Thees Carstens

und das Geheimnis der alten Mühle

Mit Illustrationen von Thees Carstens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8650-677-6

© Copyright 2015 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Titelgrafik und Innen-Illustrationen: Thees Carstens

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Satz: Brendow Web & Print, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.brendow-verlag.de

Für Emma und Henri

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Weitere Bücher

Kapitel 1

Das Schloss

Der Himmel war wolkenfrei, es war ein schöner Tag. Ein Kater wanderte durch das hohe Gras im Schatten der alten Mühle. Wildblumen und Grashalme strichen angenehm kitzelnd an seinen Schnurrhaaren entlang. Remus liebte die Wiese zu dieser Jahreszeit und den Geruch der Gräser. Er genoss die frische Luft. Alles duftete nach Sommer. Er beschloss, einen warmen Stein zu suchen und sich darauf niederzulassen. Ein wenig dösen, das wäre jetzt schön, dachte Remus. Sein Blick folgte einem Rotkehlchen, das zur Spitze des Mühlenturms flog. Auf dem Dach saß ein kleines Tier. Aber es war kein Vogel. Es war … eine Maus! Was um alles in der Welt tat eine Maus auf dem Dach? Er konnte es nicht erkennen. Die Sonne stand direkt über der Mühle und blendete ihn.

Remus wanderte weiter zum Gemüsegarten. Von der Gartenmauer aus konnte er die Maus sehen, ohne in die Sonne zu schauen. Und dort würde er auch einen warmen Stein zum Schlafen finden. Während er durch das hohe Gras strich, flatterte ein Schmetterling an seiner Nase vorbei. Er flog über die duftenden Wildblumen und Kräuter in Richtung Waldrand. Dann machte er eine Wende und flatterte zum Hof von Müller Tom. Das kleine, aus Feldsteinen errichtete und efeubewachsene Haus döste zwischen zwei uralten Eichen vor sich hin. Aus seinem Inneren hörte man Edna, die Tochter des Müllers, singen und in der Küche mit dem kupfernen Wasserkessel klappern.

Remus erreichte den Gemüsegarten. Mühsam kletterte er auf den Steinwall, der die wilden Kaninchen vom Salat fernhielt, und sah hinauf zum Mühlendach. Die Maus war noch da und werkelte an einem Stück Stoff herum. Plötzlich warf sie das weiße Tuch in die Höhe. Sie hatte etwas Schweres mit Bindfäden daran befestigt, sodass sich das Tuch wie ein Fallschirm öffnete und langsam zu Boden schwebte.

Was für eine ungewöhnliche Maus!, dachte Remus. Der Fallschirm segelte herab und verschwand im hohen Gras. Remus gähnte. Er schloss die Augen und rollte sich zusammen.

Biola hatte den Flug ihres kleinen Fallschirms verfolgt. Sie war tatsächlich eine ungewöhnliche Maus. Eine von der eher seltenen Sorte junger Mäusemädchen, die gerne widersprechen, ihren eigenen Kopf haben und auch sonst ziemlich neugierig und unvorsichtig sind. Sie schlich manchmal heimlich durch die Mühle. Das war eigentlich verboten, weil der Müller einen Kater hatte, Remus, und tagsüber viele Menschen durch die Mühle gingen: der Müller Tom selbst natürlich und seine Tochter Edna und viele Bauern, die Getreide in die Mühle brachten.

Biola wusste, dass der Müller großen Respekt vor Mäusen hatte und dass er täglich Korn in die Mühle bringen ließ, um sich die Gunst der Mäuse zu erhalten. Das hatte ihr Großvater Mascarpone erzählt, und der wusste es von seinem Vater. Mascarpone war das Oberhaupt der Mäuse im Dachgeschoss des Mühlenturms. Er kannte sich aus, auch mit allen Gefahren. Täglich warnte er die Schlossmäuse vor den Ratten, die unter der Mühle in stickigen Gängen und feuchten Höhlen hausten und in der späten Nacht aus ihren Löchern krochen, um Getreide aus der Mühle zu stehlen. Man konnte sie im Dunkeln hören, und jede Maus hatte Angst vor ihnen, denn man kannte unheimliche Geschichten über ihre Grausamkeit. Aber merkwürdigerweise, oder besser gesagt zum Glück, kamen sie nie bis ins oberste Mühlenstockwerk. Hier stand das Mäuseschloss, in dem Biolas Familie zuhause war.

Biola kletterte durch einen Spalt im Kupferdach der Mühle hinunter in das Dachgebälk. In der Mühle war es dunkel, und es roch es nach Holz und Mehl. Staub schwebte in den Sonnenstrahlen, die durch das löchrige Dach in das Gebäude fielen. Die Mühlenflügel standen still, und es war ganz leise. Flink huschte Biola von Balken zu Balken, hinüber zum Mühlengestänge und auf die großen hölzernen Zahnräder. Wenn das Mahlwerk nicht in Bewegung war, boten sie eine bequeme Abkürzung auf dem Weg zu Biolas Nest.

Nach einigen Sprüngen hatte Biola ihr Zuhause fast erreicht – das Mäuseschloss. Es war eigentlich ein großer, ehemals weiß gestrichener Vogelkäfig aus Holz und Draht, sah aber aus wie ein alter indischer Palast mit Säulen, einer Kuppel aus Draht und einer Doppeltür, die nachts geschlossen wurde, wenn die Ratten in die Mühle kamen, um Korn zu stehlen.

Der Mäusepalast mit der abgeblätterten weißen Farbe stand auf einem Berg aus Gerümpel, direkt vor einem Fenster im obersten Stockwerk der Mühle. Durch das Fenster hatten die Mäuse von ihrem Schloss aus einen weiten Blick auf die Wiese bis hinüber zum Wald, auf das Haus des Müllers, die alten Eichen und den Gemüsegarten.

Der Gerümpelberg war ein großes Durcheinander. Kisten voller Werkzeug und Dinge, die man vielleicht noch mal gebrauchen konnte, stapelten sich da: ein Paar Stiefel, ein Regal, eine Tasche mit Büchern, ein kaputter Stuhl, eine Kiste mit Geschirr, mehrere Koffer mit alten Kleidern, ein Schaukelpferd, eine Hutschachtel, ein Reisekoffer, mehrere Laternen und vieles andere mehr. Und oben auf diesem Haufen stand das Mäuseschloss. Für die Mäuse war der Gerümpelhaufen des Müllers ein Paradies. Besonders die Kleiderkisten wurden von Biolas Familie und den anderen Schlossmäusen häufig aufgesucht, denn mit den Stoffen, die sie darin fanden, polsterten sie ihre Nester im Mäuseschloss aus.

Biola liebte ihr Zuhause. Die Mäuse hatten Pappen als Zwischenböden in ihren Palast eingebaut und fünf gemütliche warme Nester eingerichtet. Für jede Mäusefamilie ein eigenes kleines Nest. Nur die Eingangshalle des Schlosses hatten die Mäuse nicht mit Papier und Stoff ausstaffiert. Hier trafen sich alle, wenn etwas Wichtiges besprochen werden musste, oder wenn Großvater Mascarpone eine seiner Reden über gefährliche Ratten und siegreiche Mäuse hielt.

Den Boden der Eingangshalle bedeckte etwas ganz Besonderes: ein Stück Papier. Aber nicht irgendein Papier, sondern eine Preisliste aus einer Käsehandlung, die – trotz der langen Zeit, die sie hier schon lag – immer noch ganz wunderbar nach Käse duftete. Auf dem Papier stand oben „H. J. C. Käsespezialitäten“, darunter die Namen verschiedener Käsesorten mit den dazugehörigen Preisen. Auch Biolas Namen konnte man hier lesen, denn sie hieß eigentlich „Robiola“  — so wie ein berühmter italienischer Weichkäse. Fast alle Schlossmäuse hatten ihre Namen von dieser Liste: Großvater Mascarpone, Biolas bester Freund Cheddar, den alle „Ched“ nannten, Biolas Schwester Pecorini und auch ihre Mutter Ricotta.

Ihre Tante Halbfettstufe hatte ihren Namen ebenfalls von der Liste. Das Wort „Halbfettstufe“ hatte für die Eltern von Biolas Tante nach einem ganz besonderen Käse geklungen.

Tante Halbfettstufes Mann, Biolas Onkel Gorgonzolo, hatte man nach einem italienischen Blauschimmelkäse benannt. Auch Großvater Mascarpones Frau Camemberta hatte als Kind den Namen eines Käses von der Preisliste bekommen. Aber seit sie Mascarpone und die Mäusesippe eines Nachts vor langer Zeit verlassen hatte, sprach man ihren Namen nicht mehr aus. Biola wusste nicht warum, aber sie folgte dem Beispiel der Erwachsenen. Niemand, außer vielleicht Großvater Mascarpone, wusste, warum sie fortgegangen war oder wo sie lebte und ob sie überhaupt noch am Leben war.

Einer der Wenigen, die keinen Namen von der Liste trugen, war Biolas Vater Koriander. Er war draußen am Waldrand aufgewachsen und hatte später in die Sippe der Schlossmäuse eingeheiratet.

Biola sprang auf den Fußboden des obersten Mühlenstockwerks, da öffnete sich ein Flügel des Mäuseschlosstores, und eine junge Maus steckte ihre Schnurrhaare heraus. Als sie Biola kommen sah, piepste sie aufgeregt und lief den Gerümpelberg hinunter auf sie zu. Es war Biolas kleine Schwester Pecorini. „Zeigst du mir den Knopf?“, rief sie. „Zeigst du mir den Knopf? Du hast es versprochen!“

Kapitel 2

Der Knopf

„Nicht so laut“, sagte Biola zu ihrer Schwester, die wie ein kleiner Gummiball vor ihr auf und nieder hopste. „Ich zeige dir den Knopf! Aber mach nicht so einen Flohzirkus.“

Pecorini stieß vor Freude einen kleinen Jauchzer aus und sprang noch ausgelassener herum als vorher.

Der Knopf war Biolas größter Schatz. Sie hatte ihn bei einem der seltenen Ausflüge in den Gemüsegarten gefunden, den die Mäuse im letzten Sommer unternommen hatten. Und er war golden. Tom, der Müller, musste ihn verloren haben. An einem Sonntag, denn der Knopf gehörte zu seiner Sonntagsjacke. Biola und Ched hatte es einige Mühe gekostet, den Schatz nach Hause zu schaffen. Aber nun lag er gut versteckt irgendwo unter den vielen Kisten, Kästen und anderen Dingen, die der Müller im obersten Stock der Mühle lagerte.

„Komm mit, Ini“, sagte Biola. Sie hüpfte auf eine Bücherkiste, kletterte hinein, huschte über die fleckigen Buchrücken und zwängte sich durch ein Loch in einer dunklen Ecke der Kiste hinaus in einen höhlenartigen, finsteren Gang zwischen einem Sack und einem Pappkarton. Biola drehte sich um. Sie wollte sehen, ob Pecorini ihr gefolgt war. Dann wandte sie sich nach links und kroch in eine Laterne mit zerbrochenen Gläsern.

„Schneid dich nicht am Glas, Ini“, sagte sie.

„Nein, nein! Sind wir gleich da? Sind wir gleich da?“, piepste Pecorini aufgeregt.

Biola seufzte. Kleine Schwestern! Sie hätte Pecorini nie versprochen, ihr den Knopf zu zeigen, wenn sie nicht auch etwas von ihr gewollt hätte – als Gegenleistung. Es musste also sein.

„Ja, ja. Wir sind gleich da, aber sei jetzt leise. Niemand muss wissen, dass wir hier unten sind.“

Vorsichtig kletterten sie aus der Laterne wieder heraus. Vor ihnen lag – groß und dunkel – ein Schaukelpferd. Es ruhte auf der Seite. Darüber stapelten sich mehrere Decken, Säcke und Kisten. Nur sehr wenig Licht drang hier herunter.

„Da rein“, flüsterte Biola.

Sie wies auf ein Loch im Schaukelpferdbauch, aus dem helle Holzwolle quoll.

„Ein Geheimversteck!“, piepste Ini selig, und Biola zischte: „Leise!“

Biola und ihr bester Freund Ched hatten im Bauch des Schaukelpferds eine gemütliche Höhle angelegt. Nach und nach hatten sie ein schönes Nest mit karierten Stoffresten ausgepolstert und einen kleinen Haufen Korn zusammengetragen. Hier lag auch der Knopf. Biola legte sich gemütlich in eine Mulde in ihrem Nest.

Pecorini aber staunte über den Knopf.

„Wie schön der ist!“ Sie strich mit ihrer kleinen Pfote andächtig über die golden schimmernde Oberfläche. „Ist der aus echtem Gold?“

„Nein. Vielleicht aus Messing oder so“, sagte Biola.

„Was ist das für ein Bild auf dem Knopf?“

„Ein Anker. Anker gibt es auf Schiffen. Man wirft sie an einer Kette ins Wasser, dann kann das Schiff nicht mehr wegschwimmen, weil die Kette am Schiff befestigt ist und der Anker sich am Meeresboden verhakt.“

Biolas Schwester war beeindruckt. So etwas Bemerkenswertes hatte die kleine Pecorini noch nie gehört oder gesehen. Sie war in der Mühle aufgewachsen und höchstens bis zum Gemüsegarten gekommen. Dahinter endete die Welt für die Schlossmäuse. Für die meisten jedenfalls. Für die anderen, die Weitgereisten, die Globetrotter, die weltoffenen Neugierigen unter den Schlossbewohnern, endete sie zehn Meter weiter am Waldrand.

„Woher weißt du, was ein Kanka ist?“, fragte Pecorini.

„Ein ANKER! Das hat mir Ched erzählt. Sein Urgroßvater hat in einem Dorf am Meer gelebt. Bis er als junge Maus eines Tages Hunger auf einen Salat hatte. Er fand einen riesigen Salat. Mit der Salatkiste wurde er dann aber versehentlich hierhergebracht.“

„Und wieso?“

„Wieso was?“

„Wieso wurde der riesige Salat versehentlich hierhergebracht?“

„Nicht der Salat! Meine Güte! Cheds Urgroßvater!“

In diesem Moment tauchte Ched am Eingang der Höhle auf. Er war im selben Alter wie Biola. Seine Haare fielen ihm verstrubbelt in die Stirn.

„Was macht deine Schwester in unserem Geheimversteck?“, fragte er streng.

„Ich habe ihr unseren Knopf gezeigt“, antwortete Biola.

„Warum?“, fragte Ched.

„Weil sie mir im Gegenzug etwas versprechen soll.“

„Warum?“, fragte Pecorini.

„Weil ich dir den Knopf gezeigt habe!“, stöhnte Biola.

„Ja, stimmt! Geht‘s um ein Geheimnis?“

„Ja, Ini. Und zwar um ein besonderes! Eines, das man nicht weitererzählen darf!“

„Schade! Und was für ein Geheimnis?“

„Ich will heute Nacht mit Ched in den Gemüsegarten. Du darfst uns nicht verpetzen, klar?“

„Klar. Aber heute Nacht?“ Pecorini überlegte. „Dann müsst ihr ja durch die Mühle gehen, wenn die Ratten da sind und unser Korn stehlen!“

„Das geht schon klar!“, sagte Biola. „Du darfst uns nur nicht verraten!“

„Klar! Wird gemacht!“

Biola zögerte. Dann fragte sie: „Wirklich? Du verrätst uns nicht?“

„Versprochen!“, antwortete Pecorini. „Ich habe nur noch eine kleine Frage.“

„Und welche?“

„Darf ich mitkommen?“

Biola stöhnte.

Kapitel 3

Der verborgene Stiefel

Es war Zeit, zum Mäuseschloss zurückzukehren, denn nachmittags traf sich Biolas Familie, um gemeinsam Körner zu knabbern. Biola, Ched und Pecorini huschten durch die zerbrochene Laterne, die dunklen Gänge und durch die Bücherkiste zurück zum Weißen Schloss. In der Eingangshalle roch es wie immer nach Käse, aber es war niemand da. Dafür tummelten sich die Mitglieder der anderen vier Familien, die ebenfalls im Mäusepalast lebten, im Zwischengeschoss. Sie hielten bereits ihre Knabberstunde.

Biola verabschiedete sich kurz von Ched und krabbelte mit Pecorini weiter hinauf zur Kuppel aus Draht, unter der das Nest ihrer Familie lag – ganz oben im Schloss. Es war ein sehr schöner Ort für ein Nest, weil hier morgens die Sonne durch das Fenster in der Mühle auf das Schloss fiel und man weit hinaus in die Landschaft sehen konnte. Manche Drähte fehlten in der Kuppel des Schlosses, und andere waren zur Seite gebogen, sodass man hinausklettern und auf dem Dach des Vogelkäfigs herumbalancieren konnte.

Für Großvater Mascarpone war das nachmittägliche Körnerknabbern eine heilige Stunde, und er achtete darauf, dass alle dabei waren: Biolas Mutter Ricotta, Biolas Vater Koriander, ihre Tante Halbfettstufe, Onkel Gorgonzolo und natürlich Biola und Pecorini. Heute aber war etwas anders als sonst.

„Wo ist Großvater?“, fragte Biola.

„Haben wir uns auch schon gefragt!“, quiekte Tante Halbfettstufe. „Hoffentlich ist ihm nichts passiert!“ Sie war sehr besorgt. Sie war eigentlich immer sehr besorgt. „Er ist doch NIE unpünktlich!“

„Ich gehe ihn suchen“, sagte Biola, und bevor jemand etwas dagegen sagen konnte, war sie durch die Drähte der Kuppel geschlüpft und hüpfte über das Dach des Mäuseschlosses nach unten.

Sie hatte vor einigen Tagen kurz vor der Knabberstunde gesehen, wie Großvater Mascarpone aus einem Stiefel herausgekrochen war  — irgendwo versteckt am Fuß des Gerümpelhaufens. Mascarpone hatte sich damals vorsichtig umgesehen und den Stiefelschaft unter einem Lumpen Stoff verborgen. Was wollte er in dem Stiefel? Warum versteckte er ihn? Biola hatte den Verdacht, er könnte jetzt wieder dort sein.

Sie huschte über eine Bücherkiste, sprang auf einen alten Mantel und auf den Kopf des Schaukelpferdes, der an dieser Stelle aus dem Stapel herausragte. Je näher sie dem verborgenen Stiefel kam, umso mehr verlangsamte sie ihren Lauf. Und sie gab sich Mühe, kein Geräusch zu machen. Vorsichtig schlich sie sich an den Stiefel heran. Der Lumpen war wieder weggezogen worden. Biola lugte in den Stiefelschaft. Ja, da war eine Maus! Und es war tatsächlich ihr Großvater. Biola sah nur seinen Schwanz und sein Hinterteil, aber sie erkannte ihn trotzdem. Man kennt ja das Hinterteil seines Großvaters! Aber was tat er? Biola hörte, dass Mascarpone irgendetwas vor sich hin brummte. War er wütend? Sprach er mit sich selbst? Oder war noch eine andere Maus bei ihm in dem Stiefel? Plötzlich machte er eine Bewegung, und Biola zog sich blitzschnell zurück. Sie sprang hinter ein kaputtes Holzfass, das nach Heringen roch, und sah, wie der Großvater den Stiefel verließ. Er verdeckte den Schaft mit dem Lumpen und begann, langsam zum Mäuseschloss hinaufzuklettern.

„Knabberstunde …“, grummelte er vor sich hin. „Jetzt habe ich fast die Knabberstunde verpasst! Sowas! Sowas! Schlechtes Vorbild! Sehr schlechtes Vorbild!“

Biola wartete, bis er außer Sichtweite war. Dann näherte sie sich noch einmal neugierig dem Stiefel. Ob die zweite Maus noch darin war? War etwas Besonderes in dem Schuh? Biola war angespannt. Sie fühlte Angst. Trotzdem zog sie den Lumpen vorsichtig zur Seite, steckte ihr Näschen in den Stiefel und schnupperte. Es roch muffig, aber nicht nach Maus. Oder wurde der Mäusegeruch durch den Geruch des Stiefels überdeckt? Jedenfalls war es ziemlich dunkel darin.

Biola gab sich einen Ruck und kroch vorsichtig hinein.

„Hallo?“, flüsterte sie. „Ist da jemand?“

Keine Antwort.

Etwas mutiger geworden ging Biola weiter. Aber nur ein kleines Stück. Und dann noch ein Stück. Die Überraschung hätte nicht größer sein können: In der Stiefelspitze lag nur eine Streichholzschachtel. Eine ganz gewöhnliche alte Streichholzschachtel.

Kapitel 4

Urahn Alter Gouda

Biola wartete noch ein wenig, bevor sie zu ihrer Familie zurückkehrte. Sie hoffte, dass niemand fragen würde, wo sie gewesen war, denn sie wollte nicht zugeben, dass sie Mascarpone belauscht hatte. Und sie wollte auch keine Lüge erzählen.

„Fo warft du denn fo lange?“, rief ihr Pecorini fröhlich entgegen – den Mund voller Körner.

„Äh …“ Biola zögerte und nahm sich etwas Weizen.

„Ich war …“

„Sprich nicht mit vollem Mund, Pecorini“, brummte Großvater Mascarpone streng. Schnell stopfte sich auch Biola eine Pfote voll Weizenkörner in den Mund.

„Heute ist ein besonderer Tag!“, hob Großvater Mascarpone an und sah bedeutungsvoll in die Runde.

„Wieso? Verteilst du heute Abend schon wieder irgendwelche Orden?“, fragte Onkel Gorgonzolo.

„Nein“, antwortete Mascarpone und ignorierte den feindseligen Unterton in Gorgonzolos Stimme. „Die Ordensverleihung findet erst morgen Nachmittag statt. Heute ist der Jahrestag von Urahn Alter Goudas Heldentat!“

„Oh, ja! Erfähl noch mal die Gefichte!“, rief Pecorini mit vollem Mund, aber dieses Mal schien das ihren Großvater nicht zu stören.

„Gerne, denn das hatte ich sowieso vor.“ Großvater holte tief Luft. Biolas Vater Koriander seufzte.

„Was gibt es da zu seufzen?“, fragte Mascarpone. „Die Geschichte unseres Ahnen wird von Generation zu Generation weitergetragen. So ist es Brauch! Damit auch die Jugend sie eines Tages weitererzählen kann! Immerhin berichtet sie uns von den Fundamenten unserer Zivilisation!“

„Ja, jaaa …“, murmelte Biolas Vater.

Und während alle anderen weiterknabberten, begann Mascarpone die Geschichte vom legendären Urahn Alter Gouda zu erzählen.

„Unser Urahn war noch eine ganz junge Maus, als er die Heldentat vollbrachte, die den Menschen die Ehrfurcht vor uns Mäusen lehrte. Damals stand diese Mühle noch gar nicht, dieser mächtige Turm, der für uns errichtet wurde, in dem wir leben und in dem uns der Müller Tag um Tag, Jahr um Jahr seinen Korntribut entrichtet. Nein, die Mäuse mussten noch voller Angst vor Menschen und Katzen unter Steinen und Wurzeln am Waldrand hausen …“

„Na und?“, unterbrach Koriander Mascarpone. „Ich bin auch am Waldrand aufgewachsen. Ich kann daran nichts Schlechtes erkennen. Außerdem …“

Sanft legte sich Ricottas Pfote auf Korianders Rücken. Biolas Vater verstand das wortlose Zeichen seiner Frau sofort und verstummte – mit einem weiteren Seufzer.

Mascarpone aber wartete noch einen Augenblick ab, erst dann hob er erneut seine Stimme:

„Wie gesagt: Unser Urahn Alter Gouda war noch eine junge Maus, als er die Heldentat vollbrachte, die ihn für uns alle zu einem Vorbild werden ließ. Und trotz seines geringen Alters war er schon damals beseelt von großem Mut! Und so hatte er im Gegensatz zu allen anderen Mäusen auch keine Angst davor, die Küche des Menschenhauses aufzusuchen, um für seine Sippe einen schmackhaften Käse oder ein würziges Stück Räucherspeck zu ergattern.

Eines Tages aber begab es sich, dass unser Urahn einen entsetzlichen Schrei vernahm, als er sich der Küche näherte. Helena, die junge Frau des damaligen Hausherren Hector, stand voller Angst auf einem Küchenhocker, und ihr von Entsetzen gezeichneter Blick starrte auf eine gewaltige Ratte, die im Begriff war, einen Käse zu rauben, den Helena auf einem Teller in ihren Händen hielt. Einen wunderbaren Käse, den das Schicksal eigentlich unserem Urahn zugedacht hatte – das spürte dieser sofort, als er das schmackhafte Stück sah. Doch bevor sich die Ratte auf Helena und den Käse stürzen konnte, hatte sich unser tapferer Urahn voller Todesverachtung auf die große Ratte geworfen und sie mit übermäusischer Kraft niedergerungen. Der schreckliche Riesennager aber wehrte sich mit aller Macht, sodass ein heroischer Kampf zwischen ihm und unserem Urahn entbrannte. Das feige Quieken der Ratte übertönte sogar noch die Schreie der jungen Frau auf dem Küchenhocker. Auf dem Höhepunkt des titanischen Kampfes unseres Urahns mit der Ratte betrat schließlich der Hausherr Hector die Küche!“

Als Mascarpone diesen vorläufigen Gipfel der dramatischen Ereignisse erreicht hatte, begann Pecorini, sich an ihre Mutter zu kuscheln, die sofort ihren schützenden Arm um sie legte und ihr zärtlich über den Kopf streichelte. Ohne darauf zu achten, fuhr Mascarpone fort: „Aber Hector, der Hausherr, brauchte im selben Moment schon keine Angst mehr zu haben. Unser Urahn hatte die Ratte bezwungen und brach ihren letzten Widerstandswillen, indem er ihr zwei Schnurrhaare ausriss! Auf jeder Seite ein Schnurrhaar!“

Jetzt ging ein Raunen durch die Zuhörerschaft. Man kannte diese Stelle der Erzählung zwar, aber jeder wusste aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft bereits das bloße Ziehen an einem Schnurrhaar war. Um wie viel schrecklicher musste es sein, wenn einem die Schnurrhaare AUSGERISSEN wurden. Das beeindruckte alle Zuhörer zum wiederholten Mal. Sogar Koriander.

„Die feige Ratte“, fuhr Mascarpone fort, „schrie laut auf. Aber noch stärker als der körperliche Schmerz wirkte die Demütigung, die unser Urahn dem eigentlich überlegenen, scheußlichen Nager beigebracht hatte. Denn, wie ihr wisst, gab und gibt es auch heute noch keine größere Schande als den Verlust eines seiner Schnurrhaare im Kampf durch die Pfote eines überlegenen Gegners.“

Für einen Augenblick schwieg Mascarpone, dann blickte er seltsam ernst und abwesend in die Ferne. Biola schien es, als wanderten seine Gedanken an einen anderen Ort jenseits unserer Welt. An einen finsteren Ort, einen Ort dunkler Geheimnisse, die Mascarpone mit niemandem teilen wollte. Schließlich besann er sich und fuhr mit seiner Schilderung der historischen Ereignisse fort: „Als der damalige Hausherr Hector sah, mit welchem Mut und welchen Urkräften unser Ahn die große Ratte besiegt und ihn selbst und seine junge Frau gerettet hatte, da nahm er das Stück Gouda-Käse von dem Teller, den seine Frau immer noch in Händen hielt, und reichte es unserem Urahn. Dabei verneigte er sich tief und schwor, so hat es unser Urahn erzählt, dass er ihm, dem Retter seiner Frau und Beschützer aller Menschen, zu ewigem Dank verpflichtet sei und ihm darum ein Denkmal setzen wolle, das einer großen Maus wie ihm würdig sei. Am nächsten Tag dann begann der Bau der Mühle, der mit der Aufstellung unseres Schlosses seinen Höhepunkt fand. Und seitdem bringen uns alle Menschen der Umgebung Tag um Tag, Jahr um Jahr Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Dinkel als Tribut – um sich unsere Gunst zu erhalten. Unser Urahn aber war der Erste, der seinen alten Namen ablegte und einen aus der Käseliste annahm, die schon damals den Boden unserer Schlosshalle schmückte. Alter Gouda – so nannte er sich, wie wir alle wissen.“

Biolas Vater sah ihre Mutter an, und Biola bemerkte, dass er gerne etwas losgeworden wäre, aber Ricotta lächelte nur und legte ihre Pfote auf seine.

Die kleine Pecorini aber fragte: „Wie hieß unser Urahn denn vorher?“

Großvater Mascarpone antwortete: „Sauerampferich Kerbelfeld. Warum?“