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Psychoanalyse und Ethik
Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie

(Man for Himself
An Inquiry into the Psychology of Ethics)

Erich Fromm
(1947a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Paul Stapf und Ignaz Mühsam
überarbeitet von Rainer Funk

Erstveröffentlichung unter dem Titel Man for Himself. An Inquiry into the Psychology of Ethics, New York 1947 (Rinehart & Co.); deutsch erstmals veröffentlicht unter dem Titel Psychoanalyse und Ethik, Zürich 1954 (Diana Verlag); in überarbeiteter Form und Übersetzung neu veröffentlicht unter dem Titel Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie, Stuttgart 1979 (Deutsche Verlags-Anstalt). – Wieder abgedruckt in Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band II, S. 1-157.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IX, S. 1-157.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1947 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

2. Humanistische Ethik als angewandte Wissenschaft der Kunst des Lebens

Sussja betete einst zu Gott: „Herr, ich liebe dich so sehr, und ich fürchte dich nicht genug! Herr, ich liebe dich so sehr, und ich fürchte dich nicht genug! Mache, dass ich dich fürchte wie einer deiner Engel, die dein furchtbarer Name durchfährt!“

Alsbald erhörte Gott das Gebet, und der Name durchfuhr dem Sussja das verborgene Herz, wie es den Engeln geschieht. Da kroch Sussja unter das Bett wie ein Hündchen, und die Angst des Tieres erschütterte ihn, bis er aufheulte: „Herr, lass mich dich wieder lieben wie Sussja!“

Und Gott erhörte ihn zum andernmal.

(Chassidische Legende, in: N. N. Glatzer, 1946, S. 62)

a) Humanistische Ethik im Gegensatz zu autoritärer Ethik

Wenn wir nicht wie der ethische Relativismus darauf verzichten wollen, nach objektiv gültigen Normen der Lebensführung zu suchen, welche Kriterien können wir dann für derartige Normen finden? Die Art der Kriterien hängt vom Typus des ethischen Systems ab, dessen Normen wir untersuchen. Notwendigerweise sind die Kriterien in einer autoritären Ethik grundsätzlich verschieden von denen in einer humanistischen Ethik. In einer autoritären Ethik bestimmt eine Autorität, was für den Menschen gut ist, und stellt die Gesetze und Normen der Lebensführung auf; in einer humanistischen Ethik gibt sich der Mensch seine Norm selbst und unterwirft sich ihr aus eigenem Willen. Er ist Ursache, Gestalter und Gegenstand der Norm.[5]

Die Verwendung des Ausdrucks „autoritär“ fordert eine Klärung des Begriffes Autorität.[6] In Bezug auf diesen Begriff herrscht eine derartige Verwirrung, dass weithin die Auffassung gilt, es existiere nur die Alternative zwischen diktatorischer, irrationaler Autorität und dem völligen Fehlen jeglicher Autorität. Diese Alternative ist jedoch falsch. Das eigentliche Problem besteht darin, von welcher Art die Autorität ist. Wenn wir von Autorität sprechen, meinen wir dann rationale oder irrationale [II-011] Autorität? Rationale Autorität hat ihren Ursprung in Kompetenz. Der Mensch, dessen Autorität respektiert wird, handelt kompetent in dem ihm zugewiesenen Bereich, den ihm andere anvertraut haben. Er braucht weder einzuschüchtern, noch muss er durch magische Eigenschaften Bewunderung erregen. Solange und in dem Maße, in dem er kompetente Hilfe leistet, anstatt auszubeuten, beruht seine Autorität auf rationalen Grundlagen und braucht keinerlei irrationale Furcht. Rationale Autorität lässt nicht nur ständige Prüfung und Kritik seitens derer zu, die ihr unterworfen sind, sondern fordert diese geradezu heraus.

Rationale Autorität ist immer zeitlich begrenzt. Ihre Anerkennung ist davon abhängig, wie die Aufgabe erfüllt wird. Irrationale Autorität dagegen hat ihren Ursprung stets in der Macht über Menschen. Diese Macht kann eine physische oder eine psychische sein, sie kann tatsächlich vorhanden sein oder aber in der Angst und Hilflosigkeit des Menschen, der sich dieser Autorität unterwirft, ihren Grund haben. Macht auf der einen, Furcht auf der anderen Seite, das sind stets die Stützen irrationaler Autorität. Kritik an dieser Art von Autorität ist nicht nur nicht erwünscht, sondern verboten. Rationale Autorität beruht auf der Gleichheit desjenigen, der die Autorität besitzt und dessen, der sich ihr unterstellt. Beide unterscheiden sich lediglich im Grad des Wissens oder in der Befähigung auf einem bestimmten Gebiet. Irrationale Autorität beruht ihrer Natur nach auf Ungleichheit und das heißt gleichzeitig, auf einem Wertunterschied. Der Begriff „autoritäre Ethik“ bezieht sich immer auf irrationale Autorität, gemäß dem herkömmlichen Sprachgebrauch des Wortes „autoritär“ als einem Synonym für totalitär und antidemokratisch. Der Leser wird bald erkennen, dass humanistische Ethik und rationale Autorität durchaus vereinbar sind.

Autoritäre Ethik unterscheidet sich von humanistischer Ethik durch zwei Kennzeichen, ein formales und ein materiales. In formaler Hinsicht leugnet autoritäre Ethik die Fähigkeit des Menschen, zu wissen, was gut und was böse ist. Der Normgeber ist stets eine Autorität, die das Individuum transzendiert. Ein solches System gründet nicht in Vernunft und Wissen, sondern in der Furcht vor der Autorität und in dem Gefühl der Schwäche und der Abhängigkeit des Untergebenen. Die magische Kraft der Autorität bewirkt, dass man es ihr überlässt, Entscheidungen zu treffen. Ihre Entscheidungen können und dürfen nicht in Frage gestellt werden. In materialer oder inhaltlicher Hinsicht beantwortet autoritäre Ethik die Frage nach Gut und Böse primär vom Standpunkt der Interessen der Autorität und nicht der Interessen des Individuums.

Sie beutet immer aus, auch dann, wenn der Untergebene beträchtlichen psychischen oder materiellen Gewinn aus ihr zu ziehen vermag.

Sowohl die formalen wie die materialen Kennzeichen der autoritären Ethik treten in der Genese ethischer Werturteile beim Kinde und unreflektierter Werturteile des durchschnittlichen Erwachsenen in Erscheinung.[7] Die Grundlagen unserer Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, werden im Kindesalter geschaffen. Dies gilt zunächst hinsichtlich physiologischer Funktionen, dann aber auch in Bezug auf komplexere Fragen des Verhaltens. Das Kind erwirbt bereits ein Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse, noch ehe es mit Hilfe der Vernunft zu unterscheiden lernt. Seine Werturteile sind das Ergebnis freundlicher oder unfreundlicher [II-012] Reaktionen jener Menschen, die für sein Leben bedeutungsvoll sind. In Anbetracht seiner völligen Abhängigkeit von der Fürsorge und Liebe der Erwachsenen kann es nicht überraschen, dass schon ein Ausdruck der Billigung oder Missbilligung im Gesicht der Mutter genügt, dem Kind den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen. In der Schule und in der Gesellschaft wirken ähnliche Faktoren. „Gut“ ist das, wofür man gelobt wird, „böse“ ist das, wofür man von gesellschaftlichen Autoritäten oder von der Mehrzahl seiner Mitmenschen missbilligend angesehen oder auch getadelt wird. In der Tat scheint es so zu sein, dass die Furcht vor Tadel und der Wunsch nach Anerkennung die mächtigste und beinahe ausschließliche Motivierung für ethisches Urteilen ist. Dieser intensive emotionale Druck hindert das Kind, später auch den Erwachsenen, kritisch zu fragen, ob „gut“ etwas Gutes für ihn selbst oder für die Autorität bedeutet. Diese Unterscheidung wird deutlich, wenn wir Werturteile in Bezug auf Dinge betrachten. Sage ich, ein Auto sei „besser“ als ein anderes, dann ist selbstverständlich, dass ich das eine Auto darum als „besser“ bezeichne, weil es mir mehr nützt als das andere. Gut oder schlecht bezieht sich hier auf den Gebrauchswert, den ein Gegenstand für mich hat. Hält der Besitzer eines Hundes seinen Hund für „gut“, dann bezieht er sich auf bestimmte Eigenschaften des Hundes, die für ihn von Nutzen sind, zum Beispiel, dass er den Ansprüchen des Besitzers an einen Wachhund, Jagdhund oder an ein anhängliches Schoßhündchen entspricht. Ein Ding wird dann als gut bezeichnet, wenn es für die Person gut ist, die es gebraucht. Das gleiche Wertkriterium lässt sich auch auf den Menschen anwenden. Der Arbeitgeber bezeichnet einen Arbeitnehmer als „gut“, wenn dieser ihm von Nutzen ist. Der Lehrer wird einen Schüler vermutlich dann „gut“ nennen, wenn er gehorsam ist, den Unterricht nicht stört und ihm alle Ehre macht. Ein Kind wird man gleichfalls „gut“ nennen, wenn es lernwillig und gehorsam ist. Das „gute Kind“ ist vielleicht eingeschüchtert und unsicher und hat nur das Bestreben, seinen Eltern zu gefallen, indem es sich ihrem Willen unterwirft, während das „böse Kind“ seinen eigenen Willen und eigene Interessen hat, die jedoch den Eltern missfallen.

Die formalen und materialen Aspekte der autoritären Ethik sind offensichtlich nicht voneinander zu trennen. Wenn die Autorität den ihr Unterworfenen nicht ausbeuten wollte, hätte sie keine Veranlassung, ihn durch Furcht und emotionale Unterwürfigkeit zu beherrschen. Sie könnte jedes vernunftmäßige Urteil und jede Kritik fördern, müsste dann aber das Risiko eingehen, als nicht kompetent befunden zu werden. Da jedoch ihre eigenen Interessen auf dem Spiel stehen, gilt für die Autorität das Gesetz, dass Gehorsam die höchste Tugend und Ungehorsam die Kardinalsünde ist. Rebellion ist in der autoritären Ethik eine unverzeihliche Sünde. Sie stellt das Recht der Autorität in Frage, Normen aufzustellen; und sie stellt ihr Axiom in Frage, dass die von ihr aufgestellten Normen den Interessen der ihr Unterworfenen am besten dienen. Ein Sünder wird dadurch, dass er die Strafe hinnimmt und sich schuldig fühlt, wieder ein „guter Mensch“, denn er beweist damit, dass er die Überlegenheit der Autorität anerkennt.

In den Erzählungen über die Anfänge der menschlichen Geschichte gibt das Alte Testament eine Illustration dessen, was autoritäre Ethik ist. Die Sünde von Adam und [II-013] Eva wird nicht durch die Tat als solche erklärt. Vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen war nicht an sich schlecht; tatsächlich stimmen sowohl die jüdische wie die christliche Religion darin überein, dass die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, eine Grundtugend ist. Die Sünde bestand im Ungehorsam, in der Herausforderung der göttlichen Autorität. Gott fürchtete deshalb: „Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!“ (Gen 3,2) Die humanistische Ethik kann ebenso wie die autoritäre Ethik mittels formaler und materialer Kriterien erfasst werden. In formaler Hinsicht beruht sie auf dem Prinzip, dass nur der Mensch selbst das Kriterium für Tugend und Sünde bestimmen kann, niemals aber eine Autorität, die ihn transzendiert. Materialiter basiert sie auf dem Prinzip: „Gut“ ist das, was für den Menschen gut ist, „böse“ ist das, was ihm schadet. Das Wohl des Menschen ist das einzige Kriterium für ein ethisches Werturteil.

Der Unterschied zwischen humanistischer und autoritärer Ethik zeigt sich in den verschiedenen Bedeutungen, die das Wort „Tugend“ hat. Aristoteles gebraucht „Tugend“, um eine „Vortrefflichkeit“ zu bezeichnen, nämlich die Vortrefflichkeit, die dem Menschen eigenen Möglichkeiten zu realisieren. Paracelsus zum Beispiel gebraucht das Wort „Tugend“ als Synonym für die individuellen Eigentümlichkeiten eines jeden Dinges, das heißt also, für seine Besonderheit. Ein Stein oder eine Blume, jedes hat seine Tugend, seine spezifischen Eigenschaften. So besteht auch die „Tugend“ des Menschen in jenen Eigenschaften, die für die Spezies Mensch charakteristisch sind, während die Tugend jedes Einzelnen in seiner einmaligen Individualität besteht.

Der Mensch ist „tugendhaft“, wenn er seine „Tugend“ zur Entfaltung bringt. Im Gegensatz hierzu ist „Tugend“ im heutigen Sinn ein Begriff der autoritären Ethik. Tugendhaft zu sein bedeutet hier Selbstverleugnung und Gehorsam, Unterdrückung der Individualität und nicht deren völlige Entfaltung.

Humanistische Ethik ist anthropozentrisch, freilich nicht in dem Sinne, dass der Mensch der Mittelpunkt des Universums ist, vielmehr in dem Sinne, dass seine Werturteile, wie alle anderen Urteile und Wahrnehmungen, in der Besonderheit seiner Existenz ihren Ursprung haben und nur in Beziehung zu dieser sinnvoll sind. Der Mensch ist tatsächlich „das Maß aller Dinge“. Vom humanistischen Standpunkt aus gibt es nichts Höheres und nichts Erhabeneres als die menschliche Existenz. Gegen diese Auffassung wurde eingewandt, dass es gerade im Wesen des ethischen Verhaltens liege, dass es auf etwas bezogen sei, was den Menschen transzendiere und dass deshalb ein System, das nur den Menschen und sein Interesse anerkenne, nicht wirklich ethisch sein könne, denn es könne lediglich das isolierte egoistische Individuum zum Gegenstand haben.

Dieses Argument beruht auf einem Fehlschluss. Es wird gewöhnlich vorgebracht, um die Fähigkeit des Menschen – und sein Recht – zu widerlegen, die für sein Leben gültigen Normen selbst erstellen und beurteilen zu können. Denn der Grundsatz, gut ist, was für den Menschen gut ist, bedeutet nicht, dass für ihn von Natur aus Egoismus und Isolierung gut sind. Folglich kann es auch nicht heißen, dass der Sinn des menschlichen Daseins in der Beziehungslosigkeit zur Welt außerhalb des eigenen Ich erfüllt [II-014] werden kann. Wie schon viele Verfechter der humanistischen Ethik dargelegt haben, besteht in der Tat eines der Charakteristika der menschlichen Natur darin, dass der Mensch Erfüllung und Glück nur in der Bezogenheit auf seine Mitmenschen und in der Solidarität mit ihnen findet. Seinen Nächsten zu lieben ist jedoch kein Phänomen, das den Menschen transzendiert.[8] Es ist vielmehr etwas, das ihm innewohnt und von ihm seinen Ausgang nimmt. Liebe ist keine höhere Macht, die von oben zum Menschen hinuntersteigt. Sie ist auch keine Pflicht, die ihm auferlegt wird. Sie ist eine dem Menschen eigene Kraft, durch die er sich zur Welt in Beziehung setzt und durch die er die Welt zu seiner Welt macht.

b) Subjektivistische Ethik im Gegensatz zu objektivistischer Ethik

Wenn wir vom Prinzip einer humanistischen Ethik ausgehen, was können wir dann jenen antworten, die dem Menschen die Fähigkeit abstreiten, zu normativen Grundsätzen zu gelangen, die objektiv gültig sind? Eine Richtung innerhalb der humanistischen Ethik lässt diesen Einwand tatsächlich gelten. Sie anerkennt, dass Werturteile keinerlei objektive Gültigkeit beanspruchen können, da sich in ihnen nur willkürliche Neigungen und Abneigungen des Einzelnen ausdrücken. So gesehen umschreibt beispielsweise der Satz „Freiheit ist besser als Sklaverei“ nur einen Unterschied in der persönlichen Bevorzugung. Objektive Gültigkeit kommt ihm jedoch nicht zu. In diesem Sinne wird der Wert als „irgendein gewünschtes Gutes“ definiert. Der Wunsch rechtfertigt den Wert, nicht aber der Wert den Wunsch. Ein so radikaler Subjektivismus ist seinem Wesen nach absolut unvereinbar mit dem Gedanken, dass ethische Normen universal gültig und auf jeden anwendbar sein sollten. Wäre dieser Subjektivismus die einzige Möglichkeit humanistischer Ethik, dann bliebe uns tatsächlich nur die Wahl zwischen einem autoritären ethischen Denken und dem Verzicht auf jeglichen Anspruch auf allgemein gültige Normen.

Ethischer Hedonismus ist das erste Zugeständnis, das dem Prinzip der Objektivität gemacht wird. Geht man von der Annahme aus, dass Lust für den Menschen gut und Unlust böse ist, dann setzt dies ein Prinzip voraus, nach dem Wünsche bemessen werden können. Es sind dann solche Wünsche wertvoll, deren Erfüllung Lust verursacht, andere nicht. Aber trotz Herbert Spencers Behauptung, die Lust habe im biologischen Entwicklungsprozess eine objektive Funktion, kann Lust dennoch kein Wertkriterium sein. Denn es gibt Menschen, die an der Unterwerfung und nicht an der Freiheit Lust empfinden, für die nicht Liebe, sondern Hass, nicht produktive Arbeit, sondern Ausbeutung Lust bedeutet. Ein derartiges Lustgefühl an dem, was objektiv schädlich ist, kennzeichnet den neurotischen Charakter. Dieser ist von der Psychoanalyse gründlich erforscht worden. Bei unserer Erörterung der Charakterstruktur werden wir auf dieses Problem zurückkommen, ebenso in dem Kapitel über Glück und Lust.

Den entscheidenden Schritt zu einem objektiveren Wertkriterium hat Epikur mit einer Modifikation des ethischen Prinzips gemacht. Er versuchte die Schwierigkeit dadurch zu meistern, dass er zwischen „höheren“ und „niederen“ Freuden [II-015] unterschied. Wenn damit die eigentliche Schwäche des Hedonismus auch erkannt wurde, so blieb der Versuch in seinem Ergebnis doch abstrakt und dogmatisch. Nichtsdestoweniger kann der Hedonismus ein großes Verdienst für sich beanspruchen. Da er nämlich das eigene Lust- und Glücksempfinden des Menschen zum einzigen Wertkriterium machte, schloss er von vornherein alle Versuche aus, eine Autorität einzuführen, die von sich aus bestimmt, was das Beste für den Menschen ist, ohne dem Menschen die Möglichkeit einer eigenen Entscheidung zu belassen, ob er das als das Beste empfindet, was ihm als das angeblich Beste vorgestellt wird. Daher kann die Tatsache nicht überraschen, dass eine hedonistische Ethik von fortschrittlichen Denkern, die ehrlich und leidenschaftlich für das Glück des Menschen eintraten, sowohl in Griechenland und Rom als auch in den modernen europäischen und amerikanischen Kulturen vertreten wurde.

Trotz seiner Verdienste konnte der Hedonismus jedoch keine Grundlage für objektiv gültige ethische Urteile schaffen. Müssen wir deshalb auf den Anspruch der Objektivität verzichten, wenn wir uns für den Humanismus entscheiden? Oder ist es möglich, Verhaltensnormen und Werturteile zu finden, die für alle Menschen gültig sind und die doch vom Menschen selbst und nicht von einer ihn transzendierenden Autorität aufgestellt werden? Ich glaube, dass dies möglich ist, und werde nun versuchen, eine solche Möglichkeit darzulegen.

Zunächst dürfen wir nicht vergessen, dass „objektiv gültig“ nicht mit „absolut“ identisch ist. Eine Behauptung über Wahrscheinlichkeit oder annähernde Gültigkeit irgendeiner Hypothese kann beispielsweise gültig und zugleich „relativ“ sein, und zwar in dem Sinn, dass sie auf Grund begrenzt gültiger Evidenz aufgestellt wurde und späteren Berichtigungen unterworfen ist, sofern Tatsachen oder Verfahrensweisen dies erforderlich machen. Die ganze Vorstellung von „relativ“ und „absolut“ wurzelt im theologischen Denken, in dem ein göttlicher Bereich als das „Absolute“ von dem unvollkommenen menschlichen Bereich unterschieden wird. Von diesem theologischen Zusammenhang abgesehen ist der Begriff „absolut“ bedeutungslos. In der Ethik wie im allgemeinen wissenschaftlichen Denken ist für ihn kein Raum.

Aber selbst dann, wenn wir in diesem Punkt einig sind, muss der Haupteinwand gegen die Möglichkeit objektiv gültiger Urteile in der Ethik noch geklärt werden: der Einwand nämlich, dass „Tatsachen“ deutlich von Werten unterschieden werden müssten. Seit Kant ist es eine weitverbreitete Auffassung, dass objektiv gültige Urteile nur über Tatsachen und nicht über Werte selbst gefällt werden könnten und dass der Ausschluss von Werturteilen ein Beweis für wissenschaftliches Denken sei.

Im Bereich der Künste („Kunst“ hier im alten Wortsinne, wie etwa Schmiedekunst, Heilkunst verstanden) haben wir uns daran gewöhnt, objektiv gültige Normen aufzustellen, die mit Hilfe wissenschaftlicher Prinzipien abgeleitet wurden, welche ihrerseits auf Grund der Beobachtung der Wirklichkeit und/oder in umfassenden mathematisch-deduktiven Verfahren gefunden wurden. Die reinen oder „theoretischen“ Wissenschaften befassen sich mit der Entdeckung von Tatsachen und Prinzipien, obwohl sogar in die Physik oder in die Biologie ein normatives Element eintritt, das ihre Objektivität jedoch nicht beeinträchtigt. Die angewandten Wissenschaften befassen sich primär mit praktischen Normen, auf Grund derer etwas getan werden soll – wobei [II-016] das „Sollen“ durch wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen und Prinzipien bestimmt wird. Sich in einer der Künste zu betätigen, setzt bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten voraus. Während einige Künste nur „Kenntnisse“ erfordern, über die ein gesunder Menschenverstand verfügt, erfordern andere, wie etwa die Kunst des Ingenieurs oder die Heilkunst ein umfassendes theoretisches Wissen. Wer zum Beispiel eine Eisenbahnlinie bauen möchte, muss sie so anlegen, dass die Bauweise mit bestimmten physikalischen Grundgesetzen übereinstimmt. In allen „Künsten“ bildet ein System objektiv gültiger Normen die theoretische Grundlage für die Praxis (der angewandten Wissenschaft). Dieses System gründet sich seinerseits auf die theoretischen Wissenschaften. Mag es auch verschiedene Wege geben, um in irgendeiner Kunst Hervorragendes zu leisten, so sind doch die Normen keineswegs willkürlich. Ihre Missachtung zeitigt schlechte Resultate oder sogar einen absoluten Misserfolg auf dem Weg zum angestrebten Ziel.

Aber nicht nur Medizin, Technik und Malerei sind Künste; das Leben selbst ist eine Kunst[9] – in Wirklichkeit die wichtigste und zugleich schwierigste und vielfältigste Kunst, die der Mensch ausüben kann. Ihr Gegenstand ist nicht diese oder jene spezielle Verrichtung, sondern die „Verrichtung“ des Lebens selbst, der Entwicklungsprozess auf das hin, was der Mensch potenziell ist. Bei der Kunst des Lebens ist der Mensch sowohl der Künstler als auch der Gegenstand seiner Kunst. Er ist der Bildhauer und der Stein, der Arzt und der Patient.

Für die humanistische Ethik ist „gut“ gleichbedeutend mit „gut für den Menschen“ und „böse“ gleichbedeutend mit „schlecht für den Menschen“. Um zu wissen, was für den Menschen gut ist, müssen wir seine Natur kennen. Humanistische Ethik ist die angewandte Wissenschaft von der „Kunst des Lebens“. Sie beruht auf der theoretischen „Wissenschaft vom Menschen“. Hier wie in anderen „Künsten“ gilt: Das Maß an Vortrefflichkeit der Bemühungen eines Menschen („Tugend“) verhält sich proportional zu seinen Kenntnissen in der Wissenschaft vom Menschen und zu seinem Können und Tun.

Man kann jedoch nur dann Normen von Theorien ableiten, wenn man eine bestimmte Tätigkeit gewählt hat und ein bestimmtes Ziel angestrebt wird. Die Voraussetzung der Medizin ist der Wunsch, Krankheit zu heilen und Leben zu verlängern. Wäre dies nicht so, dann wären alle Regeln der Medizin ohne Bedeutung. Jede angewandte Wissenschaft gründet sich auf ein Axiom, das die Folge einer Entscheidung ist: dass der Zweck des Tuns wünschenswert ist. Ein Unterschied besteht allerdings zwischen dem Axiom, das der Ethik zugrunde liegt, und dem anderer „Künste“. Hypothetisch können wir uns eine Kultur vorstellen, in der die Menschen keinen Wunsch nach Gemälden oder Brücken haben, wir können uns jedoch keine vorstellen, in der die Menschen nicht gerne leben. Der Trieb zu leben wohnt jedem Organismus inne. Der Mensch kann daher gar nicht anders entscheiden als leben zu wollen, unabhängig davon, was für Gedanken er sich über das Leben selbst macht. (Der Suizid als pathologisches Phänomen widerspricht diesem allgemeinen Prinzip nicht.) Die Wahl zwischen [II-017] Leben und Tod ist eher ein scheinbares Problem als ein reales. Des Menschen wirkliche Wahl ist die zwischen einem guten Leben und einem schlechten.

Es ist interessant hier die Frage zu stellen, warum unsere Zeit die Auffassung vom Leben als einer Kunst verloren hat. Der moderne Mensch scheint zu glauben, Lesen und Schreiben seien Künste, die man erlernen müsse. Es bedürfe zwar umfassender Studien, um Architekt, Ingenieur oder gelernter Arbeiter zu werden, das Leben selbst jedoch sei etwas so Einfaches, dass keine besondere Anstrengung nötig sei, um es zu erlernen. Weil jeder auf irgendeine Weise „lebt“, sieht man das Leben als etwas an, das jeden berechtigt, sich als Lebenskünstler zu bezeichnen. Doch nicht deswegen, weil der Mensch die Kunst des Lebens in hohem Maße beherrscht, ging ihm das Gespür für ihre Schwierigkeit verloren. Das häufige Fehlen von echter Freude und echtem Glück im Vollzug des Lebens schließt offensichtlich eine solche Erklärung aus. Die moderne Gesellschaft hat den Menschen trotz aller Betonung von Glück, Individualität und Selbstinteresse gelehrt, sich bewusst zu werden, dass nicht sein Glück (oder um den theologischen Terminus zu gebrauchen, sein Heil) das Ziel des Lebens sei, sondern die Erfüllung seiner Pflicht zu arbeiten oder sein Erfolg. Geld, Prestige und Macht sind Triebfedern und Daseinszweck geworden. Der Mensch handelt in der Illusion, seine Handlungen nützten seinem Selbstinteresse, obgleich er in Wirklichkeit allem anderen dient, nur nicht seinen eigenen wahren Interessen. Alles ist ihm wichtig, nur nicht das eigene Leben und die Kunst des Lebens. Für alles ist er zu haben, nur nicht für sich selbst.

Wenn die Ethik die Normen aufstellt, die uns befähigen, Vortreffliches in der Kunst des Lebens zu erreichen, dann müssen sich ihre allgemeinsten Prinzipien aus der Natur des Lebens im allgemeinen und aus der menschlichen Existenz im besonderen herleiten. Allgemein gesprochen: Die Natur alles Lebendigen ist die Erhaltung und Bejahung der eigenen Existenz. Allen Organismen wohnt die Tendenz inne, ihre Existenz zu erhalten. Von dieser Tatsache ausgehend, haben die Psychologen einen Selbsterhaltungstrieb angenommen. Danach besteht die erste „Pflicht“ eines Organismus darin, lebendig zu sein.

„Lebendig sein“ ist eine dynamische, keine statische Größe. Die Existenz und die Entfaltung der spezifischen Kräfte eines Organismus sind ein und dasselbe. Allen Organismen wohnt die Tendenz inne, die ihnen eigenen Möglichkeiten zu verwirklichen. Demzufolge muss man das Ziel des menschlichen Lebens in der Entfaltung der menschlichen Kräfte entsprechend den Gesetzen der Natur des Menschen sehen.

Allerdings existiert der Mensch nicht „im allgemeinen“. Wenn er auch den Kern der menschlichen Eigenschaften mit allen Mitgliedern seiner Spezies gemeinsam hat, so ist er doch stets ein Individuum, ein einmaliges Wesen, das sich von jedem anderen Individuum unterscheidet. Er unterscheidet sich ebenso durch die besondere Mischung von Charakter, Temperament, Talenten, Dispositionen, wie durch die Form seiner Finger. Die ihm eigentümlichen menschlichen Möglichkeiten kann er nur verwirklichen, wenn er seine Individualität verwirklicht. Die Aufgabe, lebendig zu sein, ist identisch mit der Aufgabe, er selbst zu werden, sich zu dem Individuum zu entwickeln, das er potenziell ist.

Fassen wir zusammen: Gut im Sinne der humanistischen Ethik bedeutet Bejahung des [II-018] Lebens, Entfaltung der menschlichen Kräfte; Tugend heißt, sich der eigenen Existenz gegenüber verantwortlich zu fühlen. Das Böse führt zur Lähmung der menschlichen Kräfte; Laster ist Verantwortungslosigkeit sich selbst gegenüber.

Dies sind die ersten Prinzipien einer objektiven humanistischen Ethik. Wir können sie hier nicht näher erläutern und werden daher im vierten Kapitel nochmals darauf zurückkommen. Zuvor müssen wir allerdings die Frage aufwerfen, ob eine „Wissenschaft vom Menschen“, und zwar als theoretische Grundlage der angewandten Wissenschaft Ethik, überhaupt möglich ist.

c) Die Wissenschaft vom Menschen[10]

Der Begriff einer Wissenschaft vom Menschen setzt voraus, dass ihr Gegenstand, der Mensch, existiert und dass es so etwas wie eine menschliche Natur gibt, die für die menschliche Spezies charakteristisch ist. In dieser Frage zeigt die Geschichte des Denkens ihre besondere Ironie und enthält eigenartige Widersprüche. Autoritäre Denker haben es sich leicht gemacht, indem sie die Existenz einer nach ihrer Meinung starren und unveränderlichen menschlichen Natur voraussetzten. Diese Annahme sollte beweisen, dass die auf dieser vorausgesetzten Natur des Menschen beruhenden ethischen Systeme und gesellschaftlichen Institutionen notwendig und unwandelbar seien. Ihre Ansicht über die menschliche Natur war jedoch nur die Widerspiegelung ihrer Normen – und Interessen –, nicht jedoch das Ergebnis objektiver Forschung. So ist es denn auch begreiflich, dass fortschrittliche Denker jene Forschungsergebnisse der Anthropologie und Psychologie begrüßten, welche im Gegensatz dazu die unbegrenzte Formbarkeit der menschlichen Natur nachzuweisen schienen. Denn Formbarkeit sollte bedeuten, dass Normen und Institutionen, die eher eine vorausgesetzte Ursache der menschlichen Natur als deren Wirkung sind, ebenfalls formbar sein können. Während sie so der irrigen Annahme entgegentraten, dass bestimmte geschichtlich gewachsene Verhaltensmuster der Ausdruck einer starren und ewigen menschlichen Natur seien, kamen dennoch die Verfechter einer Theorie der unbegrenzten Formbarkeit der menschlichen Natur zu einer ebenso unhaltbaren Position. Zunächst einmal führt die Auffassung der unbegrenzten Formbarkeit der menschlichen Natur leicht zu Folgerungen, die genauso wenig befriedigen wie jene Auffassung, die eine starre und unveränderliche Natur des Menschen annimmt. Wäre der Mensch nämlich unbegrenzt formbar, dann könnte er tatsächlich durch Normen und Institutionen, die seinem Wohlergehen entgegenstehen, für immer geformt werden, ohne dass es eine Möglichkeit gäbe, die der menschlichen Natur innewohnenden Kräfte zu mobilisieren, um eine Veränderung der Verhältnisse zu erreichen. In diesem Falle wäre der Mensch nur eine Marionette irgendwelcher gesellschaftlicher [II-019] Zustände und nicht – wie er im Laufe der Geschichte unter Beweis gestellt hat – ein tätiges Wesen, dessen innere Eigenschaften heftig reagieren, wenn sie durch ungünstige gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen unter Druck gesetzt werden. Wäre der Mensch nichts anderes als eine Widerspiegelung kultureller Verhältnisse, dann könnte keine Gesellschaftsordnung vom Standpunkt des menschlichen Wohlergehens aus kritisiert und beurteilt werden, weil es keine Vorstellungen vom Wesen „Mensch“ gäbe.

Ebenso wichtig wie die politischen und moralischen Rückwirkungen der Theorie von der Formbarkeit sind theoretische Folgerungen. Wenn wir annehmen, es gäbe keine andere menschliche Natur (als die in Begriffen grundlegender physiologischer Bedürfnisse definierte), dann wäre die einzig vertretbare Psychologie ein radikaler Behaviorismus, der lediglich unzählige Verhaltensweisen beschreibt, oder eine Psychologie, die nur quantitative Aspekte menschlichen Verhaltens misst. Psychologie und Anthropologie hätten keine andere Aufgabe, als die verschiedenen Arten zu beschreiben, in welcher gesellschaftliche Institutionen und kulturelle Verhältnisse den Menschen formen. Die besonderen Erscheinungsformen des Menschlichen wären nichts anderes als der Ausdruck davon, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Menschen eingewirkt haben. In diesem Falle könnte es nur noch eine einzige Wissenschaft vom Menschen geben, nämlich die vergleichende Soziologie. Wollen jedoch Psychologie und Anthropologie gültige Behauptungen über die Gesetze aufstellen, die das menschliche Verhalten bestimmen, dann müssen sie auch von der Voraussetzung ausgehen, dass etwas, nennen wir es X, auf Einflüsse seiner Umgebung in einer feststellbaren Weise reagiert, die sich aus der Eigenart von X herleitet. Da die Natur des Menschen nicht starr ist, kann auch die Kultur nicht als das Ergebnis unwandelbarer menschlicher Instinkte verstanden werden. Ebenso wenig ist die Kultur etwas Feststehendes, dem sich die menschliche Natur passiv und in vollem Umfang anpasst. Zwar kann sich der Mensch unzulänglichen Verhältnissen anpassen, aber in diesem Prozess entwickelt er bestimmte seelische und emotionale Reaktionen, die aus den besonderen Eigenheiten seiner Natur heraus entstehen.

Der Mensch kann sich der Sklaverei anpassen, doch reagiert er darauf mit dem Nachlassen seiner intellektuellen und moralischen Fähigkeiten. Ebenso kann er sich einer Kultur anpassen, die von gegenseitigem Misstrauen und Feindseligkeit erfüllt ist, aber seine Reaktion auf diese Anpassung besteht darin, dass er schwach und unschöpferisch wird. Der Mensch kann sich auch kulturellen Verhältnissen anpassen, die von ihm die Verdrängung seiner Sexualität verlangen, aber seine Anpassung hat die Entstehung neurotischer Symptome zur Folge, wie Freud aufgewiesen hat. Der Mensch kann sich fast allen kulturellen Verhältnissen anpassen; stehen diese aber im Widerspruch zu seiner Natur, dann stellen sich seelische und emotionale Störungen ein, die ihn allmählich zwingen, diese Verhältnisse zu ändern, da er seine Natur nicht ändern kann.

Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, auf das erst die Kultur ihren Text schreibt. Er ist ein Wesen, das mit Energien ausgestattet und in besonderer Weise strukturiert ist. Er passt sich an und reagiert dabei in spezifischer und feststellbarer Weise auf äußere Bedingungen. Hätte sich der Mensch, wie es das Tier tut, durch eine [II-020] Veränderung seiner eigenen Natur, gleichsam autoplastisch, äußeren Bedingungen angepasst, und könnte er ausschließlich unter solchen spezifischen Bedingungen leben, für die er eine besondere Anpassungsfähigkeit entwickelt hat, dann wäre er in die Sackgasse jener Spezialisierung geraten, die das Schicksal jeder Tiergattung ist, und eine geschichtliche Entwicklung wäre ausgeschlossen. Wenn sich der Mensch andererseits allen Bedingungen anpassen könnte, ohne dass er gegen solche ankämpfen müsste, die seiner Natur nicht entsprechen, dann hätte es ebenfalls keine Geschichte gegeben. Die Evolution des Menschen setzt seine Anpassungsfähigkeit, gleichzeitig aber auch bestimmte unzerstörbare Eigenschaften seiner Natur voraus, die ihn zwingen, unablässig solche Bedingungen zu suchen, die den allein ihm eigenen Bedürfnissen besser entsprechen.

Der Gegenstand der Wissenschaft vom Menschen ist die menschliche Natur. Diese Wissenschaft geht aber nicht von einem vollständigen und adäquaten Bild dessen, was die menschliche Natur ist, aus. Eine befriedigende Definition ihres Gegenstandes ist ihr Ziel, nicht ihr Ausgangspunkt. Ihre Methode besteht darin, die Reaktionen des Menschen auf verschiedene individuelle und gesellschaftliche Bedingungen zu beobachten, um dann aus der Beobachtung eben dieser Reaktionen zu Schlussfolgerungen über die Natur des Menschen zu kommen.[11] Geschichte und Kulturanthropologie erforschen die Reaktionen des Menschen auf solche kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen, die sich von den unseren unterscheiden. Die Sozialpsychologie hingegen erforscht die Reaktionen der Menschen in verschiedenen gesellschaftlichen Konstellationen innerhalb unserer eigenen Kultur. Die Entwicklungspsychologie erforscht die Reaktionen des heranwachsenden Kindes auf verschiedene Situationen. Die Psychopathologie versucht, Aufschluss über die menschliche Natur zu finden, indem sie ihre Verzerrungen auf Grund von pathogenen Bedingungen untersucht. Man kann nicht die menschliche Natur als solche beobachten, sondern nur ihre spezifischen Manifestationen in spezifischen Situationen. Die menschliche Natur ist eine theoretische Konstruktion, die auf Grund der empirischen Erforschung des menschlichen Verhaltens erschlossen werden kann. In ihrem Bemühen, ein „Modell der menschlichen Natur“ zu konstruieren, unterscheidet sich die Wissenschaft vom Menschen in nichts von anderen Wissenschaften, die ebenso mit bestimmten Hypothesen operieren, welche nicht unmittelbar selbst beobachtet werden können, sondern sich aus beobachtbaren Daten erschließen lassen und sich an diesen bewahrheiten müssen. Trotz des umfangreichen Tatsachenmaterials, das Psychologie und Anthropologie liefern, haben wir nur ein unvollständiges und vorläufiges Bild von der Natur des Menschen. Wenn wir empirisch und objektiv feststellen wollen, was die menschliche Natur ausmacht, können wir noch immer von Shylock lernen und das im erweiterten Sinne für die ganze Menschheit gelten lassen, was er über Juden und Christen sagt: „Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht [II-021] rächen? Sind wir euch in Dingen ähnlich, so wollen wir’s euch auch darin gleich tun.“ (William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, 3. Akt, 1. Szene.)

d) Die Tradition der humanistischen Ethik

In der Tradition der humanistischen Ethik herrscht die Ansicht vor, die Kenntnis des Menschen sei die Voraussetzung dafür, Normen und Werte aufstellen zu können. Die ethischen Abhandlungen von Aristoteles, Spinoza und Dewey – Denker, deren Ansichten wir in diesem Kapitel skizzieren wollen – sind deshalb gleichzeitig Abhandlungen zur Psychologie. Ich will im Folgenden keinen Überblick über die Geschichte der humanistischen Ethik geben, sondern lediglich eine Veranschaulichung ihrer Grundsätze, wie sie bei einigen ihrer bedeutendsten Vertreter zu finden sind.

Aristoteles baut seine Ethik auf der Wissenschaft vom Menschen auf. Seine Psychologie untersucht die Natur des Menschen; die Ethik ist demzufolge angewandte Psychologie. Wie der Staatsmann, so muss auch der Ethiker „in gewissem Umfang vom Seelischen Kenntnis haben, genauso wie der Arzt, der die Augen heilen will, den Körper als Ganzes kennen soll... In den Reihen der Ärzte bemühen sich übrigens häufig gerade die geistig hochstehenden um theoretische Kenntnis des Leibes“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1102a). Von der Natur des Menschen deduziert Aristoteles die Norm, dass Tugend (Trefflichkeit) ein Tätigsein ist, womit er die Übung der Bestimmung und der Fähigkeit meint, die nur dem Menschen eigen ist. Glück, das Ziel des Menschen, ist die Folge von „Tätigsein“ und „Handeln“ und kein stiller Besitz oder ein Seelenzustand. Um seinen Begriff von Tätigsein zu erklären, gebraucht er die Olympischen Spiele als Analogie: „Wie bei den Festspielen von Olympia nicht die den Siegeskranz erringen, die am schönsten und stärksten aussehen, sondern die Kämpfer – denn aus ihren Reihen treten die Sieger –, so gelangen auch zu den Siegespreisen des Lebens nur die Menschen, die richtig handeln“ (a.a.O., 1099a). Der freie, vernünftige und tätige („kontemplative“) Mensch ist der gute und deshalb auch der glückliche Mensch. Wir haben hier also objektive Wertsätze, die auf den Menschen zentriert und humanistisch sind, und die gleichzeitig vom Verstehen der Natur und der Bestimmung des Menschen abgeleitet sind.

Wie Aristoteles, so fragt auch Spinoza nach der besonderen Bestimmung des Menschen. Er beginnt damit, dass er die Bestimmung und das Ziel von allem, was in der Natur ist, betrachtet und kommt zu dem Schluss: „Ein jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren“ (Ethik, Teil III, 6. Lehrsatz). Die Bestimmung und das Ziel des Menschen können keine anderen sein als diejenigen eines jeglichen anderen Dinges, nämlich sich selbst und sein Leben zu erhalten. „Unbedingt aus Tugend handeln ist nichts anderes in uns, als nach Anleitung der Vernunft handeln, leben, sein Sein erhalten – diese drei Ausdrücke bedeuten dasselbe –, und zwar aus dem Grunde des Suchens nach dem eigenen Nutzen“ (Ethik, Teil IV, 24. Lehrsatz).

In seinem Sein zu beharren bedeutet für Spinoza, das zu werden, was man potenziell ist. Das gilt für alle Dinge. „Ein Pferd“, sagt Spinoza, „hört auf, ein Pferd zu sein, [II-022] ob es sich nun in einen Menschen oder in ein Insekt verwandelte“ (Ethik, Teil IV, Vorwort). In Übereinstimmung mit Spinoza könnten wir hinzufügen: Ein Mensch würde aufhören, ein Mensch zu sein, wenn er zu einem Engel oder zu einem Pferd werden würde. Tugend bedeutet die Entfaltung der spezifischen Möglichkeiten eines Organismus. Für den Menschen ist dies jener Zustand, in dem er ganz menschlich ist. Unter gut versteht Spinoza konsequenterweise das, „wovon wir sicher wissen, dass es ein Mittel ist, sich dem Modell der menschlichen Natur, das wir uns vorsetzen, mehr und mehr zu nähern. Unter schlecht dagegen (verstehe ich) dasjenige, wovon wir sicher wissen, dass es uns hindert, diesem Modell zu entsprechen“ (a.a.O.). Tugend ist demzufolge identisch mit der Realisierung der menschlichen Natur; die Wissenschaft vom Menschen ist jene theoretische Wissenschaft, auf die sich die Ethik gründet.

Die Vernunft zeigt dem Menschen, was er zu tun hat, um wahrhaft er selbst zu sein. Sie lehrt ihn, was gut ist. Die Tugend selbst kann der Mensch nur durch den tätigen Gebrauch seiner Kräfte erlangen. Stärke (potency) ist daher gleichbedeutend mit Tugend, Ohnmacht (impotence) mit Laster. Glück ist kein Selbstzweck, sondern geht einher mit der Erfahrung des Wachsens der eigenen Kräfte, während Ohnmacht mit Niedergeschlagenheit einhergeht. Stärke und Ohnmacht beziehen sich auf alle Kräfte, die dem Menschen eigen sind. Werturteile sind deshalb nur auf den Menschen und auf seine Interessen anwendbar. Trotzdem sind solche Werturteile nicht bloß Behauptungen über die Neigungen oder Abneigungen einzelner Individuen, denn die Eigentümlichkeiten des Menschen sind der ganzen Gattung und folglich allen Menschen eigen. Die Objektivität von Spinozas Ethik beruht auf der Objektivität seines Modells der menschlichen Natur, das in seinem Kern, obwohl es mannigfaltige individuelle Abwandlungen zulässt, für alle Menschen dasselbe ist. Spinoza ist ein radikaler Gegner der autoritären Ethik. Für ihn ist der Mensch Selbstzweck und nicht Mittel zum Zweck einer ihn transzendierenden Autorität. Ein Wert kann nur in Beziehung zu den wahren Interessen des Menschen bestimmt werden, das heißt in Bezug auf seine Freiheit und auf den produktiven Gebrauch seiner Kräfte.[12] [II-023]

Der hervorragendste zeitgenössische Vertreter einer wissenschaftlichen Ethik ist John Dewey, dessen Ansichten im Gegensatz zu einer autoritären und zu einer relativistischen Ethik stehen. Hinsichtlich der autoritären Ethik kommt er zu dem Ergebnis, das gemeinsame Merkmal jeder Berufung auf Offenbarung, auf gottgewollte Gesetze, auf Anordnungen des Staates, auf Konvention, Tradition usw. sei „die Voraussetzung einer Autorität, die jede Nachprüfung ausschließt“ (J. Dewey und J. H. Tufts, 1932, S. 364). In Bezug auf den Relativismus vertritt Dewey die Auffassung, allein die Tatsache, an etwas Freude zu empfinden, enthalte noch „kein Urteil über den Wert dessen, woran man sich erfreut“ (J. Dewey, 1946, S. 254). Die Freude ist etwas fundamental Gegebenes, aber sie muss „durch evidente Tatsachen verifiziert“ werden (a.a.O., S. 254). Wie Spinoza postuliert er, dass objektiv gültige Wertsetzungen kraft menschlicher Vernunft erlangt werden können. Auch für ihn ist das Ziel des menschlichen Lebens Wachstum und Entfaltung des Menschen gemäß seiner Natur und auf Grund seiner Konstitution.

Die Ablehnung aller festgelegten Zwecke führt ihn jedoch dazu, Spinozas wichtige Setzung eines „Modells der menschlichen Natur“ als einer wissenschaftlichen Vorstellung preiszugeben. In Deweys Lehre liegt der Hauptakzent auf der Beziehung zwischen Mitteln und Zwecken (oder Folgen) als Erfahrungsgrundlage für die Gültigkeit von Normen. Nach ihm findet eine Bewertung „nur dann statt, wenn es sich um etwas Bedeutsames handelt; wenn also eine Störung abgestellt, ein Bedürfnis befriedigt, ein Mangel behoben, eine Entbehrung beseitigt oder ein bestimmter Konflikt zwischen Neigungen mittels einer Veränderung der bestehenden Bedingungen gelöst werden muss. Damit wurde bewiesen, dass hier ein in Frage kommender Faktor immer gemeint ist, wenn es sich um eine solche Bewertung handelt. Der vorschwebende Zweck wird in Aussicht genommen und gestaltet, sofern man so handelt, dass ein bestehendes Bedürfnis befriedigt oder ein Mangel behoben, bzw. ein vorhandener Konflikt gelöst wird“ (J. Dewey, 1939, S. 34).

Für Dewey ist der Zweck „nur eine Folge von Handlungen, betrachtet im späteren Stadium; das Mittel ist nur eine Folge, betrachtet im vorausgegangenen Stadium. Die Unterscheidung von Mitteln und Zwecken erfolgt durch Betrachtung des Verlaufs einer angenommenen Tätigkeitskurve in Zusammenhängen der Zeitfolge. Der ‘Zweck’ ist der letzte in Aussicht genommene Akt; die Mittel sind Tätigkeiten, die zeitlich vor diesem auszuführen sind... Mittel und Zwecke sind zwei Benennungen für die gleiche Wirklichkeit. Bezeichnet ist damit keine in der Wirklichkeit vollziehbare Trennung, sondern eine Unterscheidung im Urteil“ (J. Dewey, 1930, S. 34 f.).

Zweifellos ist Deweys Betonung der Wechselbeziehung zwischen Mitteln und Zwecken ein bedeutsamer Schritt für die Entwicklung der Theorie einer rationalen Ethik. Das gilt insbesondere für seine Warnung vor solchen Theorien, die Zwecke von Mitteln trennen und somit nutzlos werden. Und doch ist es allem Anschein nach unrichtig, dass wir „nicht wissen können, was wir in Wirklichkeit sind, ehe ein Tätigkeitsverlauf verstandesmäßig erfasst ist“ (J. Dewey, 1930, S. 36).

Zwecke können durch empirische Analyse des Gesamtphänomens „Mensch“ auch dann ermittelt werden, wenn wir die Mittel noch nicht kennen, um diese zu erreichen. Es gibt Zwecke, über die gültige Behauptungen aufgestellt werden können, obwohl [II-024] ihnen im Moment alles zu ihrer Verwirklichung fehlt. Die Wissenschaft vom Menschen ist in der Lage, uns einen Begriff vom „Modell der menschlichen Natur“ zu geben, von dem Zwecke abgeleitet werden können, noch bevor die Mittel gefunden worden sind, um diese Zwecke zu erreichen.[13]

e) Ethik und Psychoanalyse

Aus dem Vorhergehenden ergibt sich meiner Meinung nach eindeutig genug, dass die Entwicklung einer objektiven humanistischen Ethik als einer angewandten Wissenschaft von der Entwicklung der Psychologie als einer theoretischen Wissenschaft abhängt. Der Fortschritt von der aristotelischen Ethik zur Ethik Spinozas beruht weitgehend auf der Überlegenheit der dynamischen Psychologie Spinozas gegenüber der statischen des Aristoteles. Spinoza entdeckte die unbewusste Motivation, die Assoziationsgesetze und die Nachwirkung von Kindheitserfahrungen auf das ganze Leben. Sein Begriff der „Begierde“ ist ein dynamischer, und als solcher ist er dem aristotelischen Begriff der „Gewöhnung“ überlegen.[14] Wie jede andere Psychologie bis zum neunzehnten Jahrhundert blieb auch Spinozas Psychologie abstrakt. Sie entwickelte keine Methode, um ihre Theorien durch empirische Untersuchungen und Entdeckungen neuer Aussagen über den Menschen zu überprüfen.

In Deweys Ethik und Psychologie ist die empirische Forschung ein Schlüsselbegriff. Er anerkennt die unbewusste Motivation, und sein Begriff „habit“ unterscheidet sich von dem deskriptiven Habitus-Begriff des traditionellen Behaviorismus. Seine Behauptung, die moderne klinische Psychologie sei „wirklichkeitsnah, weil sie die tiefe Bedeutung unbewusster Kräfte betont, die nicht nur das sichtbare Verhalten bestimmen, sondern auch Wünsche und Urteile, den Glauben und die Entstehung von Ideen und Idealen“ (J. Dewey, 1930, S. 86), beweist, welche Bedeutung er allen unbewussten Faktoren beimisst, obwohl er in seiner ethischen Theorie noch längst nicht alle Möglichkeiten dieser neuen Methode ausschöpft.

Bisher sind nur wenige Versuche von philosophischer und psychologischer Seite unternommen worden, um die Ergebnisse der Psychoanalyse für die Ergebnisse einer ethischen Theorie auszuwerten.[15] Dies überrascht umso mehr, als gerade die psychoanalytische Theorie Beiträge geliefert hat, die besonders für eine ethische Theorie relevant sind. [II-025]

J. Dewey, 1946Ph. B. Rice, 1935