Die Luft erschien Bresnitz zu dünn und sein Atem zu kurz, als daß sie für seinen schweren Körper ausgereicht hätten. Die Fenster des Wagens waren gut verschlossen, um nicht die Aufmerksamkeit eines eifrigen Nachbarn zu erregen. Das Funkgerät neben ihm war auf minimale Lautstärke gestellt, was bei der ringsum herrschenden Stille ausreichte. In der letzten Stunde hatten sie in der Einsatzzentrale mehrere Male nach ihm gefahndet und es dann aufgegeben, als er beharrlich schwieg – doch nicht, ohne daß zuvor dort jemand im Funkerchinesisch auf »das Verhör einer Verdächtigen außer der Reihe« angespielt hätte. In einigen Fenstern gegenüber war nach und nach der bläuliche Schein auf den Gesichtern der Bewohner erloschen. Die leicht obszöne Assoziation trieb ihm ein schiefes Lächeln ins Gesicht. Das Fernsehprogramm ging zu Ende, und in seinem Gefolge machte sich Finsternis auch in den zur Straße hin gelegenen Wohnzimmern breit, wurde durch die dämmrigen Lichter der Schlafzimmer abgelöst, die ebenfalls schon bald verlöschen sollten, bis man kaum mehr hätte sagen können, ob die Bewohner das Fernsehen ausgeschaltet hatten oder das Fernsehen die Bewohner. Ihn verlangte es nach einer Art Hauptschalter, der ihn von dem unerträglichen Zustand des ständigen Wachseins befreien würde, in dem er sich nun schon seit Wochen befand, von den Zusammenbrüchen und kurzen Schlafphasen einmal abgesehen. Als verhörte er sich selbst nach der Art des KGB unter Schlafentzug – eine Methode, auf die er selbst nur bei einer ganz bestimmten Sorte von Verdächtigen zurückgriff.

Und links oben – ihr Licht. Ein ohne ersichtlichen Grund rötliches Licht, stellte man seine blutunterlaufenen Augen einmal nicht in Rechnung, denn einen roten Vorhang gab es dort nicht, »wie du nur zu gut weißt«, sagte er erneut laut zu sich selbst und erlag so ein weiteres Mal jener nicht zu beherrschenden Angewohnheit, die sich seiner in den langen Tagen des Ausharrens vor ihrem Fenster bemächtigt hatte. Sein unglaubliches Erinnerungsvermögen, das ihm mit den Jahren immer mehr abhanden gekommen war, ließ ihn an den roten Vorhang denken und an den Soldaten, der sich dahinter mit dem Leichnam seiner Freundin gefangen fand. Sie war mitten im verbotenen Liebesspiel aus dem Leben geschieden, während ihre greisen Eltern noch im angrenzenden Raum schliefen. Diese Eigenart, sich an ein Buch aus der überquellenden Bibliothek in seinem Hirn zu erinnern, war unauflöslich mit dem Zwang verbunden, ihr davon zu erzählen – dort, hinter dem Licht. Eine mächtige Welle aus Schmerz, Sehnsucht und Haß überflutete ihn plötzlich, fand ihn unvorbereitet und drang so bis in sein Innerstes ein; und wie von Zauberhand wurde diese Welle in trauriger Metamorphose zu wirklicher Flüssigkeit, Flüssigkeit, die gleichmäßig aus beiden Augen rann und ein verstümmeltes Seufzen nach sich zog, das er erstickte, indem er den Kopf auf das Lenkrad vor ihm stieß – wobei er darauf achtete, nicht an die Hupe zu kommen und diesen Wandlungsprozeß mit einem mechanisch erzeugten Wehgeschrei abzuschließen, das den ganzen Block aufwecken und auch sie alarmieren würde.

Er konnte ihr jetzt nicht gegenübertreten, davon war er überzeugt. Er war auf die Finsternis, die Geheimhaltung angewiesen, um im Untergrund seine wenigen Kräfte zu sammeln, bis er zu einer Tat fähig sein würde. Der Vergleich gefiel ihm, da es nach den Jahren, in denen sie sich konspirativ geliebt hatten, nur natürlich erschien, auch den Krieg zwischen ihnen im Untergrund auszutragen. Weil sie sich bald anderen an den Hals geworfen hatte, mußte er etwas unternehmen, doch der starke Drang, der in ihm pulsierte, war nur ein blindes Bestreben, und er hatte keinerlei Vorstellung, wie er ihn in konkrete Handlungen umsetzen sollte. Zwar kamen ihm von Mal zu Mal äußerst fruchtbare Einfälle. Etwa der, die ganze Macht des Gesetzes auszunutzen, um Vergeltung zu üben, wie es in der Abteilung gang und gäbe war – nicht aufwendiger, »als ein Kanonenrohr in die entgegengesetzte Richtung zu bringen«, brachte er laut den Satz zu Ende, wobei er unversehens seinen Chef imitierte. Man konnte Beinstock, seinem Stellvertreter, einen unverbindlichen Hinweis hinwerfen, und der würde dann mit seinem Nachfolger in ihren Armen abrechnen, ganz ohne belastende Zeugenaussagen, aber doch auf der Grundlage irgendeiner Schuld, die eines Tages beglichen werden mußte. Alternativ wäre es möglich, einen anonymen Brief an Inspektor Becher zu schicken – den nun schon dritten Leiter der Untersuchungskommission, die mit dem peinlichen, noch unaufgeklärten Mord in der Stadtverwaltung befaßt war. Einen Brief, der unter anderem ein winziges, vertrauliches Detail enthalten würde, von dem allein der Mörder selbst oder aber eine ihm sehr nahestehende Person wissen konnte. Ein vertrauliches Detail, das Becher das Wasser im Mund zusammenlaufen und den Doppelgänger Blut und Wasser schwitzen lassen würde. Noch immer nannte er ihn bei sich »den Doppelgänger«, obwohl er schon vor einiger Zeit Namen und Identität des anderen herausgefunden hatte. Grund dafür war einfach, daß ihm der erste Mann, den sie sich nach ihm ins Bett gezerrt hatte, verblüffend ähnlich sah. Beide hatten sie dieselbe feste, proportionslose Massigkeit des Körperbaus, die gleichen schmalen Augen über einer breiten Nase und sogar den gleichen schwarzen, ungestutzten Bartwuchs, der die Wangen vollständig bedeckte. Ungeachtet des Schmerzes, der damit verbunden war, hätte man das Ganze als eine Art Entschädigung dafür auslegen können, daß sie ihn, Bresnitz, verloren hatte – ein romantischer Protest gegen ihr Unvermögen, das Rad zurückzudrehen –, wäre da nicht die schlichte, bestechende Tatsache, daß sie es war, die die Verbindung zu ihm abgebrochen hatte, und sie, die sie wiederherstellen konnte. Hinzu kam – was die romantische Lesart sogleich Lügen strafte –, daß dieser Doppelgänger in Wahrheit gar kein Doppelgänger war, sondern lediglich eine vulgäre Karikatur von ihm selbst. Alles an ihm ein muskelbepackter Gorilla; rein gar nichts hatte er von der Weichheit, um nicht zu sagen Schutzlosigkeit, die Bresnitz auszeichnete. Trotz der verblüffenden Ähnlichkeit war das Gesicht des anderen nichts als eine Ansammlung harter und unzugänglicher Züge. Nicht nur einer Spur sexueller Neugierde wegen warf sie sich in die Arme des Doppelgängers, wie ein kleines Mädchen, begrub endgültig die Jahre, die sie geteilt hatten, um nicht von jenen zu sprechen, die noch kommen sollten, und gleichzeitig sandte sie mit weiblicher Verschlagenheit Signale an jenen aus, von dem sie mit Sicherheit wußte, daß diese ihn nicht verfehlen würden. Der Mann, der darauf ansprach, war eben jener, der hier heimlich auf der Lauer lag und der sich dieses Mal bestimmt nicht des voyeuristischen Blicks in die Privatsphäre von Mitmenschen würde enthalten können. Sie beide wußten nur zu gut – auch wenn sie niemals darüber gesprochen hatten –, daß er sich auch zuvor nicht gescheut hatte, gelegentlich etwa ihre Telefongespräche abzuhören. Ja, sie wußte es sehr wohl, und auch er wußte, daß sie es weiß, während sie ebenso wußte, daß er es weiß, und gerade in diesem Versteckspiel des Voneinanderwissens bestand ungeachtet der von ihr konsequent vollzogenen Trennung weiterhin eine indirekte Verbindung zwischen ihnen beiden. Aber auch damit war die Sache noch nicht ausgestanden. Da sie praktisch dachte, suchte sie für ihn – sozusagen als letzte Bewährungsprobe – nach jener Provokation, die nicht einmal er würde ertragen können, sann auf eine Tat, die diesen Bären mit Hilfe einer glühenden Kohle aus seinem Winterschlaf reißen würde. Doch obwohl sein Pelz dieses Mal arg angesengt wurde und seine Augen vor lauter Rauch tränten, wog er zögernd seine Schritte ab, um schließlich – wie gewöhnlich – gar nichts zu tun. Erstens, da er sich immer so verhielt, und zweitens, weil der Doppelgänger inzwischen verschwunden und an seine Stelle ein nett aussehender, harmloser Ersatz getreten war, der sein Glück kaum fassen konnte, das ihn über Gebühr beschenkt hatte. Auch von diesem trennte sie sich dann, schneller noch als von seinem Vorgänger. Bresnitz verfolgte ihn zwar noch eine Weile mit dem Wagen, ließ ihn schließlich aber in der Menge untertauchen und verdrängte ohne Mühe die flüchtige Eingebung, den anderen über den Haufen zu fahren und so für immer aus der Welt zu schaffen. Nun jedoch war nicht klar, ob es einen dritten Mann gab. In den langen Stunden, die er hier gestern und heute ausgeharrt hatte, hatte er bislang noch keinen Hinweis auf dessen mögliche Existenz ausmachen können. Dennoch wußte er mit Bestimmtheit, daß dort in der Finsternis hinter dem Licht jemand bei ihr war.

 

Zu beiden Seiten des Wagens strömte die Finsternis unverdrossen in gleichbleibendem Rhythmus, als glitte das Fahrzeug auf einem schwarzen Fluß geräuschlos auf den dunklen Felsen des Mietshauses mit dem Leuchtfeuer ihres Fensters zu und zöge langsam daran vorüber, während dieses unverrückbar an seinem Platz blieb. Wie stets, wenn er unter Schlafmangel litt, schärfte sich sein Gehör, wurde demütig und verlor so sehr die Fähigkeit auszuwählen, daß er gleichzeitig die Zikade im Gebüsch, das Geflüster der wachhabenden Beamtin in der Leitstelle, die Vögel der Nacht und das Gewisper der Liebenden hören konnte. Aber da die Stille ringsum so grenzenlos war, entstand am Grunde seines angespannten Verstandes eine Leere, die sich zusehends ausbreitete und wie ein Strudel Erinnerungssplitter in sich aufsaugte, Teile des geborstenen Mastbaums, große Segelfetzen der Beziehung – um nicht zu sagen der Liebe –, die in dieser Finsternis gestrandet und untergegangen war. Doch wurden auch diese von einem noch frischen Überbleibsel zur Seite gedrängt: der letzten Nacht, in der er sie gesehen hatte, vor einer Woche erst, schon nach dem Schlußstrich und dem Doppelgänger, aber noch vor dem zweiten, dem Netten. Als er bei ihr eingedrungen war, nachts um drei an ihre Tür gehämmert hatte, und sie ihm, ohne auch nur eine Frage zu stellen, geöffnet hatte, so als wüßte sie Bescheid, sich mit geschlossenen Augen an ihn geschmiegt hatte, halbnackt und kaum erwacht, vor Hitze glühend wie einmal das Kind seines Schwagers bei einem Fieberanfall, als die Körpertemperatur plötzlich auf vierzig Grad hochgeschnellt war. Sehr früh am anderen Morgen war er gegangen, ohne daß sie viel miteinander gesprochen hätten. Lediglich an die Telefonrechnung hatte er sie erinnert, damit man ihr nicht erneut die Leitung abklemmte. Sie vergaß die Rechnung ständig und schob sie, soweit es ihr möglich war, wie alles andere auch vor sich her – Männer einmal ausgenommen, bei denen sie kurz entschlossen und systematisch handelte, wenn sie nur wollte.

Zugegeben, von ihnen beiden war eigentlich er derjenige, der ständig alles Mögliche auf die lange Bank schob: den Abschied von der Polizei etwa, oder richtiger die Entscheidung, sich von etwas freizumachen, das einmal vollkommen zufällig begonnen hatte; dazu die gemeinsame Reise ins Ausland, die niemals stattgefunden hatte, und natürlich die Hochzeit und die Scheidung. Wieder und wieder vertagte er die Entscheidungen, fuhr durch das Leben – so sagte sie immer – wie jemand, der, während alles an ihm vorüberfliegt, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt, anstatt das Lenkrad zu packen, wie es sich gehört, und vorwärts: Hand in Hand! Ganz bestimmt jedoch nicht mit einer Frau wie ihr, mit dieser krankhaften Verschwendungssucht, die teure Geschenke miteinschloß, mit denen sie ihn überhäufte und von denen er die meisten gar nicht in aller Öffentlichkeit zeigen konnte, ohne peinlichen Fragen ausgesetzt zu sein: goldene Kugelschreiber, extravagante Kleidungsstücke oder auch nur ganz normale, die er ausschließlich in ihrer Gegenwart tragen konnte – etwas, das beschämend und mehr noch unsinnig war.

Aber andererseits waren da ihr krankhafter Geiz und der innere Zwang, die wirkliche Obsession, alle nur erdenklichen Rechte und Vergünstigungen für Polizeibeamte auszuschöpfen, lächerliche Preisnachlässe, um billiger an ein Fernsehgerät zu kommen, einen Fön oder eine der modernen Plastikspülen zu kaufen. Dabei hätte sie niemals zugelassen, daß er ihr diese Dinge einfach selbst kaufte – etwas, das er in jedem Fall gehaßt hätte, da so zu seiner sonstigen Unzuverlässigkeit auch noch die finanzielle hinzugekommen wäre, und das zudem eine erhebliche finanzielle Belastung für einen Polizeioffizier wie ihn bedeutet hätte, selbst wenn man sein Dienstalter und alle Zulagen in Rechnung stellte. Oder die Haschischzigaretten, die sie sich plötzlich zu drehen begann, wenn er sich in ihrer Wohnung aufhielt. Sie genoß seine offensichtliche Verstörtheit, sein unbeholfenes Sichwinden, um irgendeinen Kompromiß zu der Eindeutigkeit des Gesetzes zu finden und zu der Rolle, die er verkörperte. Denn immerhin schlummerten in ihm bedingte Reflexe, zu deren stärksten Auslösern Drogen – jede Art von Droge – zählten: festnehmen, verhaften und verhören. Und somit das genaue Gegenteil zu jener vorgeblichen Indifferenz, um nicht zu sagen Defensivhaltung, in die er sich flüchtete, sooft sie es nicht bei stillem Groll oder ostentativem Rauchen vor seinen Augen beließ, sondern außerdem mit gleichsam berauschter Fröhlichkeit über die gestammelten Erklärungsversuche und dürftigen Argumente für seine hartnäckige Ablehnung der Droge spottete. Dabei ging er mit keinem Wort auf die dort zusätzlich vorhandene Ebene ein, da man in letzter Konsequenz – mochte die Liebe auch noch so kopflos sein – stets auf der Hut sein und Distanz wahren mußte, um keine absolute Abhängigkeit entstehen zu lassen und dem anderen nicht alle Karten auf einmal in die Hand zu geben. Er wußte, sie war sich darüber im klaren – auch wenn dieser Punkt niemals zwischen ihnen zur Sprache gekommen war –, daß er sich ihr in dem Augenblick, da er auch nur einen Joint mit ihr zusammen drehte, ausgeliefert hätte. Allein daß er zugegen war, während sie verbotene Drogen rauchte, und keine entsprechenden polizeilichen Maßnahmen ergriff, hätte bereits ausgereicht – zumindest für den Oberinspektor –, ihn ins Grab zu bringen und vielleicht sogar für immer den Fels darauf zu wälzen. Und für den Fall, daß er die Angelegenheit hätte vertuschen wollen, bestünden dazu kaum Aussichten für einen, über den hartnäckige Gerüchte kursierten, er habe damals als Dealer im Untergrund arbeitende Kollegen auf seinen dreizehnjährigen Sohn angesetzt, nur um diesen dann eigenhändig den Polizeibehörden übergeben zu können und selber als leuchtendes Beispiel für die anderen präsentiert zu werden, ganz zu schweigen von den Überschriften in der Presse. Und natürlich war da noch jene idiotische lesbische Affäre, lang zurückliegend, mit der sie sich immer wieder brüstete, wobei sie die Mischung aus Abscheu und Erregung genoß, die die Angelegenheit bei ihm hervorrief, obgleich von ihnen beiden eigentlich eher sie die Puritanische war.

Während er noch damit beschäftigt war, aus diesem Knäuel einen Faden nach dem anderen zu ziehen, war er sich in einem anderen Winkel seines Verstandes sehr wohl seiner jämmerlichen, Mitleid erregenden Fähigkeit bewußt, aus all dem etwas wirklich Greifbares zu formen. Eine vollkommene Gestalt, die unter der ursprünglichen, vollkommenen Gestalt zum Vorschein kam, welche ihm mit beängstigender Geschwindigkeit entglitt, seitdem er aufgehört hatte, sich Stunde um Stunde bei ihr aufzuhalten, über Jahre die unbegrenzte Manövrierfähigkeit bis zur Neige auskostend, die ihm seine Stellung als Detektiv, als Polizeioffizier verschaffte. Es hatte keine Tage, keine Nächte, keine Familie mehr gegeben – nur eine Frau, die schon seit langem keine Nachforschungen mehr anstellte, nichts mehr forderte, nur zusehends schweigsamer wurde, ihr Leben an seiner Seite lebte, ein Leben ohne Kinder in einer Verbindung, die mehr als alles andere die Jahre zusammenfügten. Und von allen Dingen auf der Welt erinnerte er sich jetzt ausgerechnet, wie sie, die Verstecktgehaltene, einmal vor ihm getanzt hatte: einen wilden und sehr sinnlichen Tanz, zugleich aber auch unverkennbar lächerlich und unangenehm anzuschauen wegen der deutlichen Diskrepanz, die zwischen dem vordergründigen Bild – eine Frau, die sich zum Takt der Musik bewegt – und dem bestand, was im Tanz ausgedrückt wurde und sich dahinter verbarg. Genaugenommen wollte er sich nicht über Gebühr damit auseinandersetzen – Ambitionen verschiedener Art und etwas Künstlerisches, das nicht ausgeformt wurde, banale Aspekte, die, wie er annehmen konnte, sicherlich auch bei ihm vorhanden waren, etwa seine einstigen stotternden Versuche, etwas zu Papier zu bringen.

Bemerkenswert war, daß sie ihn trotz all der Rituale und der himmelschreienden Unsicherheit, die sie ihm gegenüber an den Tag legte, hinterher nicht fragte und in keiner Weise interessiert schien, wie er es gefunden habe. Am meisten jedoch überraschte, daß dieses Verhalten nicht von Furcht oder gar Angst vor seiner Reaktion herrührte, sondern von einer Art kalter Gleichgültigkeit, ja fast schon offener Geringschätzung. Um diesen Eindruck zu verscheuchen, beeilte er sich, ihr von seiner ersten Freundin aus der Zeit zu erzählen, als er das Kommando über eine Nachal-Einheit im Kibbuz geführt hatte. Aus irgendeinem Grund war diese immer an dem Abend zu Besuch gekommen, an dem einmal wöchentlich Volkstänze veranstaltet wurden, hatte im Speisesaal trotz seines drängenden Flehens bis spät in die Nacht getanzt, während er, der ohnehin Volkstänze haßte, mit sehnsüchtigem Blick hatte zusehen müssen, wie sie ihre sexuelle Energie bei diesen schwachsinnigen Polkas auf der Tanzfläche vergeudete. Am Ende war nur etwas Ausgepreßtes, von aller Lebenskraft Verlassenes übriggeblieben, das er hinter sich her zur Baracke seiner Jungs geschleift hatte – einem verschissenen Ort, an dem man es entweder bei grellem, blendendem Neonlicht treiben konnte – wozu sie niemals ihre Zustimmung gegeben hätte und dies zu Recht – oder aber bei bleierner, totaler Finsternis, die ihn in fürchterliche Orientierungslosigkeit versetzte, wie es manchmal bei vernommenen Personen zu beobachten war. So sehr, daß nicht einmal ihre vollkommene Bewegungslosigkeit ihn vor allerlei merkwürdigen und grotesken Fehlgriffen bewahrt hatte, die er je länger, desto mehr übertrieb, bis es ihm schließlich gelungen war, seine Geliebte zu einem wilden, häßlichen Lachen zu bewegen, das – wie nicht anders zu erwarten – im Bett verstummt war, wo zu guter Letzt viel Liebe zwischen ihnen regiert hatte.

Was bestimmt jetzt auch bei ihr auf dem breiten, geräuschlosen Bett der Fall war, wo nicht eine Feder ihr Geheimnis preisgab, während er hier von der Beklemmung der Einzelzelle gepackt wurde, im schwarzen Grab des Wagens, der im großen schwarzen Grab der Finsternis ruhte. Diese finstere Nacht, die Wolken ohne Mond und diese Ader auf seiner Stirn – eine Einzelzelle schwärzer und düsterer als alle anderen, in der sie mit seinem Nachfolger gefangen saß und sie sich völlig enthemmt gehenließen. Man müßte sie nackt heraustreiben, ihr das Gesicht zerschneiden oder wenigstens die Reifen ihres Wagens, der hier vor ihm parkte, so wie es der kleine Ungar mit den großen, falschen Diamanten bei ihm gemacht hatte, sie in dieses schwarze Grab hinabziehen mit seinen Händen um ihren Hals, seinen großen, locker herabhängenden Händen, von denen nicht einmal der liebe Gott sie hätte befreien können, wenn diese erst einmal ihren Kehlkopf zusammendrückten. Der Gedanke ließ ihn – wie immer bei einem seiner Anfälle von Haß – die Zähne wie ein kleines Tier blecken, die Augen schließen und, ohne zu wissen, was mit ihm geschah, wenigstens zeitweise in ein richtiges schwarzes Grab sinken, da er mit einem Mal eingeschlafen war, aufrecht am Lenkrad sitzend wie bei einer Parade, als habe sein Geist sich bereits erlaubt, was der Körper sich noch nicht gestattete.

Wenn er tatsächlich unter Haßanwandlungen eingeschlafen sein sollte, so war sein Erwachen diffuser und bei weitem schwerer einzuschätzen. Es schwang darin etwas von der Erniedrigung eines nicht mehr ganz jungen Mannes mit, der es nicht geschafft hatte, seine Augen geöffnet zu halten, während seine Geliebte sich einem Nebenbuhler hingab. Er hatte das seltsame Gefühl, jemand rufe ihn bei seinem Namen, spreche ihn mit biblischer Stimme von oben herab aus den Wolken an, während er noch so tat, als schliefe er. Etwas, das er sich später, nach dem Unfall, als Versuch erklärte, seinen Schlaf – mit Sicherheit war er nur für einige Minuten eingenickt – durch einen hastig improvisierten Traum gegen die unerbittlich sich wiederholende Nennung seines Namens im Polizeifunk zu schützen. Vielleicht war es sogar die Stimme des erzürnten Oberinspektors selbst, die nach ihm fahndete. Mehr als durch alles andere aber war sein Erwachen bestimmt von vollkommener Orientierungslosigkeit in absoluter Finsternis, die sich sogleich aufzuhellen begann und zu einer schrillenden Alarmglocke in seinen Ohren wurde. Das Licht in ihrem Fenster war erloschen, Dunkelheit hatte sich über den ganzen Block gelegt, was – soweit sie ihre Gewohnheiten nicht geändert hatte – nur bedeuten konnte, daß trotz alledem niemand bei ihr gewesen war, oder aber, daß dieser jemand sich davongemacht hatte, während er hier noch schlief. Noch bevor diese Situation seinem sehr erregten und verwirrten Hirn völlig klar war, ging das Licht – beinahe wie ein Signal – wieder an und entflammte die ganze Kette der runden Doppelfenster des Treppenhauses. Die jetzt geforderte Eile beseitigte die Notwendigkeit, zu einem Entschluß zu kommen, und befreite ihn aus seinem Sitz, in dem er in den zurückliegenden Stunden wie hineingegossen gesessen hatte. Leise, aber zügig öffnete er die Tür des Wagens. Seinem blinden Bestreben waren mit einem Mal Beine gewachsen, auf denen er mit langen, geschmeidigen und trotz seiner Körperfülle geräuschlosen Sätzen vorwärts schnellte, um niemanden aufzuschrecken – noch nicht.

Zu seinem Glück verharrten sie noch an ihrer Wohnungstür, denn er konnte ihr Geflüster hören, auch wenn es zu leise war, als daß er etwas hätte verstehen können. Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sprach wieder der Mann: »Danke«, sagte er mit einer gewissen Ernsthaftigkeit – so jedenfalls klang es. Sie antwortete nicht. Er konnte förmlich ihr Lächeln sehen, während sie darauf wartete, daß der andere ging. Die Tür fiel ins Schloß, als er bereits neben dem Sicherungskasten war. Diesen Trick hatte er in der Vergangenheit schon mehrfach angewandt – jedoch stets im Dienst. Einen Augenblick lang suchte er und drehte dann die Sicherung für das Treppenhaus heraus. Die Dunkelheit kam völlig überraschend, und die eben noch sicheren Schritte des Mannes, der kaum ein Stockwerk geschafft hatte, stockten plötzlich, begleitet von einem Ausruf des Erstaunens. Jetzt würde er sicherlich versuchen, den Lichtschalter zu finden – keine leichte Aufgabe in diesem heruntergekommenen Haus, dessen Schalter schon seit langem nicht mehr in der Dunkelheit leuchteten. In der vollkommenen Stille konnte man hören, wie sein Finger nach einigem Tasten auf den Schalter drückte. Dann erklang ein unterdrückter Fluch, gefolgt von vorsichtigem, regelrecht mäuseähnlichem Trippeln der Füße über die unsichtbaren Stufen, das mit der Zeit immer deutlicher wurde, weil der andere herankam und sich außerdem zusehends sicherer fühlte – zu sicher: Sein einer Fuß verfehlte eine Stufe, worauf er gegen die Wand prallte, als die Gestalt schon dicht vor ihm war. Das einsetzende Gefühl der Erleichterung über das nahende Ende des Abstiegs wurde mit Sicherheit in dem Augenblick von einem greifbaren Grauen verdrängt, da ihn die große, finstere Person mit schwarzem Vollbart anfiel.

Bresnitz konnte gerade noch einen Schattenriß von mittlerer Größe und das matte Aufblitzen von Brillengläsern ausmachen, als er selbst bereits in einer Bewegung gefangen war, die zur Hälfte aus verhaltener, antrainierter Gewandtheit und zur Hälfte aus einer dunklen Welle von Erleichterung und Haß bestand, die sich aus tagelang währender Untätigkeit speiste. Kurz und gut – er schlug ihn, hieb seine Faust wie mit einem Schlagstock von oben nach unten, ein Schwinger, welcher den Mann, der in Panik zurückfuhr, am Hals traf und ihn gegen die Wand warf, was den Schreckensschrei im Ansatz erstickte. Ganz langsam glitt der Mann zu Boden und blieb sitzen. Fast so, als denke er in tiefer Konzentration, die durch nichts – außer vielleicht durch die schweren, beinahe fliegenden Atemzüge aus seiner Kehle – zu erschüttern war, über etwas nach.

Bresnitz stürmte hastig mit jenen für ihn typischen Hüpfern zum Wagen zurück, die Beinstock einmal in Vollendung auf den Fluren des Reviers nachgeahmt hatte, und als er dann vor dem Hintergrund der ringsum herrschenden tiefen Stille mit ohrenbetäubendem Lärm startete, brannte das Licht in ihrem Fenster unverändert. Dasselbe Licht, das ihn Tag für Tag auf seinem Beobachtungsposten festgenagelt hatte, ließ ihn nun eine Art kopflosen Rückzug antreten. Einige Zeit trieb er das Fahrzeug zu halsbrecherischer Geschwindigkeit, raste über die leeren, glänzenden Straßen, vorbei an orangegelb blinkenden Ampeln, die er ungerührt passierte, ohne auch nur einen Blick zur Seite zu werfen, bis ihn schließlich die große, endgültige Müdigkeit überkam. Es war, als verlangten all die schlaflosen Stunden nun, da die Mission erfüllt war, nach Wiedergutmachung, als forderten sie ihren Tribut und dies sofort. Der völlig übermüdete, beinahe am Boden zerstörte Mann klammerte sich jetzt mit ebensolcher Mattigkeit ans Lenkrad, wie sein Verstand bemüht war, die losen Enden seiner Gedanken zu fassen zu bekommen, die ungebunden über den »Preis des Grauens« sinnierten. Die Vorstellung, er könnte mit seinem Wagen ausgerechnet auf dem Heimweg von der erfolgreich abgeschlossenen, gefährlichen Mission zerschellen, war beängstigend und vor allen Dingen ermüdend, weitaus weniger jedoch als die Alternative: die graue, verschlammte, deprimierende und unendliche Ödnis der Arbeit, die ihn auf dem Revier erwartete und sich – wie alles andere Triviale auch – in unerträglich konkreter Form in der Visage von Becher, dem Oberinspektor, und natürlich in der von Beinstock manifestierte. So als sei es einer einzigen Visage, die er sich jetzt beim besten Willen nicht in Erinnerung rufen konnte, vorbehalten, ihm die abstoßende Mischung aus übertriebener Geschäftigkeit und Eintönigkeit vor Augen zu führen, die diese Arbeit zumindest in trost- oder humorlosen Stunden für ihn bereithielt. Doch da war noch etwas anderes: ein schlichtes und eindeutiges Gefühl von Bestürzung, das ihn seit der Trennung nicht mehr losließ – Bestürzung darüber, sie, die Geliebte, für immer verloren zu haben, und eine etwas allgemeinere Form der Bestürzung, die jeder folgenschwere Vorgang, jeder Würfel, der in seinem Leben fiel, bei ihm auszulösen pflegte.

Dagegen hatten die hoch aufragenden, vorüberfliegenden Strommasten etwas Freundliches, erschienen sie stark genug, um sich einige Zeit an sie zu pressen und so die ersehnte Ruhe zu gewinnen. Dies war nicht mehr als ein kindischer Gedanke, der ohne Unterstützung durch andere Regionen seines Körpers blieb, da seine Hände, sooft er bemüht war – und sei es nur versuchsweise –, mit einer Lenkbewegung diesen massiven Pfeilern näher zu kommen, von selbst das Lenkrad wieder in die richtige Position brachten. »Martin, Martin Eden«, summte er vor sich hin, als er an die ungehorsamen Gliedmaßen jenes Helden erinnert wurde, die seinen Versuch, sich in den Fluten das Leben zu nehmen, vereitelt hatten. »Meinem Wagen das Leben nehmen«, sinnierte er lächelnd und passierte eine Gruppe arabischer Arbeiter, die sich in Schweigen gehüllt an der Straßenecke eingefunden hatten und durch die aufziehende Dämmerung vielleicht noch weniger zu begeistern waren als er selbst.

»Auch einer noch so müden Straße ist es am Ende bestimmt, an eine Ampel zu gelangen«, sagte er bei sich und beschloß, die letzten Überreste seines Selbstzerstörungstriebs auszukosten, indem er noch einmal beschleunigen wollte, um dann im allerletzten Augenblick vor der auf Rot umspringenden Ampel in jener typisch männlichen Art zum Stehen zu kommen, so wie sie selbst es immer tat. Doch in genau dieser Sekunde, zu Beginn der Beschleunigungsphase, tauchte jenes Tier, Hund oder Katze, vor ihm auf – alles, was unmittelbar vor dem Unfall geschah, sollte später in seinem Gedächtnis bis zur Unkenntlichkeit verwischt werden. Trotzdem erinnerte er sich nachher daran, wie es ihn auf das Lenkrad warf, und sogar an seinen Gedanken, daß er tatsächlich einen Weg gefunden hatte, seinen streikenden Muskeln ein wenig Tierliebe aufzuhalsen, als der Wagen nach rechts ausbrach. Dann das Kreischen der Reifen, als er – selbstverständlich zu spät – das Lenkrad wild herumriß, die hohe Steinbrüstung, die eben dort den schmalen Gehsteig begrenzte und der er fast noch ausgewichen wäre – aber auch nur fast. Es folgte das fürchterliche Geräusch beim Aufprall und der Geschmack des Blutes, das seinen Mund überflutete, ein Geschmack – so hätte er schwören können –, den er schon seit Jahren dort wahrgenommen hatte. Dann wurde es dunkel. Doch aus dieser Finsternis heraus – auch das hätte er beschwören können, obwohl ihm niemand glaubte – hörte er zunächst die jaulende, etwas zu dramatische Sirene des Krankenwagens, die Zwillingsschwester der Polizeisirene, welche er aus erster Hand kannte, und dann die quengelnde, feuchte Stimme von jemandem, der ihn auf die Trage hob – einer von zweien. »Warum kriege immer ich die Fetten ab?« Etwas, wogegen er sofort protestierte, so wie er sich stets gegen ähnliche Vorhaltungen aus ihrem Mund verwahrt hatte. »Ich bin nicht fett, nur ein wenig rundlich«, sagte er laut, auch wenn seine Stimme nicht zu hören war.

 

Wie zu erwarten war, begann jetzt eine nicht enden wollende, von vermischten Gefühlen bestimmte und verschwommen dahinsiechende Zeit für ihn. Während noch zahlreiche hochqualifizierte Personen um seinen körperlichen Zustand bemüht waren, versuchten andere, nicht ganz so zahlreiche, ihn bei Laune zu halten und ein Gespräch mit ihm zu führen, um ihrer Pflicht beim Krankenbesuch Genüge zu tun. Da sein Verhältnis zu ihnen zu oberflächlich war, als daß es einer richtigen Unterhaltung hätte Substanz geben können, war ausgerechnet er, der Verbundene, der Schwerverletzte, gezwungen, die Last auf sich zu nehmen, da ihre schwerfällige Hilflosigkeit – um nicht zu sagen, ihr Unbehagen angesichts des massigen, unter viellagigen Verbänden verborgenen Mannes – zu offenkundig war, um einfach von ihm übergangen zu werden. So überraschte er sich dabei, wie er ihnen jedes Wort aus der Nase zog, ein Frage- und Antwortspiel trieb und ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit sogar mit ihnen scherzte und gemeinsam lachte, was insgesamt der Strategie bei Zeugenvernehmungen glich. Auch wenn diese Art Verhör reiner Selbstzweck war, so hatte die gönnerhafte Gesprächigkeit gegenüber seinen Besuchern vielleicht noch einen anderen, tieferen Grund. Niemals zuvor, so erschien es ihm, hatte er eine derart lange Phase ohne jegliche Selbstprüfung durchlebt. Stellte man sein introvertiertes Wesen und die endlosen Tage und Nächte unfreiwilliger Tatenlosigkeit in Rechnung, die eigenen körperlichen und seelischen Qualen ebenso wie die der anderen, dazu seine überraschende Schwierigkeit beim Lesen, das plötzlich auftretende Unvermögen, den toten Buchstaben etwas abzugewinnen, wie bei einem chronischen Raucher, der mit einem Mal den Tabakgeschmack nicht mehr ertragen kann – stellte man also all dies in Rechnung, so hätte sich ihm nun eine ausgezeichnete Gelegenheit geboten, jede noch so vernachlässigte Ecke seines Unterbewußtseins, Nebenbewußtseins und was es dort noch so alles gab zu durchstöbern und unter die Lupe zu nehmen. Doch anstatt nach innen abzutauchen, wanderten seine Gedanken mit dumpfer Beharrlichkeit nach außen – wenn man die Unmenge farbloser Details tatsächlich so bezeichnen will, mit denen er sich beschäftigte –, zu der kleinen Topfpflanze mit der gespaltenen Oberlippe etwa, der Hinterlassenschaft eines ehemaligen Patienten, deren schlaff herabhängende Knospe, die sich einer eindeutigen botanischen Bestimmung entzog, trotz der mäßig hingebungsvollen Pflege durch eine der Krankenschwestern niemals erblühen würde. Bresnitz sinnierte bei sich über jene Menschen – einen von ihnen hatte er in diesem Krankenzimmer sogar noch kennengelernt –, denen es bestimmt war, aus dem Leben zu scheiden, ohne daß ihnen zuletzt ein intelligenterer Anblick vergönnt gewesen wäre. Weiter als bis hierher begab er sich fast nie.

Natürlich galt es, über den Tod nachzudenken. Ein Umstand, der nicht zu ignorieren war und dem er nach Auskunft der Ärzte dieses Mal nur um Haaresbreite entkommen war. Sein Gefühl aber war ein anderes. Wenn man nach einer gewissen Ordnung zusammenstellt, was ihm in unregelmäßigen Abständen, willkürlich und unsortiert durch den Kopf ging, so war er der Ansicht, daß er sehr wohl dem Tod begegnet war und … nichts passiert war! Fast als sei er Iwan Illitsch – so nannte er sich selbst, um die russische Krankenschwester auf der Abteilung zu amüsieren –, der zunächst erkennen mußte, daß seine Krankheit unheilbar und sein bisheriges Leben ein bodenloser, schwarzer Abgrund gewesen war, um dann mit Hilfe einer neuen Medizin oder Untersuchungsmethode geheilt zu werden und … sein Leben ungerührt fortzusetzen, als sei nichts geschehen. Eine nach allgemeinem Verständnis erschütternde Möglichkeit, die Bresnitz jedoch nicht aus der Fassung brachte. Wandte er sich also konsequent der Außenwelt, den Menschen in seiner Umgebung zu? Bemühte er sich, mit den übrigen Kranken zu sprechen, die kamen und gingen, und so zwangsläufig von ihren kleineren und größeren Schicksalsschlägen zu erfahren, die vor jedem geduldigen Zuhörer ausgebreitet wurden? Nein, nichts weniger als das. Bresnitz vermied es sogar, mit den Krankenschwestern zu flirten oder mit ihnen zu spaßen, obwohl er offenbar beste Chancen gehabt hätte, da die Schwestern fasziniert die Besucherflut in Uniform verfolgten, die seit seiner Einlieferung das Krankenlager umströmte, mit der Zeit etwas ausdünnte, aber niemals ganz abriß. Wie er später herausfinden sollte, verbarg sich dahinter die strikte Anweisung des Oberinspektors. Der Vorstellung, ein wenn auch nicht besonders ranghoher, so doch zumindest mit der Aufklärung von Mordfällen beschäftigter Polizeioffizier kämpfe hier, auf ihrer Station, um sein Leben, hafteten etwas Aufregendes und ein gewisser Nervenkitzel an. Auch die Ärzte zeigten sich beeindruckt, und der Scharfzüngigste unter ihnen, dessen abgrundtiefe Abneigung gegen den Oberarzt unschwer auszumachen war, vertraute ihm vielleicht scherzhaft, zweifellos aber verbittert an, diejenigen, die ihn – dessen Spezialgebiet die Aufklärung von Mordfällen sei – hier eingeliefert hätten, ahnten nicht, wie gut sie es getroffen hätten.

Nein, seine Gedanken gingen weder nach innen noch nach außen. Bresnitz ließ diese monotonen Tage in einer Art ergebener und schweigsamer Abgestumpftheit an sich vorüberziehen, einmal abgesehen von jenen schon erwähnten Besuchszeiten, in denen seine Rede nur so sprudelte. Nicht zuletzt war Bresnitz bemüht, bei seinen treuesten Besuchern – an erster Stelle seiner Frau und deren Bruder – keine übertriebene Sorge entstehen zu lassen, kein wie auch immer geartetes Mißtrauen, das sein trübsinniges Grübeln hätte wecken können. Was hingegen die Besucher aus den Reihen der Polizei betraf, so sollte ihr Erscheinen all jenen schon nach der Beute Geifernden unmißverständlich und nachdrücklich signalisieren, daß Bresnitz noch nicht passé war, daß er noch nicht gedachte, seine Streifen abzulegen und zu verschwinden, da der Zwischenfall wohl seinen Körper außer Gefecht gesetzt, die Schrauben in seinem Hirn aber noch nicht gelöst hatte.

Bresnitz selbst, so paranoid er auch sein mochte, durchschaute offenbar nicht, wie wohlüberlegt und angebracht dieses Signal war – zum einen mit Blick auf die negativen Auswirkungen seiner langen Abwesenheit an sich, und zum anderen, da jenes ständige Gefühl, nur auf der Durchreise zu sein, das ihn in all den langen Jahren bei der Polizei begleitet hatte, entgegen seiner eigenen Überzeugung niemandem verborgen geblieben war. Hinzu kam noch die – später von ihm so sehr bereute – Übereile, mit der er in den ersten, bewußt erlebten Stunden nach dem Unfall alle Welt in das Geheimnis des Hundes oder der Katze einweihte, die er vor dem Tod durch Überfahren hatte bewahren wollen. Die Gelegenheit auszulassen, irgendeiner räudigen Katze, die unter die Räder geraten war, den Garaus zu machen, erschien vielen seiner Kollegen schon reichlich verschroben, doch deshalb auch noch den Wagen und sich selbst zu zerlegen – das zeugte von absoluter Idiotie und Unzurechnungsfähigkeit. Was aber irgendwen – wie es schien, den Oberinspektor höchstpersönlich – nicht abschreckte, die Geschichte an einen der Polizeireporter weiterzureichen. Dieser wiederum beeilte sich, einen hübschen Artikel über den Polizeioffizier, diesen stadtbekannten Mörderhäscher, zusammenzustellen, der sein Leben für einen Hund aufs Spiel gesetzt hatte – inklusive eines Fotos mit der Überschrift: »Wer auch nur einen Hund in Israel rettet …« Im Präsidium sank Bresnitz’ Popularität daraufhin auf einen nicht mehr zu unterbietenden Tiefstand, während seine Beliebtheit auf der Krankenstation einen noch nicht dagewesenen Höhepunkt erreichte. Für zwei oder drei Tage sah sich der bemitleidenswerte Bresnitz sogar der sehr reellen Gefahr ausgesetzt, eine Ehrenurkunde oder am Ende gar eine Medaille vom Tierschutzverband verliehen zu bekommen. Zu guter Letzt gelang es ihm, den Angriff abzuwehren, allerdings nicht, ohne ein kostenloses Jahresabonnement der Verbandszeitschrift zu bekommen.

Aus seiner Sicht der Dinge zeitigte der lächerliche Zeitungsartikel jedoch noch ein weiteres, ganz und gar nicht komisches Resultat. Das öffentliche Bekanntwerden seiner Verletzung machte auch den letzten Rest Hoffnung zunichte, ihr beharrliches, vollständiges Untergetauchtsein, ihr unglaubliches Sichweigern, ihn in dieser ganzen Zeit auch nur einmal zu besuchen, beruhe auf ihrer Unkenntnis der Lage. Auch zuvor hatte er nur schwerlich glauben können, daß ihr – trotz ihrer beider sorgsam getrennten Lebenskreise – die Kunde von seinem Unfall nicht zu Ohren gekommen war, und sei es rein zufällig. Wenn man die hingebungsvolle Ausdauer in Betracht zog, mit der sie an jedem neuen Tag die Zeitung verschlang, ohne dabei eine auch noch so idiotische Belanglosigkeit zu übergehen – mit Leichtigkeit konnte er sich den genauen Winkel in Erinnerung rufen, in dem ihre Beine dabei auf dem Tisch lagen –, wenn man also dies alles in Betracht zog, bestand keinerlei Aussicht mehr für die Annahme, sie habe von seiner Verletzung noch nichts erfahren. Daher blieb ihm nur die Schlußfolgerung, sie ignoriere bewußt seine Verletzung, vermeide es vorsätzlich, ihn zu besuchen und ihm gute Besserung zu wünschen. Daß sich so etwas zwischen ihnen ereignen konnte, wäre nur sehr schwer vorstellbar gewesen, hätte es sich jetzt nicht genau so abgespielt. Bedachte man die besondere Qualität ihrer Verbindung, einer Verbindung, die keine Funkstille, keine momentane Trennung auf einen Schlag ungeschehen machen konnte, so war das baldige Auftauchen an seinem Krankenbett – bei aller aus verständlichen Gründen gebotenen Vorsicht – schlicht ein Gebot der Stunde. Selbst wenn man ihre besondere Beziehung außer acht ließ, hatte ihr beharrliches Fernbleiben etwas Unerbittliches und Grausames, wie er es sich nicht hatte ausmalen können, denn immerhin herrschten in diesem Leben so etwas wie die Regeln eines Dramas – mag sein eines Melodramas –, denen sich alle – und dies zu Recht – unterwarfen. Ganz eindeutig gehörte der Fall eines Mannes, der, ans Krankenlager gefesselt, von seiner ehemaligen Geliebten gefüttert wird, zu diesem Regelwerk. Daher hätte er ihr Erscheinen – wenn sie dies nicht gewollt hätte – auch nicht als Verzeihen, reumütige Rückkehr oder als irgendeine andere Geste von dauerhafter Bedeutung ausgelegt, sondern als schlichten und notwendigen Gehorsam gegenüber dieser allgemein befolgten Regel. Doch sie gehorchte nicht, sie erschien nicht, und genau darin lag die Erklärung für alles, des Rätsels Lösung: Wenn er – seit er sich in jener Nacht von ihr fortgeschlichen hatte – weder innen noch außen wirklich existierte, weder in der Dunkelheit noch im hellen Licht, so war dies auf ihr unerklärliches Fernbleiben zurückzuführen, auf die Abwesenheit der Frau, der Geliebten, die es nicht mehr zu geben schien. Etwas, das nicht einmal ihr plötzlicher Tod erklären konnte – ein Umstand, vor dem er sich gefürchtet und den er insgeheim sogar erhofft hatte –, denn in dem Augenblick, da er sich wieder auf den Beinen halten konnte, hatte er sie von dem öffentlichen Münzfernsprecher auf der Station aus angerufen, ihre Stimme gehört und aufgelegt.

 

Sechs Monate nach jener Unfallnacht trat Bresnitz zum ersten Mal wieder durch die Schwingtür des Polizeireviers, vorschriftsmäßig in Uniform gekleidet, wie er es oft bei besonderen Anlässen tat. Er kam an dem wachhabenden Beamten vorbei, der ihm mit dem Daumen eine unklare, aufmunternde Geste machte, stieg ein halbes Stockwerk die Treppe hinunter und betrat – wobei er instinktiv den Kopf einzog, was die nicht normgerechte, noch aus der Mandatszeit stammende Tür verlangte – den Flur seiner Abteilung, der Abteilung für Gewaltverbrechen.

Wie erwartet, sorgte seine Rückkehr für keine besonderen Gefühlsausbrüche. Dies hinderte Bresnitz jedoch nicht, sich ohne ersichtlichen Grund wie jemand zu fühlen, der bei einer feierlichen Zeremonie abgelichtet wurde. Gleichzeitig kämpfte er gegen das Gefühl von Fremdheit an, das ihn angesichts der ihm nur zu vertrauten Szenerie des Flurs befiel. Dessen einzige Ausschmückung, die die weißlichmediterrane Trostlosigkeit auflockern sollte, bestand in den roten Feuerlöschern, die penibel alle paar Meter angebracht waren, als befürchte jemand einen Großbrand, der just hier auszubrechen drohte. Eilig passierte Bresnitz die offenstehenden Diensträume zu seiner Rechten und Linken und war bereits bei seinem eigenen Büro angekommen, der »Höhle«, wie er es wegen der Diskrepanz zwischen der räumlichen Enge und der bärenhaften Ausmaße der Benutzer bei sich nannte. Inmitten der allgemeinen Verwahrlosung bemerkte Bresnitz auf seinem Schreibtisch sofort ein kleines, in billiges Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen. »Willkommen zurück, von Michal« stand auf dem Zettel neben der Schokoladenschachtel, die ohne Zweifel in der Kantine im zweiten Stock gekauft worden war. Obgleich er sich nicht sonderlich nach der zierlichen Ermittlerin aus der Abteilung für Jugendkriminalität verzehrte, ertappte sich Bresnitz – zu seiner eigenen Überraschung – dabei, wie er eine unverhoffte Träne aus dem Augenwinkel wischte. Dann folgten noch einige Telefonate, eines davon mit dem Oberinspektor, der ihm fernmündlich aufmunternd auf die Schulter klopfte und ihn wissen ließ, die Verbrecher hätten sich leider nicht solidarisch gezeigt und während seiner Abwesenheit zur Ruhe gesetzt, »Genaueres ist schon unterwegs …«. Auch Becher schaute für einen Moment bei ihm rein und schnüffelte aus Neugierde, der jede Spur von Sympathie fehlte, was es Neues gäbe. Und damit waren eigentlich alle Willkommenszeremonien beendet.

Beinstock erschien mit laut schlurfenden Schritten, obwohl er bei Bedarf geräuschlos wie eine Katze schleichen konnte. Er türmte einige Akten auf Bresnitz’ Schreibtisch auf und sagte: »Das war’s erst mal, zumindest bis was Frischeres kommt.«

Zerstreut begann Bresnitz in den Akten zu blättern, während der magere junge Mann mit dem glatten Kindergesicht einen verstohlenen Blick auf ihn warf, als könne er noch nicht mit Gewißheit sagen, ob der zurückgekehrte Bresnitz immer noch der alte sei. In den Akten fand sich die Explosion eines Wagens, in dem irgendeine Größe aus den erbärmlichsten Gefilden der Unterwelt gesessen hatte, die sich jetzt noch ein wenig tiefer befand; dann der Mord an einem armseligen, kinderlosen Greis, der angesichts derartiger Lebensumstände schon fast als aktive Sterbehilfe einzustufen war; der verlassene Leichnam eines nicht identifizierten Mannes, der vor einigen Monaten im Waldgebiet von Beit Schemesch entdeckt worden war und von niemandem vermißt wurde; und zu guter Letzt ein ehemaliger Gefängnisaufseher, der nun keinen mehr hinter Gitter bringen würde. Bresnitz ließ in seinem Hirn die trägen, abgegriffenen Ausdrücke, die aus dem örtlichen Jargon nicht wegzudenken waren, sich fast von selbst formen, während er unterdessen darüber sinnierte, daß er es nach den hier geltenden Maßstäben genaugenommen nur mit belanglosen Opfern zu tun hatte, die von unbedeutenden Mördern aus der Welt geschafft worden waren. Und genau deshalb hatte der Oberinspektor seinen Schreibtisch mit ihren Akten überschüttet, während er sich die fetteren Happen, die dramatischeren und medienwirksameren, für die eigene Gefolgschaft aufhob. Diese Erkenntnis machte Bresnitz mehr zu schaffen, als er zuzugeben bereit war, zumal er wußte, daß es genau das war, was Beinstocks Blick in diesem Moment an ihm registrierte.

»Ich wette, daß bald auch noch der Fall aus der Stadtverwaltung bei uns landet. Becher quält sich schon seit Ewigkeiten damit ab, und nichts tut sich«, sagte Beinstock, als antworte er auf eine Frage, die nicht gestellt worden war.

Bresnitz erwiderte nichts, sondern stöberte statt dessen weiter in den Akten, um auf irgend etwas zu stoßen. Ein Meer von Papieren, Skizzen, Fotos, Laborberichten, Zeugenaussagen, Seite um Seite Zeugenaussagen, die bereits von unzähligen Augenpaaren auf der Suche nach einem Hinweis durchforstet worden waren, nach einem Anhaltspunkt, um weitere Gründe für zusätzliche Maßnahmen zu finden, um eine letzte Zeugenaussage aufnehmen zu können, die der Untersuchung dann eine neue Richtung weisen würde, und so weiter und so fort – archäologische Ausgrabungen, die selbst zu Ausgrabungsstätten wurden, und womöglich war er nur dieser sonderbaren Zeugnisse wegen hier gelandet. Geschichten ohne Anfang und ohne Ende, realistischer als das Leben selbst, warteten entweder auf den nächsten Ermittler, der sie vielleicht um einige Seiten anreichern würde, oder aber auf den Fluß der Zeit, der zum einen stetig alle Spuren verwischte, zum anderen jedoch manchmal neue Fakten aus dem Nichts gebar.

»Der Chef meint, wir sollten uns hauptsächlich auf den Aufseher konzentrieren«, sagte Beinstock. »Von irgendwoher wird da Druck gemacht.«

»Und was ist hiermit?« fragte Bresnitz und pochte mit den Fingern auf die magere Akte der Leiche aus dem Wald.

»Nichts zu holen«, sagte Beinstock. »Wir wissen nicht einmal, wer das ist. Eingeschlagener Schädel, und das war’s.«

»Keine Anzeichen eines Kampfes? Keine besonderen Merkmale?«

»Der Untersuchung zufolge hat er dort eine ganze Weile als Toter gelegen, bis man ihn gefunden hat, weshalb nicht viel von ihm übriggeblieben ist.« Beinstock wechselte zu seinem eigenen Schreibtisch, während Bresnitz weiter in den Akten stöberte, eine Runde und noch eine Runde – es waren die ersten Eindrücke, die man vor der Flut an Details in Schutz nehmen mußte. Noch immer steckte dieses Gefühl der Fremdheit und der Kraftlosigkeit in ihm, das sich in den sechs Monaten seiner Abwesenheit vom Dienst breitgemacht hatte. Vielleicht landete er deshalb zuletzt wieder bei der dünnsten Akte – der Leiche aus dem Waldstück bei Beit Schemesch.

Es war der von allen am wenigsten ergiebige Fall, da man außer einem Leichnam fast nichts hatte. Solange dessen Identität ungeklärt blieb, gab es außer den beiden Kadetten des Offizierslehrgangs, die ihn gefunden hatten, im Grunde niemanden, der für ein Verhör in Frage kam. Die Leiche hatte gut versteckt im Gebüsch gelegen und wäre dort wohl auch noch eine ganze Weile unbemerkt geblieben, wären die beiden bei ihrem Orientierungsmarsch in der Umgebung nicht vom Weg abgekommen. Eine kleine Modifizierung des Berichts machte den Fund der Leiche nicht mehr zum Ergebnis ihrer Abweichung von der vorgegebenen Route, sondern zu deren Ursache, was ihnen am Ende den fast sicheren Ausschluß vom Lehrgang ersparte. »Glück im Unglück haben«, kritzelte Bresnitz auf den Rand der Seite. Beinstock hatte das zwar mit Leichtigkeit aus ihnen herausgeholt, aber trotzdem viel Aufhebens darum gemacht, damit man für alle Fälle über ein Druckmittel verfügte, und auch weil er nichts anderes mit ihnen zu besprechen gehabt hatte. Dann hatte er – laut Gesprächsprotokoll – eine etwas unerwartete Frage gestellt: »Habt ihr zuvor schon einmal einen Toten gesehen?« Beide hatten bejaht, und der eine Offiziersanwärter – ausgerechnet der schweigsamere von ihnen – hatte noch hinzugefügt: »Aber das ist das Allertoteste, was mir in meinem Leben über den Weg gelaufen ist.«