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Originalausgabe
1. Auflage 2015
© 2015 by Lago, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
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Redaktion: Caroline Kazianka
Umschlaggestaltung: Kristin Hoffmann
Umschlagabbildung: shutterstock
Satz: Carsten Klein
E-Book: Daniel Förster
 
ISBN Print 978-3-95761-120-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-047-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-048-4
 
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Für Toni

Inhalt


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1

Aus der Luft betrachtet, wirkt das Treiben wie ein emsiger Ameisenstaat, nur auf den ersten Blick chaotisch, doch jeder bewegt sich auf einer vorgesehenen Linie.

Die Woche der Kasernierung neigt sich dem Ende zu, endlich steht das Wochenende an. Alle 5000 Soldaten zieht es wie magnetisiert zum Nordtor der Kaserne, ob zu Fuß oder in ihren Autos, es existiert nur eine Richtung. Es dauert keine fünf Minuten, bis die ausfahrenden Autos die freitagstypische Stauung verursachen. Über 100 Meter von der ersten Straßenmündung zurück reiht sich Karosserie an Karosserie, bis weit auf das Kasernengelände.

Im »Aquarium« herrscht dagegen ruhige Eintönigkeit. Die Luft schmeckt nach abgestandener Besenkammer und ist zudem unangenehm warm. Dirk Müllers Arbeitsplatz besteht aus drei Quadratmetern, die klaustrophobisch eng mit dicken Panzerglasscheiben ummauert sind. Die eisenverstärkten Rahmen sind in Signalgelb gestrichen, während der Dachsims mit schwarz-rot-goldener Farbe verziert ist. Der Glasbunker dient dem Schutz des Wachsoldaten der Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne in Augustdorf.

Als der Stau seinen Höhepunkt erreicht, steuert ein alter VW Golf von der Zufahrtsstraße in Richtung der Einfahrtsschranke. Der 23-jährige Wachposten registriert ungläubig, wie der Wagen keine zehn Meter vor dem Kontrollbereich stoppt. Obendrein lässt ein Ruckeln darauf schließen, dass der Motor abgestellt wurde. Müller ist außer sich. Dass Besucher und Angehörige sich verfahren und ein Hindernis darstellen, hat er schon zur Genüge erlebt, aber jetzt, inmitten des größten Feierabendchaos, sein Auto vor dem Tor abzustellen und eine ganze Spur zu blockieren, das ist zu viel. Er versucht, Sichtkontakt zu dem Schichtführer im Wachhaus aufzunehmen, aber die tief stehende Sonne spiegelt sich in den dicken Panzerglasscheiben und die veraltete Gegensprechanlage verschluckt mehr Worte, als sie in das Wachgebäude überträgt. Entgegen der Dienstvorschrift entschließt sich der einsatzerfahrene Soldat, seinen sicheren Posten im »Aquarium« zu verlassen, um den Falschparker mit ein paar deutlichen Worten zu vertreiben. Er schiebt die schwere Panzerglastür auf und spürt augenblicklich die kühlende Wirkung des Windes und Sonnenstrahlen auf der Haut.

Die Windschutzscheibe des Golfes reflektiert und verhindert einen Blick in das Wageninnere. Nach den ersten Schritten öffnet sich die Autotür und ein etwa gleichaltriger Mann steigt aus. Die Fahrertür arretiert am Anschlag. Erst jetzt kann Müller den gesamten Störenfried in Augenschein nehmen: jung, hellbraune Haare, gepflegtes Erscheinungsbild, Jeans, Turnschuhe, offenbar ein Deutscher. Bei dem Kurzhaarschnitt wahrscheinlich ein Kamerad oder ein junger Bursche, der sich nach einer Soldatenlaufbahn erkundigen will. Dirk entspannt sich, doch dann kreuzen sich die Blicke der Männer, und was er darin liest, ist klar – er hat sich geirrt.

Als ob ein imaginärer Startschuss gefallen wäre, setzt sich sein Gegenüber blitzartig in Bewegung. Im Vorwärtsgehen reißt er seinen rechten Arm nach oben, in der Hand scheint er etwas zu halten. Der Hauptgefreite registriert, wie sich die Lippen des Falschparkers zu einem Ruf verformen, aber all das wirkt so irreal, dass seine Synapsen die Eindrücke nur scheibchenweise und in Zeitlupe verarbeiten. Dirk Müller gelingt es nicht, den Ruf einzuordnen. Klingt es nicht wie ein Schlachtruf?

Der ohrenbetäubende Feuerstoß einer AK-47 zerreißt die Stille und schlägt in den Oberköper des Familienvaters ein. Die massiven Geschosse der Kalaschnikow zerstören aus dieser kurzen Distanz alles, was ihre Flugbahn kreuzt. Das erste Projektil durchbricht seinen rechten Brustkorb, knackt mühelos den Rippenbogen und verursacht schwere Lungen- und Gewebeverletzungen. Die Schussfraktur lässt getroffene Knochen explodieren und katapultiert diese Hunderten Harpunen gleich durch den Körper. Winzig, aber zerstörerisch. Das zweite Geschoss dringt frontal in den Soldaten ein und zertrümmert vor dem Austreten das Rückenmark. Ein Gemisch aus Organ- und Gewebestücken, Blut und Knochensplittern bildet sich auf seinem Körper. Durch die zerfetzten Adern strömt Blut in Dirks Atemwege, das er per Schnappatmung auf sein Gesicht ausstößt. Die ausbleibende Durchblutung bewirkt schlagartig einen Sauerstoffmangel im Gehirn. Das dritte Projektil durchbohrt unterhalb des linken Auges den Kopf und lässt seinen Schädel zerplatzen. Der kräftige Feuerstoß fegt ihn von den Beinen, sodass er vornüberkippt. Bevor sein Körper in einer Blutlache auf dem Asphalt aufschlägt, ist Dirk Müller bereits tot.

Erschossen zu werden ist brutal und schmerzhaft.

Es ist kein schneller, kein leichter Tod, wie in einem Vorabendkrimi.

Für eine Sekunde überwiegt lähmendes Entsetzen. Dann schlägt die Fassungslosigkeit in nackte Panik um. Schreie zerreißen die Stille, instinktiv suchen zahllose Augenpaare ihre Umgebung nach Schutz ab. Der Angreifer nimmt den rechten Zeigefinger kurz vom Abzug und visiert ein neues Ziel an. Der zweite Feuerstoß entlädt sich auf den ihm am nächsten stehenden Pkw. Die wuchtigen Geschosse zersieben den 3er BMW und dessen vier Insassen. Danach bewegt der Schütze die Mündung des Sturmgewehrs in einem Halbkreis über die blecherne Karawane, seine dabei gebrüllten Parolen gehen im Lärm und Chaos unter. Die Maschinenpistole spuckt mit einer Feuerrate von 600 Schuss pro Minute unentwegt todbringende Geschosse aus. Die infernalen Schussexplosionen werden von zersplitternden Autoscheiben, zerberstenden Karosserien und immer verzweifelterem Geschrei überlagert. Schrille Schreie lenken die Aufmerksamkeit des Schützen nun auf einen Teil des Areals, mit dem er sich bis dato noch gar nicht beschäftigt hat. Der Besucherparkplatz, rechts vor dem Ausgangstor gelegen.

Er schwenkt seinen Oberköper um 90 Grad und zielt auf die versammelten Frauen und Familienangehörigen der Soldaten. Diese sind mit der Situation hoffnungslos überfordert und suchen notdürftig Schutz hinter Autos, Kieferbäumen und Laternenmasten. Der nächste Feuerstoß jagt eine Gruppe von vier, fünf Frauen, die sich hinter einem Kleinwagen zu verstecken versuchen. Doch die Geschosse durchschlagen mühelos Front- und Heckscheibe und bohren sich in ihre Leiber. Der Schütze nimmt nochmals seinen Finger vom Abzug und richtet die Kalaschnikow erneut aus. Da erschallen einzelne Schüsse, der Angreifer bäumt sich auf und zuckt zusammen. Er dreht sich um seine Achse und ist dabei, seine AK-47 auf ein neues Ziel in Stellung zu bringen. Die Mannschaft aus dem Wachhaus hat sich jedoch mittlerweile aus ihrer Schockstarre befreit und ist zum Gegenangriff übergegangen. Ein Soldat läuft mit gezogener Pistole auf den Täter zu und erwidert das Feuer. Ein weiterer Soldat kniet an der Eingangstür der Wache und nimmt ihn ebenfalls unter Beschuss. Die Kalaschnikow spuckt einen weiteren dröhnenden Feuerstoß aus. Doch dieser ist zu ungezielt und kracht in die Panzerverglasung, die zwar zersplittert, aber standhält. Der Attentäter fällt getroffen nach vorne und stützt sich, die AK 47 ausrichtend, auf seinem rechten Knie ab. Da durchschlägt eine Pistolenkugel seinen Schädel und stoppt den Anschlag und sein Leben.

Der Angriff auf Deutschlands größte Kaserne dauert keine 30 Sekunden.

2

Viele Kollegen sind bereits ins Wochenende aufgebrochen. Doch Toni Sander ist noch im Dienst. Natürlich. Warum sollte er auch nach Hause wollen?

Der Hauptkommissar beginnt gerade erst, sich an die Arbeit und einen geordneten Tagesablauf zu gewöhnen. Dabei spürt er instinktiv, dass zu viel Freizeit Gift für ihn wäre. Unbewusst atmet er tief durch und blickt aus dem Neubau auf die alten Gebäude des kaiserlichen Kasernengeländes am Treptower Park. Die wechselvolle Berliner Historie ist hier noch spürbar. Der jahrhundertalte Kasernenkomplex beherbergte schon die Kaiserliche Kavallerie-Telegraphen-Schule, die Heereswaffenmeisterschule der Wehrmacht und anschließend die Rote Armee. Danach zogen die Männer der Volkspolizei und der Grenztruppen der DDR in die Kaserne, bis nach der Wiedervereinigung die Bundeswehr den Standort übernahm. Es folgte eine zeitweise Nutzung als Asylbewerberheim, nach der die betagten zweigeschossigen Kasernengebäude denkmalgerecht saniert wurden. Seit 2004 ist Tonis neue Behörde hier ansässig, die Hauptstadtniederlassung des Bundeskriminalamtes.

Nach intriganten politischen Auseinandersetzungen versetzte die Behördenführung rund 500 Angehörige des BKA aus Wiesbaden und Meckenheim zum Aufbau der Berliner Dependance. Der im Frühjahr 2004 gestartete Aufbau einer Berliner BKA-Truppe wurde erst 2006 abgeschlossen. Toni Sander stieß inmitten dieser Umbruchphase zum Bundeskriminalamt. Nach seiner Zeit bei der Berliner Kriminalpolizei reizte ihn die neue Herausforderung – doch dann kam alles ganz anders.

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Da nach den zurückliegenden Monaten niemand so recht wusste, wohin mit ihm, hatte ihn sein Direktor dorthin abgeschoben, wo zurzeit jeder landete, dessen Vorgesetzte über keinerlei Fingerspitzengefühl verfügten. Die Logik seines Chefs war gleichermaßen pragmatisch wie demotivierend.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Sander, aber niemand weiß, ob es Ihnen gelingt, in den nächsten Tagen und Wochen wieder Ihren Dienst in vollem Umfang zu versehen, da stecken wir Sie am besten in die Allgemeine Task Force. Bei so einer großen Einheit können die Kollegen Sie schon mal ein paar Tage mit durchschleppen, wenn es nötig sein sollte. Nicht, dass ich davon ausgehe, aber man weiß ja nie ...«

Die Begrüßungsrede hatte er in etwa so erwartet, trotzdem nervte sie ihn gewaltig.

Die Allgemeine Task Force, für die jeder behördentypisch nur das Akronym ATF verwendet, ist die inoffizielle Sammelstelle im Haus. Ursprünglich fanden sich dort BKAler wieder, die aus dem Auslandseinsatz zurückkehrten, deren Sonderkommissionen geschlossen worden war oder die aus einer länger andauernden Weiterbildung kamen. Die Einheit besaß anfangs auch durchaus ihren Sinn. Rückkehrern verschaffte sie Zeit, sich neu zu orientieren, und man verfügte so über genügend freies Personal, um kurzfristige Sonderkommissionen aufzustellen, ohne funktionierende Dienststellen auseinanderreißen zu müssen. Doch dies änderte sich, als die ATF von höheren Beamten zunehmend dazu missbraucht wurde, in Ungnade gefallene Untergebene loszuwerden. Querulanten, Faulpelze, Männer wie Frauen mit privaten oder gesundheitlichen Problemen. Die ATF verkam in der Folge von einem Durchgangsbahnhof zu einer Sackgasse.

Jeden Tag stand Toni Sander fortan im Büro des Leiters und erkundigte sich, ob eine Anforderung reingekommen sei. Trotz seines Grolls blieb sein Ton kollegial und er schien langsam wieder seine positive Grundeinstellung zurückzugewinnen. In der dritten Woche wurde seine Ausdauer schließlich belohnt, der Leiter rief ihn von selbst zu sich.

»Wir haben was reinbekommen. Das Terrorismusabwehrzentrum hat fünf zusätzliche Stellen bewilligt bekommen. Drei werden von unseren Islamisten­experten gestellt, zwei soll ich beisteuern. Haben Sie Interesse?«

»Ja klar!« Bloß weg hier! Alles andere ist besser als diese Asservatenkammer für Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, ohne Arbeit zu haben.

»Irgendwelche Vorkenntnisse in diesem Bereich?«

»Na, ich war zehn Jahre bei der Berliner Kripo.«

Toni meinte ein kleines Lächeln über das Gesicht des Technokraten huschen zu sehen.

»Das wird reichen müssen. Herzlichen Glückwunsch. Räumen Sie Ihren Schreibtisch.«

Das BKA hätte mit Leichtigkeit alle fünf Stellen hochkarätig besetzen können. Mochte man auch das gleiche Ziel verfolgen, aber Behördenegoismus und Konkurrenzdenken sorgten dafür, dass nicht zu viele Spezialisten mit anderen Dienststellen geteilt wurden.

Toni ordnete seine Gedanken. Das GTAZ also. Das Gemeinsame Terrorismus­abwehrzentrum ist ein Sammelsurium von über 40 deutschen Sicherheitsbehörden. Unter der Federführung des Bundesinnenministeriums (BMI), des BKA und des Bundesamtes für Verfassungsschutz arbeiten dort 230 Mitarbeiter. Im Foyer des Gebäudes stecken die für Behörden charakteristischen Buchstabensuppen deren Revier ab: BND, MAD, 16 LKAs, das Zollkriminalamt, die Bundespolizei und 16 Verfassungsschutzämter der Länder sowie der Generalbundesanwalt tauschen hier ihre Erkenntnisse und Fachwissen aus. Man erhoffte sich bei der Schaffung dieses Kompetenzzentrums eine schnelle Bündelung und Analyse aller relevanten Vorkommnisse und die direkte Veranlassung von operativen Maßnahmen. Das GTAZ muss sich nicht mit Gefahren des Rechts- oder Linksterrorismus beschäftigen, sondern dient einzig und allein der Bekämpfung des islamischen Terrorismus. Wobei es vor der Gründung dieser neuen Behörde noch keinerlei islamistisch motivierten Terroranschlag in Deutschland gab. Aber in der Zeit nach dem 11. September und Charlie Hebdo bezeugen die Drohungen von al-Qaida und IS-Terroristen, dass Deutschland unwiderruflich in den Fokus der Dschihadisten gerückt ist.

Bürgerrechtsgruppen üben im Hintergrund zwar Kritik an dem Zentrum, da dort das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten ausgehebelt werde. Auch warnen Aktivisten vor dem prädiktiven Ansatz der Behörde, indem sie den BMI in das Filmplakat vom Minority Report photoshoppten.

All die Diskussionen hatte Toni wahrgenommen, aber jetzt hieß es: Friss oder stirb!

Für ihn, der vor drei Jahren seinen Vierzigsten gefeiert hatte, war das weiß Gott kein erstrebenswerter Dienstposten. Er stellte sich auf Auswertungen, Analysen und stundenlange Meetings ein, und das war eindeutig nicht sein Ding. Am wohlsten fühlte er sich auf der Straße, wenn er sich in eine Fährte verbeißen konnte. Dennoch: Alles war besser als das Abstellgleis ATF.

Zwei Wochen nach seiner Versetzung erreichen an diesem Freitag immer mehr Meldungen von dem Anschlag das Terrorzentrum. Ohne überhaupt über nähere Informationen zu verfügen, stuft die Behördenleitung, dem ersten Reflex folgend, den Angriff als einen islamistisch motivierten Anschlag ein.

Nachdem sich die erste Bestürzung über das Attentat bei Toni gelegt hat, löst dies bei ihm einen wahren Arbeitseifer aus. Endlich gibt es etwas zu tun. Er eilt ins Lagezentrum und hilft bei der Alarmierung der weit verstreuten Kollegen, die sich bereits im Feierabend befinden.

Ab 17 Uhr gleicht das Lage- und Informationszentrum einem summenden Bienenstock. Die Experten der unterschiedlichsten Arbeitsgruppen saugen neue Meldungen begierig auf, gleichen sie mit Datensätzen ab und versuchen, Zusammenhänge zur islamistischen Szene herzustellen. Die meisten Arbeitsgruppen (AGs) sind nach der Notfallalarmierung schon adäquat besetzt. Die Arbeitsgruppen Operative Fallauswertung, Strukturanalyse, Aufklärung des islamistischen-terroristischen Personenpotenzials, Statusgleiche Begleitmaßnahmen und Transnationale Aspekte des islamischen Terrorismus sind schon in der Lage, in vollem Umfang zu arbeiten. Toni ist ausgerechnet in der Organisationseinheit gelandet, die mit manch vorwurfsvollem Blick bedacht wird, der AG Gefährdungsbewertung. Ihr obliegt es, aus allen Informationen und Datensätzen Gefährdungsanalysen zu erstellen, eine generelle für das Land, einzelne Institutionen sowie eine personelle über besonders auffällige Islamisten. Diese Einschätzungen bilden dann die Grundlagen für politische Entscheidungsträger, führen zur Bestimmung der aktuellen Sicherheitslage und sollen nicht zuletzt die Gefahr eines Anschlages und Maßnahmen für dessen Verhinderung bestimmen.

Das Großraumbüro nimmt die gesamte erste Etage des Neubaus ein und umfasst über 50 Computerarbeitsplätze, von denen jeweils zwei zusammen wie Waben in dem rechteckigen Gebäude angebracht sind. In der Raummitte befindet sich ein Konferenzsaal, der durch Glaselemente akustisch vom Rest der Etage getrennt werden kann. Ein schwerer, blank polierter Mahagonitisch bietet 15 Personen Platz, die dort an den Rechnern Zugriff auf alle relevanten Datenbanken haben. Meistens sitzen da die neun Leiter der Arbeitsgruppen, der Chef der GTAZ, Kriminaldirektor Wolfgang Vogts, und weitere Ermittler zusammen. Bei Bedarf gibt es noch Stühle in zweiter Reihe und Stehplätze am Rand.

Vogts betritt, von seinem Assistenten Schneider begleitet, das Großraumbüro und verschafft sich mit einem lauten »Meine Damen und Herren ...« die gewünschte Aufmerksamkeit. Der Direktor befand sich wie Toni im Kasernenkomplex des BKA, als die ersten Meldungen eintrafen. Sein dunkler Anzug und selbst der Krawattenknoten sitzen noch akkurat. Die Fünf vor der Null in diesem Jahr ließ ihn in den Club der Best Ager aufsteigen, doch durch den Stress der letzten Stunden wirkt er deutlich älter.

Obwohl Toni Vogts eigentlich nie entspannt, ausgelassen oder gar fröhlich gesehen hat.

Der Direktor erhebt die Stimme. »Um 18:30 Uhr findet eine Konferenz statt. Bis dahin benötige ich alle Daten, die sich auf den Anschlag auf die Bundeswehrkaserne beziehen. Alle Daten!«

Bereits im Gehen fällt ihm noch ein weiterer Aspekt ein. »Das BMI schickt uns einen zusätzlichen Vertreter.«

Toni schaut sich um, seinen neuen Kollegen scheint es so wie ihm zu gehen. Vielleicht liegt es ja nur am Tonfall der Ankündigung, aber der Zusatz klingt eher wie eine Drohung als wie ein Zeichen für Unterstützung. Jetzt wird Toni erst bewusst, was Vogts alles um die Ohren haben muss. Nicht nur die Organisation des Terrorismusabwehrzentrums, sondern auch die politischen Komponenten muss er beachten. Ein Beamter seiner Gehaltsstufe ist mehr Politiker als Polizist. Es hagelt bestimmt schon erzürnte Anrufe aus dem Bundesinnenministerium und dem Kanzleramt.

Um 18:31 Uhr rauschen zwei dunkle Audi-A8-Limousinen durch die eilig verstärkten Sicherheitskontrollen auf das Kasernengelände. Die Männer des BKA-eigenen Sicherheitsdienstes haben zwischenzeitlich schusssichere Westen angelegt und halten eine MP 5 von Heckler & Koch einsatzbereit in ihren Händen. Da Toni gerade gedankenverloren aus dem Fenster starrt, wird er Zeuge des Schauspiels. Beide Limousinen stoppen vor dem Haupteingang, wo Vogts sich positioniert hat, um den offenbar hochrangigen Konferenzteilnehmer persönlich zu begrüßen. Autotüren springen auf und zwei Leibwächter umstellen das hintere Auto. Aus der rechten Hintertür erhebt sich Theodor Pickert. Tonis Lippen entweicht ein leiser Pfiff, der seine Kollegin Karin Langenscheidt herumfahren lässt.

»Wer ist das?«, fragt sie leise.

Ohne seinen Blick abzuwenden, entgegnet er halb belustigt, halb tadelnd: »Wie? Sie kennen Edgar nicht?«

»Edgar?«, gibt sie zurück, unsicher, ob sie Toni richtig verstanden hat.

Erst jetzt blickt Toni sie genauer an: Sie ist jung, 27 oder höchstens 29 Jahre alt, sportliche Figur, die blonden Haare trägt sie zum Zopf geflochten.

»Das ist Theodor Pickert, Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Wenn das Sprichwort ›Die wahre Macht liegt hinter dem Thron‹ jemals eine treffende Umschreibung war, dann in diesem Fall. Er hat seine Karriereplanung im BMI direkt nach seinem Politik- und Jurastudium aufgenommen und leitet das Amt bereits seit sieben Jahren als Staatssekretär. Egal, ob Rot oder Schwarz regiert, Koalitionen brachen oder es zu vorgezogenen Neuwahlen kam – er hat sie alle überlebt.«

»Und Edgar ist sein Spitzname?«

Toni schüttelte leicht den Kopf.

»Nein, das ist mehr als ein Spitzname.« Er überlegt kurz, dann fixiert er Karin.

»J. Edgar Hoover ist Ihnen ein Begriff?«

»Ja, natürlich«, entgegnet sie trotzig und rasselt den Lebenslauf herunter.

»J. Edgar Hoover, geboren 1895 in Washington, D.C., er war Begründer des FBI und 48 Jahre lang dessen Präsident. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften startete er seinen Aufstieg im US-Justizministerium und erarbeitete sich dort den Ruf eines unerbittlichen Antikommunisten. Sein größter Verdienst war die Professionalisierung des FBI durch die Verwendung kriminaltechnischer Methoden auf wissenschaftlicher Basis. Er führte unter anderem eine zentrale Fingerabdruckdatei und ein kriminaltechnisches Labor ein. Auch die Massenmedien setzte er geschickt für seine Ziele ein und die bewusst vergrößerte Public-Relations-Abteilung nahm sogar Einfluss auf Radiosendungen und die Produktion von Fernsehserien.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde das FBI zunehmend zu einem Inlandsgeheimdienst ausgebaut. 1950 wurde er mit einer schwarzen Liste von 12 000 ›illoyalen‹ Amerikanern in Verbindung gebracht, die er zu internieren beabsichtigte. Hoover polarisierte zeit seines Lebens, besonders durch die rigide Verfolgung von angeblichen kommunistischen Umtrieben und auch mit seinem Vorgehen gegen die neu entstandene Bürgerrechtsbewegung. Kritiker warfen ihm zudem vor, einen Überwachungsstaat in Amerika etablieren zu wollen.«

»Jetzt kommen wir langsam zu den interessanten Punkten«, unterbricht Toni.

Der Einwurf scheint Karin ein zusätzlicher Ansporn zu sein. »J. Edgar Hoover war ein Meister der Manipulation und verstand es, durch kleine Gefälligkeiten Amtspersonen und Politiker in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ziehen. Es ist bekannt, dass er anhand von illegalen Abhöraktionen und Überwachungen Geheimdossiers über zahlreiche Personen und Amtsträger angelegt hat. Darunter fielen Personen des öffentlichen Lebens wie Frank Sinatra und Charlie Chaplin, hauptsächlich aber ranghohe Politiker und selbst über amtierende Präsidenten soll er Geheimakten angelegt haben. Die Dossiers sollen gespickt sein mit moralischen Fehltritten, sexuell pikanten Details bis hin zu kriminellen Verfehlungen. Er überstand die Amtszeiten von acht US-Präsidenten und wurde als mächtigster Mann Amerikas bezeichnet.«

Toni nickt langsam mit dem Kopf und deutet mit seinen Händen ein Applaudieren an.

»Genau, sehr gut, dann hat sich die teure Ausbildung ja doch gelohnt.«

»Haben Sie je daran gezweifelt, Herr Hauptkommissar?«, fragt die junge Kommissarin frech.

»Nein, nein, niemals, verehrte Kollegin«, lacht Toni.

»Ein Tipp von mir, sagen Sie niemals Edgar, wenn der Staatssekretär in der Nähe ist. Nicht mal, wenn er sich im gleichen Gebäude befindet.«

Karin zeigt mit dem Finger auf Toni, beugt sich nach vorn und flüstert ihm verschwörerisch ins Ohr.

»Sie haben Edgar gesagt!«

Mit einem Grinsen entgegnet er: »Ich zähle nicht, ich bin ein Sonderfall. Kommen Sie, schauen wir, ob es noch einen freien Stuhl gibt.«

Während beide in Richtung Konferenzraum gehen, bemerkt Toni, wie sich sein Gang zu verändern beginnt. Urplötzlich fühlt er sich wie ferngesteuert, in Trance. Schlagartig erhöht sich seine Körpertemperatur, kalter Schweiß bildet sich auf Oberkörper und Stirn. Die körperliche Reaktion trifft ihn wie eine Dampframme und ist so heftig, dass er es nicht mal mehr vor sich selbst verleugnen kann. Durch seinen gesamten Köper rast eine Schockwelle, ergreift ihn und raubt ihm sämtliche Energie. Nur mühsam gelingt es Toni noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen und nicht zu taumeln. Er merkt, dass sein Schritt sich verlangsamt und er alle Kräfte mobilisieren muss, um nicht zu stürzen. Mit aller Gewalt fokussiert er sich auf die vor ihm liegenden Glaswandelemente. Noch vier Meter, drei, zwei, sie sind zum Greifen nah.

Seine linke Hand tastet sich heran.

Geschafft, endlich kann er sich abstützen. Sein Körper folgt dem Arm und lehnt sich an die Außenfront des Konferenzraumes. Toni atmet konzentriert und tief und versucht, seinen Körper langsam wieder unter Kontrolle zu bringen. Das regelmäßige und bewusste Atmen hilft ihm. Er fährt sich mit der Hand über die Stirn. Alles nass, verschwitzt. Mit dem Hemdärmel wischt er sich den Schweiß aus dem Gesicht. Sein T-Shirt klebt am Oberkörper, was zum Glück durch sein Hemd weitestgehend verdeckt wird.

Als Kriminaldirektor Vogts mit dem Staatssekretär ins Großraumbüro tritt, begegnen sich für eine Sekunde Tonis und Vogts’ Blick. Er bemerkt, dass sein Vorgesetzter ihn verwirrt ansieht, aber eine Frage Edgars fordert gleich darauf seine ganze Aufmerksamkeit. Toni schaut sich langsam um und stellt erleichtert fest, dass niemand ihn beobachtet hat, außer Karin Langenscheidt, die ihn besorgt mustert. Sie merkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt, aber da sie ihn erst wenige Tage kennt, kann sie sich sein wechselhaftes Verhalten nicht erklären.

Äußerlich sind seine Ausbrüche gerade für Fremde kaum zu erkennen, das hat Toni schon festgestellt. Und hier an seinem neuen Arbeitsplatz befinden sich nur Fremde.

Als er sich wieder halbwegs unter Kontrolle hat, nickt er Karin beruhigend zu und streckt ihr das fünfseitige Dossier mit den Informationen hin, die die Datenbanken über den gerade identifizierten Attentäter preisgegeben haben. In Stellvertretung nicht anwesender Kollegen hatte eigentlich Toni diese vortragen wollen, doch dazu fühlt er sich nicht in der Lage. Er hörte sich noch ein »Sie machen das schon« murmeln und steuert dann auf einen der wenigen freien Plätze am äußersten Rand des Besprechungsraumes zu. Perplex greift Karins Hand nach den Blättern. Sie ist kaum vier Wochen länger als Toni in der Behörde, aber da sie jetzt unerwartet zur Vortragenden wird, setzt sie sich an den für ihre Arbeitsgruppe reservierten Platz direkt am Konferenztisch.

Der Raum platzt aus allen Nähten. 15 Teilnehmer haben am Tisch Platz genommen, in einer zweiten Runde sitzt noch mal die gleiche Anzahl an Mitarbeitern, weitere stehen an die Wand gelehnt und selbst in der offenen Tür drängen sich einige.

Kriminaldirektor Vogts eröffnet die Konferenz: »Meine Damen und Herren, ich denke, ich muss Ihnen nicht mitteilen, aus welchem traurigen Anlass Sie alarmiert wurden. Es befindet sich mittlerweile ein Team des BKA am Tatort, das uns gleich telefonisch auf den neuesten Stand bringen wird. Lassen Sie mich vorab jedoch dies sagen: Es sieht schlimm aus. Schlimmer, als es die ersten Meldungen vermuten ließen. Wir müssen jetzt konzentriert unsere Arbeit machen und weiteren Schaden verhindern.«

Mit einer Handbewegung nach rechts fährt er fort: »Staatssekretär Pickert aus dem BMI muss ich Ihnen wohl nicht weiter vorstellen.«

Pickert ergreift das Wort und reißt die Leitung der Besprechung schon mit dem ersten Satz an sich. »Werten Sie meine Anwesenheit bitte nicht als ein Misstrauensvotum gegen das Terrorismusabwehrzentrum und Ihre Arbeit, weil Sie das Attentat weder vorhergesehen, geschweige denn verhindert haben.«

Das sitzt. Toni spürt die Wirkung der Sätze geradezu körperlich. Eine bedrückende Stille legt sich über den Konferenzsaal. Viele Teilnehmer starren peinlich berührt auf ihre Unterlagen und es wirkt für einen Moment so, als würden Vogts die Gesichtszüge entgleiten. Das scheint Edgar aber nicht im Entferntesten zu interessieren.

»Ich bin hier, um dafür Sorge zu tragen, dass alle Fakten und möglichen Versäumnisse auf den Tisch kommen und nicht im Kompetenzgerangel der Ämter verloren gehen. Ich werde nicht zulassen, dass einzelne Behörden oder Personen Erkenntnisse verheimlichen, weil sie besorgt um das Ansehen der eigenen Behörde sind. Egal, ob Fehler gemacht wurden, hier und jetzt kommt alles auf den Tisch. Jeden, der durch sein Schweigen Ermittlungen verlangsamt oder gar gefährdet, werde ich persönlich zur Rechenschaft ziehen.«

Edgar ist fertig. Die peinliche Stille kehrt zurück.

Kriminaldirektor Vogts ringt um seine Fassung und scheint zu überlegen, ob er sich vor seine Frauen und Männer stellen und rhetorisch Kontra geben soll. Er räuspert sich, ringt nach den passenden Worten. »Herr Pickert, ich denke, wir sind alle aus demselben Grund hier, um die Tat zu analysieren und weitere Gefahren zu verhindern. Ich schlage vor, wir beginnen mit der Telefonschaltung zur Rommel-Kaserne nach Augustdorf und dem dortigen BKA-Team.«

Pickert signalisiert mit einer saloppen Handbewegung seine Zustimmung. Nach einer kurzen Verständigungsprobe über die Raumsprechanlage startet der vor Ort befindliche Hauptkommissar Krüger mit dem aktuellen Lagebericht.

»Es ist noch alles sehr chaotisch. Notärzte und Rettungshubschrauber aus einem halben Dutzend Kliniken kämpfen um das Leben der Schwerverletzten. Diese sind zu unterschiedlichen Hospitälern geflogen worden. Wo noch weitere Tote zu vermuten sind .«

»Von wie vielen Toten sprechen wir? Ich benötige eine verifizierte Anzahl!«, unterbricht der Staatssekretär energisch.

Für Sekunden verstummt der Lautsprecher.

»Acht Tote. Ich kann acht Tote bestätigen.«

Lähmendes Entsetzen legt sich über den Konferenzsaal, eine so hohe Zahl hatte niemand erwartet. Es kursierten Gerüchte mit ein bis vier Todesopfern. Aber acht, damit hat keiner gerechnet.

Krüger lässt ihnen kurz Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten, und setzt dann seine Ausführungen fort.

»Von den Toten habe ich sechs selbst gesehen. Die zwei anderen waren schon leblos in Krankenhäuser eingeliefert worden. Die durchgeführten Reanimationsversuche blieben erfolglos. Ich gehe bis jetzt von weiteren sechs lebensbedrohlich Verletzten aus.«

Pickert bohrt weiter.

»Können Sie unsere ersten Meldungen bestätigen, wonach auch der Attentäter unter den Toten ist?«

»Ja, das kann ich bestätigen. Er hat durch die Wachsoldaten drei Schüsse abbekommen. Davon einen Kopftreffer. Er wurde schon ohne Herzschlag mit einem Rettungshubschrauber in das Städtische Klinikum Bielefeld geflogen, wo die Ärzte jedoch nur noch seinen Tod feststellen konnten. Dort befindet sich jetzt sein Leichnam. Ein Team vom LKA aus Düsseldorf ist vor Ort und hat Lichtbilder gefertigt und seine Fingerabdrücke genommen. Er war ein Deutscher, richtig?«

Vogts versucht wieder das Gespräch zu übernehmen.

»Ja, er wurde zweifelsfrei anhand der genommenen Fingerabdrücke identifiziert, da er in unserer Antiterrordatei registriert ist. Können Sie uns noch Näheres zur Tatausführung mitteilen?«

»Die Rommel-Kaserne liegt in der Nähe von Bielefeld am Fuße des Teutoburger Waldes und ist mit über 5000 Soldaten die größte Einrichtung des Heeres. Die Kaserne an sich ist massiv gesichert: durch einen Zaun, bewaffnete Patrouillen, Überwachungskameras – mal offen, mal verdeckt angebracht –, Bandrollen aus NATO-Draht und starke Scheinwerfer, die jeden Winkel ausleuchten. Der Schwachpunkt dieser Festung ist der Freitagnachmittag, wenn alle Soldaten Punkt 14 Uhr zur Ausgangsschleuse strömen. Offiziell existieren zwar versetzte Dienstenden, aber ein Chaos bleibt unumgänglich. Die beste Zeit für einen Anschlag ist ebendieser Freitagnachmittag, denn bei dem Durcheinander ist kein 100-prozentiger Schutz möglich. Der Attentäter hat sofort gezielt mit einer Kalaschnikow das Feuer eröffnet. Der erste Tote war der 23-jährige Wachsoldat Dirk Müller. Dann feuerte der Attentäter auf das ihm am nächsten stehende Auto mit vier Soldaten. Davon starben drei sofort, der Vierte ringt noch um sein Leben. Ein weiterer Soldat wurde in einem hinteren Auto der Ausfahrschlange getötet. Danach veränderte der Angreifer seinen Schusswinkel und beschoss Angehörige auf dem angrenzenden Besucherparkplatz.«

Krüger gerät ins Stocken. »Zwei Frauen wurden dort getötet und mehrere lebensgefährlich verletzt, darunter eine Hochschwangere. Das ist erst mal alles, was ich dazu sagen kann.

Ach, noch zwei Anmerkungen, mir haben drei Bundeswehrsoldaten unabhängig voneinander bestätigt, dass der Attentäter mehrmals ›Allahu Akbar‹ geschrien hat. Und sie beschreiben den Angreifer als geübten Schützen. Die Kalaschnikow verfügt ja über einen relativ kräftigen Rückstoß, der die Waffe bei Dauerfeuer aus dem Ziel springen lässt. Deswegen hat der Angreifer nur kurze, kontrollierte Feuerstöße abgegeben und immer wieder neu visiert. Die Soldaten haben ihn als disziplinierten, guten Schützen beschrieben, daher auch die hohe Opferzahl. Daraus schließe ich, dass er im Umgang mit der Kalaschnikow gezielt trainiert wurde. Der Verdacht liegt nahe, dass der Attentäter ein terroristisches Ausbildungslager besucht hat.«

Acht Tote. Trainierter Schütze. Terroristisches Ausbildungslager. Jedem der Anwesenden schwirren die Wörter durch den Kopf.

Der Staatssekretär massiert mit der gesamten Hand seine Stirn, als könne er so Hiobsbotschaften besser verarbeiten.

»Lassen Sie uns weitermachen. Was haben Sie über den Attentäter?«

Vogts überlegt kurz und fragt schließlich: »AG Gefährdungsbewertung, wer trägt vor?«

Karin hebt die Hand.

»Ich.«

»Gut, dann fangen Sie an, Frau ...«

Er kennt nicht mal meinen Namen, schießt es ihr durch den Kopf.

»Langenscheidt, Kommissarin Langenscheidt«, wirft sie ein, während sie leicht errötet.

»Carsten Bramscher, 25 Jahre alt, geboren in Darmstadt, alleinerziehende Mutter, mittlere Reife, danach begann er eine Handwerkerausbildung zum Maler und Lackierer, die er vorzeitig abbrach. Zwei geringfügige Vorstrafen wegen Körperverletzungs- und Eigentumsdelikten. Bramscher ist in unserer knapp 15 000 Personen umfassenden Antiterrordatei zwar gespeichert, aber nicht als akuter Gefährder eingestuft.«

Die Kommissarin hat ihre Selbstsicherheit zurückgewonnen und schaut von ihren Unterlagen auf.

»Vor eineinhalb Jahren wurden seine Personalien erstmals im Umfeld der Frankfurter Al-Rabu-Moschee festgestellt. Aus dieser Überprüfung resultiert auch sein Eintrag in der ATD. Als Adresse hat er sein Darmstädter Elternhaus angegeben, obwohl er bereits damals seit über einem Jahr dort nicht mehr gewohnt hat. Sein letzter Wohnort ist somit für uns unbekannt. Uns liegen auch keine Erkenntnisse über den Besuch eines Dschihadistencamps vor, das kann aber natürlich nicht ausgeschlossen werden.«

»Gab es einen besonderen Anlass für die Polizeikontrolle?«, forscht Edgar nach.

»Nein, einen Moment …«. Die Kommissarin sucht in den Unterlagen. »… dem Verfassungsschutz in Frankfurt war aufgefallen, dass die Moschee einen regen Zulauf von Salafisten erhielt. Darüber hinaus entwickelten sich die Moschee und das angeschlossene Islamische Zentrum zu einem Anziehungspunkt für deutsche Konvertiten. Die Al-Rabu-Moschee steht schon seit Jahren unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Der Vorbeter dieser Moschee ist der bekannte Ägypter Osama al-Amir.«

»Der Name sagt mir etwas«, denkt der Staatssekretär laut.

»Ja, al-Amir und seine rechte Hand, Mohammed Sayid, werden bereits seit Ende der 90er-Jahre dem militanten Islamismus zugeordnet. Beide werden zudem verdächtigt, der Terrororganisation Al-Dschihad al-Islam anzugehören, die auch als Islamischer Dschihad bezeichnet wird und aus einer Abspaltung der ägyptischen Muslimbruderschaft entstanden ist. Osama al-Amir reiste 1996 über den Frankfurter Flughafen in die Bundesrepublik ein und stellte einen Asylantrag, dem von deutschen Gerichten letztinstanzlich stattgegeben wurde. Seitdem lebt er offiziell von Sozialhilfe. Experten bescheinigen ihm eine starke Akzeptanz in der Szene und ein hohes Anziehungspotenzial auf Neueinsteiger. Die Moschee und das Islamische Zentrum werden durch Spenden und mit hohen fünfstelligen Beträgen aus Saudi-Arabien und Katar finanziert.«

Edgar schüttelt mürrisch den Kopf.

»Ich meine den Namen noch in einem anderen Zusammenhang gehört zu haben.«

Die Kommissarin durchforstet erneut ihre Akten.

»Da haben wir’s. Al-Amir und Mohammed Sayid standen über Mittelsmänner in Kontakt mit Mohammed Atta und der Hamburger Zelle.«

»Ja, das ist es. Dieser Makel wird uns noch in 100 Jahren verfolgen. Und diesem Dreckskerl war nichts zu beweisen?«

»Nein, das Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung musste genauso eingestellt werden wie ein weiteres Verfahren wegen Volksverhetzung.«

Zornig schüttelt Edgar den Kopf.

»Der zweite Mann, Mohammed Sayid«, fährt Karin fort, »ist ein staatenloser Palästinenser, der in einem Flüchtlingscamp im Kairoer Stadtviertel Imbaba aufwuchs. Dieses Viertel gilt als eines der ärmsten der Welt und ist seit den 70er-Jahren eine Hochburg islamischer Fundamentalisten.

Sayid ist in Ägypten in Abwesenheit wegen Mordes zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt worden. Trotz mehrerer Auslieferungsgesuche lebt er unbehelligt in Frankfurt, da auch ihn sein Status als anerkannter Asylbewerber schützt.«

Die Kommissarin will ihre Ausführungen gerade beenden, als sie noch auf einen weiteren Vermerk aufmerksam wird.

»Einen Moment, anlässlich der Personalienüberprüfung von Carsten Bramscher hat der betreffende Beamte noch einen Dreizeiler verfasst. Ich zitiere ... ›Der Überprüfte legte bei der Kontrolle eine äußerst aggressive Haltung an den Tag. Außerdem weigerte er sich, auf seinen deutschen Namen zu reagieren, und bestand darauf, nur mit seinem neuen Namen Isam Ali Ahmed angesprochen zu werden.‹«

Karin blickt auf.

Eine resignative Stille legt sich über die Konferenzteilnehmer, bis Staatssekretär Pickert das Wort ergreift .

»Wir haben also einen jungen deutschen Konvertierten, der sich innerhalb eines Jahres dermaßen selbst radikalisiert hat oder radikalisiert wurde, dass er einen Terroranschlag in Deutschland verübt hat. Und wir wissen, dass er in Kontakt zu zwei Schlüsselfiguren der islamistischen Terrorszene stand, die seit beinahe 15 Jahren bei uns ihr Unwesen treiben. Außerdem waren diese Personen in der Vergangenheit in konspirative Abläufe um die Hamburger Gruppe des Nine Eleven involviert.

Wir besitzen keinerlei Erkenntnisse, ob Carsten Bramscher als Alleintäter gehandelt hat oder Teil einer neu gebildeten Zelle ist. Wir wissen weder, ob er das Attentat aus eigenem Antrieb verübt oder von Osama al-Amir aus seiner Frankfurter Moschee gesteuert wurde. Noch wissen wir, ob dieser Anschlag das Startsignal für weitere Attacken ist.«

Wütend wirft sich der Staatssekretär in den schweren Ledersessel zurück und verschränkt seine Arme vor der Brust.

»Hat mir sonst noch jemand etwas mitzuteilen?«

Herausfordernd blickt er in die Runde.

»Ähhm!«

Oberleutnant Behrendt vom militärischen Abschirmdienst richtet sich zögernd in seinem Stuhl auf. Die unerwartete Wortmeldung auf eine eher rhetorisch gemeinte Frage rückt ihn schlagartig in die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Offenbar widerstrebt es ihm, seine Mitteilung zu machen.

»Es könnte sich ein Problem wegen der Personalie Dirk Müller ergeben.«

Edgar braust auf.

»Was? Das darf ja wohl nicht wahr sein. Sie meinen den getöteten Bundeswehrsoldaten?«

Der Oberleutnant hält dem Blick des Staatssekretärs nicht stand und schaut verlegen auf die Tischplatte. Dann schluckt er einmal, rafft all seinen Mut zusammen und schaut Edgar direkt in die Augen.

»Ja.«

3

An diesem Freitag befindet sich Mohammed Sayid in einem sicheren Haus in Peschawar. Da dort vor geraumer Zeit Mitglieder der Zelle um Mohammed Atta genächtigt haben, wird ihnen zu Ehren das Haus mit dem Codenamen Dar al-Ansar bezeichnet, als Haus der Sieger. Das Anwesen gehört zu einem riesigen Gebäudekomplex und dient Dschihadisten aus allen Herren Ländern als Anlaufstation – Afghanen, Jeminiten, Somalier, Tschetschenen und Iraker werden hier beherbergt. Erst in den letzten Jahren hat sich zudem eine neue, jedoch stetig anwachsende Gruppe von deutschen und europäischen Konvertiten hinzugesellt. Wenn auch die ganze Welt, einschließlich der Geheimdienste, zurzeit ihr Augenmerk auf das mörderische Treiben der IS im Irak und Syrien richtet, so bleibt das pakistanisch-afghanische Grenzgebiet doch weiterhin ein Hort militanter Islamisten, die den nachlassenden Verfolgungsdruck zur Festigung von Strukturen und Planung neuer Projekte nutzen.

Neuankömmlinge in dem Zufluchtsareal werden entweder in Ausbildungscamps weitergeschleust oder nehmen in einer der zahlreichen angegliederten Madrassen ihr radikal-fundamentalistisches Koranstudium auf. Auf dem Gelände befinden sich auch große Hallen für Armenspeisungen, vor denen am Tag und in der Nacht eine Menschenschlange steht, eine Bibliothek, Betsäle, Lehrräume und ein karges Internat für die Studierenden. Kriegsveteranen und Invalide, vor allem aus Afghanistan, finden hier ein neues Zuhause. Ein kostenloser Ärztedienst für Hilfsbedürftige kümmert sich auch um die heimische Bevölkerung und sichert sich nicht zuletzt damit den Rückhalt der 300 000 verarmten Bewohner des Viertels.

Mitten in diesem Gewirr aus Gebäuden, Küchen, Koranschulen und dem provisorischen Krankenhaus leben Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen auf einfachen Pritschen oder in Bretterverschlägen. Die Gebäude des Viertels sind über ein Labyrinth aus Gassen und Pfaden miteinander verbunden und zum Teil sogar untertunnelt. Die pakistanische Polizei hat hier bereits vor Jahren ihre Autorität eingebüßt. Wenn überhaupt, versuchen Armee-Einheiten Razzien durchzuführen, doch eine Allianz aus Terrorgruppen und Banden professioneller Opiumschmuggler erstickt jegliche staatliche Anstrengung in einem Kugelhagel aus den teilweise offen getragenen Kalaschnikows. Als letzte Verteidigungslinie warten in den am Straßenrand verrottenden Autowracks bis zu 1000 Kilogramm schwere Bomben. Explosionen vergleichbarer Sprengladungen haben schon ganze Häuserblocks zerstört. Doch die Gotteskrieger sind sich darin einig, lieber den Märtyrertod im Kampf erleiden zu wollen, als in einem der berüchtigten Foltergefängnisse des pakistanischen Geheimdienstes zu verschwinden.

Sayid hat die beschwerliche Reise nicht allein auf sich genommen. Zwei neue Mitglieder seiner Gruppe begleiten ihn. Allerdings sind diese bereits einen Tag früher geflogen, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Wie meistens sind sie vom Amsterdamer Flughafen Schiphol zum Direktflug nach Lahore gestartet, wo sich die Reisegruppe wieder komplettiert hat, um die letzten 500 Kilometer auf dem Landweg hinter sich zu bringen.

Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel, als Sayid an die Ausreisekontrolle und seinen neuen Pass denkt. Die verzweigten Kontakte seines Emirs sind mit Geld nicht aufzuwiegen und stellen eine erste Ernte der Revolution in Ägypten dar. Auch wenn die Militärdiktatur Mitglieder ihrer Bewegung jetzt wieder verfolgt, einsperrt oder gleich erschießt, so ist die einjährige Herrschaft der Muslimbruderschaft nicht folgenlos geblieben. Die revolutionär-islamistische Organisation hat nach den gewonnenen Wahlen nicht nur den Präsidenten gestellt, sondern gleichzeitig auch alle Ämter und Verwaltungen unter ihre Kontrolle gebracht. Das Ergebnis dieser Politik hält er nun in den Händen: Die Muslimbruderschaft hat ihn mit einer Handvoll von »echten« gefälschten ägyptischen Pässen ausgestattet.

Allah scheint auf ihrer Reise über sie zu wachen.

Begleitet wird Sayid von Kerim, einem 27-jährigen Deutschmarokkaner, und Mark Schmidt, einem jungen Burschen Anfang zwanzig, der seit sechs Monaten nur noch auf seinen Kampfnamen Abu Ajub hört. Mit ihm hat Sayid große Pläne, denn der junge Konvertit ist sprachbegabt, beherrscht Englisch perfekt und macht beeindruckende Fortschritte in seinem Arabischstudium. Sein religiöser Eifer treibt ihn unermüdlich an. Dazu verfügt er über einen weiteren unschlagbaren Vorteil. Abu Ajub kann sich problemlos in einem Umfeld bewegen, in dem jeder von ihnen sofort verdächtig wirkt. Denn in der westlichen Welt, in Europa ist ein arabisch aussehender Mann in der Nähe von sicherheitsrelevanten Orten mittlerweile sehr schnell suspekt.

Arabische Koranstudien bilden nicht den Schwerpunkt ihrer Reise nach Pakistan. Vielmehr ist es an der Zeit, sie an Waffen und mit Sprengstoff trainieren zu lassen. Sayid ist auch hier, um seine neuen Anhänger in einem Ausbildungslager unterzubringen.

Seit seinem letzten Aufenthalt in Pakistan hat sich viel geändert. Jeder spricht nur noch über den IS, dessen militärische Erfolge und das ausgerufene Kalifat. Al-Qaida ist längst nicht mehr der dominierende Faktor in der militanten islamistischen Szene. Seit der Tötung des Sheikh durch ein Navy-Seals-Kommando der verhassten Amerikaner verlor die einstmals so mächtige Organisation den Großteil ihrer Schlagkraft. Aber noch ist al-Qaida im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aktiv, deren größter Verdienst in der weltweiten Verbreitung ihrer Ideologie besteht, die zur Bildung einer Weltfront für den Dschihad gegen Kreuzfahrer und Zionisten führte. Diese Denkweise hat sich mittlerweile verselbstständigt und wurde von einem unüberschaubaren Netz von Terrororganisationen übernommen, das allein durch die Eliminierung von Führungsfiguren nicht mehr zu stoppen ist. Die Bewegung ist längst zu einer unbeherrschbaren Hydra angewachsen.

purusah

Und jetzt, 2015, wiederholt sich die Geschichte, wenn sieglose westliche Truppen sich nach schweren Verlusten aus der islamischen Republik zurückziehen.

Wegen all dieser Hintergründe haben sie Peschawar für ihre nächsten Schritte gewählt. An diesem Freitag findet eine Konferenz mit hochkarätigen Teilnehmern statt, den Führungsfiguren der bedeutendsten islamistischen Terror­organisationen. Gelockt wurden sie mit dem Versprechen, dass ihnen wichtige Informationen und entscheidende Erfolge gegen die kuffār, die Ungläubigen, präsentiert würden. Daher sei das pünktliche Erscheinen der Botschafter des Terrors unbedingt erforderlich. Das Treffen ist auf 17 Uhr anberaumt. Zur gleichen Zeit in Deutschland läutet der zweimalige Uhrenschlag der Kirchenglocken das anbrechende Wochenende an.