenburg-Vorpommern einmal abgesehen. Aber die Staatskanzleichefs sind wieder ausnahmslos Westdeutsche, seitdem die ostdeutsche CDU-Politikerin Marion Walsmann in der thüringischen Kapitale Erfurt im Herbst 2013 durch den Trierer Juristen Jürgen Gnauck ersetzt worden ist.

Die westliche Dominanz war schließlich auch dort noch weit überproportional, wo sie es nicht hätte sein müssen. Und sie führte dazu, dass die Ostdeutschen die Deutungshoheit über ihr Land und dessen Geschichte teilen mussten. Die auflagenstarken SED-Bezirkszeitungen gingen an westdeutsche Verlage und wurden in der Regel westdeutschen Chefredakteuren überantwortet. Erst nach und nach rückten Ostdeutsche zu Chefredakteuren auf. Dem früheren Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, Rudolf Mühlfenzl, stand bei der Abwicklung des DDR-Hörfunks- und Fernsehens eine 14-köpfige Beratergruppe zur Seite, in der sich kein einziger Ostdeutscher fand.16 Selbst da, wo Westdeutsche eine Anpassung des DDR-Systems an eigene Gepflogenheiten am allerwenigsten vermuten würden, bei den Kirchen, blieb kein Stein auf dem anderen. Der ehemalige evangelische Superintendent von Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), Christoph Magirius, beklagte, dass alles eins zu eins übernommen worden sei, was aus dem Westen kam: Kirchensteuer, Religionsunterricht in Schulen, Militärseelsorge. »Es wäre ein Trugschluss zu glauben, die Wessis brachten einiges mit«, ärgert sich der Kirchenmann. »Sie brachten alles mit.«17

Zu der strukturellen Überlegenheit in beinahe allen Bereichen des öffentlichen Lebens gesellte sich ein geistiges Dominanzgefühl West. Der aus Esslingen stammende Magdeburger Psychoanalytiker Jörg Frommer hat herausgearbeitet, was das bedeutet. So attestiert er der westdeutschen Gesellschaft eine mentale Abkehr vom Erbe des Nationalsozialismus. Diese sei spätestens seit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1985 im Bundestag »unbestrittener Teil des öffentlichen Selbstverständnisses«18. Parallel zur Läuterung im Westen sei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts die Attraktivität des real existierenden Sozialismus allmählich gesunken. Auch die westdeutsche Linke verstand sich mehr und mehr als Teil des Westens. Die alte Bundesrepublik versöhnte sich mit sich selbst, so Frommer, ohne den Nationalsozialismus vollkommen aufzuarbeiten. »Als Ersatz für die verlorenen Projektionsflächen dienten nun im öffentlichen Diskurs zunehmend die gerontokratischen repressiven Systeme im Osten Europas einschließlich der DDR19 Gerontokratie bedeutet: Herrschaft der Alten. Nach einer kurzen Phase der Wiedervereinigungseuphorie seien die Westdeutschen dann nach 1989 dem inneren Zwang verfallen, »die neuen Länder als den Ort wahrzunehmen, an dem die unbewältigten negativen eigenen Identitätsanteile projektiv Platz finden konnten«20. Einfacher ausgedrückt: Der Osten repräsentiert in den Augen des Westens das, was er glaubt, hinter sich gelassen zu haben: autoritäres Denken, intellektuelle Enge und jede Menge Provinzialität. So kommt der Psychoanalytiker zu dem Schluss, »dass die Wiedervereinigung nicht nur die Identitätsentwicklung der Ostdeutschen richtungsweisend prägte, sondern auch für die westdeutsche Bevölkerung kollektiv identitätsrelevant wurde«21.

Wir haben es also mit einem Paradox zu tun: Im Prozess der Vereinigung entstand die alte Bundesrepublik neu. Ja, erst nach 1989 entstand sie wirklich. Es entwickelte sich ein »scharfes Abgrenzungsbedürfnis«22 (Frommer) – ein Abgrenzungsbedürfnis auch von sich selbst und der eigenen Vergangenheit. Die Bezeichnungen, die der Westen für den Osten erfand, künden davon: »Dunkeldeutschland«, »Der Doofe Rest« (für DDR) oder schlicht »die Zone«. Die Ostdeutschen verweigerten die Anpassung im Kleinen, weil sie die Anpassung im Großen anfangs nicht verhindern wollten und danach nicht mehr verhindern konnten. So entstand die »Mauer in den Köpfen«. Was nach 1990 zunächst unverständlich erschien, ist aus heutiger Perspektive sonnenklar: Die Deutschen konnten nicht so zusammenkommen, wie sich das die Naiveren wohl gedacht hatten. Dies ging auch deshalb nicht, weil, wie der Soziologe Georg Simmel lehrte, Fremdheit erst durch Begegnung überhaupt entsteht, während das Fremde bis dahin einfach nur das Unbekannte ist und Fremde keine »Bodenbesitzer« sind. Die Westdeutschen im Osten sind fatalerweise – nicht immer als Person, aber als Repräsentanten des anderen Landesteils – Fremde und Bodenbesitzer zugleich. Dadurch wird Fremdheit zementiert. Und der Umzug von West nach Ost wird für den Psychoanalytiker Frommer eine »biographische Schwellensituation, die ein entsprechendes psychisches Bewältigungspotenzial herausfordert«23 – mit zwei problematischen Varianten. Entweder die soziale Integration gelingt zulasten des westdeutsch geprägten Selbstwertgefühls. Oder aber das westdeutsch geprägte Selbstwertgefühl bleibt unverletzt – zulasten der sozialen Integration.

Neben unterschiedlichen Machtverhältnissen stellten sich bald unterschiedliche Mentalitäten heraus. Während der Westdeutsche, wie der Psychologe und Coach Olaf Georg Klein24 zeigte, auf Selbstrepräsentation und konfliktträchtiges Verhalten geeicht war, übte sich der Ostdeutsche überwiegend in Zurückhaltung und wich Konflikten aus. Repräsentanten einer Ich-Gesellschaft trafen auf Repräsentanten einer Wir-Gesellschaft. Bereits 1991 sahen 65 Prozent der Westdeutschen und sogar 70 Prozent der Ostdeutschen »große Unterschiede« zwischen beiden Bevölkerungsgruppen.25 Waren die Ostdeutschen noch 1991 der Ansicht, es kämen zu wenige Westbeamte, waren es ihnen 1993 schon zu viele.26

Den Westdeutschen im Westen ist dies nach wie vor einerlei. An der Wirklichkeit in Konstanz oder Saarbrücken hat sich bis heute wenig verändert. Für die Westdeutschen, die ihren Lebensmittelpunkt in die »jungen Länder« (Bernhard Vogel) verlegten, blieb das System dagegen identisch. Sie hatten eine erhebliche Anpassungsleistung in psychischer, kultureller und sozialer Hinsicht zu vollbringen. Eine Anpassungsleistung, die weder die daheimbleibenden Westdeutschen noch die daheimbleibenden Ostdeutschen wohl so richtig einzuschätzen wissen. Unter den West-Ost-Migranten hat die Soziologin Claudia Dreke drei Verhaltensmuster herausdestilliert.27

Da sind jene, die rasch auf einen Integrationserfolg hinsteuern. Sie können die Fremde ordnen, messen dem Ost-West-Gegensatz immer weniger Bedeutung zu und integrieren sich voll in die neue Gesellschaft. Dabei hilft ihnen die eigene Wahrnehmung als Aufbauhelfer und Pionier, der aus idealistischen Motiven handelt und die Lage langsam unter Kontrolle bringt. »Die westlichen Aufbauhelfer waren überwiegend Männer«, schreibt etwa der Ökonom Friedrich Thießen. »Sie verbrachten Wochen um Wochen in den neuen Bundesländern und arbeiteten vom frühen Tag bis in die späte Nacht.«28 Spätestens nach Feierabend warfen sie dann ein Auge auf die Ostfrauen. Man sieht: Es herrscht das Selbstbild eines Cowboys vor, der Ordnung schafft in der Wildnis. Der schon erwähnte Schweriner Ministerpräsident Erwin Sellering gehört zweifellos zu jener Gruppe. Ja, er überschreitet zumindest für einstige Dissidentenkreise sogar die Grenze zur Überanpassung, wenn er sagt: »Ich verwahre mich dagegen, die DDR als totalen Unrechtsstaat zu verdammen, in dem es nicht das kleinste bisschen Gute gab.«29

Die zweite Gruppe bilden Claudia Dreke zufolge jene, die den fremden Osten als Bedrohung wahrnehmen. Ihnen gelingt die Überwindung von sozialer und kultureller Fremdheit nicht. Das aufsehenerregendste Beispiel war zweifellos die Arztfrau und Physiotherapeutin Gabriela Mendling, die mit ihrem Mann Werner von Wuppertal nach Frankfurt an der Oder übersiedelte und dort 1999 ein Buch mit dem Titel Neuland schrieb.30 Darin schildert sie den Osten als ein Territorium, in dem die Lasagne »mit der Hand gegessen« wird. In Frankfurt bricht daraufhin ein Sturm der Entrüstung los. Und den Mendlings bleibt nichts anderes übrig, als der Oder den Rücken zu kehren. Nun gab es im Osten einige Mendlings. Doch die wenigsten schrieben Bücher. Sie machten wieder rüber – heimlich, still und leise. Ganz nebenbei hat der Osten auch solche Zuwanderer erlebt, die sich dort als integrationsunfähig erwiesen. Bis man feststellte, dass sie es auch im Westen waren. Die dritte und letzte Gruppe besteht, folgt man der Potsdamer Soziologin, aus Grenzgängern. Sie spielen mit den Ost-West-Kategorien und ihrer eigenen Identität. Sie fühlen sich mal hier, mal da zugehörig. So wie die erste Gruppe können sie das Fremde im Osten als Abenteuer genießen. Sie sind glückliche und wohl auch starke Menschen, die sich nicht auf eine Seite schlagen müssen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), in Bonn geboren und seit Anfang der 90er Jahre in Ostdeutschland lebend, ist dafür das vielleicht hervorstechendste öffentliche Beispiel. Der Vetter des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière bewegt sich souverän zwischen den Fronten.

Zweifellos sind die hitzigen Zeiten, in denen Ost und West ungebremst aufeinanderprallten, weithin vorüber. Man hat beidseitig Erfahrungen miteinander gesammelt und das Gegenüber in seiner gesellschaftlichen Stellung und damit auch in seiner Individualität lesen gelernt. Es sind Freundschaften entstanden. Und da, wo es nottut, geht man sich meist ohne Geschrei aus dem Weg. Die Jungen sind überdies in der Regel nicht so von der Vergangenheit belastet wie die Alten. Allein: Die alten Konfliktlinien sind noch da, auch weil sich Machtverhältnisse kaum geändert haben und die Teilgesellschaften sich zumindest in den ländlichen Regionen weiter autonom entwickeln. Es ist bei der inneren Einheit wie mit einem Hemd, das am ersten Knopf falsch zugeknöpft wurde: Es kann auch am letzten Knopf schwerlich richtig zugeknöpft werden.

Man sieht das an der jungen westdeutschen Journalistin Judith Borowski, die zehn Jahre nach Gabriela Mendling ein Buch publiziert hat, das jenem nicht unähnlich ist. Es trägt den Titel Knietief im Osten. Reisen durch ein fremdes Land31 und misst die neuen Länder an den ästhetischen Kategorien westdeutscher Großstadthipster. Weder Dresden noch Jena finden darum vor Borowskis Auge Gnade. Über ihr Hotel in »Hölle an der Saale« (gemeint ist Halle) schreibt die junge Frau vom Jahrgang 1969: »Beim Anblick des Bettes in meinem schlauchartigen Zimmer sehe ich masturbierende Handelsvertreter.«32 Was ebenso gut im Westen hätte assoziiert werden können, wird wie gehabt unter das ostdeutsche Stereotyp subsumiert. Die wenig verhüllte Botschaft lautet: Der Osten nimmt es sich 20 Jahre nach der Einheit noch immer heraus, fremd und im Zweifel arm zu sein. Dass die Fremdheit im Auge der Betrachterin liegt, bleibt unreflektiert. Derweil gibt es zu Borowskis Werk ein ostdeutsches Pendant, das 2012 erschienen ist. Der Autor heißt Holger Witzel. Der Titel seines Machwerks: Schnauze Wessi. Pöbeleien aus einem besetzten Land .33

Man sieht die west-ost-deutschen Abgründe, die sich dann und wann auftun, nicht minder gut und ausgerechnet an jener Partei, die sich Die Linke nennt und die 2007 aus der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) Ost und der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) West entstand. Da liefert sich der ungeliebte westdeutsche Vorsitzende Klaus Ernst aus Bayern, der gern Porsche fährt und sich den Vorsitz gut bezahlen lässt, während einer Fraktionssitzung im Juni 2011 ein Wortgefecht mit dem sächsischen Linken Michael Leutert. Ernst sagt, Leuterts Lebensleistung legitimiere ihn nicht zu Kritik – gemeint war augenscheinlich, so jedenfalls wurde es interpretiert, dass es eine »nur« ostdeutsche Lebensleistung sei. Daraufhin knallen Türen. Einer soll gerufen haben: »Arschloch!« Ernst ist auf Dauer nicht zu halten und muss abtreten. Sein autoritärer Gestus erinnert an die Hausväter der 50er Jahre, die ihre Söhne gern wissen ließen: »Solang du deine Füße unter meinen Tisch stellst …« Im Herbst 2012 wirft der Justiziar der Bundestagsfraktion, der Lübecker Wolfgang Neskovic, dem Landesverband Mecklenburg-Vorpommern vor, »auch über zwanzig Jahre nach der Wende« hätten Teile der Partei noch immer »größte Mühe, einfachste Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beachten«34. Der parteilose Neskovic hat seinen Wahlkreis zu jener Zeit in Cottbus und tritt schlussendlich auch aus der Fraktion aus. Zwischen den beiden Ereignissen bringt der ostdeutsche Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi auf dem Göttinger Parteitag im Juni 2012 eine neuerliche Trennung der beiden Parteihälften ins Gespräch. Und im Hochsommer desselben Jahres mahnen die Vorsitzenden der ostdeutschen Landesverbände bei ihren Westgenossen »mehr Respekt« an. Auf die Frage, warum der West-Ost-Konflikt ausgerechnet in der Linkspartei mehr als 20 Jahre nach dem Mauerfall wieder ausbricht, antwortet Gysi: Weil es der Westflügel nicht ertragen könne, schwächer zu sein als der Ostflügel. Das könnte stimmen.

All das beschreibt nur ausschnittsweise die deutsche Realität 25 Jahre nach 1989. Eine Realität, in der sich die Gegensätze langsam abschleifen und in der sich das Klima zu bessern beginnt. Ein Ausschnitt ist es aber allemal.

Das Bemerkenswerte an der Situation der Westdeutschen im Osten ist unterdessen, dass sie praktisch kein Thema sind und damit auch ihre Nöte nicht ins Gewicht fallen. Aber diese Nöte gibt es. Partnerschaften zerbrechen, weil die Cowboy-Frauen häufig nicht mitziehen wollen in den »Busch«. Die Westdeutschen stehen aus diesen und aus anderen Gründen zwischen West und Ost. Im Osten stehen sie zudem zwischen den alten SED-Eliten und den Dissidenten. Vor allem treten die »Wessis« in den Augen der »Ossis« entweder als geldgeile Kapitalisten in Erscheinung, die alten Besitz für sich beanspruchen, oder sie werden, sofern sie Beamte sind, als zweite Garnitur betrachtet, die im Osten eine Laufbahn einschlagen, die sie im Westen niemals hätten einschlagen können. »Ausschuss aus dem Westen – das verletzt manchmal«, sagt ein Verwaltungsangestellter im Gespräch mit der Soziologin Claudia Dreke.35 An anderer Stelle heißt es: »Trotzdem bleibt so was innen drin, wo es dann doch irgendwie schmerzt, weil man nicht dazugehört.«36 Hinzu tritt ein Phänomen, das auch türkische und andere »Gastarbeiter« kennen. Sie wurden angeworben oder kamen aus eigenem Antrieb – mutmaßlich für eine Übergangszeit. Dann blieben sie länger, ohne dass Integration wirklich stattfand. So ist es in diesen Fällen auch oft gewesen. Mit der besonderen Ausprägung des Di-Mi-Do-Mannes, der am Dienstag seinen Arbeitsplatz, sagen wir in einer ostdeutschen Universität, aufsucht und am Donnerstag nach der letzten Vorlesung wieder verschwindet. Nur geredet wird darüber kaum mehr.

In den Medien hat sich der Neuigkeitswert abgenutzt. In der Wissenschaft herrscht, Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, weithin Leere. Ich habe selbst nach längeren Recherchen wenig Erhellendes darüber gefunden, wie sich die Neuen in den neuen Ländern integrieren oder eben nicht integrieren. Migrations- und Elitenforscher fanden das Thema auf Nachfrage jeweils interessant, verwiesen jedoch auf Fachkollegen, die dann ihrerseits auf andere Wissenschaftler verwiesen. Und warum? Wohl auch, weil man durch die Wahrnehmung der Westdeutschen im Osten als Migranten ein deutsch-deutsches Problem offenbaren würde. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Es dominiert die ungebrochene Ideologie des: »Es ist doch jetzt alles eins.« Und Ideologien versperren bekanntermaßen den Blick auf die Wirklichkeit.

Ähnlich geht die Politik mit dem Phänomen um. Angaben über die Besitzverhältnisse im Osten sucht man im einmal jährlich erscheinenden Bericht zur deutschen Einheit vergebens. Man meint wohl, das verstehe sich von selbst. Auch will man keine neuen Wunden aufreißen. Das gleiche Bild ergibt sich beim Blick auf die Eliten in den neuen Ländern. Lieber hält man die Hand vor Augen, da alle wissen: West-Dominanz auch hier. Immer noch. Die Zeche zahlt im Zweifel der Westdeutsche im Osten. Er wird dort, meist verdeckt und selten offen, als Vertreter des Siegers der deutsch-deutschen Geschichte wahrgenommen. Er steht nicht für sich selbst. Er steht nolens volens für ein Ganzes. Und so kommt es, dass der aus Baden stammende Bürgermeister von Marzahn-Hellersdorf, der Sozialdemokrat Stefan Komoß, noch im Januar 2013 verschämt zu Protokoll gibt, er sehe sein Leben »nicht als Maß aller Dinge«37. Im Westen versteht sich das von selbst. Wer sieht sein Leben schon im Ernst »als Maß aller Dinge«? Im Osten ist es der Erwähnung weiter wert. Es ist ein Signal: Ich bin nicht so wie die da drüben.

Dass bald ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall rund ein Fünftel der Westdeutschen unverändert noch nie in Ostdeutschland war, spricht jedenfalls Bände. Und es verweist auf ein weiteres Paradox der deutschen Einheit: dass nämlich Westdeutsche für das östliche Selbstwertgefühl ein Problem sein können, wenn sie kommen und wenn sie nicht kommen. So oder so stimmt nicht, dass nach 1989 zusammenwuchs, was zusammengehörte. Näher an der Wahrheit ist der Satz, den der Intendant der Ost-Berliner Volksbühne, Frank Castorf, schon 1992 sprach: »Wenn wir zweierlei Deutschen nicht begreifen, daß wir verschieden sind, werden wir nicht zueinanderkommen.«38

Als Onkel Herbert aus der Ostzone sein Holzbein ablegte

373 Kilometer liegen zwischen Münster in Westfalen und Bernburg in Anhalt – dazwischen die ehemalige deutsch-deutsche Grenze.

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