Cover

Die Revolution der Hoffnung
Für eine Humanisierung der Technik

(The Revolution of Hope
Toward a Humanized Technology)

Erich Fromm
(1968a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung 1968 unter dem Titel The Revolution of Hope. Toward a Humanized Technology als Band 38 der Reihe „World Perspectives", geplant und herausgegeben von Ruth Nanda Anshen, beim New Yorker Verlag Harper & Row. Für die (erste) Übersetzung ins Deutsche, die Klaus Birkenhauer besorgte, hat Erich Fromm eine Reihe von Änderungen vorgenommen, die jeweils als Anmerkungen des Herausgebers zur Kenntnis gebracht werden. Außerdem hat Fromm für die deutsche Erstausgabe 1971 beim Ernst Klett Verlag (Stuttgart) ein eigenes Vorwort verfasst, das ebenfalls in der vorliegenden E-Book-Ausgabe enthalten ist. Für die Veröffentlichung in der zehnbändigen Erich Fromm-Gesamtausgabe 1980 wurde von Liselotte und Ernst Mickel eine neue Übersetzung angefertigt, die auch in die zwölfbändige Erich Fromm-Gesamtausgabe 1999 Eingang fand.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IV, S. 255-377.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1968 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Wer unter die Lebenden eingereiht ist,
der kann noch Hoffnung haben.
(Koh 9,4)

Vorwort zur Originalausgabe

Dieses Buch[1] soll eine Antwort auf die Situation der Vereinigten Staaten im Jahre 1968 sein. Es entspringt der Überzeugung, dass wir an einem Scheideweg stehen: Der eine Weg führt – wenn er nicht in die Vernichtung durch einen Atomkrieg führt – in eine völlig mechanisierte Gesellschaft, in der der Mensch nur ein hilfloses Rädchen in der Maschine ist; der andere Weg dagegen führt zu einer Renaissance des Humanismus und der Hoffnung – zu einer Gesellschaft, welche die Technik in den Dienst menschlichen Wohl-Seins (well-being) stellt[2].

Dieses Buch soll allen, die unser Dilemma noch nicht klar erkannt haben, zeigen, worum es geht, es will zum Handeln aufrufen. Es gründet sich auf die Überzeugung, dass wir die neuen Lösungen, die wir brauchen, nicht durch Irrationalität und Hass, sondern mit Hilfe unserer Vernunft und einer leidenschaftlichen Liebe zum Leben finden können. Es richtet sich an ein breites Spektrum von Lesern mit unterschiedlichen politischen und religiösen Vorstellungen, denen allen jedoch die Sorge um die Erhaltung des Lebens und die Achtung vor Vernunft und Realität gemeinsam ist.

Wie alle meine früheren Arbeiten, versucht auch dieses Buch zwischen individueller und gesellschaftlicher Wirklichkeit einerseits und jenen Ideologien andererseits zu unterscheiden, die sich wertvolle Ideen zunutze machen und zur Unterstützung des status quo missbrauchen. Den vielen aus der jungen Generation, die den Wert des traditionellen Denkens gering achten, möchte ich nachdrücklich meine Überzeugung entgegenhalten, dass selbst die radikalste Entwicklung ihre Kontinuität mit der Vergangenheit nicht verlieren darf; dass wir keine Fortschritte erreichen können, wenn wir die besten Errungenschaften des menschlichen Geistes wegwerfen – und dass jung sein allein nicht genügt!

Da dieses Buch sich mit Themen befasst, die ich in den letzten 40 Jahren schon in verschiedenen Werken behandelt habe, war es nicht zu vermeiden, auf bereits bekannte Gedanken zurückzukommen. Ich habe sie um das zentrale Problem der Alternativen zur Dehumanisierung neu geordnet. Doch enthält das Buch auch viele neue Ideen, die über meine früheren Überlegungen hinausgehen.

Da ich für einen breiten Leserkreis schreibe, habe ich mich bei den Zitaten auf ein Minimum beschränkt, doch habe ich alle Autoren zitiert, die mein Denken während [IV-258] der Arbeit an diesem Buch beeinflusst haben. Im allgemeinen nehme ich auch nicht auf eigene Veröffentlichungen Bezug, die für das hier behandelte Material eine unmittelbare Relevanz besitzen. Hierbei handelt es sich insbesondere um Die Furcht vor der Freiheit (1941a), um Psychoanalyse und Ethik (1947a), Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) und Die Seele des Menschen (1964a).

Der allgemeine Ansatz des Buches entspricht der Eigenart des Problems, das ich in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen gestellt habe. Dagegen dürfte nichts einzuwenden sein, doch könnte es dem Leser gelegentlich einige Schwierigkeiten bereiten. Ich versuche nämlich zwei Problembereiche miteinander in Einklang zu bringen, die oft getrennt behandelt werden: einerseits die menschliche Charakterstruktur mit ihren Eigenschaften und Möglichkeiten und andererseits unsere heutigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme. Dabei ist die Betonung in jedem Abschnitt verschieden. Mein Hauptanliegen ist es jedoch, diese Erörterungen zu integrieren und miteinander zu verflechten. Dies geschieht aus der festen Überzeugung, dass eine realistische und erfolgversprechende Behandlung der Probleme der heutigen amerikanischen Gesellschaft nur möglich ist, wenn die Analyse unseres gesellschaftlichen Gesamtsystems das mit einschließt, was ich in diesem Buch als „das System Mensch“ bezeichne. Ich hoffe, dass meine Leser darauf so reagieren werden, dass sie ein „Schubladendenken“ überwinden und dass sie es nicht zu mühsam finden, meine Sprünge von der „Psychologie“ in die „Soziologie“ und in die „Politik“ und wieder zurück nachzuvollziehen.

Schließlich möchte ich mich noch bei Ruth Nanda Anshen, bei meiner Frau und bei Raymond G. Brown dafür bedanken, dass sie das Manuskript wiederholt gelesen und viele redaktionelle Vorschläge dazu gemacht haben. Raymond G. Brown verdanke ich außerdem noch viele wertvolle Anregungen in Fragen der Ökonomie. Mein besonderer Dank gilt auch meinen Verlegern, die es ermöglicht haben, dass das Buch bereits zehn Wochen nach Fertigstellung des Manuskripts erscheinen konnte.

E. F.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch ist eine revidierte Fassung der amerikanischen Originalausgabe, die ich vor fast zwei Jahren während der Kampagne von Senator Eugene McCarthy um die Präsidentschaftsnominierung geschrieben habe. Ich nahm an dieser Kampagne aktiv teil, weil ich hoffte, wenn McCarthy zum Präsidenten gewählt würde, würde die Politik der Vereinigten Staaten ihre Richtung ändern. Das ist nicht geschehen. Die Gründe des Fehlschlags sind zu verwickelt, um hier erörtert zu werden. Trotzdem bleibt die Tatsache bemerkenswert, dass ein Mann, der vorher kaum bekannt war, der das Gegenteil eines typischen Politikers ist, der es ablehnt, durch Sentimentalität oder Demagogie Stimmen zu gewinnen und der sich entschieden gegen den Krieg in Vietnam ausspricht, dass dieser Mann die Zustimmung und sogar die begeisterte Unterstützung eines großen Bevölkerungsteils gewinnen konnte – von der radikalen Jugend, den Hippies und den Intellektuellen bis zu den Liberalen der höheren Mittelklasse. Es war ein Kreuzzug, wie es ihn in Amerika noch nicht gegeben hatte, und es schien fast wie ein Wunder, dass dieser professorale Senator, dieser Freund der Poesie und Philosophie, ein ernsthafter Bewerber um die Präsidentschaft sein konnte. Dies bewies, dass ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung für eine Humanisierung bereit ist und darauf wartet.

Die Niederlage McCarthys, der Sieg von Nixon, die Fortsetzung des Vietnam-Kriegs und die Zunahme konservativ-reaktionärer Tendenzen in den Vereinigten Staaten haben den Geist der Hoffnung geschwächt, der im Sommer 1968 so offen zutage getreten war, aber sie haben ihn keineswegs vernichtet. Die Demonstration von rund 500 000 Menschen, die in Washington gegen den Vietnam-Krieg protestierten, war nur eines der Anzeichen, dass die Hoffnung und der Wille zur Veränderung noch lebendig sind. Und die Reaktion weiter Kreise auf die Gefahren der Umweltverseuchung ist ein zweites Anzeichen, dass die Sorge um das Leben in einem großen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit immer noch stark ist.

Für die Veröffentlichung dieses Buches auf Deutsch brauchte nichts Wesentliches verändert zu werden. Es wurde zwar in erster Linie im Blick auf amerikanische Verhältnisse geschrieben, doch betrachtet es die amerikanische Gesellschaft als eine Ausprägung der europäisch-nordamerikanischen technischen Gesellschaften, die alle [IV-260] grundsätzlich denselben Problemen gegenüberstehen. Trotzdem hielt ich es für nötig, die Originalausgabe in zweierlei Hinsicht zu revidieren. Erstens habe ich im letzten Kapitel einige Passagen gestrichen, die sich speziell auf die Vereinigten Staaten beziehen und für die Leser in anderen Ländern von geringem Interesse sind. Zweitens habe ich versucht, das letzte Kapitel nicht nur durch Streichungen zu straffen, sondern auch einige Überlegungen deutlicher auszudrücken, als sie nach meiner Ansicht in der Originalausgabe formuliert waren, die etwas in Eile entstand.[3]

Im Gegensatz zu meinen früheren Werken sollte dieses Buch nicht so sehr neue theoretische Vorstellungen entwickeln, sondern Vorstellungen neu ordnen, mit denen ich mich früher auf akademischere Weise beschäftigt hatte; es appelliert an die Liebe zum Leben (Biophilie), die in vielen von uns noch vorhanden ist. Nur durch ein klares Bewusstsein der Gefahren, die dem Leben drohen, kann dieses Potenzial zu Handlungen mobilisiert werden, die drastische Änderungen unserer gesellschaftlichen Organisation herbeiführen könnten. Ich mache mir keine Illusionen über die Erfolgsaussichten; aber ich glaube, dass man so lange nicht in Prozentsätzen und Wahrscheinlichkeiten denken kann, wie noch eine reale – wenn auch winzige – Möglichkeit besteht, dass sich das Leben behaupten wird.

E. F.

1. Am Scheideweg

In unserer Mitte geht ein Gespenst um, das nur wenige deutlich sehen. Es ist nicht der alte Geist des Kommunismus oder des Faschismus. Es ist ein neues Gespenst: eine völlig mechanisierte Gesellschaft, die sich der maximalen Produktion und dem maximalen Konsum verschrieben hat und von Computern gesteuert wird. In diesem gesellschaftlichen Prozess verwandelt sich der Mensch selbst in einen zwar gut geölten und instand gehaltenen, aber untätigen, unlebendigen und gefühlsarmen Teil der Gesamtmaschinerie. Mit dem Sieg der neuen Gesellschaft werden Individualismus und Privatleben verschwinden. Das Mitgefühl mit anderen wird mit Hilfe psychologischer Konditionierung und anderer derartiger Methoden oder auch mit Hilfe von Drogen, die gleichzeitig eine neue Art der introspektiven Erfahrung vermitteln, organisiert werden. Zbigniew Brzezinski meint dazu: „In der technotronen Gesellschaft scheint ein Trend zu bestehen, den individuellen Lebensunterhalt von Millionen unkoordinierter Bürger anzuhäufen, die von Persönlichkeiten mit besonderer Anziehungskraft mit Leichtigkeit in ihr Magnetfeld gezogen werden können, indem diese die neuesten Kommunikationstechniken zur Manipulation der Gefühle und zur Kontrolle der Vernunft ausbeuten.“ (1968, S. 19) In Romanform wurde diese neue Gesellschaft von George Orwell in 1984 (G. Orwell, 1949) und von Aldous Huxley in Brave New World (1946) vorausgesagt.

Das Bedrohlichste daran ist gegenwärtig, dass wir offenbar im Begriff sind, die Kontrolle über unser eigenes System zu verlieren. Wir führen nur noch die Entscheidungen aus, welche unsere Computer mit ihren Berechnungen für uns treffen. Als menschliche Wesen haben wir keine anderen Ziele als immer mehr zu produzieren und zu konsumieren. Es gibt nichts, was wir wollen, und auch nichts, was wir nicht wollen. Wir sind bedroht von der Vernichtung durch Atomwaffen und wir sind in Gefahr, innerlich abzusterben durch unser Untätigsein, das daher rührt, dass wir keine verantwortlichen Entscheidungen mehr zu treffen haben.

Wie aber ist es dazu gekommen, dass der Mensch auf der Höhe seines Sieges über die Natur zum Gefangenen seiner eigenen Schöpfung wurde und ernsthaft in Gefahr ist, sich selbst zu vernichten?

Auf seiner Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit erwarb der Mensch Kenntnisse, [IV-262] die er zur Beherrschung der Natur nutzen konnte. Er hatte dabei ungeheure Erfolge. Aber durch die einseitige Betonung der Technik und des materiellen Konsums büßte der Mensch den Kontakt mit sich selbst und mit dem Leben ein.

Nachdem ihm sein religiöser Glaube und mit ihm die humanistischen Werte abhanden gekommen waren, konzentrierte er sich ganz auf technische und materielle Werte und verlor damit die Fähigkeit zu tiefen emotionalen Erfahrungen, zur Freude und zur Trauer, die damit Hand in Hand gehen. Die von ihm konstruierte Maschine gewann eine solche Macht, dass sie ihr eigenes Programm entwickelte, welches nun das Denken des Menschen beherrscht.

Gegenwärtig ist eines der schwersten Krankheitssymptome unseres Systems darin zu sehen, dass unsere Wirtschaft ganz auf der Waffenproduktion (und der Instandhaltung des gesamten Verteidigungsapparates) sowie auf dem Prinzip des maximalen Konsums beruht. Wir haben ein gut funktionierendes Wirtschaftssystem unter der Bedingung, dass wir Güter produzieren, die uns mit physischer Vernichtung bedrohen, dass wir den Einzelnen in einen völlig passiven Verbraucher verwandeln und damit abtöten und dass wir eine Bürokratie geschaffen haben, die dem Einzelnen das Gefühl der Machtlosigkeit gibt.

Stehen wir hier vor einem tragischen, unlösbaren Dilemma? Müssen wir kranke Menschen produzieren, um eine gesunde Wirtschaft zu haben, oder können wir unsere Bodenschätze, unsere Erfindungen, unsere Computer zum Nutzen des Menschen einsetzen? Muss der Einzelne passiv und abhängig sein, um mächtige und gut funktionierende Organisationen zu besitzen?

Auf diese Fragen gibt es verschiedene Antworten. Zu denen, die erkennen, welche revolutionären und drastischen Veränderungen im menschlichen Leben die „Megamaschine“ mit sich bringen könnte, gehören Autoren, die sagen, die neue Gesellschaft sei unvermeidlich, und es habe daher keinen Sinn, über ihren Wert oder Unwert zu streiten. Gleichzeitig sympathisieren sie mit der neuen Gesellschaft, wenn sie auch ein leichtes Unbehagen darüber äußern, was diese dem Menschen, so wie wir ihn kennen, vielleicht antun könnte. Zbigniew Brzezinski und Herman Kahn sind Vertreter dieser Einstellung. Am anderen Ende des Spektrums steht Jacques Ellul, der in seiner La Technique ou L’Enjeu du siècle (1954) die neue Gesellschaft, auf die wir zutreiben, und ihren destruktiven Einfluss auf den Menschen sehr eindrucksvoll beschreibt. Er sieht das Gespenst in seiner ganzen schrecklichen Unmenschlichkeit. Er kommt zu dem Schluss, dass die neue Gesellschaft zwar nicht gewinnen muss, aber aller Wahrscheinlichkeit nach gewinnen wird. Doch hält er es immer noch für möglich, dass die dehumanisierte Gesellschaft nicht Sieger werden wird, „wenn sich immer mehr Menschen voll bewusst werden, welche Bedrohung diese technologische Welt für das persönliche und geistige Leben des Menschen bedeutet, und wenn sie entschlossen sind, ihre Freiheit dadurch zu behaupten, dass sie dieser Entwicklung Einhalt gebieten“ (J. Ellul, 1954, Einleitung).

Lewis Mumford vertritt eine ähnliche Auffassung wie Ellul. In seinem tiefgründigen, glänzend geschriebenen Buch The Myth of the Machine (1967) beschreibt er die „Megamaschine“ und schildert zunächst ihre ersten Formen in der ägyptischen und in der babylonischen Gesellschaft. Aber im Gegensatz zu den eben erwähnten [IV-263] Autoren, die das Gespenst entweder mit Sympathie oder mit Entsetzen wahrnehmen, sehen die meisten Menschen von heute gar kein Gespenst, mögen sie zur Spitze des Establishments gehören oder Durchschnittsbürger sein. Sie halten noch an dem altmodischen Glauben des neunzehnten Jahrhunderts fest, die Maschine werde dem Menschen seine Last erleichtern, sie sei nur ein Mittel zum Zweck. Sie sehen nicht die Gefahr, dass die Technik, wenn man sie ihrer eigenen Logik folgen lässt, zu einer krebsartigen Wucherung wird, die schließlich das strukturierte System des individuellen und gesellschaftlichen Lebens bedrohen wird. Die hier in diesem Buch vertretene Auffassung (es ist die gleiche wie in Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, und in Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a) entspricht im Prinzip der von Mumford und Ellul. Vielleicht unterscheidet sie sich insofern, als ich eine etwas größere Möglichkeit sehe, unser Gesellschaftssystem wieder unter die Kontrolle des Menschen zu bringen. Meine diesbezüglichen Hoffnungen gründen sich auf folgende Faktoren:

  1. Unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem lässt sich weit besser verstehen, wenn wir das System „Mensch“ mit dem Gesamtsystem in Verbindung bringen. Die menschliche Natur ist keine Abstraktion und auch kein unendlich formbares und daher in seiner Dynamik unwesentliches System. Sie besitzt ihre eigenen spezifischen Eigenschaften, Gesetze und Alternativen. Durch die Untersuchung des Systems Mensch können wir ein Bild davon gewinnen, wie sich bestimmte Faktoren im sozio-ökonomischen System auf den Menschen auswirken und wie Störungen im System Mensch das gesamte Gesellschaftssystem aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn wir den Faktor „Mensch“ in der Analyse des Gesamtsystems mitberücksichtigen, sind wir besser in der Lage, seine Funktionsstörungen zu verstehen und Normen aufzustellen, die das gesunde wirtschaftliche Funktionieren des Gesellschaftssystems mit dem optimalen Wohl-Sein der Menschen in ihm verbinden. All dies gilt natürlich nur, wenn wir uns darüber einig sind, dass die maximale Entwicklung des menschlichen Systems im Sinne seiner eigenen Struktur – das heißt des menschlichen Wohl-Seins – das höchste Ziel ist.
  2. Hinzu kommen die wachsende Unzufriedenheit mit unserer gegenwärtigen Lebensweise, mit ihrem Untätigsein (passiveness) und ihrer stummen Langeweile, mit ihrem Mangel an Privatleben und ihrer Entpersönlichung, und die Sehnsucht nach einem frohen, sinnvollen Leben, das jene spezifischen Bedürfnisse des Menschen befriedigt, die er in den letzten Jahrtausenden seiner Geschichte entwickelt hat und die ihn vom Tier wie auch vom Computer unterscheiden. Diese Tendenz ist vor allem deshalb so stark, weil der wohlhabende Teil der Bevölkerung bereits die volle materielle Befriedigung ausgekostet und gemerkt hat, dass das Verbraucherparadies nicht die verheißene Glückseligkeit bringt. (Natürlich haben die Armen noch nicht die Chance gehabt, es selbst herauszufinden, aber sie konnten immerhin beobachten, dass diejenigen, die „alles haben, was das Herz begehrt“, auch nicht froh sind.)

Ideologien und Vorstellungen haben viel von ihrer Anziehungskraft verloren; traditionelle Klischees wie „rechts“ und „links“ oder „Kommunismus“ und „Kapitalismus“ haben ihre Bedeutung eingebüßt. Die Menschen suchen eine neue Orientierung, eine neue Philosophie, eine Orientierung, in deren Mittelpunkt das Leben – physisch und geistig – und nicht der Tod Vorrang hat. [IV-264]

In den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt ist eine wachsende Polarisierung zu beobachten: Auf der einen Seite stehen die, welche sich von der Gewalt, von „Gesetz und Ordnung“, von bürokratischen Methoden und letzten Endes vom Leblosen angezogen fühlen, auf der anderen Seite stehen die mit einer tiefen Sehnsucht nach dem Leben, nach neuen Einstellungen anstelle der vorgefertigten Pläne und Raster. Bei dieser neuen Front handelt es sich um eine Bewegung, die sowohl tiefgreifende Veränderungen in unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Praxis wie auch Veränderungen in unserer seelischen und geistigen Lebenseinstellung verlangt. Ganz allgemein ist ihr Ziel die Aktivierung des Einzelnen, die Wiederherstellung der Kontrolle des Menschen über das Gesellschaftssystem und die Humanisierung der Technik. Es ist eine Bewegung im Namen des Lebens, und sie hat eine so breite gemeinsame Basis, weil die Bedrohung des Lebens heute nicht nur eine einzelne Klasse oder eine einzelne Nation, sondern uns alle trifft.

In den folgenden Kapiteln will ich versuchen, einige der hier skizzierten Probleme ausführlich zu diskutieren, besonders jene, die es mit der Beziehung zwischen der menschlichen Natur und dem sozio-ökonomischen System zu tun haben.

Zuvor ist jedoch noch ein Punkt zu klären: Es herrscht heute eine weit verbreitete Hoffnungslosigkeit in Bezug auf die Möglichkeit, den eingeschlagenen Kurs noch zu ändern. Diese Hoffnungslosigkeit ist in der Hauptsache unbewusst, während die Menschen bewusst „optimistisch“ sind und auf weiteren „Fortschritt“ hoffen. Der Diskussion der gegenwärtigen Situation und ihres Hoffnungs-Potenzials sollte daher eine Erörterung des Phänomens Hoffnung vorausgehen.

2. Hoffnung

a) Was Hoffnung nicht ist

Hoffnung ist ein entscheidendes Element eines jeden Versuchs, eine gesellschaftliche Veränderung in Richtung auf eine größere Lebendigkeit, größere Bewusstheit und mehr Vernunft herbeizuführen. Aber das Wesen der Hoffnung wird oft missverstanden und mit Einstellungen verwechselt, die mit Hoffnung nichts zu tun haben, ja ihr genaues Gegenteil sind.

Was heißt hoffen?

Heißt es, wie viele meinen, Begierden und Wünsche haben? Wenn das stimmte, dann wären die, welche mehr und bessere Autos, Häuser und Geräte haben möchten, Menschen der Hoffnung. Aber sie sind es nicht; sie sind Menschen, die es nach mehr Konsum gelüstet, sie sind keine Menschen der Hoffnung.

Kann man von Hoffnung sprechen, wenn der Gegenstand der Hoffnung kein Ding, sondern ein erfüllteres Leben, ein Zustand größerer Lebendigkeit, eine Befreiung von der ewigen Langeweile ist, oder wenn es, theologisch gesprochen, um eine Hoffnung auf Erlösung oder, politisch gesprochen, um Hoffnung auf Revolution geht? Tatsächlich können derartige Erwartungen Hoffnungen sein. Aber es handelt sich um Nicht-Hoffnung, wenn man damit ein Untätigsein meint, wenn man auf etwas wartet – und die Hoffnung in Wirklichkeit zu einem Deckmantel der Resignation, zu einer bloßen Ideologie wird.

Kafka hat diese Art der resignierten, untätigen Hoffnung sehr schön in seiner Parabel Vor dem Gesetz beschrieben. Ein Mann kommt zur Tür, die in den Himmel (zum Gesetz) führt, und bittet den Türhüter um Einlass. Der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Obwohl das Tor zum Gesetz offensteht, entschließt sich der Mann, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. So sitzt er da und wartet tage- und jahrelang. Er bittet immer wieder, eingelassen zu werden, aber er erhält stets zur Antwort, jetzt könne ihm der Eintritt noch nicht gewährt werden. Während all der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen und kennt schließlich sogar die Flöhe in seinem Pelzkragen. Schließlich ist er alt und dem Tode nahe. Jetzt stellt er zum ersten Mal die Frage: „Wie [IV-266] kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter antwortet: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ (F. Kafka, 1969, S. 434.)

Der alte Mann war zu alt, um das zu begreifen, und vielleicht hätte er es auch nicht verstanden, wenn er jünger gewesen wäre. Die Bürokraten behalten immer das letzte Wort; wenn sie nein sagen, kann er nicht hinein. Wenn er eine stärkere Hoffnung gehabt hätte als diese untätige, abwartende Hoffnung, wäre er hineingegangen, und sein Mut, die Bürokraten nicht zu beachten, wäre die befreiende Tat gewesen, die ihn in den schimmernden Palast hineingetragen hätte. Viele Menschen sind wie Kafkas alter Mann. Sie hoffen zwar, aber es ist ihnen nicht gegeben, nach dem Impuls ihres Herzens zu handeln, und solange die Bürokraten kein grünes Licht geben, warten und warten sie. (Bezeichnenderweise bedeutet das spanische Wort esperar sowohl „warten“ als auch „hoffen“ und bezieht sich deutlich auf die besondere Art der untätigen Hoffnung, die ich hier zu beschreiben versuche.)

Diese Art der untätigen Hoffnung ist eng verwandt mit einer allgemeinen Form von Hoffnung, die man als ein Hoffen auf (kommende) Zeit definieren könnte. Die Zeit und die Zukunft werden zur zentralen Kategorie bei dieser Art von Hoffnung. Man erwartet nicht, dass im Jetzt etwas geschieht, man hofft auf den nächsten Augenblick, auf den nächsten Tag, auf das nächste Jahr oder auf eine andere Welt, wenn es allzu absurd wäre zu glauben, die Hoffnung könne in dieser Welt Wirklichkeit werden. Hinter diesem Glauben steht die Vergötzung der „Zukunft“, der „Geschichte“ und der „Nachwelt“, die in der Französischen Revolution mit Männern wie Robespierre begann, der die Zukunft als Göttin verehrte: Ich tue selbst nichts, ich bleibe untätig, weil ich nichts bin und zu nichts fähig bin; aber die Zukunft, die Projektion der Zeit, wird das vollbringen, was ich nicht erreichen kann. Diese Verehrung der Zukunft, die nur ein anderer Aspekt der Verehrung des Fortschritts im Denken der modernen Bourgeoisie ist, ist genau die Entfremdung der Hoffnung. Anstatt dass ich etwas tue oder etwas werde, bringen die Idole der Zukunft und der Nachwelt ohne mein Zutun etwas zustande.[4]

Während das untätige Abwarten eine verkappte Form der Hoffnungslosigkeit und Impotenz ist, gibt es noch eine andere Form der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sich einer genau entgegengesetzten Verkleidung bedient: Sie verkleidet sich als Phrasendrescherei und Abenteuerlust und scheint der Wirklichkeit zu spotten und das herbeizuzwingen, was sich nicht herbeizwingen lässt. Es war dies die Haltung derer, die als falscher Messias auftraten, und der Putschisten, die alle jene verachten, welche nicht unter allen Umständen den Tod der Niederlage vorzogen. Auch heute [IV-267] ist die pseudo-radikale Verkleidung der Hoffnungslosigkeit und des Nihilismus nicht selten gerade unter den engagiertesten Mitgliedern der jungen Generation anzutreffen. Sie erwecken Sympathie durch ihre Unerschrockenheit und ihr Engagement, aber sie können nicht überzeugen, weil es ihnen an Realitätsbewusstsein, am Gefühl für Strategie und gelegentlich auch an der Liebe zum Leben fehlt.[5]

b) Das Paradoxe und das Wesen der Hoffnung

Hoffnung ist paradox. Sie ist weder ein untätiges Warten noch ein unrealistisches Herbeizwingenwollen von Umständen, die nicht eintreffen können. Sie gleicht einem kauernden Tiger, der erst losspringt, wenn der Augenblick zum Springen gekommen ist. Weder ein müder Reformismus noch ein pseudo-radikales Abenteurertum sind ein Ausdruck von Hoffnung. Hoffen heißt, jeden Augenblick bereit sein für das, was noch nicht geboren ist, und trotzdem nicht verzweifeln, wenn es zu unseren Lebzeiten nicht zur Geburt kommt. Es hat keinen Sinn, auf etwas zu hoffen, was bereits existiert oder was nicht sein kann: Wer nur eine schwache Hoffnung hat, entscheidet sich für das Bequeme oder für die Gewalt. Wer eine starke Hoffnung hat, erkennt und liebt alle Zeichen neuen Lebens und ist jeden Augenblick bereit, dem, was bereit ist geboren zu werden, ans Licht zu helfen. [IV-268]

Einer der Hauptgründe, dass eine solche Verwirrung über den Begriff der Hoffnung herrscht, ist der, dass man nicht zwischen bewusster und unbewusster Hoffnung unterscheidet. Dieser Irrtum zeigt sich natürlich auch in Bezug auf viele andere emotionale Erfahrungen wie Glück, Angst, Depression, Langeweile und Hass. Es ist erstaunlich, dass trotz der Popularität von Freuds Theorien sein Begriff des Unbewussten so wenig auf derartige emotionale Phänomene angewandt wird. Es dürfte hierfür zwei Hauptgründe geben. Der eine ist der, dass in den Schriften einiger Psychoanalytiker und gewisser „Philosophen der Psychoanalyse“ das gesamte Phänomen des Unbewussten – das heißt der Verdrängung – sich auf sexuelle Wünsche bezieht, und dass sie den Begriff der Verdrängung irrtümlicherweise als gleichbedeutend mit einer Unterdrückung der sexuellen Wünsche und Aktivitäten auffassen. Auf diese Weise berauben sie Freuds Entdeckungen einiger höchst wichtiger Konsequenzen. Der zweite Grund dürfte darin zu suchen sein, dass es für die nach-viktorianischen Generationen weit weniger beunruhigend ist, sich ihrer verdrängten sexuellen Wünsche bewusst zu werden als solcher Erfahrungen wie Entfremdung, Hoffnungslosigkeit oder Gier. Um nur eines der augenfälligsten Beispiele anzuführen: Die meisten Menschen gestehen es sich selbst nicht ein, dass sie Gefühle von Angst, Langeweile, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit haben, das heißt, diese Gefühle sind für sie unbewusst.[6] Hierfür gibt es einen einfachen Grund. Unser gesellschaftliches Vorbild ist so beschaffen, dass der Erfolgreiche keine Angst haben und er sich nicht gelangweilt oder einsam fühlen darf. Er muss diese Welt für die beste aller Welten halten. Um die beste Chance für ein Vorwärtskommen zu haben, muss er seine Angst genauso wie seine Zweifel, seine Depression, seine Langeweile oder seine Hoffnungslosigkeit verdrängen.

Es gibt viele, die sich bewusst hoffnungsvoll und unbewusst hoffnungslos fühlen. Nur für wenige trifft das Umgekehrte zu. Bei der Untersuchung der Hoffnung und der Hoffnungslosigkeit geht es nicht primär darum, was die Menschen über ihre Gefühle denken, sondern darum, was sie wirklich fühlen. Das lässt sich am wenigsten leicht an ihren Worten und Phrasen erkennen, aber man kann es an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, an der Art wie sie gehen, an ihrer Fähigkeit, interessiert auf etwas zu reagieren, was sich vor ihren Augen abspielt, und auch daran, dass sie keine Fanatiker sind, was sich darin zeigt, dass sie fähig sind, sich vernünftige Argumente anzuhören.

Der dynamische Standpunkt, von dem aus wir in diesem Buch die sozialpsychologischen Probleme betrachten, unterscheidet sich grundlegend von dem, den die deskriptiven Behavioristen meistens in ihren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen einnehmen. Bei einer dynamischen Betrachtung interessieren wir uns nicht in erster Linie dafür, was jemand denkt oder sagt oder wie er sich jetzt, in diesem Augenblick, verhält. Wir interessieren uns vielmehr für seine Charakterstruktur – das heißt für die relativ gleichbleibende Struktur seiner Energien, für die Richtungen, in die sie gelenkt werden, und für die Intensität, mit der sie strömen. Wenn wir die Triebkräfte [IV-269] kennen, die das Verhalten eines Menschen motivieren, dann verstehen wir nicht nur sein gegenwärtiges Verhalten, sondern wir können auch vernünftige Vermutungen darüber anstellen, wie er sich unter veränderten Umständen verhalten würde. Vom dynamischen Standpunkt aus würde man auch überraschende „Veränderungen“ im Denken oder im Verhalten eines Menschen meist voraussehen, wenn man seine Charakterstruktur kennen würde.

Es ließe sich noch mehr darüber sagen, was Hoffnung nicht ist, aber gehen wir weiter und fragen wir, was Hoffnung ist. Lässt sie sich überhaupt in Worten beschreiben, oder kann man sie nur in einem Gedicht, in einem Lied, in einer Geste, einem Gesichtsausdruck oder einer Handlung zum Ausdruck bringen?

Wie das auch für alle anderen menschlichen Erfahrungen gilt, so sind Worte zur Beschreibung dieser Erfahrung unzureichend. Tatsächlich bewirken ja Worte meist das Gegenteil: Sie verdunkeln, sie sezieren und töten ab. Nur allzu oft verliert man im Prozess des Redens über Liebe, Hass oder Hoffnung den Kontakt mit dem, worüber man eigentlich reden sollte. Dichtung, Musik und andere Formen der Kunst sind die bei weitem am besten geeigneten Medien zur Beschreibung menschlicher Erfahrungen, denn sie sind präzis und nicht so abstrakt und vage wie die abgegriffenen Münzen, die man für adäquate Darstellungen menschlicher Erfahrungen nimmt.

Doch selbst wenn man diese Einschränkung ernst nimmt, muss man doch einräumen, dass es nicht unmöglich ist, auch mit Worten, die keine Poesie sind, an gefühlsmäßige Erfahrungen heranzukommen. Dies wäre nicht möglich, wenn die anderen Menschen nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grade die Erfahrungen mit uns teilten, von denen wir sprechen. Eine Erfahrung beschreiben, heißt auf ihre verschiedenen Aspekte hinweisen und auf diese Weise eine Kommunikation aufbauen, bei der Autor wie Leser wissen, dass es beiden um das gleiche Erlebnis geht. Wenn ich nun diesen Versuch mache, muss ich den Leser bitten, mit mir zusammenzuarbeiten und nicht von mir zu erwarten, dass ich ihm eine Antwort auf die Frage gebe, was Hoffnung ist. Ich muss ihn bitten, seine eigenen Erfahrungen zu mobilisieren, um unseren Dialog möglich zu machen.

Hoffen ist ein Zustand des Seins. Es ist eine innere Bereitschaft, die Bereitschaft zu einem intensiven, aber noch unverbrauchten Tätigsein.[7] Unsere Vorstellung von „Aktivität“ beruht auf einer der verbreitetsten Illusionen in unserer modernen Industriegesellschaft. Unsere gesamte Kultur ist auf Aktivität geschaltet – auf Aktivität im Sinn von geschäftig sein, im Sinne der Geschäftigkeit, die man braucht, um Geschäfte zu machen. Tatsächlich sind die meisten Menschen so „aktiv“, dass sie es nicht ertragen können untätig zu sein; selbst ihre sogenannte Freizeit verwandeln sie noch [IV-270] in eine andere Form der Aktivität. Falls diese sich nicht auf das Geldverdienen bezieht, verwenden sie sie darauf, mit dem Wagen herumzufahren, Golf zu spielen oder auch nur dummes Zeug zu reden. Wovor sie sich fürchten, ist der Augenblick, wo sie wirklich nichts „zu tun haben“. Ob man dieses Verhalten als Aktivität bezeichnet, ist eine Frage der Terminologie. Das Schlimme dabei ist nur, dass die meisten, die sich für sehr aktiv halten, nicht merken, dass sie in Wirklichkeit trotz ihrer „Geschäftigkeit“ außerordentlich untätig sind. Sie brauchen ständig einen Anstoß von außen: das Geschwätz anderer Leute oder den Anblick eines Films oder eine Reise oder auch andere, noch nervenaufpeitschendere Anregungen, auch wenn es sich nur um einen anderen Mann oder eine andere Frau als Sexualpartner handelt. Sie brauchen jemand, der ihnen das Stichwort gibt, der sie „ankurbelt“, sie verlockt und verführt. Immerzu sind sie am Laufen, und nie stehen sie still. Immer wieder „fallen sie auf etwas herein“, und nie richten sie sich zu etwas auf. Dabei halten sie sich für ungeheuer aktiv, während sie von dem Zwang getrieben werden, etwas zu tun, um der Angst zu entgehen, die sie erfassen würde, wenn sie sich mit sich selbst konfrontiert sähen.

Hoffnung ist eine psychische Begleiterscheinung von Leben und Wachstum. Wenn ein Baum, der keine Sonne bekommt, seinen Stamm der Sonne zudreht, können wir nicht sagen, dass der Baum genauso „hofft“, wie das ein Mensch tut, da die Hoffnung beim Menschen mit Gefühlen und mit Bewusstsein verbunden ist, die der Baum wohl nicht besitzt. Und doch wäre es nicht falsch zu sagen, dass der Baum auf Sonne hofft und dass er diese Hoffnung dadurch zum Ausdruck bringt, dass er seinen Stamm der Sonne zudreht. Ist es denn etwas anderes bei dem Kind, das geboren wird? Es nimmt vielleicht noch nichts wahr und doch drückt sich in seiner Aktivität seine Hoffnung aus, geboren zu werden und selbständig atmen zu können. Hofft der Säugling nicht auf die Brust seiner Mutter? Hofft das Kleinkind nicht, aufrecht stehen und laufen zu können? Hofft der Kranke nicht, gesund zu werden, hofft der Gefangene nicht, frei zu werden, der Hungrige nicht, etwas zu essen zu bekommen? Hoffen wir nicht, am nächsten Tag wieder aufzuwachen, wenn wir abends einschlafen? Kommt im Liebesakt nicht die Hoffnung des Mannes auf seine Potenz und seine Fähigkeit, seine Partnerin zu erregen, zum Ausdruck, und bei der Frau nicht ihre Hoffnung, darauf eingehen und ihn ihrerseits erregen zu können?

c) Glaube

Wenn die Hoffnung aufhört, ist das Leben tatsächlich oder potenziell zu Ende. Die Hoffnung ist ein dem Leben selbst innewohnendes Element. Sie ist Ausdruck der Dynamik des menschlichen Geistes. Sie steht in engem Zusammenhang mit einem anderen Element des Lebens: mit dem Glauben. Der Glaube ist nicht eine schwache Form des Fürwahrhaltens oder des Wissens. Es geht nicht um den Glauben an dieses oder jenes. Glauben heißt, von etwas noch nicht Bewiesenem überzeugt sein, ist ein Wissen um die realen Möglichkeiten, bedeutet sozusagen einer „Schwangerschaft“ gewahr zu werden. Glaube ist dann rational, wenn es sich dabei um das Wissen um das Wirkliche, aber noch Ungeborene handelt. Er gründet sich auf ein Wissen und Verstehen, [IV-271] das unter die Oberfläche dringt und den Kern wahrnimmt. Der Glaube ist wie die Hoffnung keine Voraussage der Zukunft; er ist vielmehr die Vision der Gegenwart im Zustand der Schwangerschaft.

Die Behauptung, dass Glaube Gewissheit sei, bedarf einer Qualifizierung. Es handelt sich um die Gewissheit hinsichtlich der Realität einer Möglichkeit – nicht aber um eine Gewissheit im Sinne einer zweifelsfreien Voraussagbarkeit. Das Kind kommt vielleicht zu früh, als Totgeburt auf die Welt; es kann bei der Geburt sterben; es kann in den ersten beiden Wochen nach seiner Geburt sterben. Das ist das Paradoxe am Glauben, dass er die Gewissheit des Ungewissen ist. (Im Hebräischen bedeutet das Wort für „Glaube“ [emunah] so viel wie „Gewissheit“, und das Amen heißt „gewiss“.) Glaube ist die Gewissheit der Vision und des Verstehens und nicht die Gewissheit hinsichtlich eines ganz bestimmten Endergebnisses. Wir brauchen keinen Glauben an das, was sich wissenschaftlich voraussagen lässt, und es kann auch keinen Glauben an das geben, was unmöglich ist. Glaube beruht auf unserer Erfahrung, dass wir leben und dass wir uns wandeln können. Der Glaube, dass andere sich wandeln können, entspringt unserer Erfahrung, dass wir dazu imstande sind. (Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Bedürfnis nach Gewissheit im dritten Kapitel dieses Buches[IV-295].)

Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem rationalen und dem irrationalen Glauben.[8] (Auf die Bedeutung der Bezeichnungen „rational“ und „irrational“ komme ich im vierten Kapitel zurück[IV-308].) Während der rationale Glaube unserem inneren Tätigsein im Denken und Fühlen entspringt, besagt irrationaler Glaube Unterwerfung unter etwas Gegebenes, das wir als wahr hinnehmen, ganz gleich, ob es das ist oder nicht. Das Wesentliche am irrationalen Glauben ist das Untätigsein (passiveness), ob nun der Gegenstand des Glaubens ein Idol, ein Führer oder eine Ideologie ist. Selbst der Wissenschaftler sollte frei sein von dem irrationalen Glauben an traditionelle Ideen, um an die Macht schöpferischen Denkens auf rationale Weise glauben zu können. Nachdem seine Entdeckung einmal „bewiesen“ ist, braucht er keinen Glauben mehr – außer an den nächsten Schritt, den er nun ins Auge fasst. Wenn man im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen an einen anderen Menschen glaubt, so bedeutet das, dass man sich seines Kernes sicher ist – das heißt seiner Zuverlässigkeit und der Unveränderlichkeit seiner Grundeinstellung. Im gleichen Sinn können wir auch an uns selbst glauben – nicht an die Beständigkeit unserer Meinungen, sondern an unsere Grundeinstellung zum Leben, an die Matrix unserer Charakterstruktur. Ein solcher Glaube wird bestimmt durch die Erfahrung, die wir mit uns selbst gemacht haben, durch unsere Fähigkeit, legitimerweise „Ich“ zu sagen, durch unser Identitätserleben.

Hoffnung ist die Stimmung, die mit dem Glauben Hand in Hand geht. Ohne eine hoffnungsvolle Stimmung lässt sich der Glaube nicht aufrechterhalten. Nur auf den Glauben kann sich die Hoffnung aufbauen.

d) Seelenstärke

Mit Hoffnung und Glaube ist noch ein weiteres Strukturelement des Lebens eng verbunden: Mut, oder wie Spinoza sagt „Seelenstärke“ (fortitudo)[9]. „Seelenstärke“ ist [IV-272] vielleicht der weniger vieldeutige Ausdruck, denn mit „Tapferkeit“ bezeichnet man häufiger den Mut zu sterben und nicht den Mut zu leben. „Seelenstärke“ ist die Fähigkeit, der Versuchung zu widerstehen, Hoffnung und Glaube dadurch zu gefährden, dass man sie in einen leeren Optimismus oder in einen irrationalen Glauben umwandelt, wodurch sie zerstört werden. Seelenstärke ist die Fähigkeit, „nein“ sagen zu können, wenn die Welt „ja“ hören will.

Aber wir haben noch nicht ganz begriffen, was Seelenstärke ist, wenn wir nicht auch noch einen anderen ihrer Aspekte erwähnen: die Furchtlosigkeit. Der Furchtlose fürchtet sich nicht vor Drohungen, ja nicht einmal vor dem Tod. Aber, wie so oft, bezeichnet das Wort „furchtlos“ mehrere völlig unterschiedliche Einstellungen. Ich will hier nur die drei wichtigsten erwähnen:

Erstens kann jemand furchtlos sein, weil ihm nichts am Leben liegt; das Leben bedeutet ihm nicht viel, deshalb ist er ohne Furcht, wenn er in Todesgefahr gerät; aber während er sich vor dem Tod nicht fürchtet, kann er sich vor dem Leben fürchten. Seine Furchtlosigkeit beruht darauf, dass er das Leben nicht liebt; er ist gewöhnlich keineswegs furchtlos, wenn es nicht darum geht, sein Leben zu riskieren. Häufig befindet er sich geradezu auf der Suche nach gefährlichen Situationen, um seiner Furcht vor dem Leben, vor sich selbst, vor anderen Menschen zu entrinnen.

Eine zweite Art von Furchtlosigkeit ist bei Menschen anzutreffen, die sich einem Idol, einem anderen Menschen, einer Institution oder einer Idee symbiotisch unterwerfen. Die Befehle ihres Idols sind ihnen dann heilig; sie sind für sie weit zwingender als selbst die Befehle ihres eigenen Körpers, der überleben will. Wenn ein solcher Mensch diese Befehle seines Idols nicht befolgen oder ihre Berechtigung anzweifeln könnte, geriete er in Gefahr, seine Identität mit dem Idol zu verlieren, das bedeutet, dass er Gefahr laufen würde, sich völlig isoliert und daher am Rande des Wahnsinns zu befinden. Aus Angst vor dieser Gefahr ist er bereit zu sterben.

Die dritte Art der Furchtlosigkeit findet man bei vollentwickelten Menschen, die in sich selber ruhen und das Leben lieben. Wer seine Gier überwunden hat, klammert sich weder an ein Idol noch an irgendeine Sache und hat deshalb nichts zu verlieren: Er ist reich, weil er leer ist; er ist stark, weil er nicht der Sklave seiner Begierden ist. Er kann Idole, irrationale Wünsche und Phantasien loslassen, weil er mit der Wirklichkeit in sich selbst und außerhalb seiner selbst in vollem Kontakt steht. Wenn ein solcher Mensch zur vollen „Erleuchtung“ gelangt ist, ist er vollkommen furchtlos.

Wenn er sich auf dieses Ziel erst zubewegt, ohne es noch erreicht zu haben, ist auch seine Furchtlosigkeit noch nicht vollkommen. Aber jeder, der versucht, sich dem Zustand, ganz er selbst zu sein, zu nähern, weiß, dass jeder neue Schritt auf die Furchtlosigkeit zu unverkennbar ein Gefühl der Stärke und Freude in ihm erweckt. Er hat dann das Gefühl, ein neuer Lebensabschnitt habe für ihn begonnen. Er fühlt die Wahrheit in Goethes Worten: „Nun habe ich mein Sach auf Nichts gestellt. (...) Und mein gehört die ganze Welt“ (J. W. von Goethe, 1887, Band 1, S. 132 f.).

Als wesentliche Eigenschaften des Lebens drängen Hoffnung und Glaube schon ihrer Natur nach über den individuellen wie auch den gesellschaftlichen status quo hinaus. Das Leben hat unter anderem die Eigenschaft, dass es ein ständiger Prozess der [IV-273] Veränderung ist und keinen Augenblick gleich bleibt.[10] Leben, das stagniert, beginnt abzusterben. Stagniert es völlig, ist der Tod eingetreten. Hieraus folgt, dass das Leben in seiner Eigenschaft als Bewegung dazu tendiert, aus dem status quo auszubrechen und ihn zu überwinden. Wir werden entweder stärker oder schwächer, klüger oder dümmer, mutiger oder feiger. Jede Sekunde ist ein Augenblick der Entscheidung zum Besseren oder Schlechteren. Entweder pflegen wir unsere Trägheit, unsere Gier und unseren Hass, oder wir hungern sie aus. Je mehr wir sie pflegen, umso stärker werden sie; je mehr wir sie aushungern, umso schwächer werden sie.

Was für den Einzelnen gilt, das gilt auch für die Gesellschaft. Auch sie ist niemals statisch; wenn sie nicht wächst, verfällt sie; wenn sie den status quo nicht zum Besseren hin überschreitet, verändert er sich zum Schlechteren hin. Oft haben wir als Einzelne oder als Glieder einer Gesellschaft die Illusion, wir könnten stillstehen und brauchten die gegebene Situation nicht in der einen oder der anderen Richtung zu ändern. Dies ist eine der gefährlichsten Illusionen. Im Augenblick, wo wir stillstehen, fangen wir an abzusterben.

e) Auferstehung

Der Begriff der persönlichen oder gesellschaftlichen Wandlung erlaubt uns – ja zwingt uns geradezu –, die Bedeutung von Auferstehung ohne jede Bezugnahme auf ihren theologischen Sinn im Christentum neu zu definieren. Auferstehung in diesem neuen Sinn – wonach die christliche Bedeutung nur eine der vielen möglichen symbolischen Ausdrucksformen wäre – heißt nicht Schaffung einer anderen Wirklichkeit nach der Wirklichkeit dieses Lebens, sondern Umwandlung dieser Wirklichkeit auf eine größere Lebendigkeit hin. Mensch und Gesellschaft erfahren ihre Auferstehung in jedem Augenblick im Akt der Hoffnung und des Glaubens im Hier und Jetzt. Jeder Akt der Liebe, des Gewahrwerdens, des Mitgefühls ist Auferstehung; jeder Akt der Trägheit, der Gier, der Selbstsucht ist Tod. Jeden Augenblick konfrontiert uns unsere Existenz mit der Alternative von Auferstehung oder Tod; jeden Augenblick geben wir eine Antwort. Diese Antwort liegt nicht in dem, was wir sagen oder denken, sondern in dem, was wir sind, wie wir handeln, wohin wir uns bewegen.

f) Die messianische Hoffnung

Glaube und Hoffnung und Auferstehung in dieser Welt haben ihren klassischen Ausdruck in der messianischen Vision der Propheten gefunden. Sie sagen nicht wie Kassandra oder der Chor in der griechischen Tragödie die Zukunft voraus; sie sehen die [IV-274] gegenwärtige Wirklichkeit ohne die Scheuklappen der öffentlichen Meinung und irgendwelcher Autoritäten. Sie wollen gar keine Propheten sein, fühlen sich aber gezwungen, der Stimme ihres Gewissens Ausdruck zu verleihen, aus ihrem „Mit-wissen“ heraus zu sagen, welche Möglichkeiten sie sehen, und dem Volk die Alternative vor Augen zu führen und es zu warnen. Das ist das einzige, was sie wollen. Dem Volk bleibt es überlassen, ihre Warnung ernst zu nehmen und sein Leben zu ändern, oder taub und blind zu bleiben – und zu leiden. Die prophetische Sprache ist stets die Sprache der Alternativen, der Wahl und der Freiheit. Niemals ist es die Sprache des Determinismus, der Vorbestimmung zum Besseren oder Schlechteren. Die kürzeste Formulierung für diesen prophetischen Alternativismus findet sich in Dtn 30,19: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben!“[11]

In den prophetischen Schriften beruhte die messianische Vision auf der „Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, zwischen dem, was dem Menschen gegeben, und dem, was ihm verkündet ist“ (L. Baeck, 1923, S. 256). In der nachprophetischen Periode machte die messianische Idee einen Bedeutungswandel durch, der sich zuerst im Buch Daniel um 164 v. Chr. und bei den Pseudo-Epigraphen bemerkbar machte, die nicht in den Kanon des Alten Testaments aufgenommen wurden. In diesen Schriften finden wir eine „vertikale“ Vorstellung von der Erlösung im Gegensatz zur „horizontalen“[12] Geschichtsauffassung der Propheten. Dabei liegt der Nachdruck auf der Wandlung des Einzelnen, und im allgemeinen wird eine letzte Katastrophe als das Ende der Geschichte vorausgesagt. Bei dieser apokalyptischen Version geht es nicht um Alternativen, sondern um eine Voraussage, nicht um Freiheit, sondern um Determinismus.

In der späteren talmudischen und rabbinischen Überlieferung gewann die ursprüngliche prophetische, alternativistische Vision wieder die Oberhand. Das frühe Christentum war stärker von der apokalyptischen Version des messianischen Gedankens beeinflusst, wenn sich auch die Kirche als Institution paradoxerweise gewöhnlich auf eine Position passiven Wartens zurückzog.

Nichtsdestoweniger blieb die prophetische Idee in der Vorstellung von der „Wiederkunft Christi“ lebendig, und wir finden immer wieder bei revolutionären und „häretischen“ Sekten die prophetische Interpretation des christlichen Glaubens. Heute zeigt der radikale Flügel der römisch-katholischen Kirche ebenso wie verschiedene nichtkatholische christliche Bekenntnisse eine deutliche Rückkehr zum prophetischen Prinzip, sowohl zu seinem Alternativismus wie auch zu der Auffassung, dass spirituelle Ziele auch im politischen und gesellschaftlichen Handeln vorhanden sein müssen. Außerhalb der Kirche war der ursprüngliche marxistische Sozialismus die bedeutsamste Ausprägung der messianischen Vision in säkularer Sprache, doch wurde sie [IV-275] durch die kommunistische Entstellung von Marx verfälscht und verdorben. In den letzten Jahren ist das messianische Element im Marxismus bei einigen sozialistischen Humanisten besonders in Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn wieder zu Wort gekommen. Marxisten und Christen führen einen weltweiten Dialog, der sich auf das gemeinsame messianische Erbe gründet.[13]

g) Die Zerstörung der Hoffnung