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Ingrid Bachér
Der Liebesverrat

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Ingrid Bachér

Der Liebesverrat

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Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

ISBN 3-937717-15-3

© DittrichVerlag, 2005
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

www.dittrich-verlag.de

Alles was unbegreiflich ist,
hört nicht auf zu sein.
Pascal

Es war der letzte Abend des Jahres 2004. Er fuhr unachtsam zu schnell, obwohl die Straße ihm fremd war, unübersichtlich kurvenreich und von Bäumen gesäumt. Die Nacht begann früh in dieser Jahreszeit und so war kaum etwas von dem Land zu sehen, das kalt und verschlossen war und seinem suchenden Blick keinen Anhaltspunkt bot.

Sie saß ruhig neben ihm und schwieg.

»Wir werden es schon finden«, sagte er. »Nur weiß ich nicht, warum man zu Silvester immer etwas Besonderes unternehmen muss.«

»Aus Liebe zu den Freunden«, sagte sie.

Arno antwortete nicht mehr, versuchte sich zu orientieren. Endlich bog er in eine Allee ein und fuhr auf einen Parkplatz, der zu dem Restaurant gehörte, das man ihm genannt hatte.

Als er und Nina die Steintreppen zum Haus hinaufstiegen, erschien es ihnen übermäßig hell erleuchtet zu sein. Es lag am Hang und von der Terrasse aus, die zum Restaurant gehörte, würden sie um Mitternacht die aufsteigenden Raketen sehen können. Aber bis dahin war noch Zeit.

Im Saal trafen sie ihre Freunde, Arthur und Karla. Auch andere Gäste waren gerade angekommen und riefen sich freudig beim Namen, als fänden sie sich nach langen Gefährdungen endlich wieder. Man bewunderte einander und beglückwünschte sich selber, hier zu sein. Es war die heitere Unruhe der Ankunft, die alle beherrschte. Sie legte sich erst allmählich, als jeder seinen Platz gefunden hatte. Es gab zehn runde Tische im Raum, alle noch unberührt, eingekleidet mit weißem Damast. Auf der einen langen Seite des Raumes waren die Fenster, die zur Terrasse gingen, auf der anderen Spiegel, die das Licht der Kronleuchter diffus verdoppelten.

Arthur kam auf Nina zu und umarmte sie freundschaftlich. Beide waren gewohnt die verschiedenen Formen der Umarmungen zu beachten, etwas lässig leicht jetzt, da sie sich in Gesellschaft mit anderen trafen.

»Gut, dass du nicht gerade in Madras warst«, rief Arthur Arno zu.

»Die Fahrt steht noch aus«, sagte Nina und umarmte Harriet und Bernward.

Sie waren das dritte Paar, das zu dieser Freundesrunde gehörte. Bernward war ein bedächtiger Mann, der das Geordnete liebte. Er hatte sie hierher eingeladen, damit ihr Treffen einen angemessen festlichen Rahmen bekam.

»Wie gut, euch wiederzusehen und in solch einer Nacht«, rief Harriet. Neben ihr stand Judith. Nina sah sie aufmerksam an, überrascht davon, wie schön sie war. Sie hatte Judith nie zuvor gesehen, doch erinnerte sie sich daran, dass Arno von ihr gesprochen hatte wie von einem Wunderwesen. Eine sehr junge Frau, die nicht die Glätte der jetzt propagierten, wie künstlich erscheinenden idealen Beautys hatte, sondern eine wilde sanfte Sinnlichkeit, eine Art Vollkommenheit der Jugend … Ja, so ähnlich waren Arnos Worte gewesen. Jetzt verstand Nina seine Faszination, die Begierde, die sich in seinem Gesicht gezeigt hatte, gemildert sogleich durch sein ihr vertrautes Lächeln, sein Fuchsgesicht.

Nina beobachtete wie Judith Arthur und Karla begrüßte und nun auch ohne zu Zögern Arno, der sie mit ausgestreckten Händen ein wenig von sich abhielt, als wollte er sie genauer anschauen. Bernward sagte, er habe Judith mitgebracht, die Tochter seiner Schwester, die in Kolumbien lebe, wo Judith auch aufgewachsen sei. Und er betonte, dass Arno Judith ja schon kennen gelernt hätte. Unklar war, ob er Arno damit Schwierigkeiten oder eine Freude machen wollte. Er wusste, dass Arno sich in der letzten Zeit oft mit Judith getroffen hatte und vielleicht wollte er ihr nun zeigen, in welchen festen Verbindungen Arno lebte. Auf jeden Fall war es eine Veränderung der üblichen Silvesterrunde, die er absichtsvoll herbeiführte, und etwas scheinheilig klang seine Frage an Arno: »Es gefällt dir doch?«

»Wenn du meinst, dass dies passend ist.«

Da Karla ihn nun umarmte, musste Arno sich zu ihr wenden, fühlte sich nicht gut, wie er Karla erklärte und sie, wie immer hilfsbereit, fragte besorgt nach. Er wich aus, indem er von einer Erkältung sprach und konnte kaum abwehren, dass sie ihm ein Aspirin geben wollte. Die Situation war lächerlich und er wusste es. Er wechselte einige Sätze mit Judith, ohne dass jemand darauf achtete. Zu sehr waren alle immer noch mit dem Begrüßen beschäftigt, dem Nachfragen, wie es ging, wie die Fahrt hierher war und dabei sich umzusehen und wahrzunehmen, wie nun die anderen Tische besetzt waren mit Leuten, die wie sie sich umsahen und den Raum lobten, die Beleuchtung, die diskrete Dekoration. »Schön, dass ihr da seid«, sagte Harriet. Immer wieder dies Schöne, ein schöner Abend eine schöne Begegnung, ein schönes Gesicht, eine schöne Antwort.

Arno ließ den Blick nicht von Judith. Er liebte jede ihrer Bewegungen, die unbefangene Freizügigkeit, mit der sie sich präsentierte, sich ihrer eigenen Wirkung kaum bewusst. Es war das noch unbeschädigt ihm vollkommen Erscheinende, das ihn anzog. Er wünschte, er hätte sie eher getroffen und sagte sich sogleich, dass dies abwegig war, da sie da noch ein Kind gewesen wäre. Sie blickte ihn fragend an und er lächelte zurück. Er dachte an eine Zeile von Tucholsky: zwei dunkle Augen, ein kurzer Blick – vorüber, an Liebe, Sex und Obsessionen, die er erfahren hatte, an seinen Körper, das Medium, und spürte die plötzliche Gier, unter allen Umständen gewinnen zu wollen. Bernward störte ihn mit der Frage, ob der Kongress in Madras wirklich stattfinden würde und er erklärte, es sei nur ein Treffen einiger Architekten mit Vertretern des Landes geplant und natürlich würde er hinfahren.

»Vielleicht ist das eine größere Hilfe als Geld zu spenden«, sagte Bernward und Arthur lächelte und zitierte den Spruch einer Kabarettistin, die über die Wandlungen der 68er Generation spottete: Seitdem ich nicht mehr spende, lebe ich besser. Aber natürlich würde auch er spenden. Karla hatte sich immer wieder die Nummern der Konten für die Tsunamihilfe aufgeschrieben und darüber diskutiert, wer am sinnvollsten das Geld verteilen würde.

Inzwischen hatte sich ein Schwarm von Kellnern im Raum verteilt und Getränke angeboten. Die Gläser in der Hand standen die Männer noch immer um Judith herum und die Frauen näher am Tisch, die Tischordnung bedenkend. Judith würde zwischen Bernward und Nina sitzen, an Ninas anderer Seite Arthur, dann Harriet, Arno, Karla und bei Bernward schloss sich wieder der Kreis. Die Ehepaare konnten sich so über den Tisch hinweg ansehen und Arno hatte sowohl Nina wie Judith im Blick.

»Ein Treffen auf dem Lande«, sagte Arthur zu Nina, als er sich neben sie setzte. »Geht es dir gut?« – »Vortrefflich, da ich dich sehe.« Seine Gegenwart beruhigte sie. Er war der Vermittler in dieser Runde, überaus höflich und ohne Illusionen. Für Nina war er ein zärtlicher Freund, aufmerksam, doch nie sie bedrängend. Er ist ruhig anwesend für viele Menschen, so hatte sie ihn in der Festschrift zu seinem 50. Geburtstag vor einigen Monaten beschrieben, und ohne sich dessen zu rühmen, löst er selbst diffizile Schwierigkeiten, als seien es nur geringfügige Belästigungen.

Dabei wusste wer Arthur kannte, und Nina kannte ihn gut, dass er ziemlich fern sein konnte. Verbindlich zuhörend, doch fern wie ein Einmannsegler auf hoher See, der der ganzen Welt erzählt, was er sieht, der vom Boot aus seine Geschäfte lenkt, eigene und fremde Gedanken und Hände. Aber auf seinem Boot war noch niemand, und niemand weiß, ob er nicht in den Nächten die Zähne vor Hunger in die rohen toten Fische schlägt, die der Sturm in sein Boot warf. Selbst Nina wusste es nicht und auch Karla nicht, seine Frau.

Zum Aperitif wurde gereicht: Gebackene Gänseleber mit Aprikose und Mousse von Parmaschinken und Parmesan auf Löffel. Es war kurz vor einundzwanzig Uhr.

Bernward schlug leicht an sein Glas, um noch einmal die Freunde zu begrüßen. Was war gewesen? Was blieb? Was verging? Er stand nicht auf, beugte sich nur vor und hob das Glas und sagte: »Wir wollen auf unsere Freundschaft trinken. Silvester, das ist wie Kassensturz. Dann können wir nachrechnen, was uns das Jahr gebracht hat. Wohin wir wollten, was wir erreichten, was erwünscht, was erkannt, wie wir uns wandelten und was wir verpassten. Wieder ein Jahr vorbei. Beruflich nicht ganz so erfolgreich, aber das ist angemessen. Wir haben auch früher kämpfen müssen. Und überhaupt angesichts der Katastrophenbilder aus aller Welt, die uns erreichen, müssen wir überlegen, was wir tun und jeden guten Augenblick bewusst genießen. Es ist schön, dass wir heute Nacht Judith bei uns haben, so ist hier die Jugend zu Gast. Immer wieder der Beginn …« Er sprach ruhig, wie gewohnt etwas überdeutlich und sein Lachen war kurz und trocken. Arthur und Arno tranken ihm zu, bevor die Frauen sich dem anschlossen.

Die drei Freunde kannten sich aus der Studienzeit. Ihr Vertrauen zueinander war Gewohnheit geworden, weil in die Jahre gekommen. Es verband sie die Erinnerung an eine Zeit, als Arthur Chemie studierte, Bernward sich sein Medizinstudium selber finanzieren musste und Arno Musiker werden wollte und dann doch ernsthaft mit dem Architekturstudium begann. Wobei er beteuerte, das eine wäre nicht fern dem anderen. Schon damals seine Neigung, Verschiedenes als etwas Zusammengehörendes anzusehen. Die Ideen, die sie einst verbanden, jetzt hatten sie kaum noch Bedeutung. Doch wussten sie voneinander und würden sich aufeinander verlassen können, das zählte. Gewiss war immer die freudige Begrüßung, die Freude einen Zeugen der eigenen Jugend wieder zu finden und so ein wenig sich selber und die Sicherheit zu haben, willkommen zu sein, in welcher Situation auch immer. Das änderte sich nicht, obwohl sie nun schon weit mehr als zwei Jahrzehnte von dieser Zeit entfernt waren. Geblieben war auch eine körperliche Sympathie, das Vergnügen miteinander zu sein, zu gedenken der gemeinsamen Irrtümer und Affären, auch der komischen Situationen und endlosen Diskussionen über Maoismus und Marcuse, Horkheimers Vernunftbegriff, Pasolinis Ketzererfahrungen, Castanedas Lehren des Don Juan, Jim Morrisons Musik und Ginsburgs Stil … Eine Zeit der gemeinsamen Erkenntnisse und der Verantwortung füreinander. Erinnerung auch an ein unversorgtes Leben, als Bernward sich Geld als Aktmodell in der Akademie verdiente, Arno nebenbei auf dem Bau arbeitete und Arthur und er nachts in einer Pianobar spielten. Mit der Zeit dann wurden die Ziele konkreter und nüchterner die Betrachtungen. Missstände wurden jetzt nur noch gelegentlich wahrgenommen und sie reagierten nun unterschiedlich darauf, je nach dem Stadium des Rückzugs ins Berufliche und Private, in dem sie sich befanden. Dabei hatte jeder auf seine Weise Erfolg. Bernward hatte seit Jahren eine eigene neurologische Praxis. Arno machte sich mit Industriebauten einen Namen und hatte mit zwei Partnern ein Architekturbüro geschaffen, das immer stärker von Aufträgen außerhalb Deutschlands lebte. Arthur war im Vorstand eines Chemie-Konzerns und hatte an der Universität eine Professur. Manchmal verabredete er sich mit Arno, um gemeinsam in ein Konzert zu gehen, und manchmal trafen sie sich auch mit Bernward bei irgendwelchen Ausstellungseröffnungen, weil er sich stets für die allerneueste Kunst interessierte. Einmal im Jahr machten die drei Männer gemeinsam eine große Radtour. Eine sehr männliche Angelegenheit, wie Nina fand, weil es vor allem in kurzer Zeit um das Abradeln großer Strecken in fernen Ländern ging, nur mit gelegentlichen Rastpunkten, wenn etwas kulturell Bedeutsames zu sehen war.

Die drei Frauen waren später zu diesem Kreis gekommen. Karla hatte zwei Töchter mit Arthur und ihren Beruf aufgegeben. Nina hatte Anglistik studiert und arbeitete in einer Presseagentur, erst nur für Kultur zuständig, mittlerweile für fast alles, was redaktionell anfiel, weil immer mehr Kollegen entlassen worden waren. Harriet war Personalberaterin für einen amerikanischen Konzern, der in Deutschland tätig war. Äußerlich gab Harriet das Bild der modisch exzentrischen Figur an diesem Tisch. Wie in einem Kokon schwebte sie auf der vorderen Kante des Sitzes ihres Stuhls in einem Kleid von Miyake. Bernward mochte es nicht, wegen der Raffungen eines dünnen Stoffes über dem anderen. Sie aber liebte es, weil es sie wie eine Hülle umschloss, ein in sich gelocktes Fell aus schwarz-rotem Chiffon, tief ausgeschnitten und fast bodenlang. Und dazu trug sie eine winzige Kappe aus Federn in ihrem Haar, fragil und perfekt. Nach ihrer Meinung gehörte diese Verkleidung zum Spiel der Gesellschaft, das sie nüchtern mitmachte. Es gefiel ihr, dass alle sich an die Verabredung gehalten hatten und gekommen waren, um ihre Freundschaft für das neue Jahr zu bekräftigen und voneinander zu erfahren, was gelaufen war, wie jeder seine Vorstellungen beibehalten oder verändert hatte, wie der Stand war, auf dem sie gerade verharrten. Denn in dieser Nacht verharrte alles, erlaubte ein Atemholen, nach dem sie sich wieder hineinstürzen würden in das, was Harriet spöttisch ob ihrer aller Betriebsamkeit, die sie nicht weniger mitmachte, als das Nichts bezeichnete, das stets auf vollen Touren lief.

»Sechs Gänge, verteilt bis zur Mitternacht und alles vom Besten«, verkündete Bernward. Er war zufrieden. Neben sich hatte er seine Freunde, vor den Fenstern die Nacht und in ihr die Lichter der Stadt, und von der Stadt aus würde man die Lichter dieses Hauses sehen können. Die Nacht draußen war abgrundtief, samten friedlich. Bernward begann die Reihenfolge der Speisen zu erklären und warum er sie so ausgewählt hatte. Überzeugt war er von der Wichtigkeit des richtigen Essens, weil das, was man aß, den Körper bildete. Und Judith saß da in ihrer entwaffnend schönen Körperlichkeit und sagte, davon verstünde sie nichts. Aber es gäbe einiges, was sie nicht essen möge, und er sagte, wenn sie auf der Speisekarte etwas finden würde, was ihr nicht gefiele, wäre es natürlich für ihn ein Vergnügen, ihr etwas anderes zu bestellen … und so fort. Für ihn war Kochen eine der edelsten Künste. Befriedigten die Speisen doch nicht nur den Gaumen, sondern auch die Nase mit der Mischung verschiedenster Düfte und das Auge, wenn es gut angerichtet serviert wurde. Sie belebten den ganzen Menschen von innen, beeinflussten Geist und Seele, die ja irgendwo im Menschen ihren Ort haben mussten. Fehlen tat ihm an diesem Abend hier einzig der Genuss für die Ohren. Er schätzte Tischmusik über alles. Freilich nicht solche, die feierlich zuerst vorm Essen an manchen Orten geboten wurde, wobei man ruhig und stumm zuzuhören hatte, sondern Tischmusik, die gespielt wurde während man aß und sich unterhielt, belebt auf jede Weise. Wobei zu wünschen war, dass die Musik nicht aus irgendeiner Konserve kam, sondern von Menschen gespielt wurde, die gleichzeitig mit den Essenden im Raum waren, so teil hatten an diesem Fest. Je nach Bedarf konnten sie lauter oder leiser spielen, ruhiger oder erregter, und dabei einge- hen auf den Klang, den auch ein gut komponiertes Essen abgab, wenn die Abfolge sorgfältig überlegt war.

»Ich achte immer auf das Essen«, sagte er. »Wer es nicht tut, verpasst etwas ganz Wesentliches. Der Körper verändert sich, wenn man ihn sorgfältig ernährt.«

»Der Geist formt den Körper, nicht das, was man isst«, beharrte Arno, dem es ziemlich gleichgültig war, was er aß.

»Der Körper ist Ausdruck der Seele, warum sonst geben wir uns so viel Mühe ihn zu gestalten«, sagte Harriet und Nina lachte und rief: »Der Löwe besteht aus verdautem Schaf …« Doch Bernward war darüber gekränkt: »Ich finde das nicht komisch. Du verstehst nichts vom Essen, wenn du meistens auswärts isst.«

»Berufsbedingt.«

»Wie auch immer, es wird Gründe haben, dass du nicht viel kochst.«

»Nur keine psychologischen Betrachtungen, alles kann man erklären, aber es ist damit nicht aus der Welt«, sagte Arno. Sie tranken sich zu. Es war gut miteinander zu sein. Wir sehen uns viel zu selten – das war jetzt die einhellige Meinung. Doch in Zukunft wird es besser werden. Es muss besser werden. Es kann nicht anders sein.

»Morgen in Augsburg«, sagte Arthur.

»Und morgen und immer wieder morgen«, antwortete Arno ihm und sie wussten beide, dass dies sie nicht nur an den Titel eines Theaterstückes erinnerte, sondern auch an einen Zettel, den sie gemeinsam vor vielen Jahren an einer Tür gesehen hatten: Morgen komme ich nicht und sich gefragt hatten, welcher Morgen gemeint sei und ob er je käme, der da kommen sollte.

Im Raum war jetzt jeder Tisch besetzt. Die Kellner schenkten Wein ein. Bernward sagte, sie sollten die Flaschen auf dem Tisch stehen lassen. Jeder würde sich selbst nachschenken. Alles sollte wie früher zwischen ihnen sein und doch veränderte sich nach und nach die Stimmung durch Judiths Anwesenheit. Wirkte Arthur nun nicht lebhafter, wenn er sich Judith zuwandte? Ja, war nicht sogar Bernward nachsichtiger nun, saß nicht so aufrecht starr wie gewöhnlich, sondern lehnte sich zurück und schwieg nicht, wenn er unterbrochen wurde, verärgert wie sonst? Und auch Nina war aufmerksamer nicht nur Judith gegenüber, sondern allen am Tisch und wünschte, die Veränderung zu erkennen. Arno sah Judith über den Tisch hinweg an, alles war möglich wieder, die Befreiung aus der Erstarrung, der unterirdische Fluss der Lust. Dabei war er in Sorge, ob Judith sich langweilen würde in dieser Nacht. Bis jetzt hatte es zwischen ihnen keine Rolle gespielt, dass er viel älter war als sie. Doch nun war hier am Tisch sein Jahrgang gut vertreten und dies in einem Restaurant, in dem vor allem Menschen saßen, die einige Niederlagen und Erfolge schon hinter sich gebracht hatten. Umso mehr redete er, selbst wenn nicht mit ihr, so doch immer für sie.

Dabei war es einerlei, was er sagte, sie nahm seine Worte auf, als seien sie Liebeserklärungen und das waren sie wohl auch. Vielleicht hörte sie andere Worte, als er sagte, oder die anderen hörten andere Worte, denn sie kannten den Text nicht, den er ihr mit jedem Wort sandte. Verborgene Botschaften im üblichen Gerede. Judith fühlte sich wohl, sie trank mehr Wasser als Wein, aß wenig und sprach jetzt eifrig mit Karla. Bernward, der zwischen ihnen saß, beugte sich etwas zurück und sagte nur selten ein Wort dazu.