Die Jagd

nach der

silbernen Feder

Mit Illustrationen von

Harry Seifert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

ISBN 978-3-86506-791-3

© Copyright 2015 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Titelgrafik und Innen-Illustrationen von Harry Seifert

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Satz: Brendow Web & Print, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.brendow-verlag.de

Für

Emil, Mio & Momme

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Geschichtenzeiten

Die Meute

Die Beute

Die Jagd durch das Felsenmeer

Die Schmugglerhöhle

Der Knochensammler

Auf Schmugglerpfaden

Am Königshof

Der junge Botenreiter

Im Versteck der Eselreiter

Die Schlacht um Avlar

In letzter Sekunde

Der Junge

Das Rudel

Ferris

Flucht über die Dächer

Der hohe Ofen

Gefährliche Neuigkeiten

Durch den Ostausgang und hinaus

Gefangen

Der Rat der Wölfe

Auf zum Siebengebirge

Die Schlacht

Die silberne Feder

Im Thronsaal

Danke

Zitat

Über den Autor

Weitere Bücher

GESCHICHTENZEITEN

Es gibt Tage, die sind wie gemacht zum Geschichtenerzählen. Auf einmal sind sie in meinem Kopf, die Geschichten. Dann müssen sie raus. Am besten möglichst bald, solange sie noch frisch und heiß und spannend sind. Dann warte ich sehnsüchtig auf den Abend, denn die eigentliche Geschichtenzeit ist bei uns zu Hause abends. Beim Zubettgehen.

Also, an solchen Geschichtenabenden kuscheln wir uns zusammen ins gemütliche Bett, meine drei Söhne und ich. Vielleicht lernt ihr sie eines Tages kennen. Es sind drei ganz famose Söhne. Aber welcher Vater würde das nicht von seinen Söhnen behaupten?

Wir ziehen uns die Decke bis an die Ohren und schalten die kleine Nachttischlampe an. Dann beginne ich zu erzählen.

Und während die Geschichten aus meinem Mund hinauswandern, gleiten sie in den Raum hinein und huschen schnurstracks in die Köpfe meiner Jungs. Das merkt man gar nicht so richtig, wie das passiert. Auf einmal sind sie da und wir sind mittendrin.

Spürst du, wie der Wind des anbrechenden Sommers die warme Decke anhebt? Siehst du das klare Leuchten der Sterne im tiefdunklen Himmel über dir? Dort oben, schau genau hin! Ganz deutlich hebt sich im Osten das Sternbild des großen Löwen hervor.

Der Junge, der in diesem Moment in rasendem Tempo über das flache Land reitet, fühlt den Wind auf seiner Haut und schaut hinauf zu den Sternen am Himmelszelt. Er ist wohl kaum älter als du. Seine Beine pressen sich fest in die Flanken des riesigen Tieres, auf dessen mächtigem Rücken er sitzt. Der Atem des Welfen geht regelmäßig. Seine Pfoten berühren den Boden sanft und in gleichmäßigem Takt und völlig lautlos. Fast scheint er zu fliegen. Nur eine Armeslänge entfernt reitet ein zweiter Junge, wohl nur wenig jünger als du. Seine Hände graben sich tief in das weiche silbrige Fell des zweiten Welfen, während die Büsche und Bäume neben ihm nach hinten wegfliegen.

Fühlst du, wie wir fast schon in einer anderen Welt sind? Aus den Hochhäusern werden massive Felswände, die die rechte Seite des Pfades begrenzen. Rau und von Rissen durchzogen säumen sie unseren Weg. Geduckte Büsche klammern sich mit ihren feinen Wurzeln an den kleinsten Spalt.

Die quadratische Rasenfläche da drüben, die beinahe so aussieht, wie du sie vielleicht vom Goethepark gegenüber kennst (vielleicht steht auf der, die du kennst, auch eines dieser überflüssigen Schilder „Betreten des Rasens verboten!“), scheint zuerst klein und dehnt sich dann doch nach Westen hin zu fast unendlicher Weite aus, entrollt sich, legt sich über Hügel und durch Gräben und bedeckt bald das ganze Land, durch das wir uns lautlos bewegen. Aus den wenigen Eichen, die die Friedhofsallee in meiner Stadt säumen, wird in diesem Moment im Nordwesten der mächtige und geheimnisvolle Wald der Wölfe. Manche nennen ihn auch „den alten Wald“, doch ihr werdet ihn als den „Wald der Wölfe“ in Erinnerung behalten. Wartet nur.

Hinter uns, dort, wo eben noch der kleine Spielplatz mit der roten Rutsche und dem quadratischen Sandkasten lag, glitzern goldene Sandkörner im Mondlicht und die Wellen des Südmeeres rollen mit sanftem Rauschen ans Ufer.

Ich könnte dir nun Piratengeschichten noch und nöcher erzählen. Doch darum soll es erst später gehen. (Vielleicht auch erst in einer ganz anderen Geschichte – wir werden sehen.)

Weit vor uns, nur sichtbar, wenn du deine Augen zusammenkneifst und ein wenig Fantasie mitbringst, streben die mächtigen und schneebedeckten Gipfel des Siebengebirges in den Himmel.

Und dahinter liegt, ihr ahnt es schon, das prächtige Schloss des großen Königs Lian mit seinen Zinnen, wehenden Wimpeln und hoch ragenden Türmen.

Und schon sind wir mittendrin. Mittendrin in dieser wundersamen Welt und mittendrin in unserer Geschichte. Bevor ich es vergesse: Die beiden Jungen heißen Jisah und Pepe. Ihre beiden Begleiter sind Welfen. Welfen sind die wohl treuesten und schnellsten Boten König Lians. Auf den ersten Blick werden sie von den meisten Erwachsenen für Wölfe gehalten. Das wäre euch natürlich nicht passiert. Auch wenn sie wirklich wie Wölfe aussehen.

Doch sie sind groß und mächtig wie Schlachtrösser und haben auf jeder Seite drei muskelbepackte Läufe. Ja, es sind wirklich drei. Auf jeder Seite!

Also, wie du bestimmt schon selbst nachgerechnet hast, insgesamt sechs Läufe.

Und jetzt, du wirst sagen: „Ist doch logo!“, sage ich dir, dass sie die schnellsten Tiere in diesem Teil der Erde sind.

Auf ihre Feinde – und auf die meisten Erwachsenen – machen sie einen ganz furchteinflößenden Eindruck. Ihre Zähne sind nicht niedlich. Ganz bestimmt nicht! Habt ihr vielleicht schon einmal ein niedliches Wolfsgebiss gesehen? Sicher nicht! Sie sind reißend und scharf und weiß. Ihre Lefzen sind blutrot und aus ihren Augen strahlt ein glühendes Feuer. Ihr Fell leuchtet bei Mondschein silbergrau und wer bei ihrem Anblick einen gehörigen Schrecken bekommt, der tut schon recht daran.

Ihr braucht natürlich keine Angst vor ihnen zu haben. Ein klein wenig Ehrfurcht vielleicht, das reicht. Denn Wald und Winter, so werden die beiden Welfen in dieser Zeit genannt, sind Freunde von Jisah und Pepe.

DIE MEUTE

Der Halbmond leuchtete schwach über unseren vier Freunden, als sie aus der zerklüfteten Felslandschaft heraustraten. Die Läufe der Welfen griffen weit aus. Lautlos folgten sie dem Flusslauf. Pepe hob den Kopf. Die Felsen flachten ab und verwandelten sich langsam in eine sanfte Hügellandschaft. Ihr Weg führte leicht abwärts. Die Welfen verlangsamten ihr Tempo.

Pepe konnte das Wasser riechen, bevor er es sah. Unter ihnen tat sich ein See auf. Alte Eichen wurzelten am Ufer, die Äste weit ausgestreckt.

Als sie das Gewässer erreichten, drehte Winter im Lauf seinen Kopf. „Lasst uns hier das Lager aufschlagen. Der Platz ist sicher“, sprach er mit seiner rauen und trotzdem wunderlich sanften Stimme.

Jisah nickte. Die Welfen wechselten in den Schritt und sie ritten gemächlich am Ufer des Sees entlang.

Kleine Wellen, aufgekräuselt von einem lauen Wind, plätscherten ans Ufer.

Am Stamm einer mächtigen Eiche glitten die Jungen von den Rücken ihrer Begleiter. Während die Welfen ihren Durst mit dem klaren Wasser des Sees löschten, erkundeten Jisah und Pepe die Umgebung.

Der See, auf dessen Grund eine unterirdische Quelle sprudelte, speiste die Bracht. Wie eine riesige silberne Schlange zog sie sich im Mondlicht durch die weite Ebene. Sie hatte einst dem Land, durch das sie fließt, seinen Namen gegeben. Oder war es umgekehrt? Ich weiß es nicht mehr.

Das Brachtland brachte um diese Jahreszeit sattes grünes Gras hervor. Wiesenden, Antilopen und Niftaffen grasten auf weitläufigen Weiden. Gänse, Bussarde, Stiefler und Eulen füllten die Luft und bevölkerten die unzähligen kleinen Tümpel. Auf wilden Obstbaumwiesen tummelten sich Kaninchen, Trampler und Eichhörnchen.

Die Ebene des Brachtlandes verwandelte sich im Westen langsam in ein hügeliges dichtbewaldetes Bergland, in dem auch, wie ihr ja schon wisst, der Wald der Wölfe lag. Nördlich, noch eine Tagesreise von den ersten Ausläufern des Siebengebirges entfernt, findet man die Stadt Avlar. Und im Osten? Nun, dort erhoben sich die eisernen Schlote von Ferris.

Die vier Gefährten entschieden sich, um den Stamm einer mächtigen Eiche zu lagern. Ihre Rinde war rissig und wenn man sich ganz dicht davorstellte, konnte man meinen, man blicke in eine winzige Welt voller Schluchten.

Ihr Astwerk breitete sich schützend über ihnen aus. Fast schien es, als würden ihre Blätter ihnen zuhauchen: „Ich halte Wacht. Ruht aus, Reisende.“

Friedlich und schwarz lag der See vor ihnen. Das gegenüberliegende Ufer war nicht weit. Jisah konnte Wasserrosen und Schilf erkennen. Einige Weiden ließen ihre Arme träge ins Wasser hängen und die noch munteren Frösche waren in ein nächtliches Konzert vertieft.

Nachdem sie ausgiebig von ihren Vorräten gespeist hatten, kuschelten sich Jisah und Pepe in Winters warmes Fell. Wald übernahm die erste Nachtwache.

So sicher von Welfen bewacht, schliefen Jisah und Pepe nach kurzer Zeit ein.

Allein die Frösche schienen noch wach zu sein. Ihr schräges Lied erfüllte die Frühlingsnacht und stieg zum friedlich scheinenden Halbmond hinauf.

Jisah fror. Er tastete mit seinen Fingerspitzen nach Winter. Seine Hände fuhren raschelnd über das trockene Laub. Langsam streckte er seinen Arm weiter aus. Verschlafen öffnete er die Augen und richtete sich gähnend auf. Winter lag drei Schritte entfernt unter dem tiefhängenden Blattwerk der Eiche und beobachtete Wald.

Sie sahen sich kurz an. Dann wandte auch Jisah seine Aufmerksamkeit Wald zu. Etwas schien ihn ganz in Anspruch zu nehmen. Jisah schlich auf allen vieren zu ihm.

Schweigend nickte Wald Jisah zu und lenkte seinen Blick zum gegenüberliegenden Ufer. Jisah schaute angestrengt in die Nacht hinaus. Er sah – nichts.

Plötzlich fiel ihm auf, dass das Froschkonzert verstummt war. Es herrschte völlige Stille um den See. Selbst die Bäume hatten aufgehört, ihre Äste im Wind zu wiegen. Schlaff hingen ihre Blätter herab. Jisah wurde noch aufmerksamer. Seine Muskeln spannten sich. Nichts zu hören war gefährlich. Sehr gefährlich! Warum waren die Frösche still?

Er strengte seine Augen an und blickte konzentriert zum anderen Ufer.

Dann, seine Pupillen begannen schon zu schmerzen, sah er die Schatten, die sich hinter dem Schilf bewegten.

„Hyänen“, hörte er Wald von der Seite flüstern.

Auch Pepe und Winter kauerten nun neben ihnen. Gemeinsam beobachteten sie gespannt, was sich dort am gegenüberliegenden Ufer zusammenrottete. Pepe war der Erste, der die Stille mit seinem Flüstern durchbrach: „Es scheint eine ganze Meute zu sein.“

Die anderen nickten.

„Was sollen wir tun?“ Fragend sah Wald seine Gefährten an.

„Pepe und ich könnten uns leise um den See schleichen und auskundschaften, was diese Hyänen hier wollen“, antwortete Jisah und schaute in die Runde.

Pepe wandte sich Jisah zögernd zu. „Du willst mir jetzt nicht sagen, dass wir beide da rausschleichen sollen?“

Jisah zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Hast du Angst?“

„Geht nicht zu nah ran“, warnte Wald.

„Wir werden vorsichtig sein“, versprach Jisah grinsend und kaum dass er es gesagt hatte, nahm er Pepe bei der Hand und zog ihn lautlos hinaus ins Dunkel der Nacht.

Sie hielten sich nah am Wasser, Pepe dicht hinter Jisah. Der Boden war sandig und knirschte leise unter ihren Sohlen. Nach einiger Zeit, vielleicht so lange, wie du brauchst, um einmal durch den Lutherpark zu laufen, erreichten sie das dichte Schilf.

Vorsichtig kauerten sie sich nieder, schoben mit ihren Händen die Halme auseinander und lugten durch den Spalt.

Was sie sahen, verschlug ihnen den Atem. Die Hyänenmeute war riesig. Pepe versuchte, sie zu zählen, doch er gab schnell auf. Es schienen mehrere Hundert zu sein. Eine ganze Armee.

Sie lagerten in einem großen Kreis, Hyäne an Hyäne. In der Mitte stand ein Zelt aus grobem Leinen. Es hatte vier Ecken und war oben ganz flach. An der schmalen Seite befand sich ein Eingang, dessen Klappe nach oben aufgeschlagen war und von zwei Holzpfosten gehalten wurde. Ein matter Schein drang durch das Zelt, als wären Kerzen darin aufgestellt.

Eine großgewachsene Hyäne trat aus dem Eingang. Geschmeidig bewegten sich ihre Läufe. Ihre muskulösen Vorderbeine waren deutlich länger als ihre stämmigen Hinterbeine. Von ihrem massiven Kopf ausgehend, fiel ihr buschig behaarter Rücken sanft nach hinten ab. Im Zwielicht des Kerzenscheins hob sich die schwarze Mähne deutlich vom fleckigen Hellbraun des übrigen Felles ab. Sie überragte die anderen Hyänen im Lager fast um das Doppelte. Die beiden Jungen hielten den Atem an.

Dicht auf ihren Fersen folgte ein tiefschwarzer Wolfshund. Sein Fell glänzte im Mondlicht. Ein eiskalter Schauer durchlief Pepe. Jisah zitterte vor Aufregung.

Die Hyänen blickten in Richtung der beiden Tiere. Ein Zischen ging durch die Meute, es war bis zu Jisah und Pepe zu hören.

Die Hyäne, die aus dem Zelt getreten war, konnte nur der Anführer sein. Obwohl sie hundert Schrittlängen von ihnen entfernt stand, kam es ihnen so vor, als drangen ihre Blicke durch die Dunkelheit, über die Hyänen hinweg, durch das Schilf und bis zu ihnen. Pepe biss die Zähne aufeinander, bis sie knirschten.

Das riesige Tier warf seinen Kopf schüttelnd in den Nacken, riss sein Maul auf und stieß ein schreckliches Lachen in die Dunkelheit hinaus. Dabei entblößte es seine langen Reißzähne. Jeweils zwei Stück wuchsen auf jeder Seite des Ober- und des Unterkiefers. Die hinteren waren länger und spitzer. Selbst als die Hyäne ihr Maul wieder schloss, ragten sie wie Säbel aus ihren Maulwinkeln. (Ihr könntet jetzt denken, ich übertreibe. Aber nein, sie sah wirklich ganz furchterregend aus.)

Wie in Zeitlupe drehte sie sich im Kreis. Ihr Schädel wurde umrahmt von langem grauem Haar, das fast ihren ganzen gedrungenen Hals bedeckte. Unterwürfig duckten sich die Hyänen unter dem Blick ihres Anführers.

Dieser leckte sich mit der Zunge über die Flanken. Dann schien er leise mit dem Wolfshund zu sprechen, der sich kurz darauf zu einer Runde durch die Hyänen aufmachte. Ich nehme an, er wollte kontrollieren, dass alle Hyänen ihre richtigen Plätze in der Lagerordnung eingenommen hatten.

Jisah und Pepe verloren ihn in der Dunkelheit aus den Augen.

Dann streckte der Anführer seinen Hals noch einmal majestätisch zum Himmel und zog sich in sein Zelt zurück.

Jisah und Pepe atmeten durch.

„Was in aller Welt war das?“, flüsterte Pepe.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Jisah.

Schweigend dachten sie nach.

„Wir finden es raus“, flüsterte Jisah kurzentschlossen und zwängte sich durchs Schilf.

„Bist du lebensmüde?!“, zischte Pepe. „Komm zurück!“

Doch Jisah war schon verschwunden.

Zögernd folgte Pepe ihm. Alleine zurückbleiben wollte er nicht. Seine Füße traten schmatzend ins schlammige Nass zwischen den Halmen. In seinem ganzen Körper breitete sich ein unbehagliches Gefühl aus. Kurz darauf lagen sie auf der anderen Seite des Schilfgürtels auf dem Boden. Ohne jegliche Deckung. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt begann der äußerste Kreis der Meute.

So verbrachten sie eine ganze Zeit. Schweigend lagen sie nebeneinander. Stille senkte sich nun auch über das Lager der Hyänen. Sie schienen einzuschlafen.

Jisah hob leicht den Kopf und flüsterte in Pepes Richtung: „Du wartest hier. Ich schau mir das mal aus der Nähe an.“

Und wieder kam Pepe gar nicht erst dazu, zu protestieren, so schnell kroch Jisah auf allen vieren davon.

Den ersten Kreis zu überwinden empfand Jisah noch als recht leicht. Er war geübt im Schleichen und hatte schon früh gelernt, sich lautlos zu bewegen. Doch wo an den äußeren Ringen noch ein wenig Platz zwischen den einzelnen Leibern gewesen war, wurde es nun immer enger. Dicht an dicht lagen die Hyänen. Jisah war beunruhigt, weil er den schwarzen Wolfshund nicht sehen konnte. Trotzdem schlich er leise weiter. Fuß vor Fuß. Hand vor Hand … Mittlerweile hatte er die Hälfte der Strecke geschafft und blickte zurück. Wenn er jetzt einen Fehler machte, war er verloren. Das wusste er genau. Er presste sich flach in eine Mulde und verschnaufte.

Pepe lag immer noch regungslos am Rand der Meute. Wie ein Schlag fuhr der Schreck durch seinen kleinen Körper, als ihn eine feuchte Schnauze anstieß. Er schreckte hoch und drehte sich um.

„Leise“, raunte ihm Winter ins Ohr. „Warum seid ihr nicht längst zurück? Wo ist Jisah?“

Pepe wies mit einer Kopfbewegung zu den schlafenden Hyänen.

In diesem Augenblick erhob sich Jisah aus einer Mulde und setzte seinen Weg durch das Hyänenmeer langsam und behände fort.

Winter knirschte mit den Zähnen und blickte Pepe an. „Der Junge hat doch Ameisen im Kopf! Lauf sofort zurück zum Lager und packe mit Wald unsere Sachen. Schnell! Und leise! Wartet dort auf uns. Kommt nicht hierher. Wenn etwas schiefläuft …“ Winter blickte zur Meute, „ … und darauf verwette ich zwei meiner Läufe! –, treffen wir uns an den sieben kleinen Felsen hinter dem Siebengebirge. Sag das Wald! Hast du verstanden?“

Pepe nickte und verschwand im Schilf.

In dem Zelt flackerte Kerzenschein. Jisah hatte es fast erreicht, als er aus den Augenwinkeln einen Schatten wahrnahm.

Aha. Der Wolfshund bewegte sich geschmeidig am westlichen Flügel des Lagers. Jisah schlich geduckt weiter. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Zeltwand.

DIE BEUTE

Winter beobachtete Jisahs Alleingang mit einem mulmigen Gefühl. Er presste sich dicht ans Schilf, um mit seinem massigen Körper nicht aufzufallen. Sein Nacken war angespannt, seine Augen folgten dem Wolfshund, der schon seit geraumer Zeit ums Lager schlich und Nachtwache zu halten schien.

Der Wolfshund hob seine Schnauze und sog die klare, kalte Nachtluft ein. Dann warf er einen Blick über den See, wandte sich um und machte sich auf den Weg zum Zelt, indem er über die Leiber der Hyänen stieg.

Jisah atmete lautlos und schmiegte seinen Körper an den sandigen Boden. Er war fast unsichtbar und nur noch eine Armlänge von der Zeltwand entfernt. Er streckte sich, zog die Beine nach und spürte den groben Stoff an seiner Wange. Vorsichtig hob er die Zeltwand eine Handbreit an und spähte durch die Öffnung.

Der Boden des Zeltes war mit einem dunkelroten, kunstvoll geknüpften Teppich ausgelegt. In der Ecke standen eine silberne Schale mit Wasser und silberne Kerzenleuchter, in denen weiße Kerzenstummel brannten. Jisah sah den haarigen Rücken der schlafenden Hyäne direkt vor sich.

Pepe und Wald räumten lautlos das Lager. Ihre wenigen Habseligkeiten waren schnell zusammengepackt. Pepe verstaute sein Wurfmesser in Walds Satteltasche und lehnte sich gegen den Fuß der Eiche. Wald legte sich neben ihn, blickte ihn an und fragte: „Wie sah sie aus, diese Hyäne?“

Pepe berichtete von den Erlebnissen: „Sie war umringt von Hunderten Hyänen. Nachdem wir durchs Schilf gekrochen waren, trat sie aus ihrem Zelt, reckte den Kopf und stieß ein gräuliches Lachen aus. Sie hat säbelartige Reißzähne und ist größer als jede andere Hyäne.“

Wald unterbrach Pepe: „Hat sie einen Begleiter?“

„Ja“, antwortete Pepe gehorsam. „Einen schwarzen Wolfshund.“

Walds Gesicht furchte sich so sorgenvoll, dass es fast Ähnlichkeit mit der Rinde der Eiche bekam. Dann flüsterte er: „Hundrrit.“

„Hundrrit?“, fragte Pepe

„So heißt er. Er ist der grausame König der Hyänen“, antwortete Wald.

Jisah lag immer noch regungslos neben dem Zeltleinen und starrte auf den Rücken der Hyäne. Auf einmal flackerten die Flammen der Kerzen. Jemand hatte die Zeltöffnung angehoben! Jisah verringerte den Spalt und strengte seine Augen mächtig an. Der Schädel des schwarzen Wolfshundes erschien in der Öffnung.

Der Wolfshund sah sich im Zelt um. In der Mitte des Zeltes verharrte sein Blick und er schien etwas genau zu betrachten, das Jisah nicht erkennen konnte, weil die Hyäne ihm mit ihrem Rücken die Sicht versperrte. Jetzt bewegte sie sich, hob ihren Kopf und nickte dem Wolfshund zu. Daraufhin zog dieser sich zurück. Jisah lauschte seinen Schritten.

Die Hyäne schien wieder zu schlafen. Jisah strengte seine Ohren an und versuchte, alle anderen Geräusche zu ignorieren. Da hörte er, wie eine Pfote nach der anderen sanft den Boden berührte und – jäh durchfuhr ihn ein Schrecken – näher kam.

Jisah dachte nicht nach. Er hob die Zeltplane, machte sich so dünn wie möglich und zwängte sich mit einem leise schabenden Geräusch in das Innere des Zeltes. Er hielt die Luft an. Mit seinem Gesicht berührte er fast den Körper der Hyäne.

Einige Haare kitzelten ihn an Stirn und Nase. Reglos blieb er liegen. Vorsichtig versuchte er zu atmen. Die Hyäne roch wie ein nasser Runk.

Jisah spürte, wie der Wolfshund an der Außenseite des Zeltes schnüffelte. Dann hörte er sein Knurren und eine harte Schnauze stieß ihn durch die Zeltwand hindurch in den Rücken. Jisah sprang auf und blieb wie erstarrt stehen, leicht gebeugt, weil das Zelt zu niedrig war, und mit eingezogenem Bauch, weil er weder der Zeltwand noch der Hyäne zu nahe kommen wollte. Da berührten seine Fußspitzen schon den Schwanz der Hyäne. Er hörte, wie der Wolfshund ums Zelt jagte. Sein Körper straffte sich und sein Blick fiel auf einen Gegenstand, der in der Mitte des Zeltes lag.

Es war eine kunstvoll gearbeitete Schatulle, etwa so groß wie das Buch, das du gerade in der Hand hältst. Ihr Körper wölbte sich an den Seiten wie ein dicker brauner Bauch nach außen. Unten hatte sie vier winzige runde Füße. Der Deckel war mit wunderschönen Schnitzereien verziert. Jisah meinte, drei Federn zu erkennen, deren Kiele sich kreuzten. Darüber war etwas in einer geschwungenen Schrift geschrieben, die Jisah nicht lesen konnte. Ein Schloss gab es nicht.

Ohne zu wissen, was er tat, sprang er über die Hyäne. Vor der Schatulle ging er in die Hocke. Die Hyäne bewegte ihre Schnauze und entblößte zwei ihrer Reißzähne. Hinter sich hörte er die Schritte des Wolfshundes. Rasch öffnete Jisah die Schatulle. Die Hyäne bewegte ihre Augenlider. Die Schatulle war mit rotem Samt ausgekleidet. In ihr lag eine unscheinbare graue Feder. Die Plane des Zelteinganges raschelte. Jisah schnappte sich die Feder, sprang über den massigen Leib der Hyäne und presste sich flach auf den Boden. In diesem Moment schlug das Leinen zur Seite und der schwarze Wolfshund brach durch den Eingang.

Von jetzt an ging alles so schnell, dass ich kaum mit dem Erzählen hinterherkomme. Es dauerte so lange wie der Moment, in dem du einmal zwinkerst. So muss es zumindest Jisah vorgekommen sein und mir wurde es auch so berichtet.

Der schwarze Wolfshund erblickte die offene und leere Schatulle. Er knurrte laut, fletschte seine Zähne und seine harten Augen schienen jeden Winkel des Zeltes gleichzeitig zu durchdringen. Im selben Moment, oder vielleicht auch schon kurz vorher, erwachte die Hyäne. Jisah rollte sich zur Seite und verschwand unter der Zeltwand. Er atmete stoßweise aus und presste die Luft aus seinen Lungen. Dann blickte er in den tiefschwarzen sternenbehangenen Himmel. Die Luft war klar und kalt.

Er fuhr auf. Jisah rannte und sprang, sprang und rannte. Sein Herzschlag erfüllte ihn von den Fußspitzen bis zum Hals. Sein Kopf prickelte, als lebte ein Ameisenvolk darin. (Und Winter würde sagen, wenn ihr ihn fragen würdet, dass da wirklich eines lebt!) Ein langer Schritt über eine der schlafenden Hyänen. Die nächste Hyäne übersprang er. Sie drehte sich im Moment seiner Landung. Er trat auf ihre Läufe und sie sprang jaulend auf. Hinter ihm, aus dem Zelt, klang ein tiefes, langsam ansteigendes Grollen, das sich zu einem wutentbrannten Gebrüll steigerte und dann plötzlich endete.

Jisah pumpte aus seinem Körper heraus, was er zu leisten im Stande war. Er konnte sich selbst nicht erinnern, ob er jemals so schnell gerannt war. Er schlug Haken, wich aus, stemmte ein Bein in den Boden, sprang ab, weiter, als er je glaubt hatte, springen zu können. Immer mehr Hyänen um ihn herum erwachten. Er sah eine riesige Masse vor sich, die wie in Zeitlupe in Bewegung geriet. Hinter sich vernahm er ein gleichmäßiges Schnaufen. Dann spürte er den heißen Atem in seinem Nacken.

Winter richtete sich ruckartig auf. Er stand dicht am Schilf und beobachtete scharf, wie Jisah über die Leiber der Hyänen sprang. Jede einzelne Hyäne schien er im selben Moment im Auge zu haben. Er sah, wie Jisah sprang, landete, weiterrannte. Dann hätte das Geschehen fast seine Wahrnehmung überrannt, so schnell passierte alles. Doch Welfen haben Augen wie Luchse.

Der schwarze Wolfshund jagte aus dem Zelt. Ihm folgte das schreckliche Grollen Hundrrits. Es schwoll an, wurde tiefer und rasselte, erhob sich zu einem wilden Getöse und blieb dann abrupt in der Luft stehen. Stille.

Der Wolfshund nahm die Verfolgung auf. Aus Winters Blickwinkel war er mindestens doppelt so schnell wie Jisah und die Hyänen machten ihm Platz. Der Wolfshund spannte seine Muskeln an, seine Hinterläufe stießen in den sandigen Boden, sein drahtiger Körper straffte sich und schnellte durch die Luft.

Da erwachten auch endlich Winters Beine. Er startete durch und flog, beinahe aus dem Stand, über die Leiber der Hyänen.

Eine keuchend knurrende Hyäne entblößte ihr Gebiss und hielt Jisahs Lauf auf. Jisah stockte, stolperte und fiel über seine eigenen Füße. Seine Hände fassten in Sand und Fell, er rutsche mit dem Gesicht über den Boden. Dann sah er einen schwarzen Schatten über sich. Weiße Zähne blitzten auf. Jisah drehte sich auf den Bauch und rollte sich zur Seite. Der Wolfshund landete neben ihm, drehte sekundenschnell seinen Kopf. Seine Augen waren zorngerötet, seine Reißzähne entblößt. Seine Schnauze bebte und sein Kopf bewegte sich ruckartig.

Winters Vorderpfoten kamen mit Wucht neben Jisahs Kopf auf dem sandigen Boden auf. Sein Hinterleib rutschte erst seitlich weg, aber das mittlere Paar seiner Läufe beschleunigte schon wieder, während Jisah sich verzweifelt an das Fell des Welfen klammerte, sich auf seinen Rücken schwang und ihm die Arme um den Hals schlang. Seine Beine zitterten. Winter tat das, wofür er geschaffen wurde. Er rannte.

Jisahs Herz raste immer noch zum Zerspringen. Der Atem des Welfen pendelte sich langsam ein. Die Bäume und Sträucher flogen so schnell an Jisah vorbei, dass er sie nur als huschende Schatten wahrnahm. Hatte ich bereits erwähnt, dass Welfen die schnellsten Tiere in diesem Teil der Erde sind? Nun, wie auch immer. Nur, falls ihr mir vorhin nicht geglaubt habt. Hier ist der Beweis.

Als sie die Meute hinter sich gelassen hatten, griff Jisah unter sein Hemd.

Die Feder war da.

Winter verlangsamte sein Tempo und blieb unter den ausladenden Ästen einer Tanne stehen. Weit vor ihnen lag das hügelige Vorland, an dessen Ende sich das Siebengebirge dunkelblau vom Himmel abhob. Ein frischer Nachtwind zerzauste ihre Haare und ließ Jisah frösteln. Der kernige Geruch frischgetrockneten Heus durchzog, zart wie seidene Fäden, die Luft.

„Warum bleibst du stehen?“ Jisah keuchte die Frage in Winters Ohr.

„Was hast du getan, Junge?“ Unsanft stieß Winter die Worte durch seine Reißzähne. Er drehte seinen Kopf nach hinten und blickte Jisah an. „Hast du den Verstand verloren?“

Hinter sich glaubte Jisah den rasselnden Atem der Hyänen zu hören. Doch was er wirklich hörte, war das Geräusch von Hunderten von Pfoten, die auf dem Boden aufschlugen und einen Rhythmus erzeugten, der dem Hufgetrappel von Wildpferden sehr ähnlich war.

„Jetzt lauf schon!“, japste Jisah.

„Was hast du getan, Jisah?“

Jisah blickte hektisch nach hinten. „Ich war in dem Zelt. Da lag nur eine Feder rum. Nichts Besonderes. Hab sie eingesteckt.“ Jisah zuckte mit den Schultern.

Ein Grollen durchlief Winter. „Ich sollte dich ihnen zum Fraß vorwerfen, Junge! Eine Feder, sagst du?“

„Ja, sie war in einer komischen braunen Schatulle.“

Ein paar Sekunden lang war Winter wie erstarrt. „Wir müssen sicher sein, dass sie unserer Spur folgen“, antwortete er hektisch. „Sie dürfen nicht Wald und Pepe folgen. Die beiden haben – so wie du dummer Junge – keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schweben. Wald wird der Bracht folgen. Das ist der einfachste Weg zum Siebengebirge. Darum reisen wir in einem Bogen zuerst nach Osten und schlagen uns bis nach Ferris durch, wo wir …“

Winter konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Wildes Kriegsgeheul verriet ihnen, dass die Meute ihre Spur entdeckt hatte. Sie jagte jetzt in wildem Durcheinander geradewegs auf die Tanne zu.

DIE JAGD DURCH DAS FELSENMEER

Wald und Pepe brachen auf. Pepe war noch immer vom Schrei der Hyäne aufgewühlt. Wald hatte nicht viele Worte gemacht. Schweigend ritten sie durch weitläufiges und saftiges Heideland. Die Bracht schlängelte sich mit tiefem Glucksen rechts von ihnen durch ihr breites Bett. Eine Herde Wiesenden hob kurz skeptisch die Köpfe, als die beiden Gefährten an ihnen vorbeiritten. Kaninchen stoben auseinander und ein Fuchs bellte ihnen heiser nach. Wald wandte seinen Lauf näher zur Bracht und ging einige Schritte ins Flussbett hinein, um ihre Spuren zu verwischen.

Hier floss der Fluss träge und flach. So konnten sie ohne größere Kraftanstrengung durch die Strömung laufen. Auf dem Grund des Flusses schimmerten Kieselsteine im Licht des Mondes. Die Strömung kräuselte sich, wo größere Steine unter der Wasseroberfläche lagen. Forellen stoben auseinander, wenn Walds Läufe ins Wasser eintauchten. Pepe fühlte die Feuchtigkeit von unten heraufsteigen. Am Horizont deuteten dunkle Linien die Vorläufer des Siebengebirges an.

Sie entschieden, noch während der Nacht einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die Meute der Hyänen zu bringen.

Nach ungefähr einer Stunde erreichten sie eine kleine, von niedrigem Gebüsch eingegrenzte Bucht. Wald stieg aus dem Wasser. Pepe glitt vorsichtig von Walds Rücken, damit sich dessen Pfoten nicht zu tief ins Kiesbett eingruben. Hinter Wald gehend, setzte er sanft einen Fuß vor den anderen. So hinterließen die beiden eine Spur, die nur ein geübter Fährtenleser würde entdecken können. Wind und Wetter würden den Rest erledigen und in kürzester Zeit sämtliche Abdrücke unsichtbar machen.

Die Bucht mündete in einem ausgetretenen Pfad. Pfennigkraut, Sumpfdotterblumen und Schilf säumten seine Ränder. Pepe stieg auf Walds breiten Rücken.

Bereits nach wenigen Metern knickte der Pfad unsanft nach Norden ab und schlängelte sich am Ufer der Bracht entlang. Sie folgten dem Pfad bis zum Monduntergang. Als sie eine kleine Felsplatte erreichten, die den Pfad wieder mit dem Fluss verband, war der Mond völlig verschwunden und die Morgendämmerung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die ersten Frösche begannen zu quaken und ein Auerhahn kündigte mit seinem Geschrei das Anbrechen eines neuen Tages an. Noch war es dunkel.

Während sie nebeneinander auf der rauen Felsplatte standen und das kühle Wasser der Bracht ihre Füße umspülte, wurde Pepe sich sicher, dass sie jeden Verfolger abgehängt hatten. Wenn es überhaupt welche gegeben hatte.

Pepe schwang sich auf Walds Rücken. Den Fluss entlang ging es durch das erwachende Land. Aus den Bäumen und Büschenklang das erste Morgenlied der Vögel. Das gleichmäßige Hämmern eines Spechtes drang aus einer kleinen Waldgruppe von links zu ihnen herüber. Pepe sah ein Spinnennetz, in dessen Fäden der Tau die ersten Sonnenstrahlen einfing. Wie Hunderte tropfenförmiger Diamanten schwebten sie im reinen Licht des anbrechenden Morgens. Kurz nach Sonnenaufgang zwang sie ein dichtes Brombeergebüsch, die Ufer der Bracht zu verlassen und sich westlicher zu halten.

Pepe überredete seinen Gefährten zu einer kurzen Rast, um eine Handvoll Beeren zu pflücken. Das war nicht schwer, denn Welfen lieben, wie ich nebenbei erwähnen möchte, Beeren über alles. Natürlich geht ihnen nichts über ein saftiges Stück Fleisch oder knusprig gebratenen Speck mit Salbei, Eiern und Butterkartoffeln, doch beim Anblick von Johannisbeeren, Blaubeeren, Himbeeren, Myrbeeren und all den Beeren, die es im Brachtland in Hülle und Fülle gibt, lacht ihr Herz.

Pepe glitt von Walds Rücken herunter und stakste durch die fast kniehohen Gräser. Gemütlich machte er sich daran, eine Brombeere nach der anderen in Walds Satteltasche verschwinden zu lassen.

„Du solltest auch auf deinen Gefährten achten“, schmunzelte Wald ihn an. „Weißt du nicht mehr? Die erste Regel lautet …“

Pepe grinste: „Ich hab verstanden, Wald!“

Ab nun wanderte nur noch jede zweite Brombeere in die Satteltasche. Alle anderen fanden den direkten Weg in Walds hungriges Maul. Er schmatzte genüsslich. Pepe reckte sich. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich weit nach vorne, um für seinen Freund nur die süßesten und dicksten Beeren aus dem stacheligen Buschwerk zu angeln.

Zufrieden lag Wald im Gras. Pepe lehnte sich an seinen breiten Rücken und schob sich eine Beere nach der anderen in den Mund.

„Pssst … schau mal da drüben“, flüsterte Wald ihm zu. „Wir werden beobachtet.“

Pepe wandte vorsichtig den Kopf und entdeckte einen jungen Fuchs, dessen Kopf keck hinter einem abgestorbenen Baumstamm hervorlugte. Misstrauisch hatte der Kleine seine lange Stirn zusammengezogen und seine großen Ohren weit aufgestellt. Pepe konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Rötlich schimmerndes Fell umschloss die schmale weiße Fuchsschnauze, die von einer zierlichen schwarzen Nase gekrönt wurde. Pepe blickte in dunkle bernsteinfarbene Augen. Leicht umwehte der Wind das zarte Buschwerk hinter dem Fuchs. Pepe blinzelte. Der Fuchs war verschwunden.

Walds Maul entwich ein sattes und zufriedenes Grunzen. Müde und doch angetrieben von dem Wunsch, den Treffpunkt im Siebengebirge möglichst bald zu erreichen, brachen die beiden Gefährten mit prall gefüllten Taschen auf.

Nach einer halben Stunde begann das Gelände abzufallen und der Boden wurde steiniger. Vereinzelte Felsbrocken, die schroff aus dem Boden ragten, begannen nun ihren Weg zu säumen. Dichtes pelziges Moos überwucherte das Gestein. Karge Fichten drängten aus dem felsigen Boden hervor und klammerten sich mit ihrem dünnen, zähen Wurzelwerk – wie mit knöchernen Fingern – in die feinsten Ritzen.

Mit jedem Schritt zog sich das üppige Weideland zurück. Langgewachsene Halme schmiegten sich um dicht gestreute Gesteinsbrocken in allen Größen und Formen. Sie ritten auf dem abfallenden Weg in eine Schlucht hinein, deren Wände sich zusehends höher und höher in den Himmel reckten. Feuchte Felsformationen erhoben sich und dämpften das Licht und die Wärme der Sonne. Nur vereinzelt wagten sich einige zarte Strahlen in die Tiefe der Schlucht und schimmerten in braun goldenen Tönen auf den klammen Felswänden. Ein Duft von nasser Erde und modrigem Laub tränkte die Luft. Dichte Farnbüschel duckten sich in die aufsteigenden Felswände hinein und breiteten ihr zarten, weit gefächerten Blätter aus.

Vorsichtig setzte Wald einen Lauf vor den anderen. Es mochte wohl eine halbe Stunde vergangen sein, als die Schlucht sich langsam und kaum merklich zu einem riesigen grünbraunen Trichter weitete. Bald schon erreichten sie einen alten Buchenwald. Die schmalen Stämme wuchsen kerzengerade zwischen den Steinen in den Himmel. Hellgrünes mattes Licht drang durch das Laubwerk und durchflutete sanft die sich vor ihnen ausbreitende, dicht bemooste Felsenlandschaft. Pepe stieg ab. Der Boden war von großen runden Felsbrocken aller Größen bedeckt. In der Ferne meinte Pepe das leise Glucksen eines Baches zu vernehmen. Brocken an Brocken scharten sich die Felsen. Sie fielen in sanfte Steintäler ab, schmiegten sich aneinander, lagen hoch aufgetürmt, erhoben sich und sanken, wogten, schienen seltsam bewegt und hielten doch versteinert inne.

Kreuz und quer über den Felsen lagen umgestürzte Bäume, manche flach, andere aufragend wie Spieße. Von dichtem Moos und Pilzen überzogen schienen sie ihre letzte Ruhe gefunden zu haben.

Pepe lachte hell in Walds Ohr: „Es sieht so aus, als hätten sich hier zwei Riesen amüsiert.“ Er zeigte mit seinem Arm auf die wild verstreuten Baumstämme. „Wahrscheinlich haben sie sich die Zeit mit einer Runde Gigantenmikado vertrieben.“

„Hör mir auf mit Riesen.“ Schmunzelnd schüttelte Wald den Kopf.

Wald ging nur noch im Schritttempo. Ein Weg war nicht mehr auszumachen. Tiefe Klüfte und Spalten, nur von losem Zweigwerk und feuchtem Laub abgedeckt, taten sich rechts und links eines jeden Fußtritts auf. Die Buchen lichteten sich zusehends. Bald schon erreichten sie den Waldrand. Vorsichtig traten sie aus dem Schutz der Bäume heraus.

Vom gleißenden Licht der Sonne geblendet, verengte Pepe seine Augen zu Schlitzen. Vor ihnen breitete sich ein gigantisches Felsenmeer, durchflutet vom hellen Licht des späten Vormittages, in seiner ganzen Weite aus. Staunend und mit offenstehenden Mündern hielten die beiden Gefährten inne.

Pepe entdeckte Felsbrocken, die aussahen wie erstarrte Robben. Ein riesiger schlafender Walfisch lag reglos versteinert zwischen klippenartig aufragendem Gestein. In seiner Phantasie sah Pepe mächtige Walrösser, Riesen mit abgetrennten Schädeln und liegende Säulen, wie aus riesigen Vorhallen längst vergangener Zeiten. Du hättest wahrscheinlich noch so viel mehr entdecken können. Hast du schon einmal im Gras gelegen und in den Wolken die tollsten Dinge entdeckt? Ganz bestimmt! Ja, so erging es auch Wald und Pepe. Sie kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus.