Cover

Lust auf mehr?

www.oetinger.de

www.oetinger.de/ebooks

 

 

 

Für die Kinder des Circus Giovanni,
denen allein die Manege gehört

Für Biggi Kumkar, mit der ich den Platz
hinter dem roten Vorhang teile

 

Und für Udo, der zu meinem großen Glück
die Liebe zum Zirkus teilt

Charivari

Nur weil es so aussieht, als würde der Magier den Tiger verschwinden lassen, ist die Raubkatze noch lange nicht weg. Schon am nächsten Abend faucht sie wieder durch die blitzenden Stäbe ihres Käfigs und lässt das Publikum den Atem anhalten, bevor sie sich erneut unter den Worten einer magischen Formel in Luft auflöst.

1. Kapitel

Wer behauptet, die Welt von oben sei schön, der hat sie nicht mit meinen Augen gesehen. Ich muss nur auf einen Tisch steigen und hinabsehen, schon wird mir schwindelig. Im Moment befinde ich mich auf einer Höhe von eins fünfundachtzig. Ich klammere mich mit aller Kraft an das dicke Seil und zwinge mich, nicht nach unten zu sehen. Mein Herz wummert wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Ich würde alles dafür geben, wenn ich jetzt nur vorsichtig hinabrutschen könnte. Aber das kann ich nicht, denn es geht hier um Leben oder Tod! Und vor mir liegen noch vier Meter! Also hole ich ganz tief Luft, spanne meine Muskeln an und ziehe mich ein weiteres Stück hinauf. Jetzt bloß das Ziel im Blick behalten, immer schön nach oben sehen, in die Kuppel mit den weißen Sternen. Vor meinen Augen beginnen Lichtpunkte zu tanzen. Ich schlinge meine Beine fest um das Tau, fahre mit zittrigen Fingern das Seil empor. Mein Blick wird enger, als wenn sich langsam ein Vorhang zuschiebt … Es wird dunkler …

»Tom!«

Jemand ruft meinen Namen! Ich schüttele mich und versuche, weiterzuklettern. Ich will nicht ohnmächtig werden. Ich will nicht stürzen. Ich will doch nur herausbekommen, wer mein Vater ist und warum mir niemand die Wahrheit sagen will!

2. Kapitel

Dass bei mir etwas anders ist als bei anderen Kindern, bemerkte ich zum ersten Mal vor sieben Jahren. Ich war damals vier Jahre alt und stand mit meiner Mutter in einem Supermarkt zwischen den Regalen für Fertiggerichte. Mama hatte mal wieder kein Kleingeld für einen Wagen dabei und balancierte den gesamten Einkauf auf dem Arm.

»Möchtest du noch ein paar von den Knackwürstchen?«, fragte sie und deutete mit dem Finger auf eine Konservenbüchse im mittleren Regalfach. Mein Blick fiel auf das grellbunte Etikett, das eine glückliche Vater-Mutter-Kind-Familie zeigte. Ich starrte auf das wellige Papierbildchen. Der Vater hatte den Arm um die Mutter und den Sohn gelegt und sah mit stolzem Blick auf den Jungen. Ich drehte mich zu Mama und fragte: »Hab ich eigentlich auch einen Vater?«

Vor Schreck ließ sie unsere Einkäufe fallen. Die Raviolidose krachte auf die Packung mit dem Kartoffelpüree, es machte Puff, und die gelben Flocken stoben in einer riesigen Fontäne bis zur Supermarktdecke auf. Dann sanken sie lautlos auf uns nieder. So als befänden wir uns in einer riesigen Schneekugel. Mama war kreidebleich im Gesicht.

»Natürlich hast du auch einen Vater«, stotterte sie. »Jeder Mensch hat einen.«

»Und wo ist er?«

Sie kniete sich vor mich, strich mir die Püreeflocken aus dem Haar und drückte mich fest an sich.

»Dein Vater«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Also, dein Vater … Der … der ist im Himmel.«

Ich machte mich los und versuchte, ihr in die Augen zu schauen.

»Wie meinst du das?«

Sie wendete den Kopf ab.

»Er … Er ist gestorben.« Damit sammelte sie eilig unsere Einkäufe ein und marschierte so schnell zur Kasse, dass ich kaum Schritt halten konnte.

Auf der Fahrt nach Hause bombardierte ich sie mit Fragen: Wie war mein Vater? War er groß? War er stark? Konnte er schnell laufen? Was war sein Lieblingsessen?

Doch ich bekam keine einzige Antwort. Mama umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und guckte so konzentriert durch die Windschutzscheibe, als könnte jeden Moment ein Saurier unsere Fahrbahn kreuzen.

»Warum ist er tot? Was ist passiert?«, quengelte ich.

Da trat sie plötzlich mit voller Wucht auf die Bremse. Ich wurde in meinem Autositz nach vorn geschleudert, die Tüte Gummibärchen rutschte mir aus den Händen, und die bunten Fruchtgummis klatschten gegen das Armaturenbrett. Nur wenige Zentimeter vor unserer Stoßstange rollte ein riesiger Lkw vorbei. Erschrocken hielt ich die Luft an. Obwohl Mama so gebannt auf die Straße gestarrt hatte, wäre sie beinahe über eine rote Ampel gefahren.

»Mama? Alles okay?«, fragte ich ängstlich und schaute zum Fahrersitz.

Sie ließ ihren Kopf zurückfallen und schloss für einen Moment die Augen, dann sagte sie leise: »Dein Vater hatte einen Unfall.«

»Warst du dabei?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wann war das?«

»Am 13. Dezember 2001. Noch vor deiner Geburt.«

Hinter uns begannen die Autos zu hupen, denn die Ampel war wieder auf Grün gesprungen. Und weil ich nicht wollte, dass wir auch noch einen schlimmen Unfall bauten, hielt ich den Rest der Fahrt den Mund.

Erst zu Hause, als wir über unserer Fertigpizza am Küchentisch saßen, traute ich mich, noch einmal nachzuhaken.

»Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«

Mama legte die Fingerspitzen an die Schläfen, als müsste sie sehr genau überlegen.

»Das war im Zirkus«, antwortete sie schließlich. »Das letzte Mal habe ich deinen Vater während einer Zirkusvorstellung in Hannover gesehen. Du weißt schon, da, wo Oma und Opa wohnen.«

»Er war Artist?!« Ich war völlig aus dem Häuschen. »Er ist aufgetreten? Vor ganz vielen Leuten? Was hat er gemacht? Eine gefährliche Luftnummer? Oder war er Messerwerfer?«

Mama schien verwirrt und schüttelte den Kopf. »Was? Nein, er war … Er war Handstandakrobat.«

»Wirklich?!«

Sie seufzte. »Ja. Er stand auf den Händen so sicher wie auf den Füßen, ganz schwerelos. Er brauchte kein Requisit, nur sich. Auch kein Glitzerkostüm, nur ein weites, weißes Hemd und eine weiße Hose, alles ganz schlicht. Auch die Musik war nur ein einfaches Klavierstück.«

»Wie sah er aus? Hatte er auch blonde Haare? Wie ich?«

»Nein, seine Haare waren dunkel«, antwortete sie und stützte müde die Ellenbogen auf die Tischplatte.

»Und die Augen?«, bohrte ich weiter.

Mama zögerte, dann zeigte sie rechts über ihren Mundwinkel.

»Er hatte eine kleine Narbe, hier, über der Lippe.«

Sofort war ich abgelenkt. »Wieso? Was ist da passiert?«

»Vielleicht hörst du mal eine CD, ja?« Mama stand unvermittelt auf, verließ die Küche und verschwand in ihr Schlafzimmer. Noch bevor ich die Play-Taste meines CD-Spielers drücken konnte, hörte ich ein leises Schluchzen. Es klang furchtbar. Bis dahin hatte ich noch nie erlebt, dass meine Mutter weinte. Sie war fast immer fröhlich. Selbst wenn sie gestresst war, weil sie ja alles allein machte: Geld verdienen, den Haushalt, sich um mich kümmern … Dass sie plötzlich so traurig war, machte mir Angst. Ich schämte mich furchtbar. Schließlich war es mein Bohren und Quengeln gewesen, das sie so schrecklich unglücklich gemacht hatten. Und ich konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals die Tür zu ihrem Zimmer vor mir verschlossen hatte.

Als ich an diesem Abend ins Bett ging, beschloss ich, nie mehr nach meinem Vater zu fragen.

3. Kapitel

Immer wenn sich in den Jahren danach jemand nach meinem Vater erkundigte, ratterte ich denselben Satz herunter: »Der ist bei einem Unfall gestorben, am 13.12.2001, noch vor meiner Geburt.« Meistens senkten die Leute dann den Blick, murmelten etwas wie »Das tut mir aber leid« und ließen mich in Ruhe. Und wenn nicht, drehte ich mich einfach um und ließ sie stehen. So musste ich wenigstens nicht zugeben, dass ich gar nicht mehr über meinen Vater wusste.

Natürlich hätte ich auch die Geschichte vom großartigen Artisten erzählen können. Aber spätestens bei meiner Einschulung, als wir die Namen unserer Eltern in einen Steckbrief eintragen sollten, war ich stutzig geworden. Denn plötzlich wurde mir klar, dass ich nicht mal wusste, wie mein Vater hieß. Warum hatte Mama mir seinen Namen verschwiegen, aber so eine unwichtige Sache wie die Narbe über dem Mundwinkel erwähnt? Je länger ich darüber grübelte, desto mehr Ungereimtheiten fielen mir auf: Sie hatte mir die Farbe seines Kostüms verraten, aber nicht sein Alter. Sie hatte die Musik bei seinem Auftritt beschrieben, aber kein Wort zu seiner Familie gesagt. Ganz sicher hatte mein Vater doch noch irgendwo Verwandte! Eltern, Brüder, Schwestern, Cousins, Cousinen …? Eine Zeit lang schnüffelte ich immer im Haus herum, sobald Mama mal einkaufen war oder etwas erledigen musste. Ich suchte nach Fotos, Briefen, irgendeiner Spur – aber da war nichts. Irgendwann fragte ich mich, wo und wie Mama meinen angeblichen Artisten-Vater überhaupt hätte kennenlernen sollen?! Sie ging nie in den Zirkus. Vorführungen oder Shows interessierten sie nicht die Bohne! Meine Mutter, Dr. Julia Roth, war Geologin mit dem Spezialgebiet außeralpinische Vergletscherung. Sie fand viel spannender, was unter der Erdoberfläche passierte als über ihr. Worüber hätte sie sich mit einem Artisten also unterhalten sollen? Gesteinsproben?! Oder ihr Lieblingsthema Sedimentation?

Als ich versuchte, mir das vorzustellen, wurde mir endgültig klar: Die Zirkus-Geschichte war nur eine gut gemeinte Lüge. Die Wahrheit hatte mir Mama verschwiegen! Nur: Warum? Wieso wollte sie mir nicht verraten, wer mein Vater wirklich war? War er so peinlich gewesen? Oder gemein? War er ein Verbrecher?! Oder einfach nur ein totaler Idiot? Klar war nur eins: Was auch immer dahintersteckte, es musste ziemlich übel sein. Denn ohne Grund log man sein Kind ja in so einer wichtigen Sache nicht einfach an. Und obwohl ich zu gern gewusst hätte, wer und wie mein Vater war, traute ich mich nicht noch einmal nachzufragen. Meine Angst, etwas Gruseliges oder Schreckliches zu erfahren, war einfach zu groß.

Ich kam damit klar, ehrlich. Man kann schließlich nichts vermissen, was man nicht kennt. Nur ganz selten war ich mal traurig und wünschte mir einen Papa. Zum Beispiel beim Fußballturnier in der Schule, wenn die anderen Kinder von ihren Vätern angefeuert wurden. Aber schließlich war ich ja nicht das einzige Kind ohne Vater am Spielfeldrand. Und je mehr Zeit verging, desto weniger dachte ich über diese ganze Vater-Lügengeschichte nach.

Wahrscheinlich wäre es auch immer so geblieben, wenn nicht an einem Freitag, einige Monate vor meinem zwölften Geburtstag, zweimal kurz hintereinander das Telefon geklingelt hätte.

4. Kapitel

Mai 2014

Es war so um sieben Uhr abends, und Mama und ich saßen am Küchentisch. Auf dem Herd köchelten die grellorangen Dosen-Ravioli, und wir blätterten die neuste Ausgabe des Journal of Earth Science durch. Mama wollte mir einen ganz bestimmten Artikel zeigen. Kollegen von ihr waren in der Arktis mit riesigen Bohrern durch Eisschollen gebrochen und hatten eine Kamera zum Grund des Polarmeeres hinabgelassen. Mit den Millionen Jahre alten Vulkanschloten sah es da unten aus wie ein gigantisches Fabrikgelände voller Schornsteine. Mama beschrieb alles so genau, dass ich die eisige Kälte des Nordmeeres fast schon spüren konnte. Boden unter meinen Füßen schien sich gerade in strahlend weißes Gletschereis zu verwandeln … Da riss mich das schrille Klingeln des Telefons zurück in unsere Münchner Wohnung.

Mama und ich sahen uns überrascht an. Wir bekamen selten Anrufe am Abend. Ich wühlte unter einem Stapel Zeitungen den Apparat hervor und warf einen Blick auf das Display. Die Nummer hatte ich noch nie gesehen. Mit einem Schulterzucken reichte ich Mama den Hörer.

»Roth«, meldete sie sich. Einige Momente später weiteten sich ihre Augen, und sie plumpste zurück gegen die Stuhllehne. »Das … Das ist ja eine Überraschung«, stotterte sie.

Ich eilte um den Tisch und drückte mein Ohr ganz dicht ans Telefon. Der Mann am anderen Ende der Leitung, der da so umständlich sprach, war offensichtlich der Chef des Instituts für Polarforschung aus Bremerhaven.

»Es geht um die Expedition ARK-XXVIII. Ein Kollege ist plötzlich erkrankt, von einem Tag auf den anderen, deshalb sind wir auf der Suche nach einer neuen Leitung des geologischen Forschungsteams. Da Sie bereits mit dem Team zusammengearbeitet haben, ist es mehr als naheliegend, die Leitung in Ihre Hände zu geben. Frau Dr. Roth, Sie wären unsere erste Wahl. Hätten Sie Interesse?«

Mama schluckte. »Das klingt wirklich sehr interessant, und ich fühle mich geehrt, aber …«

»Na, vielleicht sende ich Ihnen besser erst einmal alle wichtigen Informationen per E-Mail«, unterbrach der Institutschef. »Nicht, dass Sie mir nach diesem Überfallkommando vorschnell eine Absage erteilen. Denken Sie bitte in Ruhe nach, und melden Sie sich am Montag bei mir. Einverstanden?«

Mama versprach, sich alles gründlich zu überlegen, bedankte sich überschwänglich für das große Vertrauen und legte auf. Völlig erstarrt hockte sie auf ihrem Stuhl. Ich wusste, dass so eine Expedition in die Arktis ihr allergrößter Traum war. Sie hatte Unmengen von Vorträgen zu dem Thema gehalten und zwei Bücher darüber geschrieben – aber sie war noch nie selbst ins ewige Eis gefahren, um dort zu forschen.

Zur Beruhigung brachte ich ihr ein Glas Wasser.

»Herzlichen Glückwunsch! Das ist mindestens eine Sechs auf der Mercalli-Skala!«, rief ich. Mit dieser Maßeinheit für Erdbeben beschrieben wir die Intensität unserer Gefühle, wenn uns die Worte fehlten. Und sechs bedeutete Bäume schwanken und Putz an Hauswänden reißt.

Mama nahm einen kräftigen Schluck und lächelte mich tapfer an.

»Ach was, maximal vier.«

Ich glaubte ihr kein Wort, denn vier hieß, dass nur lockere Gegenstände wackelten.

»Wirklich!«, beteuerte Mama. »Außerdem ist es völlig ausgeschlossen, dass ich an so einer Expedition teilnehme. Ich wäre wochenlang unterwegs. Wie soll das gehen?« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. »So schnell schmilzt das Eis der Arktis ja auch nicht. Ich kann auch noch in ein paar Jahren dort for…«

In dem Moment klingelte das Telefon zum zweiten Mal. Ich schnappte nach dem Hörer.

»Hallo, Tom Roth hier«, sagte ich und drückte diesmal gleich die Lautsprechertaste, damit wir beide mithören konnten.

»Tom? Hier ist Oma. Ich muss dringend deine Mutter sprechen«, schepperte es aus dem Hörer.

Mama sah mich erstaunt an und nahm mir den Apparat aus der Hand.

Oma kam sofort zur Sache. »Julia, dein Vater liegt im Sterben. Und er hat nur noch einen Wunsch: Dich noch ein Mal zu sehen.«

Das war mindestens genauso überraschend wie das Forschungsangebot in der Arktis, denn eigentlich herrschte zwischen Mama und Opa totale Funkstille. Die beiden sprachen kein Wort mehr miteinander, seit sie ihm gesagt hatte, dass sie mit mir schwanger war, aber nicht verraten wollte, von wem. Opa hatte sie das Lügenmärchen nämlich gar nicht erst vorgegaukelt. Das wusste ich, weil ich mal ein Gespräch zwischen Mama und Oma belauscht hatte. Damals war mir auch klar geworden, warum Oma immer nur allein zu Besuch kam – das tat sie jedenfalls so lange, bis Opa einen Schlaganfall hatte. Von da an musste Oma sich Tag und Nacht um ihn kümmern, und es gab nur noch Telefonate und einen Umschlag mit Geld zu Weihnachten und zum Geburtstag.

Oma hatte Mama oft gebeten, sich mit Opa auszusöhnen. All die Jahre war Mama hart wie ein Granitstein geblieben, doch jetzt sagte sie nur: »Wir kommen. Wir nehmen den ersten Zug, gleich morgen früh.«

Und das war der Moment, von dem an alles anders wurde.

5. Kapitel

Am nächsten Mittag stand ich, Tom Roth, elf Jahre alt, das allererste Mal vor dem weißen, spitzen Häuschen meiner Großeltern im Königskinderweg in Hannover.

»Klingle schon mal«, sagte Mama, während sie noch das Taxi bezahlte. Ich lief zur Eingangstür und drückte den runden, kupferfarbenen Knopf. Als Oma die Tür öffnete, sah sie genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte: Sie trug eine blütenweiße Bluse, eine dunkelblaue Hose mit strenger Bügelfalte und Perlenohrringe. Selbst ihre Frisur war noch die gleiche, nur dass ihr Haar jetzt eisgrau war. Oma umarmte erst mich und dann Mama lang und fest. »Kommt rein«, sagte sie und wischte sich schnell eine Träne aus dem Auge.

Mama eilte sofort zu Opa in das Schlafzimmer im ersten Stock, während Oma und ich etwas unschlüssig voreinander im Flur standen und nicht wussten, was wir sagen sollten.

»Vielleicht zeige ich dir erst einmal das Haus, was denkst du?«, fragte Oma.

Ich fand so eine Besichtigungstour zwar komisch, immerhin lag da oben Opa im Sterben, aber ich hatte auch keine Ahnung, was man in solchen Situationen normalerweise tut. Und da ich Opa überhaupt nicht kannte, war mir jetzt auch nicht zum Heulen zumute. Also nickte ich und folgte Oma als Erstes ins Wohnzimmer. Dort standen ein paar große Sessel mit Blumenmuster in einem perfekten Halbkreis vor einem Kamin, genau in der Mitte befand sich ein Tischchen mit einem Strauß frischer Rosen. Nirgendwo lagen Schuhe, Ordner oder alte Zeitungen herum – ich konnte nicht einmal ein Körnchen Staub entdecken! Auch in der Küche blitzte alles. Hier waren sogar die Kissen auf der Eckbank aus demselben Stoff geschneidert wie die Vorhänge! Und auf einem Teller mit Blümchenmuster war ein Kuchen angerichtet, der eindeutig selbst gebacken aussah! Alles war so super-perfekt wie in diesen glänzenden Einrichtungs-Magazinen, die immer beim Arzt rumlagen. Ich schloss die Augen und sog den Kuchenduft in die Nase. Hätte irgendjemand noch vor einer halben Stunde behauptet, dass Mama in so einem mega-ordentlichen Haus aufgewachsen war, dann hätte ich ihm einen Vogel gezeigt!

»Komm«, sagte Oma. Wir gingen hinaus auf die Terrasse und über eine kleine Steintreppe in den Garten. Auf dem großen Rasenstück wuchsen in absolut gleichen Abständen mehrere Obstbäume. Weiter hinten gab es sogar Himbeerstauden und ein Gemüsebeet, dessen Reihen so gerade waren, als wären sie mit dem Lineal gezogen! Vielleicht war es doch ganz gut, dass Oma uns so lange nicht besuchen konnte, dachte ich. Beim Anblick unserer chaotischen Wohnung wäre sie bestimmt sofort in Ohnmacht gefallen.

Nachdem mir Oma auch noch den Keller und das obere Stockwerk mit Opas Arbeitszimmer und Mamas früherem Kinderzimmer gezeigt hatte, setzten wir uns in die gemütlichen Korbsessel auf der Terrasse. Bei einem Gläschen Himbeersirup und köstlichem Streuselkuchen fragte mich Oma, wie es so in der Schule war und was ich sonst noch so machte. Ich gab mir Mühe, möglichst genau zu antworten, doch irgendwie fühlte sich das komisch an. Auch wenn Oma früher oft bei uns zu Besuch gewesen war – in den letzten Jahren hatte sie nicht wirklich viel von meinem Leben mitgekriegt. Sie wusste nicht mal, dass ich in den Turnverein ging und Kunst und Mathe meine Lieblingsfächer waren. Und das wussten selbst die doofen Schraders, die unter uns wohnten.

Nach einer Stunde hörte ich endlich Schritte aus dem Haus. Kurz darauf trat Mama zu uns auf die Terrasse. Ihre Augen waren rot geweint.

»Ich könnte jetzt einen Kaffee gebrauchen«, sagte sie und ließ sich in einen der Korbstühle fallen.

»Mit Milch und Zucker?«, fragte Oma sanft und strich ihr dabei über das Haar.

Mama antwortete nicht. Reglos starrte sie auf die Tischplatte.

»Julia?« Omas Blick wanderte beunruhigt von Mama zu mir und zurück.

Da holte Mama tief Luft und schlug ihre Gabel so fest in den Streuselkuchen, als müsste sie Sedimentbrocken aus einer Gesteinsprobe schlagen.

Erschrocken zuckten Oma und ich zusammen.

»Mutti«, stieß Mama hervor. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Ja … natürlich … immer, das weißt du doch«, versicherte Oma, noch ganz verwirrt von der Attacke auf ihren Streuselkuchen.

»Gut. Die Sache ist nämlich die: Das Institut für Polarforschung hat mir ein phantastisches Angebot gemacht. Ich hätte die einmalige Chance, eine Polar-Exkursion zu leiten. Und anschließend würde ich einen Forschungsauftrag in Bremerhaven bekommen.«

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Wie kam sie denn plötzlich auf dieses Thema? Ging es hier nicht um Opa, der im Sterben lag, und um ihre große Versöhnung?

Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, fuhr Mama fort: »Das Institut liegt nur anderthalb Zugstunden von hier entfernt. Ende Juni müsste ich für drei Monate in die Arktis, aber danach könnte ich pendeln und einen Teil meiner Arbeit von zu Hause aus erledigen. Darum wäre es schön, wenn wir hier bei dir wohnen könnten und du dich um Tom kümmern würdest, während ich arbeite.«

Im ersten Moment glaubte ich, nicht richtig gehört zu haben, doch dann sah ich Mamas entschlossenes Gesicht. Sie meinte das tatsächlich ernst!

»Nein!«, schrie ich auf. »Ich will nicht umziehen!«

Oma schien fast genauso schockiert. Jedenfalls schüttelte sie heftig den Kopf und rief: »Ich möchte nicht, dass du meinetwegen deinen guten Job in München aufgibst und Tom aus seinem Umfeld gerissen wird! Ich komme hier gut allein klar, was auch immer dein Vater gesagt hat!«

»Mutti, ich mache das nicht für dich, sondern ich bitte dich um Hilfe für uns!«, widersprach Mama. Dabei warf sie mir einen bitterbösen Blick zu. So hatte sie mich bisher nur ein einziges Mal angeschaut: als ich mit fünf Jahren nach einem Wutanfall weggerannt und beinahe vor einen Bus gelaufen wäre. So viel war klar: Wenn ich jetzt nicht die Klappe hielt, drohte ein mördermäßiges Donnerwetter. Ich kochte vor Wut, blieb aber Oma zuliebe still. Sie konnte ja nichts für diesen superdämlichen Vorschlag, und sie sollte nicht glauben, dass ich ihretwegen nicht herziehen wollte.

»Ich setze mal eben Kaffee auf«, murmelte Oma und verschwand in die Küche.

»Was soll das?!«, zischte ich Mama zu. »Du hast doch selbst gesagt, dass du auch noch in ein paar Jahren in der Arktis forschen kannst!«

»Pscht!« Mama wedelte mit den Händen, als könnte sie so bei mir den Ton leiser stellen. Dann schaute sie schnell zur Küchentür, beugte sich über den Tisch und flüsterte: »Es geht nicht um den Forschungsauftrag, sondern um Oma. Ich muss das nur so sagen, verstehst du?«

»Nein!«

»Anders würde sie nicht zulassen, dass wir zu ihr ziehen!«

»Wieso auch?! Sie will doch gar nicht, dass wir herkommen! Hast du das nicht gehört?«

Mama machte so eine Begreifst-du-es-nicht?-Geste. »Oma ist total selbstlos. Sie würde eher in ein tiefes, schwarzes Loch fallen, als uns irgendwelche Umstände zu bereiten! Nur darum behauptet sie, dass sie uns nicht braucht. Verstehst du? Außerdem habe ich es Papa versprochen.«

»Was?«

»Na, dass wir uns um Oma kümmern. Und dafür sorgen, dass sie etwas um die Ohren hat, wenn er nicht mehr da ist.«

»Wenn sie etwas um die Ohren braucht, dann kauf ihr doch einen Hund!«

Jetzt haute Mama mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ist das so schwer zu verstehen?!«, fauchte sie. »Opa kann nicht mehr. Er möchte sterben, aber er schafft es nicht, solange er das Gefühl hat, Omas Leben sei nicht geregelt. Er ist in solcher Sorge um sie, dass er sogar über seinen Schatten gesprungen ist und mich um Verzeihung gebeten hat.« Sie nahm meine Hände und drückte sie so fest, dass es wehtat. »Omas Lebensinhalt ist ihre Familie. Sie hat sich ihr ganzes Leben lang um uns gekümmert. Erst um mich, dann um Opa, als er krank wurde, und jetzt …«

»… soll sie sich um mich kümmern«, vollendete ich ihren Satz.

Mama nickte. Ich riss meine Hände weg und warf mich zurück in den Korbsessel.

»Das sagst du doch nur, weil du so schnell wie möglich in die Arktis willst!«

»Tom!«

»Wieso?! Stimmt doch! Du verpieselst dich ins Eis, und ich soll in eine Stadt umziehen, wo ich keinen Menschen kenne. Ich soll auf eine völlig fremde Schule gehen!«

»Deine Klasse wird nach den Sommerferien doch sowieso neu aufgeteilt.«

»Aber ich bleibe mit allen Spanisch-Schülern zusammen, und es kommt noch jemand aus meinem Turnverein dazu und …«

»Wir werden hier auch eine tolle Schule und eine Turngruppe finden«, fiel sie mir ins Wort und sah mich flehend an. »Bitte! Es wird für alles eine Lösung geben.«

In dem Moment trat Oma mit der Kaffeekanne aus der Küche, und Mama lehnte sich schnell wieder in ihrem Sessel zurück.

In der nächsten halben Stunde sagte keiner ein Wort. Wir starrten auf unsere Teller und stopften schweigend den Kuchen in uns hinein. Erst als Mama ihren Kaffee ausgetrunken hatte, legte sie Oma sachte eine Hand auf den Arm und fragte: »Ich würde Papa gern Tom vorstellen, was denkst du? Wollen wir nicht alle zusammen nach oben gehen?«

Oma nickte und stand auf.

Für einen Moment vergaß ich sogar meine Wut. Ich hatte Opa noch nie gesehen und erst recht keinen Menschen, der im Sterben lag. Das war bestimmt total gruselig! Ich überlegte, wie ich mich schnell verdrücken könnte, aber da packte mich Mama schon am Arm und schob mich die Treppe hinauf. Ich könnte aufs Klo gehen, dachte ich, oder Übelkeit vortäuschen. Oder auf den Stufen stolpern und mir den Fuß verknacksen. Ich müsste nicht mal ein schlechtes Gewissen haben! Schließlich wollte Opa mich die letzten elf Jahre und sieben Monate nicht sehen. Dabei konnte ich am allerwenigsten dafür, dass Mama nicht sagen wollte, wer mein Vater war. Und nur weil Opa es sich plötzlich anders überlegt hatte, musste ich ja nicht sofort springen! Doch in dem Moment waren wir schon oben angelangt, und bevor ich etwas sagen konnte, öffnete Mama die Schlafzimmertür und stupste mich hinein.

Opa lag unter geblümter Bettwäsche in einem breiten Ehebett. Durch die Vorhänge fiel warmes, weiches Licht ins Zimmer, und zu meiner Überraschung roch es gar nicht muffig und krankenhausmäßig, sondern nach Weichspüler, diesem blauen mit Wiesenduft.

Mama führte mich ganz nah an das Bett heran.

»Papa?«, sagte sie leise, und ihre Stimme klang ungewohnt sanft. »Ich möchte dir Tom vorstellen, deinen Enkelsohn.«

Opa öffnete die Augen. Einen Moment flackerte sein Blick im Raum herum, aber dann blieb er an mir hängen, und es geschah etwas sehr Seltsames: Es war wie bei dieser App, wo man ein Foto von sich 120 Jahre älter machen kann. Man erkennt sich sofort, obwohl man plötzlich so faltig und zerdetscht aussieht wie ein alter Apfel. Genauso war es jetzt mit Opa und mir, nur in echt! Irgendwie sah ich aus wie er! Auch wenn meine Haut nicht schlaff an den Wangen herunterhing und unterm Kinn so eine Welle schlug, ähnelten wir uns unglaublich. Vor lauter Erstaunen wusste ich nicht mal, ob mich das jetzt wütender oder noch trauriger machen sollte. Auf jeden Fall hätte ich das gern früher gewusst und nicht erst jetzt, wo es fast zu spät war. Opa hingegen schien sich zu freuen, denn er lächelte – und zog seinen Mundwinkel genauso schief hoch, wie ich es immer tat! Das war wirklich der Hammer!

Mama nahm Opas Hand und setzte sich auf die Bettkante.

»Stell dir vor, Papa, wir haben eine wunderbare Lösung für mein Problem gefunden. Ich weiß gar nicht, warum ich da nicht früher drauf gekommen bin! Tom und ich ziehen einfach hierher, und Mama kümmert sich um ihn, während ich in der Arktis forsche. Ist das nicht toll? Tom freut sich auch schon.«

Ich hätte ihr am liebsten gegen das Schienbein getreten, aber da huschte über Opas Gesicht ein erleichtertes Lächeln.

»Das wäre wunderbar«, flüsterte er. Mühsam drehte er seinen Kopf zu Oma. »Wie schön, dass du dich jetzt um unseren Enkel kümmerst. Das macht mich sehr glücklich.«

Oma sah nicht begeistert aus, aber was blieb ihr schon übrig? Sie nickte, und Opa schloss zufrieden die Augen. Ein leichter Windhauch blähte die Vorhänge auf und ließ gelbe Lichtpunkte über die Tapete tanzen. Erschrocken sah ich zu Mama. In Filmen setzt in solchen Momenten ja immer traurige Musik ein, und dann gibt es einen Schnitt, und alle stehen in schwarzen Klamotten um ein Grab. Doch zu meiner Beruhigung schmatzte Opa nun ziemlich laut.

»Lassen wir ihn schlafen«, sagte Oma und deutete zur Tür. »Für heute war das genug Aufregung.«

 

Den Rest des Tages hing Mama über ihrem Laptop und traf Vorbereitungen für unseren Umzug. Dabei achtete sie darauf, dass sie immer in der Nähe von Oma saß und ich keine Chance für eine weitere Diskussion hatte. Selbst als Oma im Garten Himbeeren pflücken ging, rückte Mama nach und platzierte sich mit ihrem Rechner auf einer Decke in Hörweite. Erst am Abend, nachdem Oma ins Badezimmer verschwunden war, konnte ich Mama endlich zur Rede stellen. Ich baute mich vor dem Sofa im Wohnzimmer auf, wo sie mir gerade ein Bett für die Nacht bereitete, und legte los.

»Ich glaube, Oma möchte wirklich nicht, dass wir hierherziehen«, sagte ich in einem möglichst erwachsenen Ton. »Sie hat nämlich nicht ein Wort mit mir darüber gesprochen.«

Mama schob mich beiseite und breitete ein Laken über das Polster.

»Das wundert mich nicht, so wie du dich benommen hast.«

»Vielleicht will sie ihr Haus auch mal ganz für sich allein haben?«

Mama schüttelte den Kopf. »Ich kenne meine Mutter. Glaub mir, sie denkt immer erst an die anderen und zuletzt an sich.«

»Sie könnte auch zu uns ziehen!«

Mama drehte sich kurz zu mir um. »Und mit welchem Argument? Von München aus kann ich ja schlecht zum Institut für Polarforschung pendeln!«

Da zog ich meinen letzten Trumpf aus dem Ärmel.

»Hier gibt es nicht mal ein Zimmer für mich! Soll ich vielleicht für immer auf dem Sofa schlafen?«

»Du bekommst Opas Arbeitszimmer.«

»Weiß Oma davon? Oder hast du das auch allein entschieden?«

»Nein, es war Opas Idee – und ja, sie weiß davon. Und keine Sorge: Im Zweifelsfall würde Oma lieber selbst auf dem Sofa schlafen, damit du es bequem hast.« Sie warf mir das Kopfkissen zu. »Das kannst du beziehen, ich muss nämlich noch die Bestätigungsmail an das Umzugsunternehmen schicken.«

Unglücklich ließ ich mich auf das Sofa fallen. Es war entschieden. Mama hatte Opa auf dem Sterbebett ein Versprechen gegeben, und dagegen kam anscheinend kein logisches Argument an.

An diesem Abend dauerte es lange, bis ich einschlief. Dabei ratterte keine Straßenbahn unter meinem Fenster entlang, und es pöbelte auch kein Besoffener auf dem Gehsteig herum. Im Gegenteil, es war totenstill. Wie in einem Altenheim, dachte ich und verwünschte das ordentliche Haus, den Garten, die Blumenbeete, Versprechen an Sterbebetten, die Polarforschung und überhaupt die ganze Arktis.

6. Kapitel

Am nächsten Morgen erwachte ich von fremden Stimmen und aufgeregtem Getrappel auf der Treppe. Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, wo ich mich befand, aber dann war ich putzmunter. Ich sprang vom Sofa und eilte zur Tür. Im Flur standen zwei Sanitäter in neonorangefarbener Kluft, außerdem eine genauso grell gekleidete Frau, der Oma gerade die Hand reichte. Als ich näher trat, entdeckte ich auf ihrer Jacke einen Aufnäher mit dem Wort: Notarzt.

»Mein herzliches Beileid«, sagte sie. »Aber es sollte Sie trösten, dass er ganz friedlich im Schlaf von Ihnen gegangen ist. So ein sanfter Tod ist nicht jedem vergönnt.«

Oma nickte tapfer, und Mama legte den Arm um sie.

»Was müssen wir denn jetzt genau tun?«, fragte sie etwas hilflos.

»Sie müssen einen Bestatter informieren, der Ihren Vater im Laufe des Tages abholt«, antwortete die Notärztin. »Der erklärt Ihnen dann auch alle weiteren Schritte.«

Mama nickte, und die Notärztin und ihre Kollegen verabschiedeten sich. Zurück blieb eine schwere, bleierne Stille. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich wusste ja nicht mal, was ich fühlen sollte oder wo auf der Mercalli-Skala ich mich gerade befand. Zum zweiten Mal in meinem Leben verlor ich einen Menschen, der mir eigentlich ganz nahestehen sollte, den ich aber in Wahrheit gar nicht kannte. Wie bei meinem Vater gab es auch bei Opa nichts, was ich in Zukunft vermissen konnte. Wir hatten nichts zusammen erlebt, ich hatte keine einzige Erinnerung an irgendetwas Gemeinsames. Und das war wahrscheinlich das Traurigste überhaupt daran.

»Wenn es euch recht ist, dann hätte ich jetzt gern eine halbe Stunde mit ihm allein«, brach Oma die Stille und stieg die Treppe nach oben zum Schlafzimmer.

Ich folgte Mama in die Küche und half ihr, das Frühstück zu machen. Ich glaube, sie merkte gar nicht, was sie genau tat. Jedenfalls schnitt sie zwanzig Scheiben Brot ab, und hätte ich sie nicht gebremst, dann hätte sie mit ihren flattrigen Fingern auch noch den frisch gebrühten Kaffee wieder weggeschüttet. Wir hatten uns gerade an den Tisch auf der Terrasse gesetzt, als Oma wieder runterkam. Ganz ruhig schlug sie ihr Telefonbuch auf und suchte die Nummer des Beerdigungsinstituts heraus. Mit fester Stimme informierte sie den Bestatter über Opas Tod und vereinbarte einen Termin. Dann sagte sie zu Mama: »Geh jetzt am besten zu ihm und verabschiede dich. Und gib mir Bescheid, wenn du so weit bist, dann müssen wir einiges erledigen.«

Mama nickte und huschte ins Haus. Verwirrt sah ich ihr nach. Sie schien mir viel trauriger und verzweifelter zu sein als Oma.

»Weißt du«, erklärte Oma und nahm einen großen Schluck Kaffee. »Dein Opa und ich hatten eine lange Zeit des Abschieds. Für Julia geht das jetzt alles sehr schnell. Es wird sicher eine Weile dauern, bis sie das begreifen und verwinden kann. Sie wird noch ein Weilchen daran zu knabbern haben.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Wir lassen ihr jetzt einen Moment, und dann gehen wir nach oben und holen sie.« Ich muss ziemlich entsetzt geguckt haben, denn Oma lachte laut auf. »Keine Angst, dein Opa sieht ganz friedlich aus. Sein Anblick hat etwas sehr Tröstendes und Beruhigendes. Und du wirst sehen, irgendetwas fehlt. Ich kann dir nicht einmal sagen, was es ist, und ich weiß auch nicht, wohin es entfleucht ist, aber das da oben ist nicht mehr Opa, so wie ich ihn kannte. Es ist nur noch seine Hülle.« Ich war nicht gerade überzeugt, aber Oma strich mir über die Wange und sagte: »Vertrau mir.«

Als ich wenig später oben im Schlafzimmer stand, musste ich ihr recht geben: Opas Tod hatte nichts Gruseliges. Er sah total zufrieden und ganz leicht aus. Es fehlte tatsächlich etwas. Sein Körper war ein bisschen wie ein abgetragener Anzug. Ich fand das sehr beruhigend, denn dann beerdigten wir tatsächlich nur diese Hülle.

Oma nahm Mama fest an den Schultern und befahl: »Komm jetzt, duschen und anständig anziehen.«

Und von dem Moment an war eigentlich kaum mehr Zeit zum Nachdenken und Traurigsein, so viel musste für Opas Beerdigung und unseren Umzug entschieden und organisiert werden.

7. Kapitel

Zehn Tage nach Opas Tod hielt der Möbelwagen im Königskinderweg, und wir zogen mit all unseren Sachen bei Oma ein. Danach ging es im Turbogang weiter: Einräumen, Schule suchen, Behördengänge, Mamas Polarausrüstung kaufen, ärztliche Untersuchungen … Wir sausten mit Vollspeed durch die nächsten zwei Wochen. Mama konnte ihre Abreise in die Arktis immerhin noch bis zu meinem ersten Tag in der neuen Schule hinauszögern, aber dann, an einem Montagmorgen, war es so weit.

Ich wachte, lange bevor der Wecker klingelte, auf. Es war erst sechs Uhr, doch die Sonne brannte schon von einem wolkenlosen Himmel und blitzte durch das Fenster meines neuen Zimmers. Wer weiß, dachte ich, vielleicht bekomme ich ja gleich am ersten Tag hitzefrei? Ich reckte mich, legte den Kopf in den Nacken und sah auf die blaue Wand hinter dem Kopfteil meines Bettes. Ich hatte auf die knallige Farbe bestanden, zu Mamas großem Ärger. Für Oma war es kein Problem gewesen.

»Bitte«, hatte sie nur gesagt, als ich im Baumarkt auf den Farbeimer gezeigt hatte. »Wenn es dich glücklich macht.« Bevor Mama Luft holen konnte, hatte ich den Eimer in den Wagen gewuchtet. Die blaue Wand sah cool aus. Überhaupt war mein neues Zimmer um einiges toller als das alte in München. Es war größer, heller, und der glatte Dielenboden sah viel schöner aus als mein alter, abgelatschter Teppich. Ich gab mir aber große Mühe, meine Freude darüber zu verbergen. So einfach wollte ich Mama den Umzug nicht verzeihen.

Ich kletterte aus dem Bett und zog mich an. Das Shirt, die Jeans und die gemusterten Socken für meinen ersten Tag in der neuen Schule hatte ich schon am Abend zuvor herausgelegt.

»Das musst du von mir haben«, hatte Oma begeistert gerufen. »Ich sage auch immer: Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck.«

Das schien übrigens Omas neues Hobby zu sein, Eigenschaften bei mir zu suchen, die ich von irgendeinem Familienmitglied geerbt hatte. Mama nickte mir dann jedes Mal hinter ihrem Rücken zu, so als wollte sie sagen: Siehst du, wie gut, dass wir hierhergezogen sind.

Ich stieg über die letzten Umzugskartons, die noch im Flur standen, und öffnete die Badezimmertür. Wie im restlichen Haus erinnerte auch hier nur noch wenig an Opa. Das Rasierwasser auf der Ablage am Waschbecken, der kratzige Massageschwamm über der Wanne – all das war verschwunden. Während wir in München unsere Sachen gepackt hatten, hatte Oma den Großteil von Opas persönlichen Besitztümern in den Keller geräumt. Nur ganz wichtige Dinge aus Opas Arbeitszimmer, wie seine Lieblingsbücher oder den alten Kompass, hatte sie an andere Stellen im Haus verteilt. Eilig wusch ich mir das Gesicht und putzte die Zähne. Jetzt war ich doch ganz schön aufgeregt. Schließlich konnte an so einem ersten Schultag eine Menge schiefgehen, und ich hatte keine Lust, einen Fehlstart hinzulegen.

Mama und Oma hatten darauf bestanden, mich gemeinsam zur Schule zu fahren. Ich erlaubte ihnen, mich bis zum Tor zu begleiten, aber dann schickte ich sie zurück zum Auto. Mit klopfendem Herzen trat ich durch den Haupteingang und sah mich um. Die Eingangshalle war menschenleer, und bis auf ein Murmeln hinter den Klassentüren war es eigentümlich still. Ich schaute auf den großen Plan an der Stirnwand. Meine neue Schule war riesig. Über 1400 Schüler von der ersten bis zur zwölften Klasse teilten sich das Gebäude. Ich sollte mich heute Morgen als Erstes im Sekretariat melden.

Die Schulassistentin begrüßte mich freundlich und überreichte mir meine Bücher.

»Dann bring ich dich mal zu deiner neuen Klasse«, sagte sie und führte mich wieder hinaus in das Labyrinth der Gänge. »Am besten, du nutzt diese letzten dreieinhalb Wochen bis zu den Ferien, um Freunde zu finden, mit denen du nächstes Jahr gemeinsam in eine Klasse gehen möchtest«, plauderte sie fröhlich los. Wahrscheinlich wollte sie so meine Nervosität dämpfen. »Und nachher müssen wir noch deine neue Fahrkarte ausstellen. Hast du an das Passfoto gedacht?«

»Klar«, antwortete ich.

Die Schulassistentin blieb vor einer Tür stehen und klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete sie und schob mich in den Raum. »Guten Morgen, Frau Peetz. Ich bringe Ihnen unseren neuen Schüler.«

Fünfundzwanzig Augenpaare starrten mich an.

»Tom, nicht wahr?«, sagte Frau Peetz, kam auf mich zu und schüttelte mir die Hand. »Hier vorn neben Maren ist noch ein Platz frei, bitte setz dich dorthin.«

Schüchtern schob ich mich an den Stühlen meiner neuen Klassenkameraden vorbei und klemmte mich hinter den Ecktisch in der ersten Reihe. Ich warf einen kurzen Blick auf das Mädchen neben mir. Normalerweise war es ja nie ein gutes Zeichen, wenn der Platz neben einem frei war. Nur neben Volldödeln und Stinkern wollte keiner sitzen. Aber diese Maren sah eigentlich ganz nett aus.

»Möchtest du uns vielleicht erzählen, wie es kommt, dass du so kurz vor dem Schuljahresende nach Hannover gezogen bist?«, fragte Frau Peetz.

»Meine Mutter muss für drei Monate mit einem Forschungsschiff in die Arktis. Wir sind hierhergezogen, weil Oma auf mich aufpasst, während Mama auf ihrer Expedition ist. Das passte ganz gut, weil Oma gerade ziemlich allein ist. Mein Opa ist nämlich vor Kurzem gestorben.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Frau Peetz.

Die anderen Schüler schauten ebenfalls betroffen. Und in dem Moment fiel mir auf, dass niemand diesen fragenden Blick aufgesetzt hatte, wie sonst immer. Mit Mama, Oma und Opa hatte ich wohl so etwas wie eine vollständige Familie präsentiert, bei drei Leuten auf der Liste schien die Frage nach dem Vater nicht mehr so wichtig.

Frau Peetz sah mich freundlich an. »Vielleicht hast du ja Lust, uns von dem spannenden Beruf deiner Mutter zu erzählen, wenn du dich ein bisschen eingelebt hast?«

Ich nickte. »Klar.«

Es war ein guter Start, und als ich in der Pause meine Brotdose mit Omas geschmierten Schnitten und den Gurkenscheiben aufklappte, fühlte ich mich zum ersten Mal ziemlich normal. Leider hatte ich an diesem Tag nicht viel Zeit, meine neuen Mitschüler kennenzulernen. Zwischen den Unterrichtsstunden musste ich meine neue Fahrkarte abholen und mich für das Mittagessen anmelden. Und als nach der sechsten Stunde der Gong schlug, sauste ich direkt zum Parkplatz, wo Oma und Mama mich schon erwarteten.

»Wie war es?«, fragten sie gleichzeitig.

»Gut. Die sind alle sehr nett«, sagte ich und kletterte auf den Rücksitz. »In Mathe und Englisch konnte ich alles.«

»Toll!« Mama pustete erleichtert aus, und dann gab sie auch schon Gas, und wir düsten in Omas altem Golf in Richtung Flughafen.

Ich lehnte mich zurück und dachte, dass der Umzug nach Hannover alles in allem vielleicht gar nicht so schlimm war. Geologisch betrachtet, hatten wir uns sogar verbessert. Laut Mama gab es hier weit und breit keine tektonische Störung, wie zum Beispiel ein Riss in der Kontinentalplatte. Das Erdbebenrisiko ging damit gegen null. Natürlich tröstete mich das nur wenig über den Verlust meiner alten Schule und der Jungs vom Turnen hinweg. Und mir fiel es nicht leicht, Mama gleich für drei Monate in die Arktis zu verabschieden. Anderseits hatte ich dafür eine Oma mit einem ordentlichen Haus und jeder Menge Geschichten bekommen. Allein in den letzten zwei Wochen hatte ich mehr über mich herausgefunden als in den ganzen Jahren zuvor. Zum Beispiel wusste ich jetzt, woher ich meine Haarfarbe hatte (eindeutig von Opa) oder meine knubbeligen Knie (von Omas Bruder Reinhold). Außerdem hatte sich geklärt, warum ich gut malen konnte (von Uropa Georg geerbt) und keinen Kümmel mochte (wie Oma).

Nur zwei Eigenschaften waren ein absolutes Rätsel geblieben: mein Talent zum Turnen und meine Höhenangst. Niemand in Mamas Familie war sonderlich sportlich, und keiner geriet in Panik, wenn er aus einem Fenster im ersten Stock blickte. Das musste aus der Familie meines Vaters stammen. Wobei einem ja auch nicht alles vererbt wird, wie Oma mir erklärt hatte, manches bekam man einfach so, wie einen Gewinn im Lotto oder eine Niete an der Losbude.

Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, hatten wir den Flughafen erreicht, und Mama bog links auf die Spur, die zur Abflugebene führte. Die Straße wand sich in einer steilen Kurve nach oben, und dort hielten wir, auf dem Parkdeck direkt vor dem Terminal. Ich half Mama, ihren Seesack vom Kofferraum auf einen Gepäckwagen zu hieven, und schob ihr den zentnerschweren Sack über die Straße.

In der Abflughalle war es angenehm kühl. Ich lief zu der großen Anzeigetafel und suchte die Nummer von Mamas Flieger. Zuerst musste sie nach Oslo fliegen, von da aus ging es weiter nach Tromsø, wo im Hafen das Forschungsschiff Nordlicht lag.

»Guck mal, da steht schon Check in«, sagte ich und zeigte auf die blinkenden Lichter hinter Oslo.

Mama hörte gar nicht hin.

»Habe ich eigentlich meine Zahnbürste eingepackt?«, fragte sie, während wir auf den Schalter der Fluglinie zusteuerten, um ihr Gepäck aufzugeben.

Oma seufzte. »Kind, wir sind die Liste gestern vier Mal durchgegangen. Du hast alles. Zwei neue Zahnbürsten liegen in deiner Kulturtasche.«

»Okay«, sagte Mama und begann, in ihrer Handtasche nach dem Pass zu wühlen. Überraschenderweise fand sie ihn sofort.

»Am besten, Sie gehen gleich weiter zur Sicherheitskontrolle«, sagte die Frau vom Bodenpersonal, nachdem sie Mamas Boardkarte ausgestellt hatte und der Seesack über das kleine Laufband hinter einer Wand verschwunden war.

Ehrlich gesagt, war ich froh, dass die Zeit knapp war. Ich konnte Abschiede nicht leiden. Außerdem waren Mama und ich noch nie länger als eine Woche getrennt gewesen, und ich wollte die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen. Mama schien es ähnlich zu gehen. Jedenfalls marschierte sie schnurstracks durch die Halle bis zu dem abgesperrten Bereich, wo man nur mit einer Bordkarte hineindurfte. Dort holte sie tief Luft und schloss mich in die Arme. Sie drückte mich ganz fest und flüsterte: »Es sind nur drei Monate.«

»Wir kriegen das hin, mach dir keine Sorgen«, versicherte ich. »Im Vergleich zum Alter eines Feuersteins ist das doch gar nichts!« Das hatte Mama früher immer zu mir gesagt, wenn wir auf Klassenfahrt gingen.

Sie legte mir die Hände auf die Schultern und sah mich an. Hoffentlich heult sie jetzt nicht los, betete ich. In meinem Hals steckte nämlich ein dicker, fetter Kloß, und ich war nicht sicher, ob ich meine coole Fassade dann noch halten konnte.

»Ich rufe über Skype an, sooft ich kann. Wenn ich mich nicht melde, dann nur, weil wir kein Netz haben, ja? Ich habe euch an Omas Laptop alles eingerichtet. Wenn ihr auf Favoriten geht, findet ihr sofort die Website, die zeigt, wo ich bin, da steht auch die Notfallnummer vom Institut und …«

»Das hast du uns alles zehn Mal gezeigt, Mama«, unterbrach ich sie. »Ich glaube, du musst jetzt echt los, sonst verpasst du noch deinen Flieger.«

Mama nickte und zog ihre Reiseunterlagen aus der Tasche.

»Habe ich euch auch gesagt, wo die Krankenkassenkarte und der Impfpass liegen?«

»Ja!«

»Und kannst du noch die letzten Umzugskartons aus dem Flur in den Keller räumen, und …«

»Mama, ja!«, rief ich. »Los jetzt!«

Sie seufzte tief, umarmte Oma, warf mir eine Kusshand zu und eilte, ohne sich noch einmal umzudrehen, durch die verschlungenen Absperrungen, die in großen Schlaufen zum Sicherheitscheck führten.