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Buchinfo

Cammies Gedächtnis ist wie leergefegt! Dass sie die Gallagher Akademie verlassen hat, um ihre Familie und Freunde vor dem Cavan-Zirkel zu schützen, der sie seit einem Jahr verfolgt, ist das Letzte, woran sie sich erinnern kann. Doch als sie in einem Kloster in den Alpen erwacht, sind mehrere Monate vergangen und ihr wird klar: Zusammen mit ihren Freunden muss sie ihre eigenen Spuren rund um die Welt verfolgen, um herauszufinden, was geschehen ist. Ein packender Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn der Cavan-Zirkel ist Cammie bereits dicht auf den Fersen …

Der New-York-Times Bestseller erstmals auf Deutsch!

Autorenvita

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© Shevaun Williams

Ally Carter stammt aus Oklahoma. Ihre Mutter war Lehrerin, ihr Vater Landwirt und Viehzüchter. Sie hat eine ältere Schwester.Nach dem Studium arbeitete sie ein paar Jahre in der Agrar-Industrie, bis sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. 2005 wurde ihr erster Roman veröffentlicht. Ihre Bücher erscheinen in mehr als zwanzig Ländern und waren auf den Bestseller-Listen der New York Times, USA Today oder des Wall Street Journal. Heute lebt und arbeitet sie in Oklahoma.

   ALLY CARTER– Spione Lieben gefährlich– Aus dem Amerikanischen von Gerda Bean– Planet Girl

Für Jen

Kapitel Eins

Wo bin ich?«

Ich hörte die Worte, war aber nicht sicher, ob ich sie gesagt hatte. Die Stimme war zu rau, zu grob, um meine zu sein. Es war, als ob sich ein fremdes Mädchen in meiner Haut versteckte und im Dunkeln fragte: »Wer ist da?«

»Ach, Englisch, ja?«

Als die junge Frau sich bewegte und ans Fußende des Betts trat, konnte ich sehen, dass sie hübsch war. Sie sprach mit irischem Akzent und hatte rotblonde Haare, die zu natürlich aussahen, um gefärbt zu sein. Weiche Locken umrahmten ihr leicht sommersprossiges Gesicht mit blauen Augen und einem breiten Lächeln.

Vielleicht lag es an dem furchtbaren Hämmern in meinem Kopf und dem stechenden Schmerz hinter meinen Augen – ich hätte fast schwören können, einen Heiligenschein zu sehen.

»Oder dem Akzent nach eher Amerikanisch. Das wird unsere Schwester Isabella aber ärgern. Sie hat nämlich um eine Woche Küchendienst gewettet, dass du Australierin bist. Stimmt aber nicht, oder?«

Ich schüttelte den Kopf und es fühlte sich so an, als würde eine Bombe explodieren. Ich wollte schreien, biss aber lieber die Zähne zusammen und fragte: »Sie haben auf mich gewettet?«

»Du hättest dich mal hören sollen! Du hast alle möglichen Sprachen gesprochen, und zwar so schnell, man hätte meinen können, der Teufel sei hinter dir her gewesen. Französisch, Deutsch, Russisch und Japanisch, glaub ich. Jedenfalls viele Sprachen, die hier so gut wie niemand spricht.« Sie ging zu dem kleinen Holzhocker neben meinem Bett und sagte leise: »Entschuldige, aber wir hatten die Wahl – entweder wetten oder uns Sorgen machen.«

Unter meinen Händen war ein weiches Laken und neben meiner rechten Schulter eine kalte Steinmauer. Eine Kerze flackerte in der Ecke, und ein schwacher Lichtkegel erhellte den spärlich möblierten Raum nur teilweise.

Sorgen machen erschien mir unter den gegebenen Umständen eher angebracht.

»Wer sind Sie?«, fragte ich und zog mich auf der dünnen Matratze in die kalte Ecke zurück. Ich war zu schwach, um zu kämpfen, viel zu wacklig auf den Beinen, um rennen zu können, aber als das Mädchen nach mir griff, packte ich ihre Hand und verdrehte ihr den Arm. »Was ist das hier für ein Ort?«

»Mein Zuhause.« Ihre Stimme zitterte, aber sie wehrte sich nicht. Stattdessen beugte sie sich näher zu mir herunter, berührte mein Gesicht mit ihrer freien Hand und sagte: »Mit dir ist alles okay.«

Aber ich fühlte mich nicht okay. Mein Kopf tat weh, und wenn ich mich bewegte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Ich schlug die Decke zurück und sah, dass meine Beine voller blauer Flecken, Schnitte und Kratzer waren. Jemand hatte meinen rechten Knöchel verbunden und mit einer Eispackung versehen. Jemand hatte meine Schnitte gesäubert. Jemand hatte mich in dieses Bett gesteckt und mir zugehört, um zu erraten, woher ich gekommen war und warum.

Und jemand schaute mir direkt ins Gesicht.

»Waren Sie das?« Ich strich über mein Bein und berührte die Mullbinde an meinem Knöchel.

»Ja.« Das Mädchen legte eine Hand auf meine Finger, die an den Fäden herumzupften. »Mach das jetzt aber nicht wieder auf!«

An der Wand hinter ihr hing ein Kruzifix, und als sie lächelte, hatte sie das freundlichste Gesicht, das ich je gesehen hatte.

»Sind Sie eine Nonne?«

»Ich werde bald eine sein. Das hoffe ich jedenfalls.« Sie wurde rot, und ich merkte, dass sie kaum älter war als ich. »Am Ende des Jahres soll ich mein Gelübde ablegen. Ich heiße übrigens Mary.«

»Ist das hier ein Krankenhaus, Mary?«

»Oh, nein. Und ich fürchte, hier in der Gegend gibt es so gut wie keine. Also tun wir, was wir können.«

»Wer ist wir

Plötzlich überkam mich Panik. Ich zog die Beine an. Sie schienen dünner geworden zu sein und meine Hände waren so rau wie noch nie. Erst vor wenigen Tagen hatte ich mir von meinen Mitbewohnerinnen die Fingernägel maniküren lassen, um sie vom Stress der Abschlussprüfungen abzulenken. Liz hatte die Farbe ausgesucht – Flamingorosa –, aber als ich meine Finger betrachtete, war kein Lack mehr zu sehen. Unter den Nägeln klebten Blut und Dreck, als ob ich auf Händen und Füßen aus meiner Schule und um die halbe Welt gekrochen wäre, um zu diesem schmalen Bett zu gelangen.

»Wie lang …« Mir versagte die Stimme. Ich versuchte es noch einmal. »Wie lange bin ich schon hier?«

»Alles ist gut.« Mary strich die Decke glatt. Sie schien mir nicht ins Gesicht schauen zu können, als sie sagte: »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen wegen –«

»Wie lang?«, brüllte ich und Mary senkte die Stimme und ihren Blick. Endlich hielt sie die Hände still.

»Du bist seit sechs Tagen hier.«

Sechs Tage, dachte ich. Nicht mal eine Woche. Aber es klang wie eine Ewigkeit.

»Wo sind meine Sachen?« Ich schob die Decke weg, schwenkte die Beine über die Bettkante und setzte die Füße auf den Boden, aber mein Kopf fühlte sich so komisch an, dass ich lieber nicht aufstand. »Ich brauche meine Klamotten und meine Sachen. Ich brauche …«

Ich wollte es erklären, aber mir fehlten die Worte. Mein Denken versagte. Wenn ich erst wieder in der Schule wäre, würden mich die Lehrer so garantiert durchfallen lassen. Mir drehte sich der Kopf, aber ich konnte wegen der Musik, die in dem kleinen Raum dröhnte und in meinen Ohren hämmerte, nichts verstehen.

»Könntest du das bitte leiser stellen?«

»Was?«, fragte die junge Frau.

Ich schloss die Augen und versuchte, nicht über die Melodie nachzudenken, die ich nicht mitsingen konnte.

»Stell das ab! Könntest du das bitte abstellen?«

»Was soll ich abstellen?«

»Die Musik. Sie ist zu laut.«

»Gillian«, sagte das Mädchen und schüttelte den Kopf, »da ist keine Musik.«

Ich wollte mich mit ihr streiten, aber es ging nicht. Ich wollte weglaufen, aber ich hatte keine Ahnung, wohin. Ich schien nur ruhig dasitzen zu können, während Mary meine Füße hob und sanft aufs Bett legte.

»Da hast du ja eine schöne Beule. Kein Wunder, dass du Dinge hörst. Du hast auch Dinge gesagt, nur damit du Bescheid weißt. Aber ich würde mir darüber keine Gedanken machen. Die Menschen hören und sagen alle möglichen verrückten Sachen, wenn sie krank sind.«

»Was hab ich denn gesagt?«, fragte ich und hatte Angst vor der Antwort.

»Das spielt jetzt keine Rolle.« Sie steckte die Bettdecke um mich herum fest, genauso wie Grandma Morgan es immer getan hatte. »Du brauchst nur hier zu liegen und dich auszuruhen und –«

»Was hab ich gesagt?«

»Verrücktes Zeug.« Sie flüsterte. »Vieles haben wir nicht verstanden. Den Rest haben wir uns gemeinsam zusammengereimt.«

»Was zum Beispiel?« Ich packte sie fest an der Hand, als ob ich die Wahrheit aus ihr herausquetschen wollte.

»Zum Beispiel, dass du auf eine Schule für Spione gehst.«

Die Frau, die als Nächste zu mir kam, hatte geschwollene, arthritische Finger und graue Augen. Ihr folgten eine junge Nonne mit roten Haaren und ungarischem Akzent und ein Zwillingspaar Ende vierzig, das die Köpfe zusammensteckte und leise, kaum hörbar, russisch sprach.

An meiner Schule nennt man mich Chamäleon. Ich bin das Mädchen, das niemand sieht. Aber hier und jetzt war es anders. Die Schwestern, die sich um mich herum versammelt hatten, sahen alles. Sie prüften meinen Puls und richteten ein helles Licht auf meine Augen. Jemand brachte mir ein Glas Wasser und empfahl mir, es schön langsam zu trinken. Es war das Süßeste, was ich je getrunken hatte, und ich kippte es hinunter. Danach bekam ich einen Hustenanfall, mein Kopf hämmerte weiter, und die Nonne mit den geschwollenen Fingern sah mich an, als ob sie Hab ich’s nicht gleich gesagt? einwerfen wollte.

Ich weiß nicht, ob es die Nonnentracht, die Akzente oder die strengen Anweisungen waren, ruhig liegen zu bleiben – ich wurde jedenfalls das Gefühl nicht los, von einer anderen uralten und mächtigen Schwesternschaft umringt zu sein. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, mich gegen sie aufzulehnen, weshalb ich blieb, wo ich war, und genau das tat, was man mir sagte.

Nach einer Weile kam die junge Frau, die von Anfang an bei mir gewesen war, näher und setzte sich ans Fußende des Bettes. »Weißt du, warum du hier bist?«

Wo ist hier?, wollte ich fragen, aber irgendetwas in meinem Spioninnenblut sagte mir, dass ich mir die Sache verkneifen sollte.

»Es war eine Art Schulprojekt. Ich musste mich von den anderen trennen. Anscheinend hab ich … mich verlaufen.« Ich merkte, dass ich nicht weiterreden konnte, und versicherte mir, dass das okay war. Selbst die Mutter Oberin würde mir daraus keinen Vorwurf machen können. Streng genommen war es keine Lüge.

»Wir machen uns ein wenig Sorgen um deinen Kopf«, sagte Mary. »Du musst vielleicht operiert oder genauer untersucht werden, alles Sachen, die wir hier nicht tun können. Und sicher sucht dich doch irgendjemand.«

Ich dachte an meine Mutter und meine Freundinnen und am Ende an den Cavan-Zirkel. Ich betrachtete meinen geschundenen Körper und fragte mich, ob ich nicht bereits gefunden worden war. Dann schaute ich in die unschuldigen Gesichter um mich herum und wurde von einer weiteren Panikwelle erfasst: Was, wenn der Zirkel mich hier findet?

»Gillian?«, sagte Mary. Es war peinlich, wie lang es dauerte, bis ich begriff, dass sie mich meinte. »Gillian, ist alles okay?«

Aber ich hatte mich schon in Bewegung gesetzt, mich vom Bett geschwungen und den Raum durchquert.

»Ich muss los.«

Sechs Tage lang war ich wehrlos gewesen. Ich wusste nicht, wie ich an diesen Ort gekommen war oder weshalb, aber eines war mir klar: Je länger ich blieb, desto schneller würde mich der Zirkel finden. Ich musste verschwinden. Und zwar schnell.

Uralte Terrororganisationen schienen die Mutter Oberin jedoch nicht zu beunruhigen. Sie sah aus wie eine Frau, die zu Terroristen sagen würde: »Los, kommt her und zeigt uns, was ihr so draufhabt!«

»Du setzt dich!«, befahl sie mir auf Englisch mit starkem Akzent.

»Tut mir leid, Mutter Oberin«, sagte ich mit immer noch rauer Stimme. Aber die Uhr tickte, und ich konnte nicht länger bleiben. Sommer. Ich hatte mir als Frist das Ende des Sommers gesetzt. Ich wollte in die Fußstapfen meines Vaters treten und wagte es nicht, noch eine einzige Minute zu verschwenden.

»Ich bin Ihnen und den Schwestern dankbar. Wenn Sie mir Ihren Namen und eine Adresse nennen, schicke ich Ihnen Geld … Bezahlung Ihrer Leistungen und –«

»Wir wollen dein Geld nicht. Wir wollen, dass du dich hinsetzt

»Wenn Sie mir sagen könnten, wie ich zum Bahnhof komme –«

»Es gibt hier keinen Bahnhof«, sagte die Mutter Oberin streng. »Setz dich!«

»Ich kann mich nicht setzen! Ich muss los! Jetzt gleich!« Ich schaute mich in dem kleinen Raum mit den vielen Menschen um. Ich hatte ein baumwollenes Nachthemd an, das mir nicht gehörte, und ich krallte meine zerkratzten Finger hinein. »Ich brauche meine Sachen und meine Schuhe. Bitte!«

»Du hast keine Schuhe«, sagte Mary. »Als wir dich fanden, warst du barfuß.«

Ich wollte nicht wissen, was das bedeutete. Ich schaute nur in die Gesichter und versuchte das Böse, das mich möglicherweise bis an ihre Tür verfolgt hatte, zu ignorieren.

»Ich muss weg«, sagte ich gedehnt und suchte den Blick der Mutter Oberin. »… sofort

»Unmöglich«, erwiderte die Mutter Oberin streng und wandte sich an die Schwestern. »Wenn das Mädchen denkt, dass wir sie in den Schnee rausgehen lassen, ist sie verrückt«, sagte sie auf Deutsch.

Meine Hände zitterten. Meine Lippen zuckten. Ich weiß, wie ich ausgesehen haben musste, weil meine neue Freundin Mary mir die Hand entgegenstreckte und näher kam. »Mach dir keine Sorgen. Du bist nicht in Schwierigkeiten. Die Mutter Oberin hat nur gesagt –«

»Schnee.« Ich schob einen Vorhang zur Seite, blickte auf eine riesige weiße Fläche und flüsterte an der gefrorenen Fensterscheibe: »Sie hat Schnee gesagt.«

»Ach, das ist nichts.« Mary nahm mir den Vorhang aus der Hand und zog ihn wieder zu, um die Kälte abzuhalten. »Hier sind die Alpen sehr hoch, weißt du? Und es hat dieses Jahr früh geschneit.«

Ich riss mich vom Fenster weg. »Wie früh?«, fragte ich und sagte mir selber lautlos: Es ist Juni. Es ist Juni. Es ist –

»Morgen ist der erste Oktober.«

»Ich … ich glaube, mir wird schlecht.«

Mary packte mich am Arm und half mir, den Korridor entlang bis zu einer Toilette mit kaltem Steinfußboden zu humpeln, vorbei an Kruzifixen und vereisten Fenstern.

Ich würgte, aber mein Magen war bis auf das eine Glas Wasser leer. Trotzdem hob sich mein Magen und erbrach die Säure, die mich tief in meinem Innern aufzufressen schien.

Als ich die Augen schloss, fühlte sich mein Kopf wie ein Kreisel an, der sich pausenlos drehte. Und als ich mich endlich wieder aufrichtete und an das Waschbecken lehnte, ging ein flackerndes Licht an und ich starrte in ein fremdes Gesicht. Wenn mir die Kraft nicht gefehlt hätte, wäre ich vor Schreck in die Luft gesprungen, aber ich brachte es nur fertig, etwas näher an den Spiegel heranzurücken.

Meine Haare waren, seit ich denken kann, schulterlang und straßenköterblond, aber jetzt reichten sie mir nur knapp über die Ohren und waren rabenschwarz. Ich zog das Nachthemd über den Kopf, spürte, wie mir wegen der elektrostatischen Aufladung die Haare zu Berge standen, und starrte einen Körper an, den ich nicht wiedererkannte.

Meine Rippen waren zu sehen. Meine Beine schienen länger und dünner geworden zu sein. Meine Knie waren voll blauer Flecken. An meinen Handgelenken hatte ich rote Striemen. Ein Arm steckte unter einem dicken Verband. Aber alles war nichts im Vergleich zu der Beule an meinem Kopf. Ich berührte sie vorsichtig, jedoch war der Schmerz so heftig, dass ich glaubte, mich wieder übergeben zu müssen. Deshalb packte ich das Waschbecken, beugte mich zum Spiegel vor und musterte das fremde Mädchen in meiner Haut.

»Was hast du gemacht?«

Alles, was ich bisher während meiner Ausbildung gelernt hatte, erklärte mir, dass dies nicht die Zeit für Panik war. Ich musste überlegen, planen. Mir fielen alle Orte ein, an die ich gehen konnte, aber meine Gedanken drifteten ab und ich dachte an die Orte, an denen ich schon gewesen war. Als ich mich bewegte, schoss der Schmerz durch den Knöchel und im Bein nach oben, und mir wurde klar, dass es extrem schwierig sein würde, den Berg hinunterzurennen.

»Ist ja gut«, sagte Mary und drückte ein kaltes Tuch an meinen Kopf. Sie hielt mir eine Tasse an die Lippen und forderte mich auf, zu trinken.

»Warum hast du mich Gillian genannt?«, fragte ich leise.

»Das hast du immer und immer wieder gesagt«, antwortete sie. Der irische Akzent fiel mir jetzt besonders auf. »Wieso? Ist das nicht dein Name?«

»Nein, ich heiße Cammie. Gilly ist der Name von … meiner Schwester.«

»Ich verstehe.«

Durch meinen Kopf wirbelten die Möglichkeiten – was ich tun und nicht tun sollte –, bis ich schließlich zu der einzig wichtigen Frage kam.

»Mary, gibt es hier ein Telefon?«

Sie nickte. »Die Mutter Oberin hat im Sommer ein Satellitentelefon angeschafft.«

Sommer.

An der Gallagher Akademie für außergewöhnliche junge Frauen gibt es normalerweise sechsundsiebzig Tage lang Sommerferien. Das sind elf Wochen. Knappe drei Monate. Ein Vierteljahr. Ich hatte mir für den Sommer vorgenommen, nach der Wahrheit zu forschen, weshalb der Zirkel mich schnappen wollte, und diese hoffentlich auch rauszufinden. Diese Jahreszeit war mir noch nie so lang vorgekommen, aber in diesem Moment glich sie einem schwarzen Loch, das mein ganzes Leben zu verschlucken drohte.

»Mary«, sagte ich, packte das Waschbecken noch fester und rückte mein Gesicht ins Licht. »Ich muss unbedingt jemanden anrufen.«

Kapitel Zwei

Sicher bin ich mir nicht, aber ich muss gestehen: Wenn es mit dem Spionieren nicht klappen sollte, werde ich mir vielleicht ernsthaft überlegen, ins Kloster zu gehen. Das Leben hier unterscheidet sich nämlich gar nicht so sehr von dem an der Gallagher Akademie für außergewöhnliche junge Frauen.

Es gibt alte Steinmauern und eine verlässliche Schwesternschaft, eine Ansammlung von Frauen, die sich für das Gleiche berufen fühlen und auf ein höheres Ziel hinarbeiten. Oh, und an beiden Orten hat man, was die Klamotten betrifft, wenig Mitspracherecht.

Am nächsten Tag zur Mittagszeit sagte die Mutter Oberin, ich könnte ein Paar Schuhe haben und die Schwestern würden mir einen Mantel leihen. Die Sachen, die Mary mir aufs Bett legte, waren sauber und ordentlich geflickt, schienen aber viel zu klein zu sein.

»Es tut mir leid, aber … ich glaube nicht, dass sie mir passen.«

»Das müssten sie aber«, sagte Mary kichernd. »Es sind nämlich deine.«

Meine.

Ich befühlte die weiche Baumwollhose und das alte Sweatshirt. Ich hätte schwören können, sie noch nie gesehen zu haben. Die Kleidung war getragen, jemand hatte darin gelebt, und ich erlaubte es mir nicht, über dieses Leben nachzudenken, an das ich mich nicht erinnern konnte.

»So«, sagte Mary und sah zu, wie ich die Kordel der Hose festzurrte, in die mein neuer Körper perfekt hineinpasste. »Ich wette, jetzt bist du wieder die Alte, stimmt’s?«

»Ja«, sagte ich, und Mary lächelte mich so lieb an, dass ich wegen der Lüge fast ein schlechtes Gewissen bekam.

Die Schwestern sagten, ich sollte mich ausruhen, dass ich meine Kraft und meinen Schlaf bräuchte, aber ich wollte nicht wieder aufwachen und feststellen, dass Weihnachten vorüber war und mein achtzehnter Geburtstag ohne mich stattgefunden hatte und wieder vorbeigegangen war. Stattdessen ging ich ins Freie.

Als ich den schmalen Weg betrat, der zum Kloster führte, wusste ich zwar, dass es Oktober war, aber ich war nicht auf die Kälte vorbereitet. Alles war schneebedeckt. Die Äste der Bäume im Wald waren schwer beladen und brachen unter dem Gewicht der feuchten weißen Masse. Sie machten ein Geräusch, das mir zu laut war – wie Gewehrsalven in der kalten, dünnen Luft. Ich schrak bei jedem Knacken und jedem Schatten zusammen und wusste wirklich nicht, was schlimmer war – dass ich mich nicht an die letzten vier Monate erinnern konnte oder dass ich zum ersten Mal in meinem Leben keine Ahnung hatte, wo Norden war. Ich achtete darauf, dass ich das Kloster im Auge behielt, denn ich hatte entsetzliche Angst, mich zu weit zu entfernen und dabei nicht zu wissen, wie sehr ich mich jetzt noch verlaufen könnte.

»Dort haben wir dich gefunden.« Mary musste mir gefolgt sein, weil sie hinter mir war, als ich mich umdrehte. Ihre rotblonden Haare wehten im Wind. Sie stand da und schaute auf den Fluss, der am Boden einer felsigen, steilen Schlucht brodelte. »Auf dem großen Felsbrocken neben dem umgestürzten Baum.«

»War ich wach?«, fragte ich.

»Gerade noch.« Mary steckte die Hände in die Taschen und zitterte. »Als wir dich fanden, hast du gemurmelt. Verrücktes Zeug.«

»Was hab ich gesagt?«, fragte ich. Mary schüttelte den Kopf, aber irgendetwas an mir sagte ihr wohl, dass ich keine Ruhe geben würde, bis ich es erfuhr, weil sie tief Luft holte.

»Es ist wahr«, sagte Mary und schauderte, wobei mir klar war, dass es nichts mit der Kälte zu tun hatte. »Du hast gesagt: Es ist wahr. Und dann bist du in meinen Armen ohnmächtig geworden.«

Ironie hat etwas Grausames an sich. Ich könnte tausend spontan ausgewählte Fakten über die Alpen aufsagen. Ich könnte euch die durchschnittliche Niederschlagsmenge nennen und ein halbes Dutzend essbare Pflanzen identifizieren. Ich wusste in diesem Moment so viele Dinge über die Berge – alles, nur nicht, wie ich dort hingekommen war.

Mary betrachtete den Fluss in der Tiefe und richtete ihren Blick dann wieder auf mich. »Du scheinst eine gute Schwimmerin zu sein.«

»Bin ich«, sagte ich, aber Mary schien es zu bezweifeln, so mager und schwach wie ich war. Sie nickte bedächtig und wandte sich wieder dem Ufer zu.

»Der Flusspegel ist im Frühling am höchsten. Dann schmilzt der Schnee und das Wasser ist schnell – es ist, als ob der Fluss wütend wäre. Er macht mir Angst. Ich halt mich lieber von ihm fern. Im Winter friert alles zu, und das Wasser tröpfelt nur noch. Dann besteht der Fluss aus Felsen und Eis.« Sie sah mich an und nickte. »Du hattest Glück, dass du jetzt gestürzt bist. Zu jeder anderen Zeit im Jahr wärst du mit Sicherheit umgekommen.«

»Glück«, wiederholte ich.

Ich wusste nicht, ob es mit der dünnen Luft, meiner Müdigkeit oder dem Anblick der Berge, die um uns herum in die Höhe ragten, zu tun hatte, aber das Atmen fiel mir schwerer.

»Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?«

»Am Fuß der Bergkette dort drüben ist ein kleines Dorf.« Mary drehte sich um und zeigte darauf, aber ihre Stimme war ganz leise, als sie sagte: »Es ist ein langer Weg vom Berg hinunter.«

Vielleicht war es die Art, wie sie in die Ferne schaute, aber zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht die Einzige war, die vor jemandem davongelaufen ist. Oder vor irgendetwas. Als angehende Spionin bin ich der Ansicht, dass die Alpen ein hervorragendes Versteck sind.

Ich wandte mich wieder dem Fluss zu und schaute mir das felsige Ufer und das Wasser, das in die Täler floss, genauer an. »Woher bin ich gekommen?«, flüsterte ich.

Mary schüttelte den Kopf und sagte: »Von Gott?«

Warum nicht?

Als ich dort inmitten von Bäumen und Bergen, Fluss und Schnee stand, wusste ich, dass ich fast auf den Gipfel der Welt geklettert war. Die blauen Flecken und die blutigen Kratzer teilten mir jedoch mit, dass ich tief, tief hinabgestürzt war.

»Wer bist du, Cammie?«, fragte mich Mary. »Wer bist du wirklich?«

Und dann sagte ich vielleicht das Ehrlichste, was ich jemals von mir gegeben hatte. »Ich bin nur ein Mädchen, das nach Hause möchte.«

Kaum hatte ich es ausgesprochen, war ein dumpfes Dröhnen zu hören, das das Rauschen des Flusses in der Tiefe ausblendete. Es war ein rhythmischer, pulsierender Lärm, und Mary fragte: »Was ist das?«

Ich schaute durch den aufwirbelnden Schnee zu dem schwarzen Schatten am wolkenlosen Himmel.

»Das ist meine Mitfahrgelegenheit.«

Kapitel Drei

Ich weiß, dass die meisten Mädchen ihre Mütter für die schönsten Frauen der Welt halten. Die meisten Mädchen halten ihre Mütter für schön, aber meine Mutter ist die Einzige, bei der ich weiß, dass es stimmt. Trotzdem war an der Frau, die sich unter den Rotoren des Hubschraubers duckte und auf mich zurannte, etwas anders.

Schnee stiebte durch die Luft und die Alpen schienen zu zittern, aber Rachel Morgan war in diesem Moment nicht nur meine Mutter. Sie war auch nicht nur meine Schulleiterin. Sie war eine Agentin im Einsatz, und bei diesem Einsatz ging es um mich.

Sie zögerte nicht und bremste sich nicht. Sie schlang einfach ihre Arme um mich und sagte: »Du lebst.« Sie drückte mich noch fester. »Gott sei Dank, du lebst.« Ihre Hände waren kräftig und warm, und ich hatte das Gefühl, nie mehr aus ihrer Umarmung herauszukommen. »Cammie, was ist passiert?«

»Ich bin weggegangen«, sagte ich, obwohl es offensichtlich war und ziemlich albern klang.

Mary hatte sich zurückgezogen. Sie beobachtete mit den anderen Schwestern den Hubschrauber und das Wiedersehen aus der Ferne. Meine Mutter und ich waren allein, als ich die Sache erklärte.

»Menschen wurden wegen mir verletzt, also bin ich gegangen, um rauszufinden, was der Zirkel von mir will. Ich musste herausfinden, was mit Dad passiert ist – was er wusste. Was ich angeblich weiß. Deshalb bin ich abgehauen.« Ich packte die Arme meiner Mutter und schaute ihr in die Augen. »Gestern bin ich hier aufgewacht.«

Ihre Hände umfassten meinen Nacken und ihre Finger hatten sich in meinen Haaren verheddert und hielten mich fest. »Ich weiß, mein Schatz. Ich weiß. Aber jetzt musst du mir alles erzählen, woran du dich erinnerst.«

Die Rotoren drehten sich, aber die Welt stand still, als ich sagte: »Das hab ich gerade getan

• Anzahl der Stunden, die ich auf dem Rückflug nach Virginia geschlafen habe: 7

• Anzahl der Stunden, die der Rückflug tatsächlich dauerte: 9

• Anzahl der Croissants, die mir meine Mutter aufzwingen wollte: 6

• Anzahl der Croissants, die ich tatsächlich gegessen habe: 2 (Den Rest wickelte ich in eine Serviette, um sie für später aufzuheben.)

• Anzahl der Fragen, die mir gestellt wurden: 1

• Anzahl der bösen Blicke, die meine Mutter austeilte, um zu verhindern, dass mir Fragen gestellt wurden: 37*

* Aufgrund der oben erwähnten Müdigkeit ist das nur eine geschätzte Zahl

»Cam.« Meine Mutter rüttelte an meiner Schulter, und ich spürte, dass wir tiefer flogen. »Wir sind da.«

Ich hätte das Gelände überall erkannt – den schwarzen Asphalt des Highways 10, das riesige steinerne Gebäude am Horizont, umgeben von hohen Mauern und elektrifizierten Toren, die meine Schwesternschaft vor neugierigen Blicken schützen sollten. Ich kannte den Ort und die Anlagen besser als alles andere auf der Welt. Trotzdem kam mir irgendetwas seltsam vor, als der Hubschrauber über den Wald flog. Die Bäume leuchteten knallrot und gelb, als ob sie in Flammen stünden – Farben, die am Sommeranfang hier nichts zu suchen hatten.

»Was ist los, meine Kleine?«

»Nichts.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Es ist nichts.«

Wenn ihr das hier lest, wisst ihr wahrscheinlich schon eine Menge über die Gallagher Akademie. Aber zu meiner Schule gehört ein Fakt, der gerne vergessen wird. Ja, es ist wahr, dass wir seit 1865 ausgebildet werden, um Geheimoperationen durchzuführen. Was aber niemandem klar ist – es sei denn, er hat unsere Schule selbst gesehen –, ist die Tatsache, dass wir eine Schule für Mädchen sind.

Im Ernst: In vielerlei Hinsicht sind wir einfach nur Mädchen. Wir lachen mit unseren Freundinnen, machen uns Sorgen wegen unserer Haare und fragen uns, was Jungs über uns denken. Natürlich fragen wir uns das manchmal auf Portugiesisch, aber wir sind trotzdem ganz normale Mädchen. Deshalb verstehen uns die Menschen in Roseville auch besser als die meisten Leute von der CIA.

Und ihr könnt mir glauben, ich war nicht nervös, weil ich Spione in Ausbildung wiedersehen würde, sondern Mädchen. Aber als der Hubschrauber landete und meine Mutter die Tür öffnete, wusste ich, dass ich ihnen nicht aus dem Weg gehen konnte.

Fast alle Neuntklässlerinnen standen auf halber Strecke zwischen den Seiteneingängen und der Scheune, in der Schutz und Vollstreckung geübt wird. Eine ganze Mädchenklasse hatte sich um Madame Dabney geschart, die sich eine Träne aus dem Auge zu wischen schien, als ich den Rasen betrat. Eine Sekunde lang hatte ich den Eindruck, dass meine gesamte Schwesternschaft den Vorgang beobachtete. Und dann teilte sich die Menge und gab einen schmalen Pfad und drei Gesichter frei, die ich besser kannte als mein eigenes.

»Ach, du meine Güte!«, schrie Liz und lief auf mich zu. Sie kam mir kleiner als sonst vor, und ihre Haare schienen noch blonder und glatter zu sein. Ich fiel ihr um den Hals und wusste, dass ich zu Hause war.

Dann spürte ich, wie eine Hand meine Haare berührte. »Wenn du sie so färbst, kriegst du Spliss, weißt du das?«

Ich wusste es. Und es war mir egal. Aber kaum griff ich nach Macey McHenry, da schubste sie mich weg und hielt mich mit ausgestreckten Armen von sich.

»Was hast du gemacht?«, fragte sie und musterte mich von oben bis unten. »Du siehst aus wie der Tod.«

Und genau so fühlte ich mich auch, aber es schien nicht der richtige Moment zu sein, das zu sagen.

Alle schauten, starrten und warteten auf … irgendetwas. Ich wusste aber nicht worauf. Also sagte ich: »Schön, dich wiederzusehen, Macey.« Ich lächelte. Dann fiel mir etwas ein. »Natürlich kommt es mir so vor, als hätten wir uns gerade erst gesehen, aber …«

Ich brach ab. Ich wollte nicht darüber reden, dass mein Kopf sich noch schlimmer anfühlte als mein Körper, und wandte mich an meine dritte und letzte Mitbewohnerin.

»Bex!«, rief ich zu dem Mädchen hinüber, das mit verschränkten Armen etwas entfernt von den anderen stand. Sie weinte nicht (wie Liz) und schreckte nicht vor meinem Aussehen zurück (wie Macey). Sie schubste die anderen auch nicht auf die Seite, um irgendwelche Neuigkeiten zu erfahren (wie Tina Walters). Rebecca Baxter sah mich nur an, als ob sie sich nicht sicher sei, was sie von meinem augenblicklichen Zustand hielt. Oder davon, mich überhaupt wiederzusehen.

»Bex«, sagte ich und hinkte auf sie zu. »Ich bin wieder da. Tut mir leid, dass ich dir nichts mitgebracht habe.« Ich lachte gezwungen. »Ich hab anscheinend meinen Geldbeutel verloren.«

Ich wollte witzig sein – ich musste witzig sein, weil ich das Gefühl hatte, heulen zu müssen, wenn sie nicht lachte.

»Bex, ich –«, begann ich, aber Bex wandte sich an meine Mutter.

»Willkommen zurück, Mrs Morgan.« Sie nickte Mom zu, und beide tauschten einen Blick, den ich nicht deuten konnte. »Sie warten.«

»Wer wartet?«

Die Worte hallten im leeren Foyer, als ich meiner Mutter über die Schwelle unserer Schule folgte. Zum ersten Mal seit Tagen hatte ich mich wieder im Griff und trotzdem das Gefühl, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein. Meine innere Uhr musste sich irgendwo über dem Atlantik neu eingestellt haben, denn noch bevor die Mädchenmenge durch die Tür und die Korridore strömte, wusste ich, dass es Zeit für den Unterricht in den Klassenzimmern und Labors war. Zeit zu Leben. Aber ich hatte überhaupt keine Ahnung, wohin mich dieser Weg führen würde.

»Wo gehen wir hin?«, fragte ich. »Was ist los?«

Liz war neben mir, aber Macey zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Hast du es nicht gehört, Cam? Du bist ein internationaler Zwischenfall.«

Weder meine Mutter noch Bex reagierten auf meine Frage.

Einen Augenblick später stapfte Mr Smith (oder jemand, den ich für Mr Smith hielt, weil er im Sommer immer massive plastische chirurgische Eingriffe über sich ergehen ließ,) im Gleichschritt neben uns her. »Wie war’s, Rachel?«, fragte er.

Meine Mutter nickte. »So, wie wir es uns vorgestellt hatten.« Sie nahm ihm ein Blatt Evapopapier aus der Hand, überflog den Inhalt und ließ es in einen kleinen Springbrunnen fallen, wo es sich schnell auflöste. »Ist das Team auf dem Gelände?«

»Ja«, antwortete Mrs Buckingham, die die Große Treppe herunterkam und sich uns anschloss. »Sie haben das Gebiet um das Kloster herum abgesucht, aber sobald Cameron geflohen war, hat der Zirkel die Sache bestimmt abgebrochen und –«

»Sucht weiter! Irgendjemand muss doch was gesehen haben.«

»Rachel.« Mrs Buckinghams Stimme war ganz leise und doch blieb meine Mutter wie angewurzelt stehen. »Das Gebiet ist unglaublich weit von allem entfernt. Wir wissen nicht einmal, ob sie auf dem Berg festgehalten worden ist. Sie hätte bei einem Transport flüchten können oder … Rachel, sie sind weg.«

Ich erwartete, dass meine Mutter die Treppe erklomm und durch den Geschichtssaal zu ihrem Büro ging, aber sie drehte sich um und steuerte den schmalen Korridor hinter der Haupttreppe an. Mrs Buckingham und Mr Smith waren immer noch an ihrer Seite.

»Und sonst?«, fragte Mom.

»Also«, sagte Mr Smith vorsichtig, »wir finden, sie sollte sich als Erstes allen neurologischen Tests unterziehen.«

»Nachdem wir sie eingehend befragt haben«, sagte meine Mutter.

»Sie braucht auch eine gründliche ärztliche Untersuchung«, fügte Mr Smith hinzu. »Wir können nicht von ihr verlangen, dass sie am Unterricht teilnimmt, wenn sie nicht –«

»Sie ist anwesend!«

Ich wollte nicht brüllen – wirklich nicht. Sie waren die letzten Menschen auf der Welt, die ich nicht respektieren würde, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus, wie sie über mich redeten, als ob ich immer noch auf der anderen Seite der Erde verschwunden wäre.

»Ich bin hier«, sagte ich ein bisschen netter.

»Natürlich.« Mrs Buckingham klopfte behutsam auf meinen Arm und drehte sich, um in einen Spiegel zu schauen, der im schmalen Flur hing. Eine dünne rote Linie zeigte sich in ihrem Gesicht, und im Spiegelbild sah ich, dass die Augen in dem Gemälde hinter uns grün aufblitzten. Kurz darauf glitt der Spiegel zur Seite und gab einen kleinen Fahrstuhl frei, der uns, wie ich wusste, ins erste Untergeschoss bringen würde.

»Wir sind sehr froh, dass Sie wieder zu Hause sind, Cameron«, sagte Mrs Buckingham und tätschelte meinen Arm noch einmal. Sie und Mr Smith betraten den Fahrstuhl. Bex wollte ihnen folgen, aber meine Mutter versperrte ihr den Weg.

»Ihr Mädchen geht jetzt zum Unterricht. Cammie kommt zu euch, nachdem sie befragt und untersucht worden ist.«

»Aber …«, fing Bex an.

»Geht in euer Klassenzimmer!«, sagte Mom. Aber ich sah, dass meine Freundinnen Angst hatten, ich könnte gleich wieder verschwinden. Und meiner Mutter musste das auch klar gewesen sein, weil sie den Fahrstuhl ohne mich betrat.

»Cammie, ich seh dich in einer Minute unten«, sagte sie, und die Tür ging zu.

Zum ersten Mal seit Monaten waren meine drei besten Freundinnen und ich allein. Wie viele Stunden hatten wir damit verbracht, am frühen Morgen oder mitten in der Nacht gemeinsam durch diese Korridore zu gehen? Heimlich. Geplant. Unsere Grenzen und uns selbst auf die Probe stellend. Und jetzt standen wir ein wenig zu gerade da. Unsere Haltung war ein bisschen zu perfekt. Es war, als ob wir Fremde wären und versuchen würden, gegenseitig einen guten Eindruck zu machen.

»Hört auf, mich so anzuschauen!«, sagte ich, als es mir endlich zu viel wurde.

»Was meinst du mit so?«, fragte Liz.

»Als ob ihr geglaubt hättet, mich nie wiederzusehen«, sagte ich.

»Cam, wir –«, begann Liz, aber Bex schnitt ihr das Wort ab.

»Du kapierst es nicht, oder?«, zischte sie. »Vor achtundvierzig Stunden haben wir das wirklich geglaubt.«

Kapitel Vier

Den Fahrstuhl zum Untergeschoss hatte ich zum ersten Mal am Anfang der zehnten Klasse gesehen. Damals schien echte Feldforschung noch in weiter Ferne zu liegen, Geheim-operationen waren ein ganz neues Thema und Bex war meine beste Freundin. Während die Kabine in die streng geheimen Tiefen meiner Schule sank, fragte ich mich, ob alles anders geworden war. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie Bex mich angesehen hatte. Ich wollte nicht weinen. Also stand ich nur da und hätte gerne gewusst, ob irgendetwas jemals wieder so sein würde wie früher.

In diesem Moment ging die Tür auf, und meine Mutter sagte: »Folge mir!«

Erwachsene haben oft einen Ton an sich, der einem klar macht, dass man in Schwierigkeiten ist. Das hörte ich sofort heraus und wäre am liebsten sofort wieder im Hubschrauber gewesen. Ein zweites Mal wegzulaufen, schien aber doch eine schlechte Idee zu sein. Also hatte ich keine andere Wahl, als meiner Mutter in den Raum zu folgen, in dem ich meinen ersten Geheimoperations-Unterricht bekommen hatte. Aber ich erkannte sofort, dass es kein Klassenzimmer mehr war, sondern eine Gefechtszentrale.

Rund um den Tisch in der Mitte des Raums standen Stühle. Es gab Telefone, Computer und einen riesigen Bildschirm, auf dem eine Luftaufnahme des Klosters und des Bergs zu sehen war. Ich roch Kaffee und alte Donuts. Sekundenlang war ich versucht, die Augen zu schließen und mir vorzustellen, dass ich zum Team gehörte.

Dann knarrte ein Stuhl und Madame Dabney fragte: »Wie geht es dir, Cameron?«

Ich musste daran denken, dass manche Fragen in einer Spionageschule viel komplizierter sind, als sie zuerst erscheinen.Wenn du antwortest: »Mit mir ist alles okay«, dann klingst du wie eine Idiotin, der es egal ist, dass sie an einer Gedächtnisstörung leidet.

Wenn du sagst: »Ich hab schreckliche Angst«, dann riskierst du, vor den anderen als Schwächling oder Feigling dazustehen.

»Mir tut der Kopf weh« klingt nach Heulsuse.

»Ich will nur ins Bett« klingt wie jemand, der zu blöd oder zu faul ist, mit der Wahrheit herauszurücken.

Aber vor der Fakultät der Gallagher Akademie für außergewöhnliche junge Frauen gar nichts zu sagen, war auch keine Option, also setzte ich mich ans Ende des Tisches, schaute meinen Lehrern direkt in die Augen und sagte: »Danke, es geht mir besser.«

Das war wohl die korrekte Antwort, weil Madame Dabney mich anlächelte. »Bist du bereit, uns ein paar Fragen zu beantworten?«

»Ja«, sagte ich, obwohl ich eigentlich jemanden brauchte, der mir Fragen beantwortete. Insgesamt hatten sie wahrscheinlich schon tausend verschiedene Einsätze miterlebt und mir war klar, dass sie alle Winkel der Erde durchkämmt hatten, um zu erfahren, was im Sommer passiert war. Ich wollte alles wissen, vor allem, was sie herausgefunden hatten.

Madame Dabney lächelte. »Warum fängst du nicht damit an, uns zu erzählen, warum du weggelaufen bist?«

»Ich bin nicht weggelaufen«, sagte ich lauter, als ich es beabsichtigt hatte. »Ich bin gegangen.«

Meine Gedanken drifteten zurück zu der Nacht, in der der Zirkel mich in einem Gebirge in die Ecke getrieben hatte, und zu dem Blick in Mr Solomons Gesicht, als er die Explosion auslöste, die in so vielerlei Hinsicht immer noch in meinem Leben nachhallte.

»Mr Solomon war bereit zu sterben, um mich zu retten. Leute wurden wegen mir verletzt, und … ich wusste, dass ich nicht in Gefahr war.« Ich schaute auf meine Hände. »Ich war die Gefahr.«

Ich saß da und erwartete, dass mir jemand sagte, ich würde mich irren. Ich wollte, dass sie sagten, der Zirkel hätte mit allem angefangen und nur der Zirkel sei schuld, aber diese Worte kamen nicht. Ich war noch nie so enttäuscht darüber gewesen, recht zu haben.

Mrs Buckingham war die Einzige, die sich rührte und zu mir beugte. »Cameron, hören Sie mir zu!« Ihre Stimme war wie Granit und der Zirkel schien im Vergleich dazu fast weich zu sein. »Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern?«

»Dass ich meinen Bericht geschrieben und im Geschichtssaal gelassen habe.«

Mrs Buckingham nahm ein gebundenes Manuskript in die Hände und legte es vor mir auf den Tisch. »Diesen Bericht?«

Er sah anders aus als die losen Blätter, die ich vor Monaten auf dem Kasten liegen gelassen hatte, in dem sich Gillys Schwert befand. Aber es war mein Bericht, ich erkannte ihn. Also nickte ich. »Ich musste mich beeilen, um ihn fertig zu schreiben. Ich musste alles liegen lassen, damit ich … gehen konnte.«

Mrs Buckingham lächelte, als ob das, was ich sagte, einen Sinn ergäbe. »Wissen Sie, wohin Sie gegangen sind?«

Als Mrs Buckingham mir diese Frage stellte, schaute meine Mutter sie an. Sie streifte sie nur kurz mit einem Blick, aber ich reagierte sofort. »Was? Wissen Sie irgendetwas?«

»Es ist nichts, meine Kleine.« Mom griff mit ihrer Hand nach meiner und drückte meine Finger. Sie waren immer noch rau und rot, taten mir aber nicht mehr weh. »Du musst am Anfang beginnen und uns sagen, ob du weißt, wo du hingegangen bist.«

Ich schloss die Augen und versuchte, nachzudenken, aber mein Gedächtnis war schwarz und leer.

»Ich … Es tut mir leid. Ich weiß es nicht.«

»Und später?«, fragte Mrs Buckingham. »Irgendwelche Rückblenden oder Szenen … Gefühle? Irgendetwas? Die kleinste Sache könnte wichtig sein.«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich hab den Bericht hingelegt und bin dann im Kloster wieder aufgewacht.«

»Cameron, meine Liebe.« Madame Dabney klang sehr enttäuscht. »Du warst vier Monate lang weg und du erinnerst dich an gar nichts?«

Für ein Gallagher Girl hätte das eine leichte Frage sein müssen. Ich war geschult worden, mich zu erinnern und die Erinnerungen abzurufen. Ich wusste, was es am letzten Tag der Abschlussprüfungen zum Mittagessen gegeben hatte und ich konnte sehen, dass Mrs Buckingham – so, wie sie dasaß – Probleme mit ihrer schlimmen Hüfte haben musste, was bedeutete, dass es wahrscheinlich noch regnen würde. Ich wusste, dass Madame Dabney ein neues Parfüm benutzte und Mr Smith seinen liebsten Schönheitschirurgen – den in der Schweiz – beauftragt hatte, sein Gesicht im Sommer neuzugestalten. Mein eigener Sommer dagegen war ein regelrechtes schwarzes Loch.

Mir brummte der Schädel, und in meinem Hinterkopf begann plötzlich ein Lied zu erklingen, das mich sofort einlullte. Ich wollte mich zu der Musik wiegen.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich weiß, es klingt verrückt. Ich klinge verrückt. Ich würde es Ihnen nicht übel nehmen, wenn Sie mir nicht glauben.«

»Sie sind vieles, Cameron, aber verrückt sind Sie nicht.« Mrs Buckingham setzte sich gerade hin. »Wir glauben Ihnen.«

Ich erwartete, dass sie mich bedrängten und mehr von mir verlangen würden, aber Mrs Buckingham nahm ihre Brille ab und die Papiere, die vor ihr lagen, in die Hände. »Das medizinische Team erwartet Sie auf der Krankenstation, Cameron.« Ich hatte geglaubt, dass ich meine Müdigkeit gut verbergen könnte, aber das Lächeln, das sie mir zuwarf, sagte etwas anderes. »Dann hoffe ich sehr, dass Sie sich ausruhen können. Ich finde, das haben Sie verdient.«

Auf dem Rückweg durch die glänzenden Korridore des ersten Untergeschosses spürte ich die Hand meiner Mutter auf meinem Rücken und diese kleine Geste rührte mich so, dass ich stehen blieb.

»Ich werde mich erinnern, Mom«, sprudelte es aus mir heraus. »Es wird besser und ich kämpfe weiter und mir fällt wieder alles ein. Und dann –«

»Nein«, fauchte meine Mutter. Dann sagte sie leise: »Nein, Cammie. Ich will nicht, dass du an deinen Erinnerungen wie an einem Schorf herumkratzt. Schorf gibt es aus einem ganz bestimmten Grund.«

»Aber –«, fing ich an, als sie mich an den Schultern packte.

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