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Bettina Auer

Naminé

Liebe deinen Feind


Für Sabrina, danke für alles


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

 

Der Regen ergoss sich wie tausende Eimer Wasser über das Land. In der Ferne hörte die Elbin es donnern und ein Blitz schlug am Horizont ein.  

Naminé aber blieb ruhig, denn in ihr Selbst tobte ein Sturm. Sie hielt ihr Pferd fest am Zügel, während sie im Sattel saß und sich ihr brauner Reiseumhang mit Wasser vollsog. Sie war froh, dass sie ihre Kapuze aufgesetzt hatte und so wenigstens ihre Haare vor dem Unwetter verschont blieben. Als erneut ein Blitz einschlug, schloss sie die Augen. 

Cyon, wo mag dein Mörder nur sein?, fragte sie sich in Gedanken und hatte immer noch das Bild ihres toten Bruders vor Augen: Ein Pfeil hatte aus seiner Brust geragt und an der Leiche waren mehrere Einstiche von einem Dolch zu erkennen gewesen. In der linken Hand ihres toten Bruders hatte eine schwarze Rose gelegen - das Zeichen der Elbenjäger. 

Erneute Trauer – vermischt mit Hass - durchströmte sie und sie zwang sich, ihre Tränen zurückzuhalten. Als sie ihren Bruder mit dem Zeichen der Elbenjäger in der Hand gefunden hatte, hatte sie sich eines geschworen; Rache! 

Plötzlich hörte Naminé Hufschläge hinter sich. Sie blieb sitzen und wartete mit geschlossenen Augen, bis das fremde Pferd neben ihr zum Stehen kam.  

»Du wirst es wirklich tun?«, fragte eine ihr sehr vertraute Stimme.  

Naminé öffnete ihre hellblauen Augen und sah neben sich. Aryl, eine Freundin ihres Elternhauses, war ihr nachgeritten und sah sie aus grünen Augen besorgt an. Ihr braunschwarzes Haar schaute unter ihrer Kapuze hervor. Die junge Elbin nickte nur knapp. Aryl seufzte hörbar auf. 

»Deine Eltern sind dagegen, Naminé. Du wirst seinen Mörder niemals finden; du weißt selbst, wie viele es von ihnen gibt!« 

»Warum töten sie uns Waldelben eigentlich?«, fragte Naminé stattdessen und ein erneuter Blitz war am pechschwarzen Himmel zu sehen. Geistesabwesend starrte sie in seine Richtung. 

»Sie geben uns die Schuld daran, dass sie den Krieg vor fünfundsiebzig Jahren verloren haben, weil unser damaliger Herrscher ihnen keinen Beistand leistete, als sie darum baten«, erklärte Aryl schließlich. Eine Weile sagte keine der beiden Elbinnen etwas.  

»Du wirst dich nicht davon abbringen lassen?«, fragte Aryl erneut. Naminé schüttelte stumm den Kopf.  

»Nein. Ich werde so lange suchen, bis ich ihn gefunden und getötet habe.«  

Aryl legte ihr die linke Hand auf die Schulter. Sie biss sich auf die Unterlippe.  

»Versprich mir nur eines: Pass gut auf dich auf und mach keine Dummheiten.« Naminé lächelte still und umarmte Aryl.   

»Nein. Das werde ich nicht tun«, sagte sie zum Abschied zu der Elbin, bevor sie ihrem Pferd sanft gegen die Flanke drückte und dieses den schmalen Weg von dem Vorsprung zum dichten Wald hinunterlief.  

 

Als Aryl ihr nachsah, rann ihr eine Träne über die Wange. Die Waldelbin hatte das mulmige Gefühl, Naminé zum letzten Mal gesehen zu haben.  

 

*** 

 

Der Regen hatte sich beruhigt, als Naminé endlich den Wald durchquert hatte. Die Bäume wurden weniger und in der Ferne sah sie die Stadtmauer von Vale, einer Stadt nahe der Grenze zum Waldelbenreich. Es war eine der wenigen Städte, in der sich Waldelben und Menschen freundlich begegneten. Wenn man tiefer ins Land hineinritt, wurde man als Waldelb mehr und mehr von den Menschen verachtet. 

Seit sie aufgebrochen war, überlegte Naminé fieberhaft, was sie machen sollte, wenn sie mit dieser Situation konfrontiert wurde. Plötzlich hatte sie die Idee, sich als Hochelbin auszugeben. Die Hochelben waren bei den Menschen gern gesehen. Da sich sowieso so wenige Waldelben ins Menschenreich trauten, hoffte sie, dass ihre Lüge nicht auffallen würde. Sie fackelte nicht lange und beschloss, ihren Plan in die Tat umzusetzen, sobald sie in der Menschenstadt war. 

Als Naminé in Vale ankam, bemerkte sie sofort, dass der Sturm hier nicht spurlos vorübergegangen war. Viele Häuser waren zerstört: Fensterscheiben waren in tausende kleine Glasteile zersprungen, Bäume waren umgefallen und begruben vieles unter sich. Soweit Naminé sehen konnte, gab es keine Toten.  

Die Waldelbin ritt auf einen, wie ihr schien, noch intakten Gasthof zu. Sie stieg von ihrer Stute und gab diese einem Stalljungen, der draußen schon auf sie wartete. Naminé wollte sich in dem Gasthof umhören, ob in der letzten Zeit ein Elbenjäger durchgekommen war, denn für diese war die Stadt Vale das reinste Paradies. 

Das Gasthaus war innen sehr gepflegt und einige Waldelben nickten Naminé zu, die diesen Gruß erwiderte. Kurzerhand setzte sie sich neben ihre Artgenossen.   

»Der Sturm war ziemlich schrecklich«, eröffnete sie das Gespräch. Der Elb, der links neben ihr saß, nickte.  

»Ja. Schon seit Langem war es wieder das erste Mal, dass es so geregnet hat.«  

 »Es ist nur schade um die Menschen hier. Es wird lange dauern, bis alles wieder so aussieht wie früher«, sagte die Elbin, die Naminé gegenübersaß.  

»Ja, da habt Ihr Recht.«  

Plötzlich wurde die Tür des Gasthauses grob aufgestoßen und ein hochgewachsener Mann stand in der Tür. Die drei Elben drehten sich um und sahen den Neuankömmling skeptisch an.  

Dieser hatte schwarzes, fast schulterlanges, Haar und seine eisblauen Augen waren auf den Wirt gerichtet. Er trug dunkle Kleidung, die aufwendig mit Ornamenten verziert war. Ein schlichtes Schwert hing an seiner rechten Seite. Naminé sah den angewiderten Ausdruck in den Gesichtern der beiden Waldelben.  

»Wer ist das?«, fragte sie leise, während der fremde Mann, sie schätzte ihn auf dreiundzwanzig, auf den Wirt zuging und dann mit ihm zu diskutieren anfing.  

»Sias. Ein Elbenjäger«, spie der Elb neben ihr wütend aus und an seinen Händen traten die Knöchel weiß hervor, als er diese zu Fäusten ballte. 

 »Wie gerne würde ich ihm jetzt den Dolch in den Rücken rammen.« Sias. Der Name kam der Waldelbin vage bekannt vor; bestimmt hatte ihn ein Diener ihres Vaters einmal erwähnt. Ob er Cyons Mörder war?  

»Seit wann ist er hier in Vale?«  

 »Seit fast zwei Wochen. Wir warten immer noch darauf, dass er einen von uns tötet.« Zwei Wochen, das könnte passen. Ihr Bruder war seit ungefähr neun Tagen tot. Naminé wollte aufstehen, doch eine Hand umfasste unsanft ihren Arm.  

»Was habt Ihr vor?«  

»Ich möchte ihn etwas fragen«, sagte Naminé fest entschlossen und ging auf den Elbenjäger zu. Dieser wurde erst auf sie aufmerksam, als der Wirt sich wütend von ihm abwandte.  

»Was willst du, Spitzohr?«, fragte er sie verachtend und Naminé sah den Hass in seinen Augen auflodern. 

 »Euer Name ist Sias, nicht wahr?«, fragte sie zurück und versuchte, ihre Angst und Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen. 

 »Mein Name ist Naminé und ich will Eure Schülerin werden.« 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1.Kapitel

 

Cirra sah aus dem Fenster, während eine Zofe ihr rotbraunes Haar zu einem Zopf flocht und in dieses einzelne Blumen steckte. Die Schönheit der Prinzessin der Elben, deren Schloss sich im Lande der Hochelben befand, war ihres Standes würdig. 

Sie trug ein enges, tief ausgeschnittenes schwarzes Kleid, das ihren Körper zur Geltung brachte. Ihre dunkelblauen Augen, die neugierig wirkten, sahen immer noch aus dem Fenster.  

»Weißt du, wann mein Bruder wiederkommt?«, fragte sie ihre Zofe gelangweilt. »Nein, Herrin«, antwortete diese und strich noch einmal über den Zopf, bevor sie damit fertig war.  

Cirra drehte sich zu ihr um.  

»Seit wann ist er unterwegs?«  

 »Seit drei Stunden, Mylady.« 

Die Elbenprinzessin ging an ihr vorbei, hinaus aus ihrem Gemach. Die Zofe folgte ihr. Für Cirra war es normal, dass ihr Bruder nicht oft hier in ihrem Schloss war, doch sie mochte ihn sehr und vermisste ihn daher jedes Mal schrecklich. Seit dem Tod ihrer Eltern vor neun Jahren war er der einzige ihrer Familie, der noch am Leben war. 

Cirra war erst zweiundfünfzig Elbenjahre alt, in der Menschenwelt wäre sie fünfzehn, weswegen sie zu jung war, um den Thron zu besteigen. Ihr Bruder war fast hundert Jahre älter als sie und übernahm ihr Amt, bis sie selbst alt genug dafür war.  

Eigentlich wäre er der Thronfolger, weil er der Ältere der beiden war, doch bei den Hochelben war es schon seit Jahren die Tradition, dass immer eine Frau über das Land herrschte.  

Cirra blieb vor einer gläsernen Tür stehen, durch die man hinaus auf den Hofgarten sehen konnte.  

»Ich werde ein wenig nachdenken; du kannst gehen. Wenn ich dich brauche, rufe ich nach dir.« 

Die Zofe verneigte sich und Cirra trat hinaus in den Schlossgarten. Als die Sonne ihr Gesicht streichelte, schloss sie die Augen und lächelte stumm. Cirra liebte die warmen Sonnenstrahlen und den Sommer. Im Winter war die junge Prinzessin meistens im Schloss und saß bei geöffnetem Fenster in ihrem Zimmer, um das Winterland zu betrachten. Nach draußen wagte sie sich nur selten. 

Cirra ging den schmalen Weg entlang, neben dem Bäume, Sträucher und Blumen wuchsen und ein kleiner künstlich angelegter Bach plätscherte.   

Die Prinzessin wanderte ein wenig durch den Garten und setzte sich dann auf eine Bank, die unter einen Schatten spendenden Kirschbaum stand. Sie saß eine Weile dort, als sie ein Rascheln hinter sich hörte.  

»Linth?«, fragte sie vorsichtig und als Antwort hörte sie Stiefelschritte, die immer näher kamen.  

»Ich dachte, du bist noch unterwegs?«, fragte sie ihn und warf ihrem Bruder einen schiefen Blick zu.  

Linth lächelte breit und strich sich einige seiner blonden Strähnen hinter das linke Ohr, als er auf sie zutrat.   

»Ich bin schon länger hier, aber ich wollte dich nicht stören«, sagte er und setzte sich neben seine kleine Schwester auf die Bank. Linth trug eine weiße kurzärmlige Jacke, darunter ein gleichfarbiges Hemd und eine blaue Lederhose. Ein Dolch hing an seinem Gürtel und das silberne Armband an seinem rechten Handgelenk blitzte im Sonnenlicht auf. 

»Und? Warst du erfolgreich?«, flüsterte Cirra fast lautlos. Sie wusste, dass niemand die beiden hören konnte, dennoch liebte Cirra die Vorsicht. 

 Ihr Bruder nickte. 

 »Ja, der Auftrag ist erledigt.«  

Cirra seufzte tief. Es war so, als würde eine Last von ihren Schultern fallen.  

»Gut. Dann lassen wir unser Spiel beginnen«, erwiderte sie mit einem teuflischen Grinsen, das ihr Bruder erwiderte.  

 

*** 

 

Naminé sah Sias fest an. Der Elbenjäger hingegen war das erste Mal seit Monaten sprachlos. Wollte sie ihn etwa blamieren?  

 »Du hast nicht zufällig zu viel getrunken? Oder soll das eine Mutprobe unter euch sein?«, fragte er sie verblüfft und blickte skeptisch in Richtung der anderen Elben. Naminé war nervös, denn erst jetzt erkannte sie, in was sie sich hineinritt. Doch das Gespräch jetzt einfach zu beenden war nicht ihre Art. Sie musste das jetzt durchziehen! 

»Was ist an dieser Frage so schwer zu verstehen?«  

 »Du bist eine Waldelbin! Ich bin ein Elbenjäger! Ich und andere meiner Zunft jagen und töten euch. Wieso besitzt du die Frechheit zu fragen, ob ich dich ausbilde? Sei froh, dass wir uns hier in Vale befinden, sonst wärst du schon längst tot!«, zischte er sie wütend an. Sias wollte gehen, doch Naminé blieb hart. Sie sah ihn stur an.  

»Ich bin eine Hochelbin; und ich bitte Euch darum, dass Ihr mich ausbildet!«  

Sias blieb stehen, drehte sich aber nicht um. 

 »Hochelbin? Ist deine Hautfarbe nicht ein wenig zu dunkel dafür?«, fragte er sie spöttisch und grinste hämisch.  

»In Vale leben die Elben mit den Menschen friedlich Seite an Seite. Ich bin hier aufgewachsen. Deswegen habe ich so eine dunkle Haut«, rechtfertigte sie sich vor ihm.  

Sie hoffte so sehr, dass er ihr die Lüge abnahm. In ihren Ohren klang sie gerechtfertigt.  

Naminé hatte einmal gehört, wenn ein Hochelb oder ein Mensch einen Elbenjäger um eine Ausbildung bat, dass dieser diese Person als Schüler annehmen musste. 

Sias warf ihr einen schiefen Blick zu. Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Dass sie eine Waldelbin war, sah er mit geschlossen Augen.  

Doch diese Göre flehte offenbar um diese Ausbildung. Sie hatte langes, blondes, fast goldfarbenes Haar und strahlend hellblaue Augen. Sie trug einen waldgrünen knielangen Rock, darunter eine kurze braune Lederhose.  

Als Oberteil trug sie eine gleichfarbige langärmlige Bluse, die mit Schnüren am Rücken zusammengehalten wurde. Ein Köcher mit Pfeilen und ein Bogen hingen über ihrem Rücken. Sias seufzte niedergeschlagen.  

»Gut. Ich werde dich ausbilden, Hochelbin. Ich werde mich deiner erst einmal ein bis zwei Wochen zur Probe annehmen«, sagte er und es klang genervt. Naminé biss sich auf die Lippen, um ihre Freude zu verbergen. Sie hatte Sias überredet!  

»Danke«, antwortete sie und verneigte sich knapp vor Sias. Ihr triumphierendes Grinsen verkniff sie sich. Der Elbenjäger ging hinaus.  

»Morgen am Marktplatz, sobald die Sonne aufgegangen ist. Nenn mich Sias, Hochelbin.« 

Als Sias den Raum verließ, warfen die zwei Elben, mit denen sich Naminé vorher unterhalten hatte, böse Blicke zu.   

»Sag mal, spinnt Ihr? Ihr seid eine Waldelbin! Sobald er weiß, dass Ihr ihn anlügt, wird er Euch töten!«, sagte die Elbin und sah sie entsetzt an. Naminé wandte sich den beiden zu. »Ich kenne die Konsequenzen.«  

 »Und warum tut Ihr das? Wenn Ihr Euch nach dem Tod sehnt, könnt Ihr es ihm gleich sagen.«  

Die Waldelbin schüttelte den Kopf. 

 »Nein, ich will nur Rache. Das ist alles.« 

 

*** 

 

Sias verließ das Gasthaus. Die Sonne war schon längst untergegangen. Dieses dumme Spitzohr hatte ihn schon viel zu lange aufgehalten!   

Sias wusste, dass sie keine Hochelbin war, doch er wollte sie die erste Zeit einmal in diesem Glauben lassen. Morgen würde er sich mit ihr unterhalten. Sias wollte unbedingt wissen, warum sie auf die Idee kam, ihn um eine Ausbildung als Jägerin zu bitten.  

Sie war eine Waldelbin. Er jagte ihr Volk seit Jahren! Warum tat sie das?   

Wollte sie ihn nur reizen, oder war sie lebensmüde? 

 Sias stieg auf seinem Rappen und preschte mit ihm aus der Stadt. Er würde sich morgen darüber Gedanken machen, denn jetzt musste er erst einmal seiner Arbeit nachgehen.  

 

*** 

 

Naminé folgte Sias stumm in den naheliegenden Wald. Sie führte ihr Pferd an den Zügeln hinter sich her, und tat es somit Sias nach. 

 »Wohin gehen wir?«, fragte sie ihn vorsichtig. Sie hatte ein schlechtes Gefühl, mit ihm alleine zu sein, doch damit musste sie nun leben.  

»Warum willst du eine Elbenjägerin werden?«, stellte er die Gegenfrage.   

Naminé war ein wenig überrascht. Eigentlich hätte sie damit rechnen müssen.  

»Ich hasse die Waldelben«, log sie schlicht. Sias zog die Mundwinkel leicht hoch. Er musste sich ein Lachen verkneifen.  

»Und warum fragst du ausgerechnet mich?«  

Weil du der erste Elbenjäger warst, den ich gestern gesehen habe?, dachte sich Naminé die Antwort, aber das konnte sie ihm natürlich nicht ins Gesicht sagen.   

»Es heißt, du bist einer der besten Elbenjäger«, sagte sie stattdessen zu ihm. 

 »Das ist wahr. Ich habe in einem Jahr mehr als fünfundvierzig Elben getötet«, sagte er stolz. Naminé grub ihre Finger in Lanes Zügel. Sie atmete tief aus. Naminé wollte nicht, dass ihre Fassade bröckelte. 

 Auf einer Lichtung blieben die beiden plötzlich stehen. Sias band sein Pferd an einen Baum und Naminé tat es ihm gleich.  

»So. Dann wollen wir mal sehen, wie du kämpfst, Naminé«, sagte er plötzlich und grinste breit.  

Die Waldelbin fühlte sie völlig überrumpelt, als Sias sein Schwert zog und sich auf sie stürzte. Naminé duckte sich gerade noch vor dem Angriff, stolperte aber rücklings über einen Stein und fiel hin.  

Blitzschnell stand sie auf und rannte ein Stück von ihm weg. Sie zog Pfeil und Bogen und wollte nach ihm schießen, doch dies ging daneben. Sias lächelte.  

»Du kannst nicht zielen?«, fragte er sie spöttisch. Naminé warf ihren Bogen kurzerhand auf den Boden und zog ein Schwert, das an dem Sattel ihres Pferdes hing.  

Die Klinge war lang und schmal. Naminé drehte sich um und wehrte gerade noch Sias Schwertschlag ab. Sie zitterte unter der Wucht seines Schlags.  

Sias verstärkte seine Kraft und es gelang ihm, Naminé in die Knie zu zwingen. Sie ließ das Schwert fallen und fiel auf den Boden. Sias hob seines und schwang es wie eine Keule.  

Oh nein!, dachte sie erschrocken und alles in ihr schrie, doch sie brachte keinen Ton hervor, als das Schwert auf sie niedersauste.  

Sie schloss die Augen, denn sie wollte ihr Ende nicht sehen. Naminé zuckte zusammen, als die Waffe dicht neben ihrem rechten Ohr einstach. Die Waldelbin öffnete vorsichtig ihre Augen und starrte in Sias Gesicht. 

Der Elbenjäger saß vor ihr und beugte sich über Naminé. Sein Schwert hielt er mit der rechten Hand umklammert. Naminé zitterte am ganzen Körper. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sias sah sie ausdruckslos an.  

»Erste Lektion: Lüge mich nie an, Waldelbin. Zweite Lektion: Du tötest, wenn ich es dir sage, und tust es, ohne es zu hinterfragen. Und Lektion Nummer drei-«, Sias beugte sich näher zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins linke Ohr: »Du gehorchst mir, wenn nicht, werde ich dich bestrafen.« 

Sias stand auf und zog sein Schwert aus dem Erdboden. Naminé lag noch eine Weile da, bevor sie sie sich auf wackligen Beinen aufrichtete. Sie hob ihr Schwert und ihren Bogen auf.  

Das Schwert verstaute sie in der dazugehörigen Schwertscheide und den Bogen hängte sie sich wieder um ihren Rücken, während sie den Köcher am Sattel festband.  

»Warum hast du mich nicht getötet?«, fragte sie ihn laut. Ihre Stimme klang immer noch zittrig.  

»Ich werde dir diese Frage beantworten, wenn du mir meine zuerst beantwortest.« 

 Naminé nickte zaghaft.  

»Warum willst du eine Elbenjägerin werden? Willst du deine eigene Rasse auslöschen?«  

 »Nein. Mein Bruder wurde von einem Elbenjäger getötet. Ich will einfach nur Rache.« 

Sias stieg auf sein Pferd und lenkte es neben Naminé.  

»Du weißt, wie viele Elbenjäger es gibt? Ich könnte ihn auch getötet haben.«  

 »Ich weiß. Doch ich glaube nicht, dass du es warst.« 

»Warum?«  

Naminé lächelte und stieg in Lanes Sattel.   

»Hättest du mich sonst aufgenommen?« 

 Sias musste ungewollt grinsen. 

 »Ich hoffe für dich, dass du dich ja nicht darin täuschst.«  

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

 

Naminé öffnete ihre Augen und blickte Sias an. Der Elbenjäger saß neben ihr am Feuer und starrte geistesabwesend in die Flammen.   

Die Waldelbin seufzte. Schon seit drei Tagen war sie mit Sias nach Dunac, eine kleine Hafenstadt, unterwegs. Die beiden sprachen nicht viel, weswegen sich Naminé manchmal sehr langweilte.  

Wie jede Nacht schliefen die beiden im Wald unter dem Sternenhimmel. Obwohl die Elbin keine zwei Stunden geschlafen hatte, war sie nicht müde. Sie konnte einfach nicht schlafen.  

Wenn sie die Augen schloss, sah sie jedes Mal Cyons massakrierten Körper vor sich.  

Naminé fröstelte es trotz des Feuers.  

»Wie lange brauchen wir noch bis nach Dunac?«, fragte sie ihn.  

»Zwei Tage«, sagte Sias und stocherte mit einem Stock im Feuer herum. Naminé hielt einen gewissen Sicherheitsabstand zu dem Elbenjäger.  

Sie traute ihm nicht, doch er war die einzige Hoffnung für sie, den Mörder ihres Bruders zu finden. 

 »Wieso willst du überhaupt deinen Bruder rächen?« Diese Frage hatte er ihr schon einmal gestellt, doch er war mit der damaligen Antwort nicht zufrieden gewesen. 

»Mein Bruder und ich lebten mit unserer Familie nah an der Grenze zum Menschenreich. Du weißt, dass es verboten ist, an der Grenze zu töten. Dass es allgemein verboten ist, im Waldelbenreich zu töten. Doch dieser Jäger tat es trotzdem. Mein Bruder wurde grausam hingerichtet. Ich möchte dem Mörder das Gleiche antun, was er Cyon angetan hat!«  

Sias spürte den Hass, die Wut, die mit jedem Wort aus ihrem Mund stieg und wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte. 

»Glaubst du nicht, dass du dir ein etwas zu großes Ziel gesetzt hast? Und du glaubst doch nicht wirklich, dass sich alle an die Regeln halten, dass sie nicht hinter der Grenze töten sollen?«, fragte er sie gespielt unschuldig und grinste wolfsähnlich.  

Naminé warf ihm einen bösen Blick zu. Sie traute Sias zu, das er schon mehr als einmal hinter der Grenze getötet hatte, doch sie glaubte nicht, dass er der Mörder von Cyon war.  

Sie wusste selbst nicht, warum sie ihm dies nicht zutraute, doch je länger sie ihn ansah, desto weniger vermutete sie dies. Sias passte nicht in ihr Mörderschema. 

»Weißt du zufällig, wer ihn umgebracht hat?«, fragte sie ihn plötzlich. Sias legte den Kopf in den Nacken und überlegte. In den letzten zwei Wochen hatte er drei Elbinnen getötet, doch er kannte jemanden, der vor kurzem einen Elb getötet hat, der auf Naminés Beschreibung passte.  

Sias hatte ihn nur zufällig dabei gesehen und fand die Tötung des Elbs ziemlich übertrieben. Es hatte für ihn wie ein Ritual ausgesehen.  

Sias hatte denjenigen erkannt, der den Elb getötet hatte, doch er hatte sich im Hintergrund gehalten und nur beobachtet. Er hatte mit dieser Person noch eine sehr große Rechnung offen.  

Eigentlich wollte er sich in dieser Nacht an ihm rächen, doch der Mord an Cyon hatte ihn auf eine andere Idee gebracht: Er würde diese Person suchen und sie erpressen. Ein Elbenjäger, der einen Ritualmord durchführte; dies glich einer Todesstrafe.   

»Ja. Ich weiß, wer es war«, gestand er ihr nun und sah Naminé an. 

Die Augen der Waldelbin hellten sich auf. Sie beugte sich ein Stück weiter zu ihm hinüber und kroch auf allen vieren auf ihn zu.  

»Wirklich?!«, kurz vor seinem Gesicht hielt sie inne.  

Sias hingegen zog seinen Kopf ein wenig zurück.  

»Ja«, antwortete er erneut und zog leicht die Augenbrauen zusammen.  

»Kannst du mir den Namen sagen?«, bat sie ihn.  

»Nein. Das werde ich nicht. Ich habe mit demjenigen sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen. Du wirst mich begleiten, und ich werde dich zu einer Elbenjägerin ausbilden, verstanden?« 

Naminé wich ein wenig von ihm zurück und sah in das Feuer. 

 »Eigentlich behagt es mir gar nicht, dass ich eine Elbenjägerin werden soll. Ich dachte nur, ich komme mit dir mit und dann bringst du mich zu Cyons Mörder, ich töte ihn und dann geht jeder seines Weges?«, druckste sie herum.  

Das hast du dir ja ganz einfach vorgestellt, dachte sich Sias.  

»Glaubst du, dass ich mich von dir als Wegführer ausnutzen lasse? Nein! Du hast mich gebeten, dass ich dich ausbilde und ich werde es tun! Das hättest du dir vorher überlegen sollen, bevor du auf die Idee kommst: Hah! Ich bettele einen Jäger an, dass er mich mit sich nimmt und dann haue ich ab!? Nein, meine Liebe. So läuft das Spiel nicht. Das sind meine Regeln.« 

Naminé sah ihn geschockt an, erst jetzt wurde sie sich über den Ernst der Lage bewusst! 

 »Aber du wolltest mich doch sowieso nicht aufnehmen!« 

 »Ich habe es mir eben anders überlegt«, sagte er und zuckte mit den Schultern.  

»Das kannst du nicht machen! Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich mein eigenes Volk umbringe!« 

Die Waldelbin war inzwischen aufgestanden und blickte auf Sias hinab. Der Elbenjäger blieb ruhig.  

»Es ist nicht mein Problem. Du musst dich eben dazu überwinden, und außerdem -«, Sias stand auf und stellte sich direkt gegenüber von ihr auf.  

 »Du tust, was ich dir sage! Oder hast du meine Lektionen schon vergessen?«, fragte er sie fast lautlos.  

Naminé schluckte schwer. Ja, sie erinnerte sich daran und hatte immer noch Angst, dass er gleich sein Schwert zog, um ihr den Kopf abzuschlagen. Sie schloss die Augen und seufzte.  

»Ich werde es nicht tun.«  

»Das werden wir noch sehen, Spitzohr.« 

 

*** 

 

Sias ritt voran und Naminé folgte ihm. Die beiden waren wie immer stumm aufgebrochen. Sias redete nicht gerne mit seinen Opfern. Er mordete ihr Volk lieber, als dass er sich mit ihnen unterhielt.  

»In Dunac wirst du dich als Hochelbin ausgeben, verstanden?«, sagte er zu ihr.  

»Ja«, antwortete Naminé und es klang genervt. 

 Sias ignorierte es.  Er war so froh, wenn er sie los war, doch vorher wollte er sie noch leiden lassen. 

Gegen Abend kamen die beiden ungleichen Gefährten zu einem Gasthaus. Naminé fand einerseits, dass es eine ziemlich ungünstige Stelle war, mitten im Wald ein Gasthaus zu eröffnen. Andererseits war sie aber froh, endlich wieder in einem Bett schlafen zu können. 

Sias und Naminé brachten ihre Pferde in den Stall, bevor sie die Schenke betraten.  

Wider Erwarten war die Schankstube gerammelt voll. Naminé und Sias erspähten noch einen freien Platz am Tresen und setzten sich dorthin. 

»Ich bin froh, dass ich heute Nacht endlich wieder ein weiches Bett habe«, sagte Naminé und streckte sich. Sias sah sie schief an. Er konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen: »Ich dachte, ihr Elben schlaft auf Blättern?« 

 Naminé schüttelte den Kopf. 

 »Im Gegensatz zu euch schlafen wir nicht in Scheunen.« Sias seufzte und bestellte beim Wirt für sich und Naminé jeweils ein Zimmer und ein Abendessen.  

Der Wirt kam nach einer Weile wieder und sah den Elbenjäger lange an, bevor er sagte: »Leider haben wir nur noch ein Zimmer frei.«  

Sias Augen verengten sich.  

»Gibt es keine andere Möglichkeit? Vielleicht den Stall?« 

Der Wirt verneinte. Der Elbenjäger seufzte niedergeschlagen. Warum hatte er nur immer so ein Pech? »Gut. Ich nehme das Zimmer«, sagte er und der Wirt schien beruhigt zu sein.  

Er brachte den beiden das Essen und Naminé nickte ihm dankend zu. Es handelte sich zwar nur um einen minderwertigen Eintopf, doch sie hatte so viel Hunger, dass sie nun alles in sich hineinstopfte.  

Sias sah Naminé skeptisch an. Diese Elben; ein zu einfaches Volk.  

Der Elbenjäger war froh, dass niemand bemerkte, das Naminé eine Elbin war. Er hatte ihr schon einige Anweisungen gegeben, wie sie dies verbergen konnte.  

Sias glaubte ganz fest daran, dass die beiden ohne Zwischenfälle morgen Nachmittag in Dunac eintreffen würden. 

 

Naminé sah Sias nervös an. Die beiden standen in dem Zimmer, das der Wirt ihnen gegeben hatte. Das Zimmer war kahl eingerichtet. Dort befanden sich nur ein Bett, ein kleiner Tisch und ein Schrank. Die Waldelbin fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut.  

»Und? Was machen wir jetzt?«, fragte sie ihn vorsichtig. »Ich schlafe auf dem Boden«, sagte er knapp und legte sich eine Decke zurecht, auf der er schlafen wollte.  

»Gut.« 

Naminé nickte und setzte sich eine Weile auf das Bett. Sias lag, mit dem Rücken zu ihr, auf der Decke.  

»Warum bist du überhaupt ein Elbenjäger geworden?« Naminé sah, wie sich Sias verkrampfte.  

»Ich hatte meine Gründe«, sagte er schließlich. 

 »Wurden deine Eltern vielleicht von Elben getötet?«  

Die Waldelbin hörte, wie Sias tief ausatmete.  

»Schlaf endlich!«, forderte er sie auf. Er hörte, wie das Bett knarrte. Sias glaubte, dass sie sich hingelegt hatte, doch da irrte er sich. Naminé kniete sich plötzlich neben ihm auf dem Boden.  

»Nun sag schon!«  

 »Bist du immer so lästig?«, fragte Sias sie genervt. Er war kurz davor, die Geduld zu verlieren.  

»Ich lasse dich erst in Ruhe, wenn du mir sagst, warum!«, hielt sie dagegen und ihre Augen blitzten auf. »Efal - mein Meister - ist daran schuld«, sagte er und schloss die Augen.  

»Geh jetzt schlafen.«  

 

*** 

 

Am nächsten Morgen erwachte Naminé früh. Sias war nicht da. Die Waldelbin stand auf und strich sich ihre Kleidung glatt, bevor sie zur Schankstube hinabstieg. Der Elbenjäger wartete bereits auf sie. Er nickte ihr zu. 

»Können wir weiter? Ich habe die Rechnung schon bezahlt«, sagte er zu ihr. Seine Stimme klang ungewöhnlich freundlich. Naminé folgte ihm, aus dem Gasthaus hinaus, in die Stallungen. Als sie auf ihr Pferd steigen wollte, wurde sie grob am Handgelenk gepackt und umgedreht.  

»Was soll das?!«, rief sie wütend und Sias sah sie an. In seinen Augen loderte der reine Hass, den sie schon bei ihrer ersten Begegnung mit ihm gesehen hatte. 

 »Heute Nachmittag sind wir in Dunac. Und du wirst schön mitspielen! Denn wenn nicht, wirst du mich richtig kennenlernen!«, drohte er ihr und stieg auf sein Pferd.  Naminé sah ihm kurz nach, bevor sie auf ihr Pferd stieg und ihm mit einem Abstand nachritt.  

Was meinte er damit?, dachte sie fragend, doch sie sagte lieber nichts zu ihm. Sie wollte lieber den heutigen Nachmittag abwarten. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3. Kapitel

 

Die Augen der Waldelbin glänzten, als sie durch Dunac ritten. Naminé war bisher nur ein einziges Mal am Meer gewesen. Dies war Jahre her und damals hatte sie sich so vor den Wassermassen gefürchtet, dass sie nicht darin geschwommen war. 

Doch heute war diese Angst verschwunden und voller Staunen betrachtete sie das dunkelblaue Meer. In der Ferne ließ die Sonne tausende Sterne im Meer erstrahlen und die Schiffssegel bewegten sich sanft im Wind. Die Gassen in Dunac waren eng, dennoch war die ganze Stadt einfach malerisch; eine typische Hafenstadt eben. 

Für Naminé sah die Stadt aus, als wäre sie aus einem Bild entsprungen. Sias entging nicht, dass sich Naminé aufgeregt umsah. Insgeheim wunderte ihn dies nicht. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass die Waldelbin ihr Reich verlassen hatte. Weiter als nach Vale war sie wohl nie gekommen.  

Hoffentlich fällt ihre Lüge nicht auf, dachte sich der Elbenjäger, und hatte auch schon eine Möglichkeit gefunden abzuhauen, falls Naminés Herkunft aufflog. Sias ritt voraus. Er steuerte direkt auf den Hafen zu. Ab und zu blickte er sich nach Naminé um. Er wollte nicht, dass die Elbin ihm abhandenkam. Der Elbenjäger hatte keine Lust, die ganze Stadt nach ihr abzusuchen.  

Kurz bevor die beiden die Hafenanlage betraten, fiel eine ältere Frau vor die Füße des Pferdes der Waldelbin. Gerade noch zog Naminé an den Zügeln, sonst hätte Lane die Frau zertreten.  

»Ist etwas passiert?!«, fragte Naminé sofort aufgebracht, sprang aus dem Sattel der Stute und kniete sich zu der alten Dame hinab.  

»Ist alles in Ordnung mit Euch? Es tut mir so leid! Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gut machen soll.«  

Sias hatte sein Pferd inzwischen zu den beiden Frauen gewendet und wartete ab.  

»Danke. Ich bin nur ausgerutscht«, sagte die Frau und lächelte Naminé schwach an, während diese ihr aufhalf. 

 »Sollen wir Euch zu einem Heiler bringen?«  

Die Waldelbin wusste selbst, dass der Frau außer ein paar Schürfwunden nichts Ernsthaftes passiert sein konnte. Doch sie wollte nicht unhöflich sein.  

Die Frau verneinte. »Nein danke, mein Mädchen.«  

Naminé ließ die Frau los und diese drehte sich kurz zu ihr um.  

»Du bist ein sehr nettes Mädchen. Ich hoffe, dass dir niemand in Dunac den Kopf verdreht.«  

 »Den Kopf verdreht?«, fragte sie die alte Frau und diese blinzelte sie an. 

 »Dunac ist die Stadt der Liebe, mein Schätzchen. Unsere jungen Männer schnappen sich alles, was nicht bei drei aus dem Weg ist. Pass gut auf dich auf«, sagte sie zum Abschied und verschwand im Getümmel.   

Naminé blickte ihr eine Weile nach, bis sich Sias plötzlich räusperte. 

 »Können wir weiter reiten?«  

Die Waldelbin drehte sich um. Sie hatte den Elbenjäger für einen kurzen Moment vergessen. Naminé nickte und stieg in auf ihr Pferd. Sias wendete sein Pferd wieder die andere Richtung und die beiden ritten weiter.  

»Was meinte die Frau mit Stadt der Liebe?«, fragte sie Sias plötzlich. Dieser seufzte. Manchmal glaubte er, er war mit einem kleinen Kind unterwegs.  

»Wie sie schon erklärt hat: Halte dich von den Männern hier fern. Eine schwangere Elbin ist keine gute Jägerin«, sagte er leicht amüsiert. Naminé sah seinen Rücken böse an. »Für, wie naiv hältst du mich?!« Sias zuckte mit den Schultern.  

»Halte dich besser immer an mich. Ich will dich nicht aus fremden Betten zerren.« 

Sias hielt sein Pferd vor einem Schiff an. Es lag ziemlich am Ende der Hafenanlage und machte einen sauberen Eindruck. In schwarzen Buchstaben war der Name ‘Morgenstern‘ auf den Schiffsbug gemalt.  

»Was wollen wir hier?«, fragte Naminé ihn und klang ein wenig ärgerlich. Sie hatte seine Bemerkung nicht vergessen. »Ich suche eine Überfahrt für uns. Der Kapitän dieses Schiffes schuldet mir noch etwas«, sagte er und stieg von seinem Rappen ab.  

»Du wartest hier«, sagte er im Befehlston und Naminé gehorchte. Sie hatte sowieso keine Lust, ihm bei seiner Überredungskunst zuzusehen. Naminé sah sich währenddessen neugierig um. Entlang der Hafenanlage waren viele Geschäfte und Wirtshäuser. Kreischende Möwen saßen überall auf den Schiffen, den Dächern der Häuser sowie auf den Stegen, die zu den Schiffen führten. 

Naminé schloss die Augen und atmete tief die frische, unbekannte Meeresluft ein. Sie schmeckte sehr salzig und belebend. Der Geruch beruhigte die Waldelbin ein wenig.  

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren linken Oberschenkel. Schnell schlug sie die Augen auf und blickte einen Matrosen an, der sie berührte.  

Naminé verzog das Gesicht und unterdrückte einen spitzen Kommentar. Er schien ungefähr so alt wie Sias zu sein und sah die Elbin grinsend an.  

»Na? Bist du hier ganz alleine? Wenn du willst, kann ich dir Dunac zeigen. Du siehst nicht so aus, als wärest du von hier.«  

Naminé kniff die Augen zusammen, bevor sie antwortete: 

»Nein, ich möchte Dunac nicht ansehen. Ich warte auf jemanden.«  

Naminé hoffte, dass sie ihn mit dieser Halblüge abwimmeln konnte. Vor allem ab störte es sie, dass er immer noch seine Hand auf ihren Oberschenkel ruhen ließ! 

»Ach, komm schon! Es dauert auch nicht lange!«, bettelte dieser stattdessen und verstärkte den Griff um Naminés Bein. Die Waldelbin schwenkte ihr Pferd ein wenig zur Seite, um die Hand des Fremden abzuschütteln. Sie ihn wütend an.   

»Wie schon gesagt: Ich warte hier auf jemanden!«, wiederholte sie diesmal in einem schärferen Ton. Der Gesichtsausdruck des Matrosen verfinsterte sich.  

»Dann eben nicht!«, sagte dieser wütend und zog von dannen. Ein kleines, triumphierendes Lächeln zeigte sich auf den Zügen der Elbin. Von wegen sie konnte nicht auf sich selbst aufpassen. 

 

*** 

 

»In zwei Tagen. Früher kann ich nicht ablegen«, sagte Kapitän Charlie zu Sias und der Elbenjäger sah ihm an, dass ihm diese Situation unangenehm war. Sias seufzte niedergeschlagen.  

»Gut, einverstanden«, sagte er und ein paar Goldmünzen wechselten den Besitzer. Der Kapitän zählte das Geld schnell nach, bevor er es einsteckte.  

»Danke für dein Verständnis, Sias.«  

Sias winkte ab. »Ich zahle nur für die Überfahrt, nicht für das Essen. Das ist das Mindeste, was du mir schuldest.«  

Der Kapitän lächelte leicht.  

»Ja. Ich weiß. Ohne dich würden meine Mannschaft und ich auf dem Grund der See liegen.« 

 »Es war meine Pflicht. Du hast mich als Wächter eingestellt«, sagte Sias und zwinkerte seinem alten Freund zu. 

Sias war vor etwa zwei Jahren auf Charlies Schiff als Wächter angeheuert worden. Sie sollten eine Ladung Gewürze von Dunac aus in die Nordregionen dieses Land bringen. 

 Dort treiben sich oft Piraten herum, doch Sias war mit ihnen fertig geworden, und seitdem traute sich keiner mehr, die ‘Morgenstern‘ anzugreifen.  

Der Kapitän war dem jungen Mann sehr dankbar dafür.  

Charlie wanderte an die Reling und beobachtete für eine Weile ein junges Mädchen, das sich mit einem Matrosen unterhielt.   

Er grinste, als dieser beleidigt von dannen zog.  

»Gehört die zu dir? Sie scheint sehr schlagfertig zu sein«, sprach er zu Sias und der Elbenjäger trat neben Charlie. 

 »Ja, gezwungenermaßen«, gestand er ihm und knirschte mit den Zähnen. 

 »Sie ist eine Waldelbin«, stellte Charlie fest und sah ihn schief an.  

»Seit wann nimmst du deine Feinde mit auf Reisen?«  

Sias verzog kurz den Mund. 

 »Sie will Rache an dem Mörder ihres Bruders nehmen«, erklärte er knapp. 

 »Ach? Und du hilfst ihr dabei?«, fragte er Sias und zog die Augenbrauen hoch.  

»Nicht ohne einen Hintergedanken«, gestand er und lehnte sich neben ihn.  

»Ich weiß, wer ihn umgebracht hat und ich helfe ihr dabei, ihn zu suchen. Ich selbst muss mit dieser Person noch etwas sehr Wichtiges klären«, flüsterte er kaum hörbar und der Wind strich durch sein schwarzes Haar.  

Charlie wusste, wovon er sprach. Sias hatte ihm diesen Teil seiner Vergangenheit im Suff anvertraut.  

Da Charlie ein Ehrenmann war, würde er niemals jemandem davon erzählen. Der Kapitän nickte kurz. 

 »Pass gut auf sie auf. Sie scheint ganz vernünftig zu sein.«  

Sias antwortet darauf nicht, sondern verließ das Schiff.   

»Bis in zwei Tagen.« 

 

*** 

 

Naminé schielte Sias an. Sie saß mit dem Elbenjäger in einem Gasthaus nahe dem Schiff und Naminé entging nicht, wie die Matrosen sie anstarrten. Eine Waldelbin sahen die Menschen eben nicht oft, und vor allem nicht in Begleiter eines Jägers. 

 »Wir hätten wo anders hingehen sollen«, flüsterte sie ihm kaum hörbar zu und dieser nickte. Er glaubte aber nicht ganz, dass es weiter oben in der Stadt ruhiger war. Die Leute würden sie genauso anstarren wie jetzt. Außerdem wollte der Elbenjäger zu dieser späten Stunde nicht mehr durch ganz Dunac laufen. Ein wenig verstand Sias die Blicke der Matrosen. Naminé war wirklich hübsch, doch sie war eine Waldelbin! So etwas durfte er nicht mal annähernd denken! Sias seufzte.  

»Wir können morgen Abend auf dem Schiff schlafen, wenn du willst«, sagte er schließlich zu ihr.  

»Wirklich? Geht das?«  

Sias nickte. Charlie würde sich schon irgendwie umstimmen lassen. Neben Naminé und ihm ließ sich plötzlich jemand nieder.  

Die Waldelbin sah den ungebetenen Sitznachbarn an, es war der gleiche Matrose wie vorher.  

»Das gibt es doch nicht. Auf den da hast du gewartet! Bist du etwa blind, Spitzohr? «, sagte er zu ihr und sah Sias an. Der versuchte, ihn vorerst zu ignorieren.  

»Ach? Ich bin blind. Nun ich glaube kaum, dass ich dies bin. Und jetzt geh, du beleidigst mein Augenlicht«, sagte Naminé gespielt erschütternd und schüttelte den Kopf.  

»Da lässt ja ein einäugiger Bettler mein Herz eher höher schlagen als du.« 

 Sias verkniff sich ein Lachen. Er wandte sich nun dem Matrosen zu.  

»Verschwinde, Bursche!« Der Matrose sog scharf die Luft ein.  

»Arrogante Ziege!«, antwortete er nur und ging auf eine Gruppe Matrosen zu, die ihn lachend und johlend empfingen. Naminé sah Sias an.  

Der Elbenjäger grinste, worauf die Waldelbin ebenfalls damit anfing.  

»Bin ich naiv?«, fragte sie ihn und begann nun zu lachen. Sias stimmte darin ein.  

»Ich mag dich zwar nicht, doch du bist nicht auf den Mund gefallen.«  

Naminé streckte ihm die Zunge raus.  

»Dunac. Die Stadt der Liebe«