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Gerhard Hohmann / Hubert Simon (Hrsg.)

Frühstücks-
Geschichten
aus Birk

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Gerhard Hohmann / Hubert Simon (Hrsg.)

Frühstücks-Geschichten aus Birk

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

Impressum

eISBN: 978-3-939829-87-4

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Inhalt

Vorwort

Hans Kühn

Erinnerungen an die Kriegszeit 1939 bis 1945

Wilhelm Wolf

Unter besonderem Schutz

Gerhard Hohmann

Flucht aus Ostpreußen

Max Lagoda

„Das ließ mir keine Ruhe!“ – Erinnerungen an das Ende des 2. Weltkriegs

Reiner Albrecht

1947 – Vater kommt nach Hause

Hans Warning

Auf Hamsterfahrt

Hubert Simon

Glockenspiele

Dieter Decker

Erdkunde

Franz König

Der Fernseher

Klaus Brätschkus

Jugend – Beruf – Sport

Franz König

Do werd die Wutz geschlacht

Jörn Hansen

Mein Leben mit der EDV

Heinz Winkelmann

Ein besonderes Flugerlebnis

Karl Heinz Stricker

Birk im Jahre 1999 – Der verzeihliche Versuch, in die Zukunft zu schauen

Dieter Decker

„Die Landung ist am heikelsten …“ und das erfuhr ich ausgerechnet in der ersten Flugstunde

Siegi Klingshirn

Alm-Sommer

Georg-Friedrich Schleicher

„Kleinchen“ – unser treuer Begleiter über 32 Jahre!

Hubert A. Stütz

„Drei auf einen Streich?“

Vorwort

Im Frühjahr 2007 frühstückten Heinz Schiffgen und Hubert Simon – damals noch Presbyter – in den Gemeinderäumen der Evangelischen Kirche in Birk. Nun hatten sie davon gehört, dass es in Troisdorf eine Männer-Frühstücksrunde gab wo Männer alles selber machten: Einkaufen, Eindecken, Aufdecken, Kaffeekochen, Abräumen, Aufräumen, Abwaschen. Zum Schluss sah alles so aus, als wäre nie jemand dort gewesen. Das leuchtete ein, Männer können so etwas. Und was Troisdorf kann, das können wir hier oben auf dem Berg auch.

Also haben die beiden Freunde und Nachbarn angesprochen. Die Konfession – ob katholisch, evangelisch, oder nichts – spielt keine Rolle. Wichtig ist nur: Keiner sollte mehr im Arbeitsleben stehen. Und beim Frühstück wird nicht über Krankheiten geredet. Der Kreis der Interessenten wuchs, und wenn immer ein neuer Teilnehmer zu der Gruppe stieß, dann gab es bei den Vorstellungsrunden kleine und größere Geschichten zu erzählen. So kam man sich näher und erfuhr ein bisschen was über den anderen. Mittlerweile treffen sich aus einem Kreis von über 50 Interessenten einmal im Monat mal 25 – mal 35 Männer zum gemeinsamen Frühstück. Am Ende entrichtet jeder einen freiwilligen Betrag. Mit dem Jahresüberschuss wird dann ein gemeinnütziges sinnvolles Projekt gefördert. In 2011 wurde so die Renovierung des Heiligenhäuschens zwischen Inger und Birk unterstützt.

Die Vorstellungsgeschichten waren manchmal kurzweilig, mal ausführlich, mal spaßig oder auch sehr ernst. Manchmal schloss sich auch eine intensive Diskussion an. Die Themenvielfalt überraschte alle. Man spürte, dass in dem Frühstückskreis viele Berufs- und Lebenswelten vorhanden waren. Jeder konnte so hinzu gewinnen, oder von sich weitergeben. Manche der Themen waren so spannend und in die Tiefe gehend, dass daraus informelle Vortragsgeschichten wurden: Das Sonnenkraftwerk in Andalusien, die Geheimdienste in Deutschland, die Medizintechnik für Kinderherzen, Fair Trade, Photovoltaikanlagen, Klimaforschung in den Alpen, die Banken- und Finanzkrise, Tour mit dem Fahrrad durch den Nahen Osten.

Beinahe jeder neue Teilnehmer der Runde brachte eine neue Erfahrungswelt ein, so auch Dr. Gerd Hohmann, ein pensionierter Amtsgerichtsdirektor. Er war eingeladen, über Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten zu uns zu sprechen. Und er blieb uns als Mit-Frühstücker seither erhalten. Es waren dann wohl die vielfältigen Geschichten, die er hier hörte, dass eines Tages von ihm angeregt wurde, das eine oder andere aufzuschreiben und in einem Buch zusammenzutragen. So wurde der Gedanke zu dem vorliegenden kleinen Band geboren. Zunächst dachten wir, dass wir uns auf selbst-erlebte Geschichten aus den 40er Jahren, der Zeit zum Ende des Zweiten Weltkrieges und danach konzentrieren sollten, denn das waren die Erzählungen gewesen, die wir in der Frühstücksrunde immer als sehr aufschlussreich empfunden hatten. Dann aber wurde das Spektrum der Themen von ganz allein erweitert, da der eine oder andere besondere Erlebnisse und Geschehnisse einbringen wollte. So ist nun ein Buch ohne jede thematische Beschränkung entstanden. So unterschiedlich wir sind, so vielfältig und individuell sind die Geschichten: Jeder erzählt auf seine Art Erlebtes, Bemerkenswertes, Nachdenkliches aus seinem Leben. Und weil die Geschichten schon in der Frühstücksrunde erzählt worden sind oder hätten erzählt werden können, hat das Buch den Titel: Frühstücks-Geschichten.

An dieser Stelle soll Franz König gedankt werden; mit seinem Verlag ratio-books in Lohmar hat er es erst möglich gemacht, dass dieses Buch erscheinen konnte.

Hubert Simon und Gerhard Hohmann

Hans Kühn

Erinnerungen an die Kriegszeit 1939 bis 1945

Ich wurde in Hamm in Westfalen geboren und habe den größten Teil meiner Kindheit und Jugendzeit in meiner Heimatstadt verbracht.

Bis vor wenigen Jahren habe ich so gut wie nicht über diese Zeit reden können. Die Erlebnisse waren zu gravierend, um darüber zu berichten. Wie jedermann weiß, herrschte in Deutschland das Naziregime. Meine Familie hatte unter dieser Herrschaft ganz erheblich zu leiden. Meine Eltern, meine Großeltern und viele Freunde und Verwandte waren erklärte Gegner des Nationalsozialismus. Man scheute sich nicht, dies auch deutlich zum Ausdruck zu bringen. Für uns kam noch hinzu, dass eine angeheiratete Tante Jüdin war, die immer wieder ihren Wohnsitz wechseln musste.

Sie hielt sich auch des öfteren in unserem Hause auf.

Mein Vater war Finanzbeamter und weigerte sich, Mitglied der NSDAP zu werden. Ständig musste er vor den Nazi-Behörden sein Verhalten rechtfertigen. Ein Schutz für ihn und auch für unsere Familie war die Tatsache, dass er Schwerkriegsbeschädigter des 1. Weltkrieges und Träger des Eisernen Kreuzes 1. Klasse war.

Der Besuch weiterführender Schulen wurde uns Kindern verwehrt. Ersatzweise bot man mir den Besuch der Adolf-Hitler-Schule mit Internat an. Heute würde man sagen, dass es sich dabei um eine Umerziehungsanstalt handelte. Das kam für meine Eltern nicht in Frage. Für sie blieb nichts anderes übrig, als meine Schwester und mich zu Verwandten auf die Schwäbische Alb zu bringen. Wir gingen ein Jahr in Altsteußlingen, Kreis Ehingen/Donau zur Schule.

Mein älterer Bruder wurde von den Nazi-Schergen so zusammengeschlagen und verletzt, dass er an den Folgen einer erlittenen Sepsis später starb. Hierüber Einzelheiten weiter zu berichten, kann ich noch nicht.

Kurz vor der Schulentlassung Ostern 1944 gelang es meinem Vater, mich mit Hilfe seiner Freunde auf die Bischöfliche Kirchenmusikschule Münster umwechseln zu lassen. Es bedeutete für mich ein Lichtblick. Leider endete dieser Schulbesuch nach mehreren schweren Bombenangriffen auf Münster bereits nach knapp einem Jahr. Die Schule, die unter dem Schutz des bekannten Bischofs von Münster Graf von Gahlen stand, war nicht durch die Nazis, sondern durch die wahnwitzige Bombardierung der Alliierten vollständig zerstört worden.

Kurz danach erhielt ich die Einberufung zum Wehrertüchtigungslager. Ich versteckte mich bei einem Holzschuhmacher im Münsterland, dort war ich für einige Wochen sicher. Als die Bombenangriffe auf meine Heimatstadt gewaltig zunahmen und die amerikanischen Truppen den Rhein schon überquert hatten, war ich so verunsichert, dass ich mich auf den Weg zu meinen Eltern machte. Unser Elternhaus war zwar schwer beschädigt, aber man konnte noch behelfsmäßig darin wohnen.

Zu Hause angekommen erhielt ich die Einberufung zum Volkssturm, Hitlers allerletzter Reserve. Die amerikanische Armee war aber inzwischen schon nahe an unsere Stadt herangekommen, so dass wir nach einer Kurzausbildung an Panzerfäusten und Karabinern nur noch zum Bau von Panzersperren und Schützengräben eingesetzt wurden.

Nachdem die erste Granate der Amerikaner bei uns, den Volkssturmleuten, einschlug, kam mein Vater an, packte mich beim Kragen und sagte zu dem Vorgesetzten: „Den Jungen nehme ich mit nach Hause.“ Es war eine höchst gefährliche Situation. Ich selbst habe gesehen, wie ein junger Soldat an einer Laterne hing und ein Schild um dem Hals trug auf dem stand: „Ich bin ein Deserteur“.

Ein Schulkamerad, der nur wenig älter war, geriet in amerikanische Gefangenschaft, wurde an die Franzosen ausgeliefert und war fünf Jahre im lothringischen Bergbau in Gefangenschaft.

Ich selber wurde von meinem Vater nicht nach Hause, sondern zu meiner Mutter, die sich mit meiner Schwester, meinem jüngeren Bruder und ihrer Mutter (meiner Großmutter) im Hochbunker Vorheiderweg in Hamm aufhielt, gebracht. Er selbst ging zu meinem schwer kranken älteren Bruder ins Elternhaus zurück. Wir mussten noch eine gute Woche von Karfreitag bis Weißen Sonntag im Bunker ausharren, bis die Stadt von den Amerikanern eingenommen wurde. Der Bunker wurde nur durch ein Notaggregat teilweise beleuchtet. Die sanitären Anlagen funktionierten nicht mehr. Die Notdurft musste draußen verrichtet werden. Das war sehr gefährlich. Mehrere Menschen wurden verletzt oder getötet. Die Versorgung der Menschen im Bunker war katastrophal. Ich bin noch einige Male nach Hause gelaufen und habe Lebensmittel geholt. Zum Schluss waren nur noch Reste da.

Die Stadt lag in Schutt und Asche. Zweiundsiebzig (!) Bombenangriffe der Alliierten waren über uns hinweg gegangen. Wir konnten uns mit sieben Personen nur noch in drei kleinen Räumen aufhalten. Kein Strom, kaum Nahrungsmittel, kein Wasser: das war das Ende. Aber wir hatten überlebt und das war die Hauptsache.

Sechs Wochen nach dem furchtbaren Krieg wurde meine Schwester, fast 14 Jahre alt, von einem Lastwagen der Besatzungsarmee überfahren. Sie starb. Mein älterer Bruder lebte noch einige Jahre, ist aber an den Folgen der ihm zugefügten Verletzungen ebenfalls verstorben.

Als zum Kriegsende das nationalsozialistische Verbrechersystem zusammenbrach war ich gerade 15 Jahre alt.

Wilhelm Wolf

Unter besonderem Schutz

1936 in Dortmund als dritter Sohn in einem evangelisch-konservativen Haus geboren, hätte meine Kindheit wohl geordnet verlaufen können. Doch war nicht zu vermeiden, dass sie durch die damaligen kriegerischen Ereignisse geprägt wurde.

Mit der Einschulung 1942 intensivierten sich die nächtlichen Bombenangriffe auf die Industrieanlagen am Rande der Stadt.

Da mir die Gefahr als Kind nicht bewusst wurde und ich keine Angst kannte, waren die nächtlichen Strahlenschauspiele der Suchscheinwerfer der Flak ein Erlebnis für uns. Es war einfach spannend, wenn die suchenden Scheinwerfer einen Bomber ins Visier bekamen und anschließend die Flak ihr Feuer eröffnete. Einmal erlebte ich mit, wie ein Bomber getroffen wurde und als brennende Fackel vom Himmel stürzte. Das hat mich stark beeindruckt. Die unzähligen Nächte, die wir im häuslichen Luftschutzkeller mit Fremden verbrachten, verblassen dagegen.

Durch das ungezielte Bombenabwerfen während der nächtlichen Angriffe, wurde auch die zwei Kilometer entfernte Volksschule im Jahr 1943 dem Erdboden gleichgemacht. Als wir Schulkinder am nächsten Morgen den Trümmerhaufen unserer Schule mit freudigem Gelächter begrüßten, fanden wir kein Verständnis für die wütenden Reaktionen unserer Lehrer uns gegenüber.

Der Bombenterror nahm weiter zu und meine Mutter wurde zum Reichsarbeitsdienst verpflichtet. Da beschlossen meine Eltern schweren Herzens, mich, ihren Jüngsten aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu bringen. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Gütersloh bei meinen Großeltern wurde ich im März 1944 in ein Kinderheim auf der Nordseeinsel Wangerooge in Sicherheit gebracht. Meine Brüder waren zu diesem Zeitpunkt zur Wehrmacht eingezogen: der ältere, Dieter, an die Westfront, der jüngere, Eckart, an die Ostfront. Mein Vater war als Hochofendirektor bei Hoesch „unabkömmlich“ gestellt. Man kann sich die verzweifelte Verfassung meiner Eltern sicher vorstellen, als sie sich nun auch noch von ihrem jüngsten Kind trennen mussten. Sie haben dies jedoch gut verborgen, so dass für mich das ganze Geschehen eher einem großen Abenteuer glich.

In dem Kinderheim „Haus Fredeborg“ waren wir nur zu vier Jungen aus Köln, Bremen und Oldenburg und eben ich aus Dortmund.

Die Insel Wangerooge lag strategisch bedeutend vor der Einfahrt nach Wilhelmshaven und wurde daher zur Festung erklärt und artilleristisch entsprechend aufgerüstet.

Für uns Jungen eine äußerst spannende Phase. Wir erlebten mit, wie die Organisation Todt (Staatliches Bauunternehmen im 3. Reich unter der Führung von Fritz Todt) den Strand von Wangerooge mit Pfählen und Drähten abdeckte, um das Landen von Lastenseglern zu verhindern, wie auf dem erhöhten Caféplatz „Pudding“ an der Strandpromenade ein riesiges Horchgerät installiert wurde, wie bei Schießübungen der schweren Artillerie (bis 30,5 cm!) der Boden der Insel bebte, wie wir beim Zuschauen an Soldatenbegräbnissen mit Ehrensalut in den Besitz von Platzpatronen kamen, wie wir auf den Gleisen der Inselbahn eine Panzerattrappe schieben durften, an der Soldaten Panzerabwehr übten. – Unsere Eltern wähnten uns weiter in Sicherheit.

Dann kam der unvergessene 25. April 1945: Wir spielten nachmittags am Strand, als Fliegeralarm – der sogenannte Voralarm – ertönte. Während wir unsere Spielsachen zusammenpackten, um den Heimweg – ca. 500 Meter – anzutreten, ertönte bereits der Hauptalarm. Als „Alarmgewöhnte“ wussten wir: Jetzt wird es ernst. Wir liefen zum Kinderheim, hatten aber keine Zeit mehr, den für uns zugewiesenen Bunker zu erreichen. Im Westen der Insel detonierten bereits die ersten Bomben. Uns blieb nur noch der Weg in den Keller des Nachbarhauses, dem Sitz der Gemeindeverwaltung.

Da wir mit fallenden Bomben Erfahrung hatten, – langer Pfeifton mit Detonationsknall bedeutete weite Entfernung und keine direkte Gefahr –, bemerkten wir das Näherkommen der Bedrohung am immer kürzer werdenden Pfeifton mit sofortigem Detonationsknall.

In dem Lärminferno stürzten auf einmal Wände und Decke unseres Schutzraumes ein. Wir waren in Trümmerschutt eingeklemmt und sahen in dem Staub nur noch schemenhaft das Kellerfenster.

Ich befreite mich von dem eingeklemmten Rucksack und kroch durch den Trümmerstaub zum Kellerfenster hinaus. Ehe wir die Verwüstungen um uns wahrnehmen konnten, riefen Soldaten von der gegenüber liegenden Straßenseite aus einem Bombentrichter, dass wir bei ihnen schnell Deckung suchen sollten. Wir waren froh, dass uns nichts weiter passiert war. Die sich nach Osten entfernenden Detonationsgeräusche der Bomben und der Flak kündigten uns das Ende der Bedrohung an.

Das Bild der brennenden und zerstörten Häuser vor uns, kannten wir aus unseren Heimatstädten. Neu war die in den nächsten Tagen gewonnene Erkenntnis, dass wir unser Überleben dem nicht Explodieren einer 20-Zentner-Bombe, die als Blindgänger in einem Eisenträger des Hauses steckte, verdankten.

Die Bedeutung dieses Wunders wurde mir erst im Laufe meines weiteren Lebens bewusst. Es stand noch öfter unter einem besonderen Schutz.

Auch später wurde mir erst klar, welchen Gefühlen meine Eltern ausgesetzt waren, als sie im Rundfunk von dem schweren Bombenangriff auf Wangerooge mit über 50 Toten hörten.

Erst mit Kriegsende im Mai 1945 erfuhren sie über das Rote Kreuz, dass ich überlebt hatte.

Beide Brüder kehrten im Übrigen ebenfalls körperlich unversehrt nach Hause zurück

Ein literarischer Hinweis auf den Blindgänger findet sich in dem Buch „Zeugnisse aus unheilvoller Zeit“ von Hans-Jürgen Jürgens, Eintrag vom 28.04.1945:

„… Die Gemeindeverwaltung in der Anton-Günther-Straße (neben Haus „Fredeborg“) ist unbenutzbar, außerdem liegt im Keller ein Bomben-Blindgänger. Bürgermeister Folkerts hat sich deshalb im Postamt ein kleines Büro eingerichtet….“

Als ich später die für mich besondere Insel Wangerooge auch meiner Frau Erika zeigte, lernten wir den Autor kennen. Er war sehr an meinem Erleben interessiert. Leider konnte ich ihm nichts über den Verbleib einer Schiffsglocke, die auf dem Geldschrank der Gemeindeverwaltung gestanden hatte, sagen. Ich konnte mich nur an den Geldschrank in dem Trümmerchaos erinnern.

Mir als Zeitzeuge überreichte der Autor sein Buch mit persönlicher Widmung.

Gerhard Hohmann

Flucht aus Ostpreußen

Ich möchte Sie mitnehmen nach Wormditt, wo ich am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1938 geboren wurde. Wormditt war ein Städtchen in Ostpreußen, genauer im katholischen Ermland, mit damals rund 8.000 Einwohnern. Dort gab es mehrere Kirchen, besonders die mächtige katholische Johannis-Kirche, ferner ein Krankenhaus, eine Oberschule, sogar ein Amtsgericht, und gut zwei Kilometer vom Marktplatz entfernt den Bahnhof. Übrigens wohnten wir, meine Eltern und vier Kinder, ganz in der Nähe des Marktplatzes in der Obertorstraße. Man lebte vom Handwerk und Handel, versorgte sich mit allem, was das Umland hergab. Die Sommer waren heiß, die Winter frostig kalt, doch die trockene Kälte konnte man auch bei 20 Grad minus gut aushalten. Mein Vater war Gendarm, ritt zu Pferde über Land, sorgte für Ordnung und hat da wohl nicht viel Aufregendes erlebt, wie meine Mutter erzählte. So sehe ich mich auf einem Foto: vier Jahre alt, stolz und glücklich auf einem Polizeipferd vor meinem Vater im Sattel sitzen. Man lebte damals recht sorgenfrei, heiter und friedlich miteinander, wahrscheinlich so wie es Siegfried Lenz in seinen Kurzgeschichten „So zärtlich war Suleyken“ mit ausgeprägtem ostpreußischen Humor beschrieben hat.

Die Familien väterlicher und mütterlicherseits waren kinderreich und lebten fast alle in Wormditt oder in den umliegenden Dörfern. Man besuchte sich, man feierte häufig und half sich gegenseitig, grad so wie man es konnte. Meiner Erinnerung nach erlebte ich unbeschwerte Kinderjahre. Krieg gab es weit im Osten. Die Sorgen der Mütter und Ehefrauen um ihre in den Krieg eingezogenen Söhne und Ehemänner hielt man von uns Kindern fern.

Doch das änderte sich 1944. Die Front näherte sich zusehends. Im August hatte die sowjetische Armee die baltischen Länder erobert und war im Nordosten bis an die Grenze Ostpreußens vorgedrungen. Jetzt gab es Flüchtlinge aus den baltischen Ländern, und noch glaubten wir nicht, dass wir bald selber Flüchtlinge sein würden. So wohnte einige Wochen lang ein Fräulein Schulz aus Lettland bei uns. Sie berichtete von Gräueltaten russischer Soldaten, wovon ich aber nicht viel mit bekam und noch weniger begriff. Immer öfter marschierten nun deutsche Soldaten durch die Stadt, und es war nicht klar, ob das militärische Stärke bedeutete oder eher die letzten Aufgebote der deutschen Wehrmacht darstellten. Für mich war das aufregend und ich sehe mich, wie ich mich bemühte, daneben auf dem Bürgersteig mit zu marschieren.