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Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch:
„Liebe mit Laufmaschen“

1. Auflage, April 2015, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta
© 2015 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung,
Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung
des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlags.

Korrektorat: Sarah Strehle
Cover: Marion Alexa Müller
Autorenportraits: Marlen Kasch, Bearbeitung: Jörn Rohrberg
Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-943876-87-1
epub ISBN: 978-3-943876-51-2
E-Book-Version 1.3

Jennifer Sonntag

Dirk Rotzsch



Liebe mit Laufmaschen



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Liebe mit Laufmaschen

Jennifer Sonntag

Ich hatte gerade die Mail von der Redaktion geöffnet. Man wollte mir meinen nächsten Interviewgast mitteilen. Mein Vorgehen war mittlerweile routiniert: Recherchen zu den jeweiligen Promis betreiben, Fragen strukturieren, Moderationskarten ausdrucken.

Diesmal allerdings keine Spur von Routine, diesmal war ich sehr zerrissen, irgendwie zwiegespalten. Ich dachte sofort darüber nach, einfach abzusagen. Ich durfte ablehnen, die Option hatte man mir gelassen. Hauptsache, es waren genug Produktionen auf Halde. Ich hatte nie davon Gebrauch gemacht, da ich mir selbst beweisen wollte, auch mit den schrägsten Vögeln fertig zu werden. Doch diesmal, als ich es ernsthaft in Erwägung zog, würde ich keine Wahl haben. Einen Vorteil hatte die Sache schließlich: Recherchen, Fragen und Moderationskarten würden nicht nötig sein, alles würde wie selbstverständlich aus meinem Inneren nach außen dringen.

Am Tag der Aufzeichnung hatte ich mit heftigem Herzrasen zu kämpfen. Ich nahm das Studio wie durch Watte wahr, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es war kein männlicher Gast, den ich empfangen würde, kein Beuteschemaalarm, ich müsste keine Angst vor erotischen Schwingungen haben. Wenn ich auch grundsätzlich über dem Promistatus meines Gegenübers stand, dann doch nicht immer über männlicher Attraktivität, das musste ich zugeben.

Aber was löste diese Frau in mir aus? Ich spürte eine tiefe innere Unruhe und hoffte nun immer mehr, dass ihr Management den Termin platzen ließ. Die Jungs machten ihre Kameras klar. Die Maske gab ihr Bestes in meinem Gesicht. Dann wurde ich verkabelt. Im Set standen sich zwei rote Sessel gegenüber. Ich nahm auf der Seite Platz, die mir zugewiesen wurde, und bildete in meinem schwarzen Kostüm einen adretten Kontrast zum Hintergrund. Und dann kam sie grußlos hereingeschritten, überlegen, abgeklärt, etwas zu spät, aber besser zu spät als nie, das wusste sie genau – die Liebe.

Die Liebe setzte sich mir gegenüber wie ein Zwilling. Ich erschrak, denn sie sah mir auf eine unheimliche Art ähnlicher, als ich es von meinem Spiegelbild gewohnt war. Obwohl diese sonderbare Frau so viel morbider wirkte als ich, war sie doch, und vielleicht gerade deshalb, wesentlich charismatischer. Sie hatte meine Augen, aber ihre waren tiefer und wissender. Sie hatte meine Lippen, aber ihre waren zu rot, überzeichnet, aufgemalte Dienstleister. Auch sie trug schwarze Strümpfe, aber an ihren Beinen kletterten unzählige Laufmaschen hinauf aus ihren etwas zu hohen Schuhen bis unter ihren etwas zu kurzen Rock. Insgesamt war sie hagerer als ich, blasser, das Haar splissiger, ein Abbild von mir, dem man etwas genommen hatte. Oder hatte sie sich selbst etwas genommen? Ich fühlte mich auf eine seltsame Weise zu ihr hingezogen.

Der Produzent drängte, die Liebe müsse nun endlich verkabelt werden, Maske sei nicht nötig, man wolle sie authentisch, müsse nun aber endlich beginnen, denn sie habe sehr wenig Zeit und ihre Chancen liefen schließlich mit dem Alter davon. Das schien allerdings eher sein Problem zu sein, wenn man ihn sich so ansah. Die Liebe selbst schenkte dem Team um uns herum keine Beachtung, erwartete voller Spannung unser Zwiegespräch, wie mir ihre Körpersprache verriet. Sie sah mich an, als wäre ich die Frage auf all ihre Antworten und ich wusste, dass es stimmte. Der Aufnahmeleiter schlug die Klappe. Das war mein Zeichen. Ab jetzt musste ich funktionieren, meine Worte sortieren, meine Stimme entknittern. Ich atmete ruhig ein und aus, ein und aus, ein und wieder aus, wurde ganz ich und begann mit dem Interview:

„Herzlich willkommen bei Zwiespalt! Es ist mir eine Ehre, Sie als Interviewgast begrüßen zu dürfen.“

„Ich bedanke mich für die Einladung.“

„Nehmen Sie mir meine erste Frage nicht übel. Aber Ihre Antwort wird viele Zuschauer interessieren. Gibt es Sie überhaupt, die wahre Liebe?“

„So wahr ich hier sitze. Die Frage ist doch immer, wie ich für jeden Einzelnen aussehe oder aussehen soll. Wahrheit hat ja auch immer mit Wahrnehmung zu tun und die ist nicht objektiv. Genau wie die Wirklichkeit nur immer das sein kann, was auf den Einzelnen und im Einzelnen wirkt. Wirklichkeit ist nicht mit Realität zu vergleichen. Was also wirklich wahr ist, lässt sich schwer beantworten. Auch wenn ich mit Fug und Recht behaupten kann, dass ich die wahre Liebe bin, kann ich nicht bestreiten, dass ich extrem mit Laufmaschen zu kämpfen habe.“

„Was denken Sie, wann ist ein Mensch liebenswert?“

„Ein Mensch ist liebenswert, wenn er anderen einen Nutzen bringt. Das zeigt ja das Wort Wert schon ganz deutlich. Sie müssen also etwas wert sein, um geliebt zu werden. So gesehen ist das eine ziemlich dreiste Kalkulation. Ein liebenswerter Mensch muss ständig genau die Eigenschaften an seine Mitmenschen liefern, die ihn liebenswert machen. Egoistisch von den anderen, vielleicht aber auch von ihm, weil er ja mit dem Wert, den er zu geben hat, in einen Handel treten kann, der ihm nützt. Eigentlich sind wir doch alle knallharte Geschäftsleute, wir dealen mit Gefühlen und es ist uns unmöglich, daran jemals etwas zu ändern. Lieben und geliebt werden heißt auch brauchen und gebraucht werden. Wir zahlen auf unsere Beziehungskonten ein und müssen aufpassen, dass wir uns dabei nicht verzocken.“

„Also sind Liebende immer Egoisten?“

„Natürlich! Sie lieben doch nicht, um dem anderen einen Gefallen zu tun, sondern um ihrem Herzen gerecht zu werden. Wenn es nicht kribbelt im Bauch, dann können Sie sich die Liebe für einen anderen auch mit dem größten Samaritertum nicht einreden. Nur wenn Sie sich selbst daran nähren können, werden Sie die Liebe erhalten wollen. Wenn Sie nicht mehr lieben, kann der andere tun, was er will, er kann sich an Ihnen totlieben, Ihr Herz gewinnt er nicht zurück. Da kann auch die Vernunft nichts mehr tun. Liebende sind Egoisten. Und auch die größten Romantiker können dieses Gesetz nicht durchbrechen. Wenn die Schmetterlinge zertrampelt am Boden liegen, nützt es auch nichts, wenn die Sonne drauf scheint.“

„Aber die Liebe ist doch eigentlich etwas so Schönes. Sollte man sie überhaupt hinterfragen?“

„Ich tu das nicht. Das tun immer die anderen. Sie hinterfragen mich, immer und immer wieder. Sie zweifeln an mir, sie wägen mich ab, sie rauben mir die Illusionen und sie machen mich – bitte entschuldigen Sie – zur Hure. Und dann wundern sie sich über meine harten Worte. Aber es sind nicht meine Worte, es sind ihre Gedanken. Ich bin das, was sie aus ihrer Liebe gemacht haben, mit all ihren Komplexen, ihrem Argwohn, ihren Forderungen. Die Leute trauen mir nicht über den Weg, weil sie sich nicht über den Weg trauen, sie haben Angst vor mir, weil sie sich vor ihrer Courage fürchten. Und das Schlimmste ist, ihr Misstrauen erregt sie, sie finden mich faszinierend, so wie sie mich jetzt sehen, sie wollen die Liebe verrucht und abgründig. Ich dümple dahin irgendwo zwischen geil und tot. Sie treten mich mit Füßen, ständig friere ich mir den Arsch ab, kriege keinen Bissen mehr runter ihretwegen. Ihnen geht es dabei auch nicht besser, denn ich liebe in ihnen und das meistens krank. Sehen Sie doch mal uns beide an. Was glauben Sie, warum ich Ihnen so erscheine? Steht wohl gerade nicht so gut um Ihre Liebe, oder?“

„Entschuldigen Sie bitte, das gehört sicher nicht hier her. Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Ich denke sehr wohl, dass Sie wissen, was ich meine und ich denke, dass es genau hierher gehört. Sie wussten von Anfang an, dass dieses Zwiegespräch bitter nötig ist und dass Sie sich früher oder später stellen müssen. Also: Was war das denn in den letzten Monaten mit Ihren Männergeschichten?“

„Ich bitte Sie, hören Sie auf!“

„Nein, ich werde einen Teufel tun. Wissen Sie, was Sie mir wochenlang zugemutet haben, mir, der Liebe in Ihnen? Kein Wunder, dass ich kaum noch etwas fühlen kann, schlaflose Nächte habe, nicht weiß, wie es für Sie und mich weiter geht. Ich bin sehr kaputt in Ihnen, das ist Ihnen bekannt und das nehmen Sie billigend in Kauf. Bei Ihnen ist ja der schöne Schein gewahrt, aber schauen Sie mal meine Fingernägel an, da ist der Lack ab und es wird nicht lange dauern, dann wird mir der Absatz hier abbrechen.“

„Aber, aber …“

„Lassen Sie mich ausreden. Ich habe lange genug geschwiegen. Glauben Sie nicht, dass es nichts zu sagen gegeben hätte. Mir ist durchaus bewusst, dass Sie zwischen den Stühlen sitzen, dass er nicht aufgeht, der Tanz zwischen Heißblütig- und Kaltherzigkeit, dass Betrügen anstrengend ist und dass Sie das alles gar nicht wollten. Klar sind immer die Männer schuld, daran, dass es überhaupt so weit kommen musste und daran, dass es uns nun völlig überfordert. Ja, auch mich. Schließlich war ich dabei, als Sie diese Hotelzimmer buchten, um den einen dort zu treffen, von dem der andere nichts wissen durfte. Ich war dabei, als Sie mit dem einen die heiße Spitzenwäsche im Schaufenster bestaunten und sie dann für den anderen kauften. Ich war immer wieder dabei, als der eine Sie verletzte und Sie sich den anderen zum Trost nahmen. Es ist nicht schön, aber Sie sehen sicher ein, dass mich dieses Gefühlschaos ganz schön in Mitleidenschaft gezogen hat, und es ist ja wohl offensichtlich, dass ich ziemlich abgenommen habe.“

„Ja, ja, Sie haben so recht. Ich sehe es, ich sehe, dass Sie abgenommen haben und ich spüre es auch schon lange. Ich weiß einfach nicht, für wen ich Sie noch empfinden kann, Sie, die Liebe. Irgendetwas steht mir im Weg, irgendetwas verhindert Sie. Was ist bloß los mit mir? Bitte entschuldigen Sie.“

„Das ist ganz einfach. Sie allein verhindern mich, Sie stehen sich im Weg. Wissen Sie, ich möchte Ihnen gern etwas Grundsätzliches erklären. Sie brauchen sie nicht, die Männer, die ständig neuen Schuhe, den Wein. Das bringt Sie sich selbst nicht näher, das bringt Sie mir nicht näher. Sie müssen lernen, sich selbst zu lieben, liebenswert für sich selbst zu sein, sich selbst in sich zu bestätigen. Verstehen Sie, was ich meine? Benutzen Sie nicht länger die Liebe zu einem Mann, um sich zu erkennen. Lieben Sie sich! Wenn Ihnen etwas daran liegt, dass ich in Ihnen gesunde, müssen Sie mich für sich zurückgewinnen, begreifen Sie das? Bitte nicht mehr diese verzweifelten Umwege über die Männer! Ich habe mich für Sie genug geschunden, ich möchte nicht nachtragend sein, aber Sie wissen sehr genau, dass ich nicht übertreibe. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der ich dringend Ihre Hilfe brauche. Sie wissen doch, die Beziehungskonten.“

„Ich glaube im Moment leider nicht daran, dass Ihnen noch zu helfen ist.“

„Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Nur eines noch: Sie werden sehen, auch Helfen ist ein hochgradig egoistischer Zug. Wenn ich mich wieder fühlen kann, können Sie sich wieder lieben. Nützen Sie mir, dann nütze ich Ihnen. Aber vergessen Sie nicht, wir tun es nicht für die Männer, wir müssen bei uns anfangen und dann wird sich auch die Sache mit den Herren der Schöpfung regeln. Erkennen Sie mich in sich. Vergessen Sie alles, wofür Sie sich verstellt, verkleidet und verkauft haben. Seien Sie endlich Sie selbst und nehmen Sie sich an. Danach wird’s uns beiden prächtig gehen, das verspreche ich Ihnen.“

„Okay, was soll ich tun?“

„Sie wissen ja, ich bin eine Hure …“

Die Liebe sah mir tief und wissend in die Augen und öffnete die ersten Knöpfe ihrer Bluse. Darunter war sie nackt. Das wunderte mich jetzt nicht, war ja von einer Hure zu erwarten. Gebannt von ihren kleinen festen Brüsten – die hatten wohl noch nicht gelitten – verlor ich nun endgültig das Bewusstsein für Zeit und Raum. Der Tontechniker machte sich daran, uns zu entkabeln. Für die folgende Produktion käme es überwiegend auf die Bilder an.

Ich begann wie in einem Rausch, den Regieanweisungen zu folgen und gab mich dabei ganz mir und der Liebe hin. Mit zittrigen Fingern näherte ich mich ihren fordernden Brüsten und reizte die keck ins Scheinwerferlicht ragenden Spitzen. Ich sah, dass die Liebe die Augen schloss und ihre Lippen leicht öffnete. Ihr Körper pulsierte zunehmend stärker und ihre Blässe färbte sich rosa. Ich verließ meinen Sessel und kniete mich ehrfürchtig vor die erblühende Liebe. Langsam streichelten sich meine Hände an ihren Beinen empor. Jetzt forderte man mich auf, ihre Schenkel jeweils zu beiden Seiten über die Sessellehnen zu spreizen. Da saß sie nun, den Spitzenrand ihrer Strümpfe und ein seidenes Höschen entblößend, welches ich sanft beiseite schob. Wunderschön war sie dort, die Liebe, geschmückt mit einem schwarzen Lockenstreifen auf dem Venushügel. Verliebt suchte ich mit meinen Lippen ihren weichen Schoß, roch ihren Duft, süß und herb zugleich. Meine Zunge fand ihre Knospe, dann ihre Spalte – und ich spürte, wie sich die Liebe hingab, wie sie zu keuchen begann, immer schneller und heftiger atmete, wie sie sich erhitzte, erregte, wie ihre Nässe mein Gesicht benetzte, begoss, überflutete. Nass, nass, ich war nur noch Nässe …

Oh verdammt, der Wein, ich habe den Wein ausgekippt. Jedenfalls das, was von der zweiten Flasche noch übrig war. Ich muss wohl über meiner E-Post eingeschlafen sein. Zum Glück hat die Tastatur nicht so viel abbekommen. Also, ich bin pitschnass. Auf dem Bildschirm noch die offene Mail der Redaktion:

Salve Surrea, der nächste Dreh steht. Dispo folgt. Promi hat heute zugesagt. Diesmal ist es eine Frau. Darfst raten, wer. Name beginnt mit L …

Geblümt

Jennifer Sonntag

Es war kein Auftrag, der mich besonders rockte. Ich lieferte hin und wieder für das hiesige Kulturmagazin spritzige Beiträge über junge Bands und Nachwuchsautoren. Nun hatte ich eine betagte Künstlerin zu porträtieren, die mich zu allem Überfluss auch noch auf ihre Gartenterrasse einlud. Das war nun wirklich nicht mein Beritt. Ich hatte wenig Lust, etwas über diese Dame zu schreiben.

Madame Popette war eine kleine, runde Frau mit riesigem Sonnenhut und liebem Gesicht. Sie empfing mich herzlich, ließ ihre bunten Perlenketten rasseln und nahm mich unbefangen bei der Hand. Dass ich wegen einer geplanten Konzertrezension in vollständiger Gothic-Pogo-Montur bei ihr aufschlug, beeindruckte sie nicht negativ. Sie führte mich durch ihren Garten direkt zur Terrasse. Dabei duftete sie so blumig wie ihr Zuhause und ein wenig auch nach Eierlikör, den sie uns beiden sogleich großzügig einschenkte. Das war wohl der Sektempfang auf ihrer kleinen Vernissage.

Oma hätte sich wohlgefühlt: niedliches Porzellan auf dem bestickten Tischtuch, ein frisch angeschnittener Apfelkuchen, mit Sicherheit selbst gebacken, surrende Insekten, unerträgliches Schlagergeseier und Blütenterror, dass es einen erschlug. Mittendrin strahlte die alte Dame, heller als die Sonne selbst. Irgendwie fand ich sie ja schon irrsinnig sympathisch, aber ich war nicht hier, um mir mit diesem fiesen Likör die Kante zu geben. Es ging um ihre Kunst und bei allem Respekt, wie die aussehen sollte, wollte ich mir lieber nicht vorstellen: Häkelfummel? Gefilzte Haarklemmen? Nein, bitte nicht!

Ich blickte mich um nach jenen Dingen, von denen ich zwar kein konkretes Bild hatte, die mir aber vage Angst machten. Was ich sah, waren nichts als Blumen, Blumen und nochmals Blumen, überall um uns herum, in den buntesten Farben, den vielfältigsten Formen, eine wahre Pracht für den, der es mochte, zwischen unzähligen Blumenkübeln und Töpfchen Ruhe und Entspannung zu finden. Aber Moment, was waren das für Blumentöpfe? Ich traute meinen Augen nicht. Wie konnte ich das übersehen haben? Das durfte doch nicht wahr sein! Ich war umringt von tönernen Herrenpopos, in den verschiedensten Größen, glasiert, verziert oder naturbelassen, jeder Einzelne überaus appetitlich ausgearbeitet.

Jetzt war ich baff! Hatte mir meine Fantasie einen Streich gespielt? Ich rieb mir die Augen. Madame Popette quietschte vor Vergnügen, als sie mich dabei beobachtete. Sie sah diese Reaktion vermutlich nicht zum ersten Mal. Und sie wusste genau, was ich jetzt dachte. Natürlich besaßen die Blumentöpfe auch eine Vorderseite. Ich hätte es bemerken müssen, als wir die Terrasse betreten hatten. Wie bizarr sie sich doch einfügten in diese unschuldige Blumenlandschaft, herausragend modelliert, und wie stramm sie in die Höhe standen, bunt bemalte Libellen und Schmetterlinge keck auf ihre prallen Spitzen dekoriert.

Gut, das mit den Drogen hatte sich irgendwann rächen müssen. Wer fürchtet sie nicht, diese Situationen, in denen man zum Beispiel im Garten einer alten Frau steht und sich sämtliche Blumentöpfe in männliche Unterleiber verwandeln? Warum sollte der Wahnsinn also nicht genau jetzt in Form getöpferter Phallen in meinen Geist einfahren?

In diesem besorgniserregenden Gedankengang gefangen erwischte ich mich dabei, wie ich mit der Hand an einem besonders gigantischen Exemplar auf und ab fuhr, um mich von seiner wahren Existenz zu überzeugen. Meine Gastgeberin stand neben mir und kicherte mich – außer sich vor Entzücken über diesen Anblick – in die Realität zurück. Ich hüstelte verlegen in mein Likörglas, dessen Form mir plötzlich auch nicht mehr ganz normal vorkam.

Jetzt wusste ich, warum mir diese kleine Frau so irrsinnig sympathisch war. Sie hatte genau die richtige Schraube locker und ich hatte auf einmal große Lust, etwas über sie zu schreiben. Wir setzten uns und begannen zu reden. Und wie wir da so sprachen und sie in ihrem Gesicht so viele Falten hatte wie ich Laufmaschen in den Strümpfen, wie sie von ihrem köstlichen Apfelkuchen schwärmte, auf den ich mittlerweile ehrlich scharf war, wie sie erzählte von den Männern und der Liebe und der Kunst, da unterbrach ich meine Aufzeichnungen, drückte ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange und gestand ihr, dass ich es bei ihr echt gerade arsch-gemütlich fand …