Editorial:
Europa am Rande des Kriegs

Die Washingtoner Regierung plant, ihr Marionettenregime in Kiew im Kampf gegen die prorussischen Separatisten in der Ostukraine mit Waffen auszurüsten. Damit rückt die Gefahr eines neuen Weltkriegs ins Zentrum der europäischen Tagespolitik.

Der französische Präsident, François Hollande, warnte am Donnerstag vor der Gefahr eines »totalen Kriegs«, ehe er mit Kanzlerin Angela Merkel nach Moskau aufbrach, um dort den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu teffen. Am Freitag wiederholte der frühere schwedische Ministerpräsident, Carl Bildt, diese Warnung in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).

»Ein Krieg mit Russland ist leider denkbar«, erklärte Bildt kurz vor Beginn der 51. Münchner Sicherheitskonferenz. »Wir durchleben sicherlich eine besonders gefährliche Phase, besonders, wenn man die Lage aus der europäischen Perspektive betrachtet. Es brennt im Osten, es brennt im Süden. Diese Feuer kommen uns sehr nahe. Was die Sache so brisant macht: Es gibt zusätzlich eine große Unsicherheit in den globalen Machtbeziehungen.«

Der Weltkapitalismus steht vor einer ebenso großen Krise wie im vergangenen Jahrhundert, als er die Menschheit 1914 und 1939 in zwei Weltkriege stürzte. Im Verlauf dieser imperialistischen Kriege wurden dutzende Millionen Menschen abgeschlachtet. Die Zerstörungen eines dritten, mit Nuklearwaffen geführten Weltkriegs, würden jene Schrecken noch bei weitem in den Schatten stellen.

Ein Wohngebäude in Lysychansk, Region Lugansk, das im ukrainischen Bürgerkrieg zerstört wurde.

Ein Wohngebäude in Lysychansk, Region Lugansk, das im ukrainischen Bürgerkrieg zerstört wurde.

Die Gefahr einer nuklearen Katastrophe hat sich weitgehend unbemerkt von der Weltbevölkerung entwickelt. Die mitverantwortlichen Medien bilden ein Kartell des Schweigens.

So vermied es die FAZ, Bildt die offensichtliche Frage zu stellen: Falls die schwedische Regierung einen Atomkrieg gegen Russland nicht mehr ausschließt, berücksichtigt sie dann bei der Ausarbeitung ihrer Tagespolitik die Möglichkeit, dass Atomraketen im Zentrum von Stockholm einschlagen könnten? Ist sie der Meinung, die Verteidigung des rechtsextremen Kiewer Regimes sei es wert, dass ganz Schweden ausgelöscht wird? Wie viele Millionen Menschen­leben sind die imperialistischen Mächte bereit, ihren geopolitischen Ambitionen zu opfern?

Obwohl die Nato-Regierungen auf die historische Dimension der Krise hinweisen, hat keine von ihnen einen Plan, sie zu lösen. Stattdessen gießen sie Öl ins Feuer. Die imperialistischen Mächte wollen zehntausende Soldaten der Schnellen Eingreiftruppe der Nato nach Osteuropa entlang der russischen Grenze verlegen und Kriegsschiffe ins Schwarze Meer schicken.

Sogar noch während der Friedensgespräche, die Merkel und Hollande in Moskau führten, und die offensichtlich der Sorge über die Auswirkungen möglicher amerikanischer Waffenlieferungen an Kiew geschuldet waren, pries Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die deutsche Beteiligung an der Schnellen Eingreiftruppe, die gegen Russland in Stellung gebracht wird.

In ihrer Auftaktrede zur Münchner Sicherheitskonferenz erklärte sie: »Deutschland ist nicht nur Rahmennation und Starthelfer der neuen Nato-Speerspitze. Wir bauen das Multinationale Korps Nordost mit auf, ebenso wie die Stützpunkte, die die Nato in ihren östlichen und südlichen Mitgliedstaaten einrichtet.« Sie lobte »das unermüdliche Engagement der Bundesregierung, die Rolle der OSZE zu stärken und für eine geschlossene Haltung der EU gegenüber Russland zu sorgen«.

Als mögliche Alternative zu den amerikanischen Vorschlägen einer direkten Aufrüstung der Ukraine gibt es jetzt Stimmen in Europa, die eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland fordern. So soll Russland sogar von der internationalen Transaktionsgenossenschaft SWIFT ausgeschlossen werden. Ein solcher Wirtschaftsschlag könnte selbst als kriegerischer Akt angesehen werden.

Inzwischen arbeiten die europäischen Medien fieberhaft daran, die öffentliche Meinung zu vernebeln, indem sie den Kreml als Aggressor hinstellen und als Auslöser der Ukraine-Krise beschuldigen.

Am Freitag warnte die französische Tageszeitung Le Monde davor, dass »die Geschichte sich auf des Messers Schneide zwischen einem zwar tödlichen, aber lokalen Konflikt und einem größeren, wirklich beunruhigenden Konflikt bewegt (…), einer möglichen Kettenreaktion, wie sie Europa nur allzu gut kennt«. Das Blatt machte direkt Putin für die Krise verantwortlich. Sie schrieb: »Im Prinzip hängt alles von einem Mann ab: von Wladimir Putin. Glaubt der russische Präsident, er habe Kiew genug bestraft für den Wunsch, sich der Europäischen Union anzunähern? Will er die Spannungen zurückschrauben, oder will er weiter den Krieg anheizen?«

Das Märchen von der »Ein-Mann-Kettenreaktion«, das Le Monde hier auftischt, ist Bestandteil der Propagandakampagne zur Dämonisierung Russlands, die sich auf absurde Lügen stützt. In Wirklichkeit sind die imperialistischen Mächte für die wachsende Kriegsgefahr verantwortlich. Ihr verantwortungsloses Handeln wird dabei von ihren hegemonialen Ambitionen und der unlösbaren Krise des kapitalistischen Systems angetrieben.

Was die Regierungen in Washington und Europa erschüttert, sind die globale Wirtschaftskrise, ihr eigenes schwindendes Gewicht in der Weltwirtschaft und der wachsende Widerstand, den die Arbeiterklasse ihrer Austeritätspolitik entgegensetzt. Aufgeschreckt durch die »Unsicherheit in den globalen Machtbeziehungen« (Bildt), versuchen sie ihre geopolitische Position durch den Griff nach der Ukraine zu festigen. Sie haben dort einen Putsch orchestriert, um Russland einen vernichtenden Schlag zu versetzen und das Land in eine Halbkolonie zu verwandeln.

Vergangenes Jahr unterstützten die Nato-Mächte unter Führung von Washington und Berlin zunächst den Putsch in Kiew, der von Kräften wie dem faschistischen Rechten Sektor angeführt wurde. Nach dem Sturz des pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch installierten sie ein rechtes Regime, das der Arbeiterklasse brutale Sparmaßnahmen aufzwang und versuchte, die Opposition in den pro-russischen Regionen der Ostukraine im Blut zu ertränken.

Dann nutzten die Nato-Mächte den bewaffneten Widerstand gegen das Kiewer Regime in der Ostukraine, zum Beispiel auf der Krim und im Donbass, um ihre militärische Aufrüstung in Osteuropa zu rechtfertigen. Sie unterstützten den Krieg im Donbass, der über 5.000 Menschen das Leben gekostet und Millionen in die Flucht getrieben hat. Nachdem der Kreml jetzt angedeutet hat, notfalls militärisch einzugreifen, um eine breite Militäroffensive gegen den Donbass zu stoppen, reden die Nato-Mächte über die Möglichkeit eines »totalen Kriegs«.

Die internationale Arbeiterklasse muss dem Kriegswüten der imperialistischen Mächte die Strategie der sozialistischen Weltrevolution entgegensetzen.

Die Gefahr eines Kriegs ist zum Dauerthema geworden und hat sich in den letzten Jahren immer wieder akut gestellt: im September 2013, als die Vereinigten Staaten und Frankreich beinahe Syrien angegriffen hätten; 2014, als wegen des nach wie vor ungeklärten Abschusses von MH17 über der Ukraine Kriegsdrohungen gegen Russland ausgestoßen wurden; und heute wegen des Kriegs in der Ostukraine. Wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, eine Massenintervention gegen den Imperialismus zu organisieren, dann wird die eine oder andere Krise einen unkontrollierbaren Krieg auslösen, der das Überleben der Menschheit in Frage stellt.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale schrieb dazu im vergangenen Jahr in der Erklärung »Sozialismus und der Kampf gegen imperialistischen Krieg«:

»Der Zusammenprall der imperialistischen und nationalstaatlichen Interessen beweist, dass es im Kapitalismus unmöglich ist, die weltweit integrierte Wirtschaft vernünftig zu organisieren und so für eine harmonische Entwicklung der Produktivkräfte zu sorgen. Zugleich erzeugen dieselben Widersprüche, die den Imperialismus an den Rand des Abgrunds treiben, die objektiven Triebkräfte für die soziale Revolution. Die Globalisierung der Produktion hat zu einem massiven Wachstum der Arbeiterklasse geführt. Nur diese soziale Kraft, die an keine Nation gebunden ist, kann das Profitsystem und damit die Ursache von Krieg beenden.«

Alex Lantier

IYSSE gewinnen Sitz im Studentenparlament der Humboldt-Universität

Laut dem amtlichen Endergebnis haben die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) einen Sitz im Studentenparlament der Berliner Humboldt-Universität gewonnen. Die Wahl fand am 20. und 21. Januar statt.

Die beiden erfolgreichsten Kandidatenlisten – die der SPD-Jugendorganisation Jusos und die der Grün-Alternativen Liste, die den Grünen nahe steht – gewannen jeweils sieben Sitze.

Die IYSSE führten eine Kampagne gegen die Wiederbelebung des deutschen Militarismus und die Verwandlung der Universität in ein Zentrum rechter Kriegspropaganda. Auf dieser Grundlage gewannen sie genügend Stimmen, um im Studentenparlament vertreten zu sein.

Die Kriegsschulddebatte und die Kontinuität der deutschen Außenpolitik

Erfolgreicher Auftakt der IYSSE-Seminar­veranstaltungen an der Humboldt-Universität

Am Montag fand die Auftaktveranstaltung einer Seminarreihe der IYSSE (International Youth and Students for Social Equality) an der Berliner Humboldt-Universität statt. Die HU-Gruppe der IYSSE nimmt an den StuPa-Wahlen teil und organisiert als Teil ihres Wahlkampfs eine Seminarreihe zum Thema: »Die Rückkehr des deutschen Militarismus und die Fälschung der Geschichte«.

Obwohl der vergangene Montag der erste Studientag nach der Weihnachtspause war, kamen etwa fünfzig Studenten und Arbeiter und verfolgten den Vortrag mit großem Interesse. Als Referenten hatte die IYSSE den Chef-Redakteur der deutschen WSWS, Peter Schwarz eingeladen. Er sprach über »Die Kriegsschulddebatte und die Kontinuität der deutschen Außenpolitik«.

Die Veranstaltung an der ­
Humboldt-Universität

Zu Beginn erklärte der Vorsitzende der Hochschulgruppe Sven Wurm warum die IYSSE an den Wahlen zum Studentenparlament am 20/21. Januar teilnimmt und dazu vier Kandidaten aufgestellt hat. In der Vergangenheit sei das Interesse an diesen Wahlen äußerst gering gewesen, berichtete er. Weniger als 10 Prozent der Studierenden seien zur Wahl gegangen, was vor allem damit zusammenhänge, dass fast nur völlig unernste Gruppierungen zur Wahl standen.

»Wir treten zu den StuPa-Wahlen an, um gegen die Rückkehr des deutschen Militarismus zu kämpfen. Wir führen unseren Wahlkampf unter der Parole: ›Wissenschaft statt Kriegspropaganda!‹«, erklärte Wurm und schilderte, wie einige Professoren versuchen die Geschichte umzuschreiben und die Kriegsverbrechen der Nazi-Diktatur zu revidieren. Er zitierte Prof. Jörg Baberowski, der vor knapp einem Jahr im Spiegel mit den Worten zitiert wurde: »Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird.‹«

Ein Teil der IYSSE Veranstaltung an der HU

Ein Teil der IYSSE Veranstaltung an der HU

»Wir werden verhindern, dass die Humboldt-Universität erneut in ein ideologisches Zentrum für Krieg und Diktatur verwandelt wird«, betonte Wurm.

Peter Schwarz knüpfte an diesen Punkt an und erklärte, dass nur derjenige gegen Geschichtsfälschung und Kriegspropaganda kämpfen könne, der die Geschichte kennt. Zu Beginn seines Vortrags machte Schwarz auf das Buch von David North »Die russische Revolution und das unvollendete 20. Jahrhundert«aufmerksam, dessen deutsche Übersetzung im Frühjahr erscheint. Er zitierte aus dem Vorwort, in dem North schreibt:

»Die Geschichte ist zum Schlachtfeld geworden. … Die ständig zunehmenden Konflikte und Krisen des 21. Jahrhunderts sind ausnahmslos mit Auseinandersetzungen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben. Je stärker aktuelle politische Kämpfe an historische Fragen rühren, desto offener wird der Umgang mit ihnen durch politische Erwägungen bestimmt. Die Vergangenheit wird im Interesse der heutigen politischen Reaktion gefälscht. … Die Geschichtsforschung wird immer schamloser den finanziellen und politischen Interessen der Herrschenden untergeordnet.«

Dann schilderte Schwarz anschaulich die beiden großen Historiker-Debatten, die im vergangenen Jahrhundert zu heftigen Auseinandersetzungen führten. Die erste war die so genannte »Fischer-Kontroverse«. In seinem Buch »Griff nach der Weltmacht« hatte der Historiker Fritz Fischer 1961 minutiös nachgewiesen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den globalen Ansprüchen des wirtschaftlich rasch expandierenden Deutschen Reichs, dem Kriegsausbruch im Sommer 1914 und den Zielen gab, die Deutschland während des Kriegs verfolgte.

Aus Fischers Buch ging außerdem hervor, dass es eine direkte Kontinuität zwischen den Kriegszielen des Kaiserreichs und Hitlers Kriegszielen im Zweiten Weltkrieg gab.

Die zweite Debatte war der »Historikerstreit«. Er wurde 1986 durch einen Artikel von Ernst Nolte ausgelöst, der argumentierte, die Verbrechen der Nationalsozialisten sollten als nachvollziehbare Reaktion auf die Oktoberrevolution, den russischen Bürgerkrieg von 1918–1921 und die Barbarei des Sowjetbolschewismus aufgefasst werden.

Schwarz zitierte Nolte, der das Vorgehen der Nationalsozialisten als »aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution« bezeichnete. Nolte forderte: »Die Dämonisierung des Dritten Reiches kann nicht akzeptiert werden.«

In beiden Kontroversen setzten sich damals Historiker durch, die eine deutsche Mit- oder Hauptverantwortung für die beiden Weltkriege bejahten: in der ersten Fritz Fischer, der eine jüngere Generation von Historikern beeinflusste, die wesentlich zum Verständnis des Ersten Weltkriegs und seiner Ursachen beitrugen; in der zweiten die Gegner Ernst Noltes, die eine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen ablehnten.

»Das soll nun geändert werden«, erklärte Schwarz. Das Geschichtsverständnis solle in Überstimmung mit den neuen Zielen der deutschen Außenpolitik gebracht werden.

Herfried Münkler habe die Aufgabe übernommen, Fritz Fischer anzugreifen, Jörg Baberowski, der den Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Uni inne hat, konzentriere sich darauf, Ernst Nolte zu rehabilitieren. Nicht zufällig habe Baberowski dem Spiegel im Februar gesagt: »Nolte wurde Unrecht getan. Er hatte historisch recht«.

Schwarz konzentrierte sich auf die Fischer-Kontroverse und widerlegte die Argumente von Herfried Münkler Punkt für Punkt. Die Behauptung, Deutschland sei in den Ersten Weltkrieg hineingeschlittert, oder hinein-geschlafwandelt, wie Münkler und der australische Historiker Christopher Clark behaupten, wurde bereits von Fritz Fischer selbst durch viele Fakten und Dokumente als falsch bewiesen.

Schwarz zitierte unter anderem eine Direktive von Kaiser Wilhelm aus dem Jahr 1905, die deutlich macht, dass Militarismus und Kriegsvorbereitung auch eine innenpolitische Funktion hatten. Sie dienten dazu die wachsenden Klassenspannungen nach außen abzulenken und die sozialistische Arbeiterbewegung zu unterdrücken. Kaiser Wilhelm fürchtete ein Übergreifen der russischen Revolution nach Deutschland und gab im Dezember 1905 seinem Kanzler Bülow die Anweisung: »Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig, per Blutbad, und dann Krieg nach außen.«

Auch ein anderes Dokument in Fischers Buch sei sehr aufschlussreich, erklärte Schwarz. 1912 habe der Militärhistoriker Friedrich von Bernhardi ein Bestseller-Buch mit dem Titel »Deutschland und der nächste Krieg« veröffentlicht. Die darin zusammengefassten Überlegungen und Forderungen gäben nach Einschätzung von Fischer, »mit großer Präzision die Intentionen des offiziellen Deutschland« wieder. »Um Deutschlands Durchstoß zur Weltmacht zu sichern, nennt Bernhardi drei Ziele: Ausschaltung Frankreichs, Gründung eines mitteleuropäischen Staatenbundes unter deutscher Führung und Deutschlands Ausbau als Weltmacht durch die Gewinnung neuer Kolonien.«

»Das war zwei Jahre vor Kriegsbeginn«, sagte Schwarz und fügte hinzu, »die angeblichen Schlafwandler hatten offenbar den Griff nach der Weltmacht fest im Blick.«

Abschließend erklärte Schwarz: »Münklers Attacken auf Fritz Fischer sollen verhindern, dass die historischen Vorbilder studiert und verstanden werden, auf die sich die heutige Außenpolitik stützt. Sie dienen dazu, das geistige Klima zu vergiften und Widerstand gegen den Militarismus zu ersticken.« Dagegen wende sich die IYSSE.

Der Vortrag stieß auf große Zustimmung. Im Anschluss daran wurden mehrere Fragen gestellt. Unter anderem wurde darüber diskutiert, warum der Kampf gegen Krieg die Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms erfordert.

Am kommenden Montag wird die Seminarreihe fortgesetzt. Das Thema lautet dann »Die Relativierung der Naziverbrechen an der Humboldt-Universität«. Der Vortrag wird auf die Frage eingehen, warum Ansichten, die lange Widerstand hervorriefen, heute weitgehend kritiklos von der akademischen Welt akzeptiert werden.

Veranstaltung der IYSSE:
Die Relativierung der Nazi-Verbrechen an der Humboldt-Universität

Am Montagabend kamen mehr als 60 Studierende und Arbeiter an der Humboldt-Universität in Berlin zusammen, um über die Relativierung der Naziverbrechen an der Hochschule zu diskutieren. Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) hatten im Rahmen ihrer Wahlkampagne für das Studierendenparlament zu der Veranstaltung geladen.

Veranstaltung an der Humboldt Universität

Der Sprecher und Kandidat der IYSSE an der Humboldt-Universität, Sven Wurm, ging in seiner Einleitung auf die Erfahrungen ein, die die Studentengruppe in den letzten Monaten gemacht hat. Nachdem sie begonnen habe, der Verharmlosung der historischen Verbrechen des deutschen Imperialismus entgegenzutreten, habe sie scharfe Angriffe von der Uni-Leitung, dem Institut für Geschichtswissenschaft und Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erlebt.

Zugleich habe sie eine enorme Resonanz in der Studierendenschaft und unter jungen Arbeitern erhalten. An einer zentralen Veranstaltung gegen den Krieg im Oktober letzten Jahres hätten sich an der Humboldt-Universität rund 200 Menschen beteiligt. »Diese Erfahrungen zeigen, wie wichtig unsere Kampagne ist und wie wichtig es ist, die IYSSE aufzubauen. Wir sind die einzige Jugendorganisation, die dem Krieg auf einer sozialistischen Grundlage entgegentritt«, so Wurm.

Als Referent war Christoph Vandreier, Mitglied der Redaktion der WSWS und Sprecher der IYSSE in Deutschland, geladen. Vandreier stellte in seinem Beitrag die Relativierung der Naziverbrechen in ihren historischen und politischen Kontext und zeigte auf, wie sie mit der Rückkehr des deutschen Militarismus zusammenhängt.

Er begann damit zu beschreiben, wie eine Aufarbeitung der Naziverbrechen in der Nachkriegszeit systematisch behindert wurde, weil führende Nazis nach wie vor wichtige Posten in Staat, Wissenschaft und Wirtschaft besetzt hätten. Erst mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung in den 60er Jahren und der beginnenden Jugendbewegung sei es zu einer breiteren Diskussion über den Nationalsozialismus gekommen.

Die Auschwitz-Prozesse, der Eichmann-Prozess sowie zahlreiche Veröffentlichungen und Studien hätten dazu geführt, dass die alten Nazi-Mythen eines angeblichen Verteidigungskriegs gegen die Sowjetunion oder der Behauptung, dass sich deutsche Verbrechen qualitativ nicht von Kriegsverbrechen anderer beteiligter Staaten unterschieden hätten, nicht mehr aufrecht erhalten werden konnten.

Christoph Vandreier spricht zu den Zuhörern

Christoph Vandreier spricht zu den Zuhörern

Der Faschismus, erklärte Vandreier gestützt auf die Arbeiten Leo Trotzkis, sei von der herrschenden Elite eingesetzt worden, um die Ziele des deutschen Imperialismus nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg erneut durchzusetzen. Um das zu erreichen, mussten die mächtigen Arbeiterorganisationen zerschlagen werden. In diesem Programm habe letztlich auch Hitlers Antisemitismus gewurzelt.

Die rechten Wissenschaftler seien in den 80er Jahren wieder in die Offensive gegangen. Ermutigt durch die von Bundeskanzler Helmut Kohl ausgerufene »geistig-moralische Wende« hätten sie 1985 eine Reihe von Artikeln veröffentlicht, in denen sie eine Revision des Verständnisses des Dritten Reichs und die »Normalisierung« des deutschen Vergangenheitsbezugs gefordert hätten.

Insbesondere der Historiker Ernst Nolte habe versucht, den Holocaust als verständliche Reaktion auf die »Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution« darzustellen. Die Nationalsozialisten, so Nolte, vollbrachten »eine ›asiatische‹ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ›asiatischen‹ Tat betrachteten«.

In seinem Beitrag zeigte Vandreier auf, dass Noltes Artikel unter Historikern und Akademikern einen Sturm der Entrüstung auslöste. »In zahlreichen Artikeln wurde nachgewiesen, dass Noltes Behauptung jeder historischen Grundlage entbehren«, sagte er. »Nach diesen Auseinandersetzungen galten Noltes Positionen als diskreditiert.«

Nun werde versucht, Nolte zu rehabilitieren. Nolte selbst dürfe in wichtigen Zeitungen wieder publizieren. Etliche Journalisten und Professoren wiederholten seine Thesen und versuchten, den Holocaust von seinen Wurzeln im deutschen Imperialismus zu lösen. Eine herausragende Rolle spiele dabei Jörg Baberowski, der den Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der HU innehat.

Baberowski hatte schon im Februar im Spiegel erklärt »Nolte wurde Unrecht getan. Er hatte historisch recht«, und hinzugefügt: »Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird.«

»Bei diesen Aussagen handelt es sich nicht um einen Lapsus«, sagte Vandreier. »Baberowski arbeitet seit seinem Studium in Göttingen daran, Nolte zu rehabilitieren.« Durch seine Arbeiten zum Stalinismus und zur Oktoberrevolution versuche er, den deutschen Faschismus als Reaktion auf die stalinistische Gewalt darzustellen.

Gestützt auf seine naive wie unwissenschaftliche Gewalt-Theorie, nach der Gewalt ursachen- und grundlos sei, und eine irrationalistische Geschichtskonzeption, stelle Baberowski die Oktoberrevolution als bloßen und brutalen Ausbruch der Gewalt dar, erklärt Vandreier. Der Stalinismus sei für ihn die direkte Folge dieser Eruption.

»Baberowskis Schilderungen der Bolschewiki und der sowjetischen Gesellschaft lassen barbarische Horden vor dem geistigen Auge erscheinen, die nur darauf warteten, das zivilisierte Europa zu überrennen«, sagte Vandreier. »Auf diese Weise impliziert er, dass das Deutsche Reich sich habe verteidigen müssen.«

Ein Teil der IYSSE Veranstaltung an der HU

Ein Teil der IYSSE Veranstaltung an der HU

In seiner Monographie »Verbrannte Erde« gehe Baberowski so weit, zu unterstellen, dass die Sowjetunion einen Krieg gegen Deutschland geplant habe: »Im Krieg waren Stalin und seine Gefolgsleute ganz bei sich, nichts hätte dem Diktator mehr gefallen, als Kriege zu führen, die er auch gewinnen konnte«, zitiert Vandreier Baberowski.

Der Vernichtungskrieg der Nazis und die industrielle Vernichtung der Juden stelle Baberowski als eine Eskalationsstufe der Ostfront dar, die nichts mit der nationalsozialistischen Ideologie oder dem deutschen Imperialismus zu tun gehabt habe. In »Verbrannte Erde« schreibt Baberowski:

»In jedem Krieg ist solch ein Zustand [wie er an der Ostfront herrschte] Grund genug, um dem Gegner Widerstand zu leisten und Grausamkeiten zu begehen. Mit Hinweis auf ideologische Überzeugungen ist solches Verhalten überhaupt nicht erklärbar. Hitlers Soldaten führten keinen Weltanschauungskrieg, sie führten vielmehr einen Krieg, dessen Dynamik sie nicht mehr entkamen. […] Hitler war schlecht beraten, Krieg gegen ein Regime zu führen, dem die Massengewalt zur zweiten Natur geworden war und dessen Soldaten mit dieser Gewalt umzugehen verstanden. Gegen eine solche Macht konnte die Wehrmacht auf Dauer nicht Sieger bleiben.« (S. 403)

Vandreier zitiert noch einen weiteren Text von Baberowski aus dem Jahr 2007, in dem dieser schreibt: »Stalin und seine Generäle zwangen der Wehrmacht einen Krieg neuen Typs auf, der die Zivilbevölkerung nicht mehr verschonte.« Mehrfach stelle Baberowski auch Vergleiche an, in denen er Stalins Diktatur als brutaler beschreibe als den Nationalsozialismus. »So gesehen holten Hitler und seine Helfer nach, was Stalin und seine Gefolgsleute in der Sowjetunion bereits vollbracht hatten«, zitiert ihn Vandreier.

An dem Abend bringt Vandreier noch viele weitere Zitate, die dem Publikum das Blut in den Adern gefrieren ließen. Nach dieser Darstellung bestand bei den Zuhörern kein Zweifel mehr, dass die Positionen, die Baberowski heute formuliert, sehr viel weiter gehen, als die revisionistischen Thesen Noltes aus den 80er Jahren.

Vandreier erklärte, dass es in Fachzeitschriften zwar scharfe Kritik an Baberowski gebe und auch der revisionistische Charakter seines Werkes aufgezeigt werde, dass aber eine öffentliche Debatte darüber ausbleibe.

»Dass es heute keinen Protest gegen Baberowskis Thesen gibt, hängt nicht mit der Qualität seiner Argumente zusammen«, erklärt Vandreier, »sondern mit dem Bankrott der ehemaligen Kritiker. In den letzten 30 Jahren hat ein substantieller Rechtsruck in Teilen des ehemals linken akademischen Milieus stattgefunden.«

Dieser Prozess sei nicht nur auf die Universität beschränkt, stellt Vandreier fest. »Wenn heute wieder tausende Rechtsextreme durch Dresden marschieren, ist das das Produkt einer systematischen Kampagne«, sagt er. »Vom Linkspartei-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow bis hin zu Innenminsiter De Maizière erklärten zahlreiche Politiker die Sorgen für berechtigt oder boten den Demonstranten Gespräche an.«

Der Grund für diese Entwicklung sei die wachsende soziale Polarisierung und vor allem die Rückkehr des deutschen Militarismus. »Die Militarisierung Deutschlands erfordert die Mobilisierung der Rückständigsten Elemente der Gesellschaft. In den Medien, der Wissenschaft und auf der Straße«, sagt Vandreier.