Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Swan Song erschien 1987.

Copyright © 1987 by Robert McCammon

1. Auflage Mai 2015

Copyright © dieser Ausgabe 2015 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von The McCammon Corporation

Literarische Agentur: Thomas Schlück GmbH, 30872 Garbsen

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-356-3

www.Festa-Verlag.de

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55

Der Jeep rumpelte über eine ausgefahrene und verschneite Straße, vorbei an liegen gebliebenen oder ausgebrannten Fahrzeugwracks, die auf beiden Seiten an den Straßenrand geschoben worden waren. Hier und da lag eine gefrorene Leiche in einer grauen Schneewehe; eine hatte wie in einem letzten Flehen um Gnade ihre Arme gehoben.

Sie gelangten an eine unmarkierte Kreuzung. Paul stoppte und blickte über die Schulter auf Hugh Ryan, der sich in das Gepäckfach zu den Koffern und Taschen gequetscht hatte. Hugh hielt seine Krücke mit beiden Händen fest und schnarchte leise. »He!«, rief Paul und stieß den Schlafenden an. »Wachen Sie auf!«

Hugh schnaubte und öffnete schließlich seine schweren Lider. »Was ist? Sind wir schon da?«

»Verdammt, nein! Ich glaube, wir sind vor ein paar Kilometern falsch abgebogen. Hier gibt es keine Spur von Leben!« Er blickte durch die Windschutzscheibe nach oben und sah neuen Schnee in den Wolken lauern. Das Tageslicht ließ allmählich nach, und Paul warf bewusst keinen Blick auf die Tankanzeige, da er wusste, dass sie bereits auf den letzten Tropfen fuhren. »Ich dachte, Sie kennen den Weg!«

»Tue ich auch«, versicherte Hugh ihm. »Aber es ist eine Weile her, seit ich aus Moberly rausgekommen bin.« Er schaute sich in der öden Landschaft um. »Wir sind an einer Kreuzung«, verkündete er.

»Was Sie nicht sagen. Aber in welche Richtung müssen wir jetzt?«

»Hier sollte eigentlich ein Schild stehen. Vielleicht hat der Wind es umgeblasen.« Er richtete sich auf und sah sich nach etwas um, das ihm bekannt vorkam. Die Wahrheit – die er Paul und Sister wohlweislich vorenthielt – war, dass er sich in dieser Ecke überhaupt nicht auskannte. Aber er hatte unbedingt aus Moberly verschwinden wollen, weil er Angst hatte, irgendwann nachts wegen seiner Decken umgebracht zu werden. »Hm, mal sehen … ich glaube, ich erinnere mich an einen großen Hain aus alten Eichenbäumen, an dem wir rechts abgebogen sind.«

Paul verdrehte die Augen. Zu beiden Seiten der schmalen Straße standen dichte Wälder. »Sehen Sie mich an«, sagte er. »Lesen Sie meine Lippen: Wir stecken mitten im nirgendwo und uns geht das Benzin aus – und diesmal befinden sich keine Tanks in der Nähe, die ich aussaugen kann. Es wird bald dunkel und ich glaube, wir sind auf der falschen Straße. Und jetzt erklären Sie mir, warum ich Ihnen nicht Ihren verdammten mageren Hals umdrehen soll!«

Hugh sah verletzt aus. »Weil«, erwiderte er mit großer Würde, »Sie ein anständiger Mensch sind.« Er warf einen schnellen Blick auf Sister, die sich umgedreht hatte und ihn ebenfalls anfunkelte. »Ich kenne den Weg. Wirklich! Ich habe uns um die eingestürzte Brücke herumgebracht, oder nicht?«

»Welche Richtung?«, fragte Sister scharf. »Links oder rechts?«

»Links«, antwortete Hugh – und wünschte sich sofort, er hätte ›Rechts‹ gesagt, aber jetzt war es zu spät und er wollte nicht wie ein Idiot dastehen.

»Es wäre gut, wenn Mary’s Rest hinter der nächsten Kurve läge«, meinte Paul grimmig, »sonst müssen wir bald zu Fuß gehen.« Er legte den Gang ein und bog nach links ab. Die Straße schlängelte sich durch einen Korridor aus Bäumen, deren überhängende Zweige den Himmel aussperrten.

Hugh lehnte sich zurück, um auf sein gerechtes Urteil zu warten, während Sister nach ihrer Umhängetasche griff, die vor ihr auf dem Boden lag. Sie zog den Reißverschluss auf, tastete nach dem Glasring und holte ihn heraus. Dann legte sie den Ring, in dem die gefangenen Edelsteine funkelten und blitzten, in ihren Schoß und schaute in seine leuchtenden Tiefen.

»Was siehst du?«, fragte Paul. »Irgendwas?«

Sister schüttelte den Kopf. Die Farben pulsierten, aber sie formten noch keine Bilder. Wie der Glasring funktionierte und was er genau war, blieb nach wie vor ein Rätsel. Paul hatte gemeint, die Strahlung habe vielleicht das Glas, die Juwelen und die Edelmetalle zu einer Art hyperempfindlicher Antenne zusammengeschmolzen, aber worauf diese Antenne reagierte, konnte er auch nicht sagen. Zumindest waren sie sich mittlerweile einig, dass der Glasring sie irgendwohin führte, und dass ihm zu folgen bedeutete, den Teil seiner selbst aufzugeben, der sich weigerte, an Wunder zu glauben. Den Glasring zu benutzen, war wie ein Sprung im Dunkeln, ein Ablegen von Zweifel, Furcht und allen anderen Unreinheiten, die den Geist vernebelten; ihn zu benutzen, war der ultimative Akt des Glaubens.

Sind wir näher an der Antwort oder weiter weg?, fragte Sister gedanklich, als sie in den Ring blickte. Nach wem suchen wir und warum? Ihre Fragen, so wusste sie, würden mit Symbolen und Bildern beantwortet werden, mit Erscheinungen und Schatten und Geräuschen, die ferne menschliche Stimmen sein mochten oder das Quietschen von Rädern, das Bellen eines Hundes.

Ein Diamant erstrahlte wie ein Meteor, und Licht blitzte die Silber- und Platinfäden entlang. Weitere Diamanten leuchteten auf, wie in einer Kettenreaktion. Sister spürte, wie die Macht des Glasrings nach ihr griff, sie in sich hineinzog, tiefer, immer tiefer. Ihr ganzes Sein war auf die Lichtausbrüche fixiert, die in einem hypnotisierenden Rhythmus aufflammten.

Sie saß nicht mehr mit Paul Thorson und dem einbeinigen Arzt aus Amarillo im Jeep. Sie stand auf einem schneebedeckten Feld, das übersät war mit Baumstümpfen. Aber ein Baum stand noch, und der war mit diamantweißen Blüten bedeckt, die vom Wind verweht wurden. Am Stamm des Baumes waren Handabdrücke zu erkennen, wie eingebrannt in das Holz – schlanke, lange Finger, die Hand eines jungen Menschen.

Und auf dem Stamm waren auch Buchstaben, wie mit Feuer gemalt: S … W … A … N.

Sister versuchte den Kopf zu wenden, um mehr von der Stelle zu sehen, an der sie stand, aber die Traumwandelszene begann bereits wieder zu verblassen. Sie nahm schattenhafte Gestalten wahr, ferne Stimmen – vielleicht ein Augenblick, gefangen in der Zeit und irgendwie zu Sister übertragen wie eine Fotografie durch spektrale Kanäle. Und dann, ganz plötzlich, war die Traumwanderung zu Ende, und Sister saß wieder im Jeep, mit dem Glasring in den Händen.

Sie ließ die angehaltene Luft ausströmen. »Ich war wieder da«, sagte sie. »Ich habe ihn wieder gesehen – den einsamen Baum in einem Feld aus Stümpfen, mit den Handabdrücken und dem Wort ›Swan‹ in den Stamm eingebrannt. Aber es war klarer als gestern Abend, und dieses Mal … habe ich, glaube ich, Äpfel gerochen.« Sie waren gestern den ganzen Tag gefahren, auf der Suche nach Mary’s Rest, und hatten die Nacht in den Ruinen eines Farmhauses verbracht. Dort hatte Sister in den Glasring geschaut und zum ersten Mal den Baum mit den wehenden Blüten gesehen. Jetzt war die Vision viel klarer gewesen; sie hatte jede Einzelheit des Baumes, jeden knorrigen Zweig und sogar die kleinen grünen Knospen erkennen können, die unter den Blüten sprossen. »Ich glaube, wir kommen näher«, meinte sie und ihr Herz raste. »Das Bild war deutlicher. Wir müssten es bald gefunden haben!«

»Aber alle Bäume sind tot!«, widersprach Paul. »Sieh dich doch um. Nichts blüht – und nichts wird es je tun. Warum sollte dir das Ding das Bild eines blühenden Baumes zeigen?«

»Ich weiß es nicht. Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen.« Sie konzentrierte sich wieder auf den Glasring. Er pulsierte im Rhythmus ihres beschleunigten Pulses, lud sie aber nicht zu einer neuen Traumwanderung ein. Die Nachricht war überbracht und würde, zumindest für den Augenblick, nicht wiederholt werden.

»Swan.« Paul schüttelte den Kopf. »Das ergibt nicht den geringsten verdammten Sinn.«

»Doch, tut es. Irgendwie schon. Wir müssen nur die Puzzleteile richtig zusammensetzen.«

Pauls Hände klammerten sich um das Lenkrad. »Sister«, sagte er mit einer Spur Mitleid in der Stimme, »das Gleiche sagst du immer wieder, seit langer Zeit. Du schaust in diesen Glasring, als wärst du eine Zigeunerin, die versucht, aus Teeblättern zu lesen. Und so ziehen wir kreuz und quer durchs Land und folgen Zeichen und Symbolen, die vielleicht nicht das Geringste bedeuten.« Er sah sie an. »Hast du diese Möglichkeit jemals in Betracht gezogen?«

»Wir haben Matheson gefunden, oder nicht? Wir haben die Tarotkarten gefunden und die Puppe.« Sie zwang sich, mit fester Stimme zu antworten, aber es hatte viele Tage und Nächte gegeben, in denen sie sich selbst die gleiche Frage gestellt hatte – aber nur für einen Moment oder zwei, dann war ihre Entschlossenheit wieder zurückgekehrt. »Ich glaube fest daran, dass uns das zu jemandem führt – jemand sehr Wichtigem.«

»Du meinst, du willst es glauben.«

»Nein, ich meine, ich glaube daran!«, versetzte sie. »Wie könnte ich sonst weiterleben?«

Paul seufzte schwer. Er war müde, sein Bart juckte und er stank wie ein Käfig voller Affen. Wie lange war es her, seit er das letzte Mal ein Bad genommen hatte? In den letzten Wochen war er bestenfalls dazu gekommen, sich notdürftig mit Asche und Schnee abzureiben. Seit zwei Jahren tanzten sie nun schon um das Thema der Fehlbarkeit des Glasrings herum wie zwei misstrauische Boxer. Paul selbst konnte in dem Ring nichts anderes sehen als Farben, und oft hatte er sich gefragt, ob die Frau, mit der er reiste – die er, in der Tat, zu respektieren und lieben gelernt hatte –, die Visionen vielleicht erfand und absichtlich so interpretierte, dass sie mit ihrer wahnwitzigen Suche weitermachen mussten.

»Ich glaube«, sagte Sister, »dass der Ring ein Geschenk ist. Ich glaube, dass ich ihn aus einem bestimmten Grund gefunden habe. Und alles, was er uns zeigt, ist ein Hinweis darauf, wohin wir gehen müssen. Verstehst du denn n…?«

»Blödsinn!«, rief Paul und hätte um ein Haar die Bremse durchgetreten, aber er fürchtete, dass der Jeep dann von der Straße rutschen würde. Sister starrte ihn an und in ihrem Gesicht mit den grässlichen Wucherungen spiegelten sich Erschrecken, Wut und Desillusion. »Du hast ein verdammtes Clownsgesicht in dem Scheißding gesehen, weißt du noch? Du hast einen alten, ramponierten Planwagen oder so was gesehen. Und du hast tausend andere Dinge gesehen, die nicht den geringsten Sinn ergeben! Du hast gesagt, wir müssten nach Osten, weil du glaubtest, dass die Visionen oder Traumwandelbilder, oder was zum Henker sie sind, stärker wurden; und dann hast du gesagt, wir müssten wieder nach Westen, weil die Visionen schwächer wurden und du es in der anderen Richtung versuchen wolltest. Danach sagtest du, wir müssten nach Norden und dann nach Süden – und dann wieder nach Norden und wieder nach Süden! Sister, du siehst in dem verdammten Ding, was du sehen willst! Gut, wir haben Matheson, Kansas, gefunden. Na und? Vielleicht hast du als Kind mal was von der Stadt gehört! Ist dir das jemals in den Sinn gekommen?«

Sie schwieg, drückte den Glasring fest an sich und schließlich sagte sie, was sie schon seit langer, langer Zeit hatte sagen wollen: »Ich glaube, dieser Ring ist ein Geschenk Gottes.«

»Sicher.« Er lächelte bitter. »Tja, sieh dich mal um. Sieh dich um. Hast du je die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Gott wahnsinnig geworden sein könnte?«

Ihre Augen wurden feucht. Schnell wandte sie sich von ihm ab, denn sie wollte verdammt sein, wenn sie ihn ihre Tränen sehen ließ.

»Hinter all dem steckst nur du selbst, begreifst du das denn nicht?«, fuhr er fort. »Es ist das, was du siehst. Es ist das, was du fühlst und was du beschließt. Wenn das verdammte Ding dich irgendwohin führen will – oder zu jemandem –, warum zeigt es dir dann nicht direkt, wo du hinmusst? Warum spielt es so mit dir herum? Warum gibt es seine ›Hinweise‹ immer nur in kleinen Portionen?«

»Weil«, antwortete Sister, und ihre Stimme bebte nur ganz leicht, »wenn man ein Geschenk erhält, das noch lange nicht bedeutet, dass man auch weiß, wie man es anwenden muss. Die Schuld liegt nicht beim Glasring – sie liegt bei mir, weil das, was ich verstehen kann, begrenzt ist. Ich tue doch mein Bestes, und vielleicht … vielleicht ist die Person, nach der ich suche, auch noch nicht bereit, gefunden zu werden.«

»Was? Jetzt hör aber auf!«

»Vielleicht sind die Bedingungen noch nicht richtig. Vielleicht ist das Bild noch nicht vollständig, und deshalb …«

»Oh Jesus!«, stöhnte Paul. »Merkst du überhaupt, was du da für einen Unsinn redest? Du erfindest Dinge, die gar nicht wahr sind, nur weil du so sehr willst, dass sie wahr sind. Du willst nicht einsehen, dass wir sieben Jahre unseres Lebens mit der Suche nach Gespenstern vergeudet haben!«

Sister schaute auf die Straße, die sich vor dem Jeep in einen dunklen, toten Wald erstreckte. »Wenn du so denkst«, meinte sie schließlich, »warum hast du mich dann die ganze Zeit begleitet?«

»Das weiß ich auch nicht. Vielleicht weil ich ebenso sehr daran glauben wollte wie du. Ich wollte glauben, dass dieser Wahnsinn irgendeine Methode hatte – aber es gibt keine und es gab nie eine.«

»Ich erinnere mich da an ein Kurzwellenradio«, sagte Sister.

»Was?«

»Ein Kurzwellenradio«, wiederholte sie. »Das, mit dem du die Leute in deiner Hütte davon abgehalten hast, sich umzubringen. Du hast ihnen Hoffnung und einen Grund zum Weiterleben gegeben. Schon vergessen?«

»Okay. Und?«

»Hast du denn nicht selbst auch zumindest gehofft, dass irgendwann eine Stimme aus dem Radio kommen würde? Hast du dir nicht selbst auch gesagt, dass es vielleicht am nächsten Tag oder am übernächsten ein Zeichen von anderen Überlebenden geben würde? Du hast das nicht alles auf dich genommen, nur um eine Handvoll Fremde am Leben zu erhalten. Nein, du hast es auch getan, um selbst zu überleben. Und du hast gehofft, dass eines Tages vielleicht doch mehr als nur Rauschen aus dem Radio kommen würde. Tja, und das hier ist mein Kurzwellenradio.« Sie strich mit der Hand über den glatten Glasring. »Und ich glaube, es ist auf eine Macht justiert, die ich noch nicht einmal ansatzweise verstehe – aber ich werde nicht daran zweifeln. Nein. Ich werde weitergehen, einen Schritt nach dem anderen. Ob mit dir oder ohne …«

»Was zur Hölle …?«, unterbrach Paul sie, als sie um eine Kurve bogen. Mitten auf der Straße, unter den überhängenden Ästen der Bäume, standen drei große Schneemänner, alle mit Mütze und Schal bekleidet und mit Steinen als Augen und Nasen. Einer von ihnen schien eine Maiskolbenpfeife zu rauchen. Paul wusste sofort, dass er nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, und obwohl er den Fuß auf die Bremse stemmte, rutschten die Räder weiter durch den Schnee, bis die vordere Stoßstange des Jeeps mit einem der Schneemänner kollidierte.

Vom Aufprall wurden Paul und Sister fast durch die Windschutzscheibe geschleudert und hinter ihnen stieß Hugh ein ersticktes Krächzen aus, als der Ruck seine Zähne aufeinanderprallen ließ. Der Motor des Jeeps stotterte und erstarb. Dort, wo der Schneemann gestanden hatte, lag jetzt ein Haufen Schnee um eine getarnte Straßensperre aus Metallresten, Holz und Steinen.

»Scheiße!«, fluchte Paul, als er seine Stimme wiederfand. »Irgendein Idiot hat eine verdammte …«

Zwei Beine in abgewetzten braunen Stiefeln krachten von oben auf die Motorhaube des Jeeps.

Sister blickte auf und sah eine vermummte Gestalt in einem langen lumpigen Mantel, eine Hand um ein Seil geklammert, das an den Ästen über ihr befestigt war. In der anderen Hand hielt die Person eine 38er, die durch die Windschutzscheibe auf Paul Thorson zielte.

Weitere Gestalten kamen von allen Seiten aus dem Wald gehuscht und näherten sich dem Jeep. »Banditen!«, jammerte Hugh, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Sie werden uns ausrauben und uns die Kehlen durchschneiden!«

»Den Teufel werden die tun«, sagte Sister ruhig und legte die Hand auf den Kolben der Schrotflinte, die neben ihrem Sitz klemmte. Sie riss sie hoch, zielte auf den Angreifer auf der Motorhaube und wollte gerade abdrücken, als beide Türen des Jeeps aufgerissen wurden.

Ein Dutzend Pistolen, drei Gewehre und sieben angespitzte Holzspeere wurden auf Sister gerichtet, eine ähnliche Anzahl Waffen bedrohte Paul. »Tötet uns nicht!«, rief Hugh. »Bitte tötet uns nicht! Wir geben euch alles, was ihr wollt!«

Du hast gut reden, dir gehört ja nichts von den Sachen hier drin, dachte Sister, als sie der Wand aus Feuerwaffen und Speeren entgegenblickte. Sie versuchte abzuschätzen, wie lange sie brauchen würde, um die Schrotflinte herumzureißen und auf die Banditen zu feuern – aber sie wusste, dass sie tot war, sobald sie eine plötzliche Bewegung machte. Sie erstarrte, die eine Hand an der Schrotflinte, mit der anderen den Glasring beschützend.

»Raus aus dem Jeep«, befahl die Gestalt auf der Motorhaube. Es war keine erwachsene Stimme, sondern die eines Jungen. Die Pistole schwenkte zu Sister herum. »Nimm deinen Finger vom Abzug, wenn du ihn behalten willst.«

Sie zögerte und schielte hinauf zum Gesicht des Jungen, konnte aber seine Züge unter der Kapuze des Mantels nicht erkennen. Die Pistole zielte so sicher auf sie, als wäre der Arm des Jungen aus Stein, und der Ton seiner Stimme verriet, dass er es ernst meinte.

Sie blinzelte und nahm den Finger vom Abzug.

Paul wusste, dass sie keine Chance hatten. Er murmelte einen Fluch, wünschte sich nichts sehnlicher, als die Hände um Hugh Ryans Hals zu legen, und stieg aus.

»Ein prima Führer sind Sie«, zischte Sister zu Hugh. Sie atmete tief durch und stieg aus dem Wagen.

Sie überragte alle Wegelagerer.

Es waren Kinder.

Alle waren sie dünn und schmutzig, die jüngsten etwa neun oder zehn, die ältesten vielleicht 16 – und alle starrten sie den pulsierenden Glasring an.

56

Von einer ruppigen, johlenden Bande aus 27 halbwüchsigen Banditen wurden Paul, Sister und Hugh mit Gewehrläufen und Speerspitzen durch den verschneiten Wald getrieben. Etwa 100 Meter abseits der Straße befahl man ihnen stehen zu bleiben, und während sie warteten, räumten einige der Jungen Zweige und Unterholz vom Eingang einer kleinen Höhle. Ein Gewehrlauf schubste Sister hinein, die anderen folgten.

Hinter dem Eingang öffnete sich die Höhle zu einer großen, hohen Kammer. Es war feucht, aber Dutzende Kerzen brannten und in der Mitte flackerte ein kleines Feuer, dessen Rauch durch ein Loch in der Decke abzog. Acht weitere Jungen, alle mager und kränklich aussehend, warteten auf die Rückkehr ihrer Kumpane, und dann wurden die Taschen der Gefangenen aufgerissen und die Jungen lachten und grölten, als Pauls und Sisters Ersatzkleidung verteilt wurde. Die Banditen schnappten sich schlecht sitzende Mäntel und Pullover, schmückten sich mit Wollschals und Mützen und tanzten um das Feuer wie Apachen. Einer entkorkte einen Krug Selbstgebrannten, den Hugh mitgebracht hatte, und die Rufe wurden lauter, das Tanzen wilder. Verstärkt wurde das lärmende Spektakel noch durch gegeneinandergeschlagene Holzklötze, Kürbisrasseln und Stöcke, die einen Rhythmus auf einem Pappkarton trommelten.

Hugh balancierte unbeholfen auf seiner Krücke und seinem einen Bein, während die Jungen um ihn herumsprangen und mit ihren Speeren nach ihm stießen. Er hatte schon früher Geschichten von den Waldräubern gehört und der Gedanke, skalpiert und gehäutet zu werden, gefiel ihm nicht besonders. »Tötet uns nicht!«, schrie er über den Lärm. »Bitte töt…« Und dann landete er auf seinem Hintern, als ein finster aussehender Zehnjähriger mit struppigem schwarzem Haar die Krücke unter ihm wegtrat. Stürmisches Gelächter begleitete seinen Sturz, und weitere Speere und Gewehre stießen nach Paul und Sister. Sie schaute zur anderen Seite der Höhle und sah durch den Qualmschleier einen kleinen dünnen Jungen mit rotem Haar und bleicher Haut. Er hielt den Glasring in den Händen und betrachtete ihn versunken – und dann schnappte ein zweiter Junge ihn aus seinen Fingern und rannte damit davon. Ein dritter griff den zweiten an und versuchte den Schatz in seine Hände zu bekommen. Ein ganzer Pulk in Lumpen gekleideter Jungen drängelte und schubste sich gegenseitig auf der Jagd nach dem begehrten Objekt, und Sister verlor den Glasring aus den Augen. Ein junger Bandit hielt ihr den Lauf ihrer eigenen Schrotflinte vor das Gesicht und grinste sie an, als fordere er sie heraus, eine falsche Bewegung zu machen. Dann wirbelte er wieder davon, schnappte sich den Schnapskrug und schloss sich dem Siegestanz an.

Paul half Hugh auf die Beine. Ein Speer pikste Paul in die Rippen und er fuhr wütend zu seinem Peiniger herum, aber Sister packte seinen Arm, um ihn zurückzuhalten. Ein Junge, der sich die Knochen eines kleinen Tieres in sein Haar geflochten hatte, stieß mit seinem Speer nach Sisters Gesicht und hielt kurz vor ihrem Auge an. Sie starrte ihn ausdruckslos an und er kicherte wie eine Hyäne und hüpfte davon.

Der Junge, der Pauls Magnum genommen hatte, tanzte vorbei, kaum in der Lage, die schwere Waffe mit beiden Händen zu halten. Der Krug mit dem Selbstgebrannten wurde herumgereicht und heizte die wilde Ekstase noch weiter an. Sister hatte Sorge, dass sie auf die Idee kommen könnten, ihre Waffen blindlings abzufeuern, denn in einem geschlossenen Raum wie diesem wären die Querschläger tödlich. Sie sah das Leuchten des Glasrings, als ein Junge ihn einem anderen aus den Fingern schnappte. Dann kämpften wieder zwei Jungen um ihn, und Sister wurde schlecht, als sie sich vorstellte, wie der Ring zerbrochen auf dem Boden lag. Sie trat einen Schritt vor, aber ein halbes Dutzend Speere, die sich ihr sofort entgegenreckten, stoppten sie.

Und dann geschah das Entsetzliche: Einer der Jungen, bereits berauscht vom Schnaps, hob den Glasring hoch über seinen Kopf – und wurde von hinten zu Fall gebracht, als sich ein anderer Junge auf den Ring stürzte. Der Glasring flog aus seinen Händen und drehte sich in der Luft. Sister öffnete den Mund zu einem Schrei. Sie sah den Ring wie in grauenhafter Zeitlupe Richtung Boden fallen und hörte sich selbst »Nein!« schreien, aber es gab nichts, was sie tun konnte. Der Glasring fiel … und fiel … und fiel …

Eine Hand schnappte ihn, bevor er auf dem Boden aufschlug, und der Ring leuchtete mit feurigen Farben auf, als explodierten Meteore in seinem Inneren.

Der Junge im Kapuzenmantel, der auf die Motorhaube des Jeeps gesprungen war, hatte ihn gefangen. Er war mindestens einen Kopf größer als die anderen, und als er jetzt auf Sister zuging, machten die Jungen ihm Platz. Sein Gesicht wurde noch immer von der Kapuze verborgen. Die Rufe und der Lärm der Holzklötze und Trommelstöcke ebbten ab und verklangen dann ganz, als der Große gemächlich durch die Menge schritt. Der Glasring leuchtete in einem starken, langsamen Rhythmus. Und dann stand der Junge vor Sister.

»Was ist das?«, fragte er und hielt den Ring hoch. Die anderen hatten aufgehört zu tanzen und zu johlen und scharten sich um ihn, um zuzuschauen.

»Er gehört mir«, antwortete Sister.

»Nein. Er hat dir gehört. Ich habe gefragt, was das ist.«

»Es ist …« Sie stockte, überlegte, was sie sagen sollte. »Es ist Magie. Es ist ein Wunder, falls man weiß, wie man es benutzen muss. Bitte …« Sie bemerkte selbst den ungewohnten flehentlichen Unterton in ihrer Stimme. »Bitte mach ihn nicht kaputt.«

»Und wenn ich es tue? Wenn ich ihn fallen lasse und er zerbricht? Würde die Magie dann verschwinden?«

Sie schwieg, denn sie wusste, dass der Junge sie nur provozierte.

Er schlug die Kapuze zurück und enthüllte sein Gesicht. »Ich glaube nicht an Magie«, sagte er. »Das ist nur was für Dumme und Kinder.«

Der Junge war älter als die anderen – vielleicht 17 oder 18. Er war fast so groß wie Sister, und die Breite seiner Schultern verriet, dass er einmal ein kräftiger Mann sein würde, wenn er ganz ausgewachsen war. Sein Gesicht war schmal und bleich, mit scharf geschnittenen Wangenknochen und Augen in der Farbe von Asche. In sein schulterlanges dunkelbraunes Haar waren kleine Knochen und Federn eingeflochten, und er sah so mürrisch und ernst aus wie ein Indianerhäuptling. Die untere Hälfte seines Gesichts war mit feinen hellbraunen Barthaaren bedeckt, aber Sister konnte erkennen, dass er ein kräftiges, kantiges Kinn hatte. Dunkle buschige Augenbrauen verstärkten noch seine ernste Erscheinung, und sein Nasenrücken war so abgeplattet und krumm wie der eines Boxers. Er war ein gut aussehender junger Mann, aber definitiv gefährlich. Und, das erkannte Sister sofort, er war weder dumm noch ein Kind.

Schweigend betrachtete er den Glasring. Dann fragte er: »Wo wolltet ihr hin?«

»Nach Mary’s Rest«, plapperte Hugh nervös. »Wir sind nur arme Reisende. Wir wollen niem…«

»Halt’s Maul«, befahl der Junge und Hughs Mund klappte zu. Der Bandit starrte Paul ein paar Sekunden an, dann grunzte er und wandte den Blick ab. »Mary’s Rest«, meinte er. »Ihr seid mehr als 20 Kilometer östlich von Mary’s Rest. Was wolltet ihr da?«

»Wir sind auf dem Weg nach Süden und wollen dort Station machen«, sagte Sister. »Wir haben gehofft, da vielleicht Wasser und etwas zu essen zu bekommen.«

»Ist das so? Tja, dann habt ihr wohl Pech. In Mary’s Rest gibt es kaum noch was zu essen. Die Leute hungern und der See ist vor fünf Monaten ausgetrocknet. Sie schmelzen Schnee, um ihn zu trinken, genau wie alle anderen auch.«

»Der Schnee ist voller Strahlung«, warf Hugh ein. »Geschmolzenen Schnee zu trinken, bringt einen um.«

»Was bist du? Ein Schneeexperte?«

»Nein, ich bin … ich war Arzt. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Arzt? Was für ein Arzt?«

»Ich war Chirurg«, erklärte Hugh und so etwas wie Stolz kehrte in seine Stimme zurück. »Ich war der beste Chirurg in Amarillo.«

»Chirurg? Du meinst, du hast Kranke operiert?«

»Ganz genau. Und ich habe nie einen Patienten verloren!«

Sister trat einen Schritt vor. Sofort flog die Hand des Jungen an die Pistole, die er unter seinem Mantel im Gürtel trug. »Hör mal«, sagte Sister, »lass uns diesen Quatsch hier beenden. Ihr habt bereits alles, was wir besitzen. Wir können den Rest des Weges zu Fuß gehen – aber ich will den Glasring zurückhaben. Und zwar sofort. Wenn du mich töten willst, dann mach es besser gleich, denn entweder gibst du mir den Ring zurück oder ich nehme ihn mir.«

Der Junge blieb reglos stehen, sein raubvogelartiges Starren forderte sie heraus.

Na dann, dachte sie und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie streckte den Arm aus, aber plötzlich lachte er und trat einen Schritt zurück. Er hielt den Ring hoch, als wolle er ihn auf den Felsboden fallen lassen.

Sister blieb stehen. »Nicht«, bat sie. »Bitte nicht.«

Seine Hand verharrte in der Luft. Sister spannte die Muskeln an, um nach dem Ring zu hechten, sobald sich seine Finger öffneten.

»Robin?«, rief eine schwache Stimme aus dem hinteren Teil der Höhle. »Robin?«

Der Junge starrte Sister noch ein paar Sekunden aus harten und klugen Augen an. Dann blinzelte er, senkte den Arm und hielt ihr den Ring hin. »Da. Das Ding ist sowieso nichts wert.«

Sister nahm ihn und eine Welle der Erleichterung durchströmte sie.

»Keiner von euch geht irgendwohin«, sagte der Junge. »Vor allem du nicht, Doc.«

»W…?« Todesangst durchzuckte Hugh.

»Geht in den hinteren Teil der Höhle«, befahl der Junge. »Alle.« Sie zögerten. »Sofort«, fügte er mit einer Stimme hinzu, die es gewohnt war, dass man ihr gehorchte.

Sie taten wie geheißen und gleich darauf erblickte Sister einige weitere Gestalten im rückwärtigen Teil der Kammer. Drei von ihnen waren Jungen mit Hiobsmasken in unterschiedlichen Stadien, einer konnte kaum seinen unförmigen Kopf hochhalten. Auf dem Boden in einer Ecke lag auf einem Bett aus Stroh und Laub ein magerer braunhaariger Junge von vielleicht zehn oder elf Jahren. Fieberschweiß glänzte auf seinem Gesicht. Ein Verband aus schmierig aussehenden Blättern war auf seine weiße Brust geklebt, direkt unter dem Herzen, Blut sickerte darunter hervor. Der verwundete Junge versuchte den Kopf zu heben, als er sie kommen sah, hatte aber nicht genug Kraft. »Robin?«, flüsterte er. »Bist du da?«

»Ich bin hier, Bucky.« Robin kniete sich neben ihn und wischte dem Verletzten das nasse Haar aus der Stirn.

»Es tut … so weh.« Bucky hustete und schaumiges Blut erschien auf seinen Lippen. Robin wischte es schnell mit einem Blatt ab. »Du wirst mich nicht ins Dunkel gehen lassen, oder?«

»Nein«, erwiderte Robin leise. »Ich werde dich nicht ins Dunkel gehen lassen.« Er blickte zu Sister auf. Seine Augen schienen 100 Jahre alt zu sein. »Bucky ist vor drei Tagen angeschossen worden.« Mit sanften Fingern zog er vorsichtig den Blätterverband ab. Die Wunde war ein hässliches rotes Loch mit grauen entzündeten Rändern. Robins Blick wanderte zu Hugh, dann zum Glasring. »Ich glaube nicht an Magie oder Wunder«, sagte er. »Aber vielleicht ist es eine Art Wunder, dass wir dich heute gefunden haben, Doc. Du wirst die Kugel herausholen.«

»Ich?« Hugh erstickte fast. »Oh, nein. Das kann ich nicht. Nein!«

»Du hast gesagt, dass du früher Kranke operiert hast. Und du hast gesagt, dass du nie einen Patienten verloren hast.«

»Das ist ein halbes Leben her!«, jammerte Hugh. »Sieh dir doch die Wunde an! Sie ist viel zu dicht am Herzen!« Er hielt seine zitternde Hand hoch. »Damit könnte ich nicht mal Salat schneiden!«

Robin stand auf und trat vor Hugh, bis sich ihre Nasen fast berührten. »Du bist Arzt. Du wirst die Kugel herausholen und ihn gesund machen, oder du kannst schon mal anfangen, Gräber für dich und deine Freunde zu graben.«

»Ich kann das nicht! Hier gibt es keine Instrumente, kein Licht, keine Desinfektionsmittel, keine Betäubungsmittel! Ich habe seit sieben Jahren nicht mehr operiert, und ich war auch sowieso kein Herzchirurg! Nein. Tut mir leid. Dieser Junge hat keine …«

Robins Pistole klickte und wurde an Hughs Hals gedrückt. »Ein Arzt, der niemandem helfen kann, sollte nicht leben. Du verbrauchst nur unnötig Luft.«

»Bitte … bitte …«, keuchte Hugh mit weit aufgerissenen Augen.

»Wartet mal«, mischte sich Sister ein. »Hugh, das Loch ist doch schon da. Alles, was Sie tun müssen, ist, die Kugel herauszuholen.«

»Oh, sicher! Sicher! Nur die Kugel rausholen!« Hugh kicherte, am Rande der Hysterie. »Sister, die Kugel kann überall sein! Und womit soll ich die Blutung stoppen? Womit soll ich das verdammte Ding da rausholen – mit meinen Fingern?«

»Wir haben Messer«, meinte Robin. »Die können wir über dem Feuer erhitzen. Das macht sie doch sauber, oder?«

»So etwas wie ›sauber‹ gibt es unter Bedingungen wie diesen nicht. Mein Gott, ihr wisst doch gar nicht, um was ihr mich da bittet!«

»Ich bitte nicht, ich befehle es. Tu es, Doc!«

Hugh sah Paul und Sister Hilfe suchend an, aber es gab nichts, was sie tun konnten. »Ich kann das nicht«, flüsterte er heiser. »Bitte … Ich werde ihn umbringen, wenn ich versuche, die Kugel rauszuholen.«

»Er wird mit Sicherheit sterben, wenn du es nicht tust. Ich bin hier der Anführer. Wenn ich mein Wort gebe, dann halte ich es auch. Bucky wurde angeschossen, weil ich ihn mit ein paar anderen losgeschickt habe, einen Lastwagen aufzuhalten. Aber er war noch nicht bereit, jemanden zu töten, und er war auch nicht schnell genug, einer Kugel auszuweichen.« Er rammte die Pistole in Hughs Hals. »Ich bin bereit, zu töten. Ich habe es schon getan. Ich habe Bucky versprochen, dass ich alles unternehmen werde, um ihm zu helfen. Also – holst du die Kugel raus oder soll ich euch alle töten?«

Hugh schluckte, seine Augen tränten vor Angst. »Ich … ich habe so vieles vergessen.«

»Dann sieh zu, dass es dir wieder einfällt. Und zwar schnell!«

Hugh zitterte. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. Der Junge war immer noch da. Hughs ganzer Körper war ein einziger Herzschlag. Wie viel weiß ich noch?, überlegte er. Denk nach, verdammt! Aber er bekam es nicht zusammen, es war alles ein einziges verschwommenes Durcheinander. Der Junge wartete, den Finger am Abzug. Hugh wurde klar, dass er sich auf seinen Instinkt verlassen musste, und wenn er es vermasselte, dann gnade ihnen allen Gott. »Jemand … wird mich stützen müssen«, gelang es ihm zu sagen. »Meine Balance ist nicht so gut. Und Licht; ich brauche Licht, so viel wie ihr habt. Ich brauche …« Denk nach! »… drei oder vier scharfe Messer mit schmalen Klingen. Reibt sie mit Asche ein und legt sie ins Feuer. Ich brauche Stofffetzen und … oh Gott, ich brauche Klammern und Pinzetten und Sonden und ich kann doch diesen Jungen nicht umbringen, verdammt!« Seine Augen funkelten Robin an.

»Ich besorge dir, was du brauchst. Natürlich nichts von dem medizinischen Kram. Aber das andere hole ich.«

»Und Schnaps«, sagte Hugh. »Den Krug. Für den Jungen und für mich. Ich brauche Asche, um meine Hände damit zu säubern, und vielleicht auch einen Eimer, um reinzukotzen.« Er hob seine zitternde Hand und schob die Pistole von seinem Hals. »Wie ist dein Name, junger Mann?«

»Robin Oakes.«

»Also gut, Mr. Oakes. Wenn ich anfange, wirst du die Finger von mir lassen – was auch immer ich tue, was auch immer du denkst, dass ich tun sollte. Ich habe jetzt schon genug Angst für uns beide.« Hugh betrachtete die Wunde und zuckte zusammen. Sie sah sehr, sehr hässlich aus. »Mit was für einer Waffe wurde er angeschossen?«

»Ich weiß nicht. Einer Pistole, glaube ich.«

»Das sagt mir nichts über die Größe der Kugel. Oh Gott, das ist Wahnsinn! Ich kann doch keine Kugel aus einer Wunde holen, die so dicht am …« Die Pistole schwang wieder hoch. Hugh sah, dass der Finger des Jungen auf dem Abzug lag, und die Tatsache, den Tod so dicht vor Augen zu sehen, beschwor aus irgendeinem Grund die Maske der Arroganz wieder herauf, die er in Amarillo immer getragen hatte. »Nimm die Waffe aus meinem Gesicht, du Lümmel«, fuhr er den Jungen an. Robin blinzelte. »Ich werde tun, was ich kann – aber ich verspreche keine Wunder, hast du verstanden? Ja? Was stehst du hier noch rum? Besorg mir, was ich brauche!«

Robin steckte die Pistole weg und ging, um Schnaps, Messer und Asche zu holen.

Es dauerte etwa 20 Minuten, Bucky so betrunken zu machen, wie Hugh ihn haben wollte. Auf Robins Anweisung brachten die anderen Jungen Kerzen und stellten sie im Kreis um Bucky auf. Hugh rieb sich die Hände mit Asche ab und wartete darauf, dass die Messer heiß genug waren.

»Er hat dich Sister genannt«, meinte Robin. »Bist du eine Nonne?«

»Nein. Das ist nur mein Name.«

»Oh.«

Er schien enttäuscht zu sein, also fragte Sister: »Warum?«

Robin zuckte die Schultern. »In dem großen Gebäude, wo wir gelebt haben, gab es Nonnen. Ich habe sie immer Krähen genannt, weil sie sich jedes Mal auf einen gestürzt haben, wenn man was falsch gemacht hat. Aber einige von ihnen waren ganz okay. Schwester Margaret meinte, dass für mich ganz bestimmt alles gut werden würde. Dass ich eine Familie und ein Haus und alles haben würde.« Er sah sich in der Höhle um. »Tolles Haus, was?«

Jetzt begriff Sister, wovon Robin redete. »Ihr habt in einem Waisenhaus gelebt?«

»Ja. Wir alle. Viele von uns sind krank geworden und gestorben, nachdem es so kalt wurde. Vor allem die ganz Kleinen.« Seine Augen verfinsterten sich. »Pater Thomas starb und wir begruben ihn hinter dem großen Gebäude. Schwester Lynn starb, dann auch Schwester May und Schwester Margaret. Pater Cummings ist eines Nachts weggegangen. Ich mache ihm keinen Vorwurf – wer hätte schon Lust, sich um eine Horde verlauster Rabauken zu kümmern? Ein paar von den anderen sind auch weggegangen. Der Letzte, der starb, war Pater Clinton, und dann waren nur noch wir da.«

»Waren denn keine älteren Jungs bei euch?«

»Oh, doch. Einige sind dageblieben, aber die meisten sind auf eigene Faust losgezogen. Irgendwann war ich dann der älteste. Ich hab mir gesagt, wenn ich jetzt auch noch gehe, wer soll sich dann um die Rabauken kümmern?«

»Also habt ihr diese Höhle gefunden und angefangen, Leute auszurauben?«

»Sicher. Warum nicht? Ich meine … die ganze Welt ist verrückt geworden, oder? Warum sollen wir nicht Leute ausrauben, wenn es die einzige Möglichkeit ist, am Leben zu bleiben?«

»Weil es falsch ist«, antwortete Sister. Der Junge lachte. Sie wartete, bis sein Lachen erstarb, dann fragte sie: »Wie viele Menschen hast du getötet?«

Jede Spur von Belustigung verschwand aus seinem Gesicht. Er starrte seine Hände an; es waren die Hände eines Erwachsenen, rau und schwielig. »Vier. Aber sie alle hätten mich sonst getötet.« Er zuckte beklommen die Schultern. »Keine große Sache.«

»Die Messer sind fertig«, sagte Paul, als er vom Feuer zurückkam. Hugh, der auf seine Krücke gestützt vor dem Verletzten stand, atmete tief ein und senkte den Kopf.

So blieb er etwa eine Minute stehen. »Okay.« Seine Stimme war leise und resigniert. »Bringt die Messer her. Sister, würden Sie sich bitte neben mich knien und mich stützen? Und ich brauche ein paar Jungen, die Bucky festhalten, damit er nicht um sich schlägt.«

»Können wir ihn nicht bewusstlos schlagen oder so was?«, fragte Robin.

»Nein. Dabei besteht immer die Gefahr, dass das Gehirn Schaden nimmt, und der erste Reflex einer Person, die bewusstlos geschlagen wird, ist, sich zu übergeben. Das wollen wir ganz gewiss nicht. Paul, können Sie Buckys Beine halten? Ich hoffe doch, dass es Ihnen nichts ausmacht, ein bisschen Blut zu sehen.«

»Keine Sorge«, antwortete Paul, und Sister erinnerte sich an den Tag auf der I-80, als er den Bauch eines Wolfes aufgeschlitzt hatte.

Die heißen Messer wurden in einem Metalltopf gebracht. Sister kniete sich neben Hugh und er lehnte sich mit seinem geringen Gewicht gegen sie. Den Glasring legte sie neben sich auf den Boden. Bucky war betrunken und fantasierte von irgendwelchen Vögeln, die er singen hörte. Sister lauschte; sie konnte nur das Pfeifen des Windes im Höhleneingang hören.

»Allmächtiger Gott, bitte lenke meine Hand«, flüsterte Hugh. Er nahm eins der Messer; die Klinge war zu breit, also wählte er ein anderes. Selbst das schmalste der verfügbaren Messer war noch so plump wie ein gebrochener Daumen. Er wusste, dass er beim kleinsten Ausrutscher die linke Herzkammer des Jungen durchtrennen konnte, und dann würde nichts auf der Welt den Geysir des Blutes stoppen.

»Mach schon«, drängte Robin.

»Ich fange an, wenn ich so weit bin, und keine verdammte Sekunde früher! Und jetzt geh weg von mir, Junge.«

Robin zog sich zurück, blieb aber dicht genug in der Nähe, um zusehen zu können.

Einige der Jungen drückten Buckys Arme, seinen Kopf und seinen Körper auf den Boden, und die meisten anderen – selbst die mit den Hiobsmasken – scharten sich um sie. Hugh betrachtete das Messer in seiner Hand; es zitterte, und er konnte nichts dagegen tun. Bevor ihn seine Nerven ganz im Stich ließen, beugte er sich vor und drückte die heiße Klinge an den Rand der Wunde.

Entzündete Wundflüssigkeit spritzte heraus. Bucky bäumte sich auf und jaulte vor Schmerz. »Haltet ihn fest!«, rief Hugh. »Haltet ihn fest, verdammt!« Die Jungen mussten sich anstrengen, um Bucky auf den Boden zu drücken, und selbst Paul hatte Probleme mit den zuckenden Beinen. Hughs Messer drang tiefer ein und Buckys Schrei hallte von den Höhlenwänden wider.

»Du bringst ihn um!«, schrie Robin, aber Hugh ignorierte ihn. Er nahm den Schnapskrug und spritzte Alkohol in und um die Wunde. Jetzt konnten die Jungen Bucky kaum noch unten halten. Hugh tastete sich weiter mit der Klinge vor, und sein eigenes Herz wummerte, als wolle es aus seiner Brust springen.

»Ich kann die Kugel nicht sehen«, sagte Hugh. »Sie sitzt zu tief!« Blut quoll aus der Wunde, dick und dunkelrot. Er entfernte ein paar Knochensplitter einer gestreiften Rippe. Die rote, schaumige Masse der Lunge zuckte und blubberte unter der Klinge. »Haltet ihn fest, um Gottes willen!«, rief er. Die Klinge war zu breit; das war kein chirurgisches Instrument, sondern ein Schlachtermesser. »Ich schaffe es nicht! Es geht nicht!«, jaulte er und warf das Messer weg.

Robin drückte ihm den Pistolenlauf an den Schädel. »Hol sie aus ihm raus!«

»Ich habe nicht die richtigen Instrumente! Ohne die Instrumente kann ich n…«

»Scheiß auf die Instrumente!«, schrie Robin. »Nimm deine Finger, wenn es sein muss! Aber hol die Kugel raus!«

Bucky stöhnte, seine Augenlider flatterten wild, und sein Körper wollte sich in eine Fötusstellung zusammenrollen. Die anderen mussten all ihre Kraft aufbringen, um ihn festzuhalten. Hugh war verzweifelt. Im Metalltopf lag kein Messer, das schmal genug war. Robins Pistole drückte gegen seinen Kopf. Er blickte zur Seite und sah den Glasring auf dem Boden liegen.

Er sah die beiden dünnen Spitzen und auch die Stellen, an denen drei weitere abgebrochen waren.

»Sister, ich brauche eine von diesen Spitzen als Sonde«, sagte er. »Können Sie eine für mich abbrechen?«

Sie zögerte nur eine Sekunde, dann lag die Spitze in seiner Hand und leuchtete bunt auf.

Mit der anderen Hand die Wundränder spreizend, schob er die Spitze vorsichtig in das rote Loch.

Hugh musste tief eindringen und es lief ihm kalt den Rücken herunter, als er daran dachte, was die Sonde alles ankratzen mochte. »Haltet ihn gut fest!«, warnte er und neigte die Glasspitze einen Zentimeter nach links. Das Herz arbeitete und der Körper überschritt eine weitere Schwelle des Schocks. Beeil dich!, dachte Hugh. Finde das Miststück und dann raus damit! Noch tiefer drang die Sonde ein, aber noch immer keine Kugel.

Plötzlich hatte er das Gefühl, dass das Glas in seiner Hand warm wurde – sehr warm. Fast heiß.

Zwei Sekunden später war er sicher: Die Sonde erhitzte sich. Bucky erschauderte, verdrehte die Augen und fiel in eine gnädige Ohnmacht.

Eine kleine Rauchfahne drang aus der Wunde wie ausgeatmete Luft. Hugh glaubte, verbranntes Gewebe zu riechen. »Sister? Ich … weiß nicht, was hier gerade passiert, aber ich glaube …«

Die Sonde berührte ein festes Objekt tief im schwammigen Gewebe, etwa einen Zentimeter von der linken Koronararterie entfernt. »Hab sie gefunden!«, krächzte Hugh und konzentrierte sich darauf, die Größe der Kugel mit der Spitze der Sonde zu ertasten. Überall war Blut, aber es hatte nicht die hellrote Farbe von arteriellem Blut und bewegte sich nur träge. Das Glas fühlte sich heiß an und der Geruch nach verbranntem Fleisch wurde stärker. Hugh merkte, dass sein Bein und seine untere Körperhälfte eiskalt waren, aber aus der Wunde stieg Dampf. Es kam ihm vor, als kanalisiere das Glasstück irgendwie seine Körperwärme, als sauge es sie auf und verstärke sie in den Tiefen der Wunde. Hugh fühlte Kraft in seinem Arm – eine ruhige, gewaltige Kraft. Sie schien seinen Arm hinaufzuwandern wie ein Lichtblitz, alle Furcht aus seinem Kopf zu vertreiben und die Alkoholschleier aufzulösen. Plötzlich strömten die 30 Jahre seines medizinischen Wissens zurück in sein Bewusstsein, und er fühlte sich jung, stark und furchtlos.

Er wusste nicht, was das für eine Kraft war – die Kraft des Lebens selbst vielleicht, oder das, was die Leute in der Kirche die Erlösung nannten –, aber er konnte wieder sehen. Er konnte diese Kugel herausholen. Ja. Er konnte es.

Seine Hände zitterten nicht mehr.

Er würde bis unter die Kugel gehen müssen und sie mit der Sonde hochhebeln, bis er sie mit zwei Fingern fassen konnte. Die linke Koronararterie und die linke Herzkammer waren nah, sehr nah. Mit geometrisch präzisen Bewegungen machte er sich ans Werk.

»Vorsichtig«, mahnte Sister, aber sie wusste, dass sie ihn nicht warnen musste. Das Gesicht tief über die Wunde gebeugt, rief er plötzlich: »Mehr Licht!«, und Robin hielt eine Kerze näher heran.

Die Kugel löste sich aus dem umliegenden Gewebe. Hugh hörte ein Zischen und roch verbranntes Fleisch und Blut. Was ist das?, dachte er, aber er hatte keine Zeit, in seiner Konzentration nachzulassen. Die Glassonde war jetzt fast zu heiß, um sie festzuhalten, aber er wagte es nicht, sie loszulassen. Er hatte das Gefühl, bis zur Brust in einer Tiefkühltruhe zu sitzen.

»Ich sehe sie!«, sagte Hugh. »Eine kleine Kugel, Gott sei Dank.« Er schob zwei Finger in die Wunde und packte das kleine Stück Blei. Er zog das Objekt, das wie eine abgebrochene Zahnfüllung aussah, heraus und warf es Robin zu.

Und dann zog er langsam die Sonde heraus und alle hörten das Zischen von Blut und Fleisch. Hugh konnte nicht glauben, was er da sah: Tief in der Wunde wurde das zerrissene Gewebe kauterisiert und versiegelt, als die Spitze allmählich auftauchte.

Sie sah aus wie ein Stab aus weiß glühendem Feuer. Als sie die Wunde verließ, gab es ein letztes Zischen; das Blut gerann und die infizierten Wundränder entzündeten sich mit blauem Feuer, das für vier von Sisters raschen Herzschlägen brannte und dann erlosch. Wo sich noch vor ein paar Sekunden ein Loch befunden hatte, war jetzt ein brauner, verschmorter Kreis.

Hugh hielt das Glasstück hoch. Sein Gesicht wurde von einem reinen weißen Licht erhellt. Er konnte die Hitze spüren, aber das heilende Feuer konzentrierte sich an der Spitze. Dieses Ding hatte die winzigen Gefäße kauterisiert und durch das Fleisch geschnitten wie ein Laserskalpell.

Die innere Flamme der Sonde wurde jetzt schwächer. Als das Licht allmählich abnahm, sah Sister, dass sich die Edelsteine in der Glasspitze in kleine schwarze Kiesel verwandelt hatten und die verbindenden Edelmetallfasern zu Aschelinien verbrannt waren. Das Licht wurde immer schwächer, bis nur noch ein Funken weißen Feuers an der Spitze glühte; er pulsierte im Takt mit Hughs Herzschlag – einmal, zweimal, ein drittes Mal – und erlosch dann wie ein toter Stern.

Bucky atmete noch.

Hugh hob sein Gesicht, das voller Schweiß und Blutspritzer war, zu Robin. Er wollte etwas sagen, fand aber keine Stimme. Allmählich erwärmte sich seine untere Körperhälfte wieder. »Ich schätze«, brachte er schließlich heraus, »das bedeutet, dass du uns heute nicht umbringst, oder?«